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"Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist Freiheit!"

2012
978-3-8930-8617-7
Attempto Verlag 
Prof. Dr. Friedrich Hermanni
Dietmar Koch
Julia Peterson
Friedrich Hermanni / Dietmar Koch / Julia Peterson (Hrsg.) »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist - Freiheit ! « Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung Tübinger Phänomenologische Bibliothek Herausgegeben von Dietmar Koch Die Tübinger Phänomenologische Bibliothek umfasst sowohl wissenschaftliche wie essayistische Monographien als auch thematisch geschlossene Sammelbände. In ihnen soll das Verhältnis der Phänomenologie zu anderen philosophischen Ansätzen sowie zur Kunst, zur Religion und zu den positiven Wissenschaften eigens bestimmt werden. Die Buchreihe will in ihrer Offenheit ein Forum sein für phänomenologische Arbeiten und Arbeiten zur Phänomenologie. Lassen Werke aus anderen Denktraditionen und -richtungen Fruchtbares für das phänomenologische Sachgespräch erwarten, finden auch sie Aufnahme in der Reihe. Friedrich Hermanni / Dietmar Koch / Julia Peterson (Hrsg.) »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist - Freiheit! « Schellings Philosophie in der Sicht neuerer Forschung Impressum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Attempto-Verlag Tübingen GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagbild: Željko Lapuh (Zagreb), ohne Titel Herstellung: Jörg F. Hagenlocher, Tübingen und Difo-Druck GmbH, Bamberg Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier ISBN 978-3-89308-417-3 Inhalt Friedrich Hermanni Einleitung 9 I. FREIHEIT UND NATUR Andreas Schmidt Wille und Willkür Zum Begriff der Willensfreiheit in der Frühphilosophie Schellings 24 Wolfgang M. Schröder Naturrecht, das sich selbst zerstört Zur historisch-rechtstheoretischen Kontextualisierung von Schellings »Neue[r] Deduktion des Naturrechts« (1796/ 97) 46 Gian Franco Frigo Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 78 II. ABSOLUTES UND SYSTEM Sebastian Schwenzfeuer Schellings Naturphilosophie Das System des transzendentalen Idealismus (1800) im Umbruch zur Identitätsphilosophie 104 Michael Steinmann Die Autonomie der Kunst und der Systemgedanke beim frühen Schelling 126 Wilhelm G. Jacobs Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte Zum Dialog »Bruno« 148 Johannes Brachtendorf Schelling, Fichte und der Streit um Spinoza 169 III. GOTT UND MENSCHLICHE FREIHEIT Thomas Buchheim Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ nach Schellings »Freiheitsschrift« 187 Roswitha Dörendahl Der Ungrund der Freiheit Zur Bedeutung der theosophischen Einflüsse Böhmes und Oettingers auf Schellings Freiheitsphilosophie 218 Oliver Müller Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ Schellings naturphilosophische Grundlegung der Medizin und die Erneuerung der Anthropologie 246 IV. FREIHEIT, MYTHOLOGIE UND OFFENBARUNG Dietmar Koch Wer es erhalten will, der wird es verlieren und wer es aufgibt, der wird es finden Zu einem Theorem Schellings mit Blick auf Meister Eckhart und Platon 279 Jens Halfwassen Freiheit als Transzendenz Schellings Bestimmung der absoluten Freiheit in den »Weltaltern« und in der »Philosophie der Offenbarung« 292 Damir Barbarić Schellings Potenzenlehre in seiner Philosophie der Mythologie 309 Jochem Hennigfeld Sprache, Freiheit und Mythos im Denken Schellings 331 V. NEGATIVE UND POSITIVE PHILOSOPHIE Gerard Bensussan Schelling und die Frage der Geschichte 346 Friedrich Hermanni Gott und Notwendigkeit Kants Metaphysikkritik und Schellings Spätphilosophie 361 Friedrike Schick Logik, Wirklichkeit und Verwechslung Schellings Hegel-Kritik 383 BEIGABE Stefan Gerlach Wunderkind in Bebenhausen Ein Beitrag zur frühen intellektuellen Entwicklung Schellings 402 Zu den Autoren 431 Personenregister 439 Friedrich Hermanni Einleitung „Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist - Freiheit! “ schreibt Schelling in der Ichschrift. 1 Zuvor hatte er festgestellt, dass der „lezte Punkt, an dem unser ganzes Wissen“ hängt, nicht wiederum selbst bedingt sein kann und das „Ganze unsers Wissens […] keine Haltung“ hat, wenn es nicht „durch irgend etwas gehalten wird, das sich durch eigene Kraft trägt“. 2 Denn nach Schelling ist das Einzige, was sich durch eigene Kraft trägt, „das durch Freiheit bestimmte“. 3 Das Diktum, wonach der Anfang und das Ende aller Philosophie Freiheit ist, bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Philosophie des Absoluten und die Philosophie der Freiheit notwendig miteinander verknüpft sind und Philosophie mithin Philosophie des Absoluten und Philosophie der Freiheit sein muss. Hieran orientiert, setzen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes in fünf Sektionen mit der Philosophie Schellings und ihrer Entwicklung auseinander. Die erste und zweite Sektion thematisieren dabei Schellings Frühphilosophie, die dritte Sektion wendet sich, konzentriert auf die Freiheitsschrift, dem mittleren Schelling zu und die vierte und fünfte Sektion beschäftigen sich mit Schellings Spätphilosophie. Im Folgenden seien die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt. 1 F. W. J. Schelling, »Historisch-kritische Ausgabe«, im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. J. Jantzen, T. Buchheim, J. Hennigfeld, W. G. Jacobs und S. Peetz, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1976ff. (= AA; die folgende römische Zahl nennt die Reihe, die arabische Zahl den Band), I.2, 101. 2 Ebd. 3 Ebd. 10 Friedrich Hermanni I. Die Beiträge der ersten Sektion setzen sich mit Schellings Frühphilosophie unter der Überschrift »Freiheit und Natur« auseinander. Dabei thematisiert A NDREAS S CHMIDT den Begriff der Willensfreiheit des frühen Schelling, W OLFGANG M. S CHRÖDER behandelt Schellings Naturrechtsbegriff und G IAN F RANCO F RIGO widmet sich Schellings früher Naturphilosophie und Medizintheorie. Den Ausgangspunkt des Beitrags von A NDREAS S CHMIDT bildet die in der ersten Hälfte der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts intensiv diskutierte Frage, ob unter kantischen Prämissen die Möglichkeit besteht, zwischen Gut und Böse zu wählen. Im ersten Teil stellt der Beitrag die einschlägigen Antwortvorschläge Carl Christian Erhard Schmids (intelligibler Fatalismus) und Carl Leonhard Reinholds (Willkürfreiheit) dar und thematisiert zudem Leonhard Creuzers und Kants Eingreifen in die Debatte. Der zweite Teil des Beitrags wendet sich Schellings Positionierung in dieser Diskussion zu und befasst sich im Ausgang von der Abhandlung zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre (1796) mit Schellings These, „dass die Willkürfreiheit nichts anderes als das Selbstbewusstsein des reinen Willens ist“ (S. 37). Dabei wird erstens der Frage nachgegangen, ob der absolute Wille in seiner Erscheinung als Willkür zugleich eingeschränkt und absolut sein kann. Zweitens wird gezeigt, wie Schelling aus dem Sollen nicht nur ein Können, sondern auch ein Nicht-Müssen ableitet, ohne damit jedoch dem reinen Willen selbst eine Wahlfreiheit zuzuschreiben. Drittens zeigt der Beitrag, weshalb ein Bewusstsein des reinen Willens als freien Willens nur dann möglich ist, wenn dem reinen Willen sinnliche Antriebe entgegenstehen. Damit stellt sich bereits hier ein Problem, das in der Freiheitsschrift näher behandelt wird, das Problem nämlich, dass nach Schelling eine Selbstoffenbarung des Willens nur möglich ist, wenn es eine Möglichkeit des Bösen und eine Versuchung zum Bösen gibt. W OLFGANG M. S CHRÖDER beschäftigt sich mit Schellings »Neue[r] Deduktion des Naturrechts« von 1796/ 1797 und deren These, dass ein „wörtlich verstandenes ‚NaturRecht‘ auf freie Kausalität des Individuums in der Natur […] bei konsequenter begrifflicher Fortbestimmung (‚Deduktion‘) zum ‚ZwangsRecht‘ die Verdrängung, ja die Aufhebung Einleitung 11 allen Rechts durch ‚Natur‘ […] zur Folge“ (S. 59f.) hat. Ziel des Beitrags ist es, den historisch-systematischen Problemzusammenhang darzustellen, vor dessen Hintergrund Schelling diese These formuliert. Dabei konzentriert sich der Beitrag - nach einer Einordnung der Problematik in den größeren Kontext (Hobbes, Pufendorf und Kant) - auf die Frage, ob Schelling womöglich von der unmittelbar vorausgehenden, ebenfalls in Niethammers Philosophischem Journal geführten rechtstheoretischen Debatte beeinflusst ist. In Verfolgung der These, dass Schelling entscheidende Punkte seiner »Neuen Deduktion des Naturrechts« nicht allein aus seinen eigenen Arbeiten entwickelt hat, werden die Journal- Beiträge Paul Johann Anselm Feuerbachs, Salomon Maimons, Reinhards und Johann Christian Gottlieb Schaumanns zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Im Zentrum stehen dabei einerseits die durch Feuerbach angestoßene und von Maimon weitergeführte Frage nach einer absoluten Deduktion des Naturrechts sowie andererseits die durch Reinhard und Schaumann mitgeprägte Überzeugung, dass das Naturrecht als Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Herrsein des Menschen über die Natur verstanden werden muss. G IAN F RANCO F RIGO setzt sich mit Schellings Naturphilosophie vor dem Hintergrund der Krise der Medizin am Ende des 18. Jahrhunderts auseinander, die sich angesichts der rasanten Entwicklung der Naturwissenschaften an der Frage entzündet, inwieweit der Medizin der Status einer Wissenschaft zugesprochen werden kann. Im Ausgang von Schellings These, dass die Natur „in ihrer blinden Gesetzmäßigkeit frey, und umgekehrt in ihrer vollen Freyheit gesetzmäßig seyn“ (S. 88) soll, präsentiert der Beitrag unter Bezug auf den »Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie« von 1799 Schellings Verständnis von Irritabilität, Sensibilität und Reproduktionskraft sowie den entsprechenden Krankheits- und Heilkundebegriff Schellings. Dabei wird zunächst Schellings These entfaltet, dass die Medizin eine „allgemeine Wissenschaft der organischen Natur“ sein muss, die nicht nur auf physikalischen und chemischen Modellen beruht, sondern letzte und höchste Naturwissenschaft ist. Zudem wendet sich der Beitrag gegen die Charakterisierung des Schellingschen Konzeptes als „romantische Medizin“, indem er zeigt, wie Schelling durch seine Fortbildung der Brownschen und Röschlaubschen Theorie der Erregbarkeit die Medizin „aus den Sackgassen ihrer mechanistischen wie vitalistischen Konzepte“ (S. 103) 12 Friedrich Hermanni herausführt, ohne dabei das Feld der Empirie zu ignorieren. Schelling entwickelt nämlich einen neuen Pathologie- und Therapiebegriff, der Krankheit nicht mehr „als eine Summe physikalischer Eigenschaften“, sondern als eine „Handlung des Organismus“ begreift und als solche „wissenschaftlich“ erfassen lässt (ebd.). II. Die Beiträge der zweiten Sektion stehen unter der Überschrift „Absolutes und System“ und beschäftigen sich mit der Systemphilosophie Schellings. S EBASTIAN S CHWENZFEUER wendet sich dabei der Frage nach dem Umbruch der Transzendentalphilosophie zur Identitätsphilosophie zu, M ICHAEL S TEINMANN setzt sich mit der Kunst als Einheitsprinzip von Natur und Freiheit auseinander und W ILHELM G. J ACOBS und J OHANNES B RACHTENDORF beschäftigen sich mit Schellings Konzeptionen des Absoluten vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzungen mit Fichte und Spinoza. S EBASTIAN S CHWENZFEUERS Beitrag vertritt die These, dass ein konsequentes Durchdenken der Schellingschen Transzendentalphilosophie von 1800 zu ihrer Auflösung führen muss. Ziel des Beitrags ist deshalb der Nachweis, dass der Begriff der absoluten Identität von Subjekt und Objekt auch im »System des Transzendentalen Idealismus« bereits eine bestimmende Funktion ausübt. Ins Zentrum rückt der Beitrag den in Schellings System von 1800 entfalteten Gedanken, dass sich im fortwährenden Scheitern der Selbstverobjektivierung des Ich dessen Sein als ursprünglich unbewusste Tätigkeit zeigt, weshalb sich das transzendentale Ich letztlich nicht mehr von der Natur im Sinne Schellings unterscheiden lässt. Denn wenn ‚Bewusstheit‘ als wesentliches Kennzeichen des Subjekts im Kontext des Wissens durch ‚Unbewusstheit‘ ersetzt wird, dann sind „das Subjekt im Sinne des wissenden Ich und das Subjekt im Sinne der naturhaften Produktivität dasselbe, weil ununterscheidbar.“ (S. 121.) Weil sich das Ich im genannten Sinne als identisch mit dem Ermöglichungsgrund aller Naturprodukte erweist, gelangt die Naturphilosophie im Denken Schellings begreiflicherweise zu ihrem hohen Rang. Damit stellt sich aber die Frage, „wie dieser Nexus zwischen Natur und Subjektivität seinerseits“ (S. 122) zu verstehen ist. Einleitung 13 Diese Frage lässt sich freilich nicht mehr innerhalb der vom Subjekt zum Objekt schreitenden Transzendentalphilosophie beantworten und muss deshalb zu einer ‚Verabschiedung‘ der Transzendentalphilosophie zugunsten eines Systems absoluter Identität von Subjekt und Objekt führen. Ebenfalls im Ausgang von Schellings »System des Transzendentalen Idealismus« wendet sich M ICHAEL S TEINMANN den Fragen zu, welche Einheitsleistungen die Kunst beim frühen Schelling erbringen soll und inwiefern sie diese erbringen kann. Der Beitrag vertritt die These, dass sich die Kunst gerade „nicht vollständig auf die Aufgabe fixieren lässt, die Einheit aller Denkvermögen darzustellen oder die Einheit von Denken und Sein zur Erscheinung zu bringen.“ (S. 128) Argumentiert wird deshalb erstens dafür, dass im Kunstwerk nicht nur das bewusste Denken, sondern auch das System selbst transzendiert wird, indem es im Kunstwerk „auf eine Einheit stößt, die kategorial nicht mehr eingeholt werden kann.“ (S. 139) Zweitens wird daraus der Schluss gezogen, dass Schellings eigentliche Leistung im System von 1800 darin zu sehen ist, dieses ‚unverfügbare Wesen der Kunst‘ herauszustellen. Drittens zeigt der Beitrag, dass Schellings Rede »Über das Verhältnis der Bildenden Künste zu der Natur« von 1807 den autonomen Charakter der Kunst weiter forciert, indem die Kunst dort noch entschiedener als eine ‚Domäne‘ verstanden wird, in der ‚eine Einheit der Kräfte‘ besteht, die nur ihr zu eigen ist. W ILHELM G. J ACOBS Beitrag beschäftigt sich mit Schellings Konzeption des Absoluten im 1801/ 1802 verfassten Dialog »Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge«. Behandelt werden dabei zwei Fragen, nämlich a) wie die Einheit des ersten Prinzips zu denken ist und b) ob das Ich oder das vom Ich zu unterscheidende Absolute als erstes Prinzip gedacht werden muss. Im ersten Teil wird im Rückgriff auf Platon und Kant die erste Frage als Frage nach einer alle Gegensätze in sich begreifenden Einheit entwickelt, die auch den Gegensatz von Einheit und Gegensatz in sich begreifen muss. Unter stetem Bezug auf Schellings Auseinandersetzung mit Kants »Kritik der Urteilskraft« wird dabei herausgestellt, wie die Entfaltung dieses Programms erstens für den Dialogteilnehmer Bruno in die „Analogie zum Organismus“ (S. 163) mündet und inwiefern zweitens darin ein gegen Fichtes »Wissen- 14 Friedrich Hermanni schaftslehre« gerichtetes Votum dafür zu sehen ist, „Indifferenz als Anfang der Philosophie zu denken“ (ebd.). Im zweiten Teil des Beitrags wird, bezogen auf die zweite Frage, der fichtische Einwand thematisiert, dass die anvisierte Einheit zwar als das absolute Prinzip des Wissens, aber eben nur als in Bezug auf das Wissen absolutes Prinzip konstatiert werden kann. In seiner Entgegnung versucht Schelling zu zeigen, dass es keine Argumente dafür gibt, die absolute Einheit vorzugsweise als Einheit des Wissens oder des Seins zu betrachten, und zwar mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Ich und dem Absoluten, mit dem das Ich nicht gleichgesetzt werden kann. J OHANNES B RACHTENDORF setzt sich mit den Systemkonzeptionen Schellings und Fichtes in der Perspektive auseinander, dass beide im Rückgriff auf Spinoza über Kant hinaus wollen, indem sie in unterschiedlicher Weise versuchen, Kants Lehre von der Immanenz der Gegenstände der Erfahrung im Bewusstsein mit Spinozas Lehre von der absoluten Substanz zu vereinigen. In einem ersten Schritt behandelt der Beitrag Fichtes Auseinandersetzung mit Spinoza in der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« von 1794 und den (von Schelling 1795 in der »Ichschrift« noch geteilten) Vorwurf, dass Spinoza Gott außerhalb des absoluten Ichs gesetzt habe. Konterkariert wird diese Position zweitens durch die von Schelling 1801/ 1802 u.a. in der »Darstellung meines Systems der Philosophie« vertretene Überzeugung, dass gerade dieser Vorwurf Fichtes den Grundfehler der »Wissenschaftslehre« anzeigt, nämlich die Versubjektivierung des Absoluten, die nach Schelling dem beabsichtigten Ausgang vom Unbedingten zuwiderläuft. Ein dritter Schritt wendet sich schließlich vor dem Hintergrund der von der »Wissenschaftslehre 1801/ 02« neu gezogenen Unterscheidung zwischen absolutem Sein und absolutem Ich der Spätphilosophie Fichtes sowie Schellings Schriften ab 1820 zu. Bezogen auf die Frage nach der faktischen Gegebenheit des Vielen wird dabei gezeigt, wie Fichte und Schelling abermals in der Auseinandersetzung mit Spinoza zu unterschiedlichen Systemkonzeptionen gelangen, und zwar diesmal in der Diskussion des Begriffs des ‚hen kai pan‘, die von Fichte und Schelling unterschiedlich entschieden wird. Während Schelling Spinoza vorwirft, dass er die Substanz nicht auch als Subjekt konzipiert, wendet Fichte ein, dass Spinoza die Substanz nicht strikt als Sein denkt, weil er sie Einleitung 15 „gleichsam mit Subjektivität kontaminiert“ und zum „hen kai pan“ herabsinken lässt (S. 185). III. Im Zentrum der dritten, „Gott und menschliche Freiheit“ überschriebenen Sektion stehen Schellings »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit« von 1809. T HOMAS B UCHHEIM konzentriert sich dabei auf eine genaue Analyse des Begriffs der menschlichen Freiheit, R OSWITHA D ÖRENDAHL wendet sich den theosophischen Einflüssen auf Schelling durch Böhme und Oetinger zu und O LIVER M ÜLLER beschäftigt sich schließlich anhand von Schellings Krankheitsbegriff und dessen physischen und moralischen Konnotationen mit der Genese der »Freiheitsschrift«. Den Ausgangspunkt von T HOMAS B UCHHEIMS Beitrag bildet die Frage, was genau gemeint ist, wenn Schelling Freiheit als ‚Vermögen des Guten und des Bösen‘ bestimmt. Analysiert wird zunächst Schellings Annahme, dass Geistiges die Fähigkeit besitzt, zwei Willen, einen Einzelwillen und einen Universalwillen, in einem individuellen Bewusstsein so zu vereinen, dass entweder der Universalwille dem Einzelwillen oder dieser jenem untergeordnet ist. Darauf wendet sich der Beitrag der Frage zu, wie zu begreifen ist, dass eine freie Entscheidung über die beiden möglichen Paarungen von Einzel- und Universalwillen weder aus Zwang noch aus Zufall erfolgen soll, sondern aus einer dem Wesen des Einzelnen entstammenden inneren Notwendigkeit. Herausgestellt wird dabei erstens, dass die willentliche „Selbstbestimmung“ als „das aus innerem Grund vor sich gehende reale Sich-Geben der Person“ verstanden werden soll, „welches trotz eindeutig determinierender Festlegung ihres Tätigseins im Ergebnis die Selbstzurechnung wahrt.“ (S. 209) Zweitens zeigt der Beitrag, dass diese Selbstbestimmung a) als ein „‚Handeln-Lassen‘ eines Geistes in mir“ zu begreifen ist, das b) „unmöglich bloßes Selbsthandeln“ sein kann, sodass c) „die Konstitution der eigenen Freiheit“ notwendig mit den „Erscheinungsweisen fremder Freiheit“ verwoben ist (S. 215). Deshalb kommt Schelling nach seiner Erläuterung einer möglichen ‚Transmutation‘ menschlicher Freiheit direkt auf ihre ‚Phänomenologie‘ zu sprechen. Denn nach dem zuvor Entwickelten gilt, dass im Fall des Menschen zur formellen Freiheit eine ‚Phänomenologie des Bösen (und des Guten)‘ hinzutreten 16 Friedrich Hermanni muss, weil die Selbstbestimmung des Menschen „‚ab ovo‘ nicht isoliert von der anderer Freiheitssubjekte, sondern immer mit Blick auf gewisse Äußerungsgestalten jener erfolgt.“ (ebd.) R OSWITHA D ÖRENDAHL versucht die Bedeutung theosophischer Einflüsse auf Schellings Freiheitsphilosophie durch Böhme und Oetinger anhand ausgesuchter Begriffe und Probleme genauer zu bestimmen. Der primär behandelte Text ist dabei ebenfalls Schellings »Freiheitsschrift«; darüber hinaus geht der Beitrag aber auch auf Schellings »Stuttgarter Privatvorlesungen« von 1810 und die im selben Jahr begonnene Arbeit an den »Weltaltern« ein. Im Zentrum der Überlegungen steht Schellings Bestimmung des Menschen als ‚derivierte Absolutheit‘, die diesen als zwischen Natur und Gott stehend betrachtet und hierin als Kritik am Freiheitsbegriff Kants und Fichtes begriffen werden muss. Vor diesem Hintergrund wird die These vertreten, dass Schelling bei Böhme und Oetinger einen Begriff von Natur findet, wonach die Natur nicht als Schranke, sondern als Ermöglichungsgrund von Freiheit gedacht werden muss. Entfaltet wird diese These durch die Darlegung von Oetingers Begriff des ‚Indifferenzpunkts‘ und Böhmes Begriff des ‚Ungrundes‘, als dessen Nachfolgebegriff der Beitrag Schellings Begriff des ‚Unvordenklichen‘ in den »Weltaltern« identifiziert. Dabei zeigt sich, dass Schelling Freiheit a) „nicht wie Kant und Fichte als voraussetzungslose Freiheit bestimmt“, sondern dass Freiheit b) „selbst einer Voraussetzung“ bedarf, die jedoch c) als „das eigentlich Nicht-Gewollte der Ungrund bzw. das Unvordenkliche eben dieser Freiheit ist“ und nur in der „Überwindung der Grund von Freiheit werden kann“ (S. 242f.). Der Beitrag schließt deshalb mit der These, dass nach Schelling die Abhängigkeit des Menschen vom unvordenklichen Grund seine Freiheit keinesfalls aufhebt, sondern allererst ermöglicht. O LIVER M ÜLLER geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwiefern Schellings Entwürfe zur Grundlegung der Medizin in den 1805 bis 1808 erschienenen »Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft« Einfluss auf seine Arbeit an der »Freiheitsschrift« hatten, und konzentriert sich darauf, Schellings Organismusbegriff als Wurzel seines Programms einer in Abgrenzung zu Kant entworfenen Anthropologie zu untersuchen. Der erste Teil des Beitrags stellt zunächst Schellings Verständnis des Organismus als ‚Selbstorganisation‘ dar. Der zweite Teil wendet sich Einleitung 17 Schellings Programm einer Grundlegung der Medizin zu. Ins Zentrum gerückt wird dabei der Begriff der Krankheit und die These, dass dieser deshalb „in der frühen Naturphilosophie Schellings systematisch marginalisiert bleibt und anthropologisch kaum fruchtbar gemacht werden kann“, weil dazu erst der „Neuansatz“ der »Freiheitsschrift« die Voraussetzung bietet (S. 261). In dieser Ausrichtung folgt im dritten Teil zunächst eine Darstellung von Schellings physiologischer Theorie der Krankheit als Disproportion der unterschiedlichen Faktoren der Erregbarkeit, maßgeblich der Sensibilität und Irritabilität. In seinem vierten Teil wendet sich der Beitrag dann der Frage zu, inwiefern dieser Krankheitsbegriff als Modell für die ‚Anthropologie des Bösen‘ in der »Freiheitsschrift« verstanden werden kann. Im Zentrum steht dabei die Interpretation der Schellingschen Parallelisierung von ‚Krankheit‘ und ‚Bösem‘ als gleichermaßen verderblichen, weil dezentrierenden Erhebungen des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen und Ganzen. Vor diesem Hintergrund wird im letzten Schritt Schellings Verständnis von Krankheit als anthropologische Grundkonstante dargelegt. IV. Die Beiträge der vierten Sektion stehen unter der Überschrift „Freiheit, Mythologie und Offenbarung“. D IETMAR K OCH beschäftigt sich mit der Frage nach dem ‚Anfangspunkt wahrhaft freier Philosophie‘. Es folgt ein Beitrag von J ENS H ALFWASSEN über Schellings Begriff absoluter Freiheit in den »Weltaltern« und der »Philosophie der Offenbarung«. D AMIR B ARBARIĆ wendet sich der Schellingschen Potenzenlehre in der »Philosophie der Mythologie« zu und J OCHEM H ENNIGFELDS Beitrag über Schellings Methode des Philosophierens bezieht sich ebenfalls auf die »Philosophie der Mythologie« und setzt sie zu Schriften des frühen und mittleren Schelling in Beziehung. Den Ausgangspunkt von D IETMAR K OCHS Beitrag bildet das in Schellings Erlanger Vorlesung »Initia philosophiae universae« (1820/ 1821) entwickelte Theorem: „Wer es erhalten will, der wird es verlieren und wer es aufgibt, der wird es finden“ (S. 279). Der Beitrag zeigt, wie dieses Theorem als Antwort auf die Frage nach dem ‚Anfangspunkt wahrhaft freier Philosophie‘ verstanden werden kann. Ein erster Schritt 18 Friedrich Hermanni erläutert zunächst den Kontext des Theorems, das heißt Schellings These, dass nur derjenige „auf den Grund seiner selbst“ kommen kann, der „einmal alles verlassen hatte, und selbst von allem verlassen war“ (S. 280). In zwei weiteren Schritten wird dieses Motiv auf Platon und Meister Eckhart bezogen, näherhin auf Platons »Phaidon« und die dort entfaltete Vorstellung der Seele, die sich vom Leib trennen muss, sowie auf Meister Eckharts Predigt 52 und den dort entwickelten Begriff eines Wollens des Nichtwollens. Ein vierter Schritt stellt dann abermals die Frage nach dem „Eingang zur Philosophie“ und sieht sie in der „Bejahung und Würdigung der Negativität“ (S. 289) beantwortet, die als Bereitschaft konkretisiert wird, „sich willentlich dem möglichen Scheitern auszusetzen“ (ebd.). Abschließend wird das Eingangstheorem deshalb statt als mechanisch und instrumentell zu gebrauchende Handlungsanweisung als Würdigung einer ‚unverfügbare[n] Macht‘ ausgelegt. J ENS H ALFWASSEN befasst sich mit dem in den »Weltaltern« und in der »Philosophie der Offenbarung« entwickelten Begriff einer absoluten Freiheit. Im ersten Schritt wird der Freiheitsbegriff der »Freiheitsschrift« als ‚Folie‘ von Schellings Begriff einer absoluten Freiheit entfaltet, der zweite Schritt thematisiert den Begriff absoluter Freiheit im ersten Druck der »Weltalter« und der dritte Schritt wendet sich der ‚Endgestalt‘ dieses Begriffs in der »Philosophie der Offenbarung« zu. Als Fundament menschlicher Freiheit wird zunächst der in der »Freiheitsschrift« verwendete Begriff der Indifferenz als allem vorangehender Urgrund dargelegt, um dann anhand von Schellings »Weltaltern« und unter Rückgriff auf Plotin das Absolute als ‚transzendierende Negation‘ herauszustellen. Des Weiteren geht der Beitrag der Frage nach, inwiefern diese Transzendenz des Einen als absolute Freiheit zu begreifen ist, und interpretiert das Diktum der »Weltalter«, wonach Freiheit als „der bejahende Begriff der Ewigkeit oder dessen, was über aller Zeit ist“ (S. 304), verstanden werden muss. Dabei zeigt sich, dass Freiheit in diesem Sinne nicht mehr den Charakter der Subjektivität besitzt und nicht mehr als Selbstbestimmung, sondern als Freiheit von aller Bestimmung und zu aller Bestimmung zu begreifen ist. Als Abschlussgestalt des in den »Weltaltern« als absolute Freiheit bestimmten ‚Überseins‘ wird daher schließlich das in der »Philosophie der Offenbarung« als ‚Herr des Seyns‘ verstandene absolut Eine identifiziert. Im Unterschied zum Selbstbewusstsein, das nur seinem Was-Sein, nicht aber sei- Einleitung 19 nem Dass-Sein nach selbstbestimmt ist, besitzt es die Freiheit, „das Sein zu setzen oder nicht zu setzen“, und damit die Freiheit, „die Selbstvermittlung der Subjektivität zu ermächtigen oder nicht.“ (S. 306) D AMIR B ARBARIĆ beschäftigt sich mit der Potenzenlehre in Schellings »Philosophie der Mythologie«. Im ersten Schritt, der die Grundzüge von Schellings Mythosbegriff darlegt, wird dessen These ins Zentrum gerückt, dass „der Mensch in seinem ursprünglichen Wesen keine andere Bedeutung hat, als die, die Gott-setzende Natur zu seyn“ (S. 315). Der zweite und dritte Schritt wenden sich dem Begriff der Potenz zu, der für Schellings »Philosophie der Mythologie« zentral ist, und entfalten die Einheit der drei Potenzen und ihre unterschiedlichen Ausdrucksformen als ‚Seinkönnendes‘, ‚Seinmüssendes‘ und ‚Seinsollendes‘, als ‚Unbestimmtes‘, ‚Bestimmendes‘ und ‚Sichselbstbestimmendes‘ sowie als ‚Materie‘, ‚Geist‘ und ‚freier Geist‘. Der vierte Schritt legt die Einheit dieser Potenzen als Sukzession auseinander und hebt als den Anfang der ‚eigentlich geschichtlichen Mythologie‘ denjenigen Punkt hervor, an welchem dem anfänglichen, ausschließlichen Gott ein anderer, gegen ihn gerichteter Gott folgen kann. Mythologie ist daher ‚sukzessiver Polytheismus‘, in dem sich die Potenzen der Materie und des Geistigen kämpferisch entgegentreten, bis diese Kämpfe im dritten und letzten Moment des ‚geschichtlichen Gangs der Mythologie‘ zugunsten des Geistigen entschieden werden. Damit ist nach Schelling freilich keineswegs schon der absolut freie Geist gesetzt. Abschließend legt der Beitrag deshalb dar, dass die mit der griechischen Mythologie endende Mythologie auf eine ‚wahre geistige Religion‘ hinausweist und das Wesen der Mythologie in den Mysterien zu suchen ist, von denen aus wiederum der Weg zur Offenbarung führen soll. J OCHEM H ENNIGFELD unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, an drei charakteristischen Beispielen aus den Problembereichen Sprache, Freiheit und Mythos die Vorgehensweise von Schellings Denken im Ausgang von dessen Diktum zu untersuchen, dass die Philosophie „nur dadurch Philosophie“ ist, „daß sie dem Verstande und damit noch mehr dem gesunden Menschenverstande […] gerade entgegengesetzt ist“ (S. 331). Untergliedert ist der Beitrag in drei Teile, von denen der erste auf Schellings »Philosophie der Kunst« von 1802/ 1803, der zweite auf die »Freiheitsschrift« und der dritte auf die »Philosophie der Mythologie« 20 Friedrich Hermanni eingeht. Im ersten Schritt wird ausgehend von Schellings Bezeichnung der Sprache als Chaos deren Verständnis als Symbol und Ausdruck göttlichen Schaffens entwickelt. Der zweite Schritt thematisiert im Rahmen der Schellingschen Weiterentwicklung von Kants Begriff der intelligiblen Tat den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit, der in der inneren Notwendigkeit eines freien Wesens aufgehoben sein soll. Der dritte Schritt befasst sich mit dem Verhältnis von Wahrheit und Mythos und zeigt, wie Schelling in der »Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie« das Verständnis des Mythos als Dichtung und allegorische Wahrheit destruiert, um ihn stattdessen als notwendigen Weg zu deuten, auf dem das Bewusstsein zur Wahrheit gelangt. V. Die Beiträge der fünften und letzten Sektion widmen sich Schellings Spätphilosophie unter der Überschrift „Negative und positive Philosophie“. G ERARD B ENSUSSAN beschäftigt sich mit Schellings positiver Philosophie vor dem Hintergrund seines Begriffs von Geschichte und Geschichtlichkeit, F RIEDRICH H ERMANNI thematisiert Schellings positive Philosophie als Entwurf einer wesentlich in der Auseinandersetzung mit Kants Kritik des ontologischen und kosmologischen Gottesbeweises gewonnenen neuen Metaphysik nach Kant und F RIEDRIKE S CHICK setzt sich vor dem Hintergrund der Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie mit der Hegel-Kritik des späten Schelling auseinander. Den Ausgangspunkt von G ERARD B ENSUSSANS Beitrag bildet die Tatsache, dass Schelling seine späte Philosophie selbst als ‚historisch‘ bezeichnet und darum bemüht ist, ihren historischen mit ihrem positiven Charakter ‚koinzidieren‘ zu lassen. Ziel des Beitrags ist es, Schellings Beantwortung der Frage, was an der positiven Philosophie historisch zu nennen ist, unter Bezug auf Schellings »Einleitung in die Philosophie« von 1830 und 1841 zu rekonstruieren. Der erste Schritt konzentriert sich dabei auf Schellings Unterscheidung zwischen einer geschichtlichen und einer vorgeschichtlichen Zeit, durch die nicht eine einheitliche Zeit unterteilt, sondern vielmehr zwei sich wechselseitig ausschließende Zeiten voneinander abgesetzt werden sollen. Im zweiten Schritt wird gezeigt, Einleitung 21 inwiefern der ‚Hauptzug der negativen Philosophie‘ darin besteht, alle geschichtlichen Elemente aus ihren Erklärungsmodellen zu verbannen. Denn sie versteht den historischen Charakter einer Tat gerade nicht in dem von der positiven Philosophie intendierten Sinne, nämlich so, dass mit dem jeweiligen Ereignis zugleich seine Faktizität als eigene „konstitutive Dimension der Wirklichkeit“ begriffen wird. Der Beitrag kulminiert deshalb in der Darlegung der These, dass die positive Philosophie das Geschichtliche nicht als etwas Zufälliges betrachtet, obwohl sie auf „das Faktische, die Tat, das Praktische und das Ereignis orientiert“ ist, das heißt auf „alles, was sich nicht im Element eines Denkens a priori begreifen lässt.“ (S. 358) F RIEDRICH H ERMANNIS Beitrag behandelt Kants Kritik am ontologischen und kosmologischen Gottesbeweis sowie Schellings Überzeugung, trotz dieser Kritik einen Weg zum Erweis der Existenz Gottes gefunden zu haben. Gegliedert ist der Beitrag in zwei Teile. Der erste Teil stellt die kantische Position dar und rückt neben der Kritik am Verständnis der Existenz als realem Prädikat das Dilemma in den Vordergrund, dass wir nach Kant zwar vom bedingten Dasein auf ein schlechthin notwendiges Dasein schließen müssen, uns von diesem aber keinen haltbaren Begriff machen können. Denn jedes Wesen, selbst ein höchst vollkommenes, scheint sich ohne Widerspruch als nicht-existierend denken zu lassen. Vor diesem Hintergrund stellt der zweite Teil des Beitrags Schellings positive Philosophie als den Versuch einer neuartigen Verknüpfung des Gottesbegriffs mit der Vorstellung des notwendig Existierenden dar. Dabei wird erstens herausgestellt, dass diese Verknüpfung nach Schelling keine Vernunft-, sondern eine Tatsachenwahrheit ist. Zweitens wird dargelegt, dass die gesamte positive Philosophie Schellings „keine andere Aufgabe [hat], als diese Tatsachenwahrheit durch Erfahrung zu begründen“ (S. 376). Sie ist, wie in Analogie zu einem zu lösenden Mordfall illustriert wird, „der fortgehende, immer wachsende, mit jedem Schritt sich verstärkende Erweis des wirklich existirenden Gottes“ (S. 382). F RIEDRIKE S CHICKS Beitrag stellt zunächst zwei zentrale Probleme der ‚reinen Vernunftwissenschaft‘ dar, die erst durch eine anders verfasste, positive Philosophie aufgehoben werden sollen: (1) das Problem, dass die reine Vernunftwissenschaft ihr Prinzip des Seins als allem Sein vo- 22 Friedrich Hermanni rausgehend und doch zugleich selbst als seiend setzen muss; (2) das Problem, dass dem ersten Prinzip in der reinen Vernunftwissenschaft immer nur die Stellung eines Endresultats zukommt, weshalb in ihr gar nicht von dem die Rede ist, was wirklich existiert, sondern nur von „Verhältnissen, welche die Gegenstände im bloßen Denken annehmen“ (S. 389). Der zweite Teil wendet sich vor diesem Hintergrund der Hegel-Kritik Schellings zu. Der Grundfehler Hegels besteht aus Schellings Sicht darin, mit der »Wissenschaft der Logik« den Anspruch zu erheben, „daß der Begriff alles sey“ (S. 390), hiermit den Begriff selbst zum Absoluten zu machen und damit eine glatte Fehlidentifikation zu vollziehen. Nach Schelling verwechselt Hegel nicht nur das Logische mit dem Wirklichen, sondern der Gang der Hegelschen Logik ist zudem selbst nur prätendiert. Denn diese Logik importiert aus Schellings Sicht die Methode des Identitätssystems in ein Feld, auf dem sie nicht anwendbar ist. Der dritte Teil fragt schließlich nach der Stichhaltigkeit dieser Kritik. Dabei wird erstens Hegels eigene Kritik an einem formalistischen Verständnis des Logischen dargestellt sowie zweitens zwischen zwei Lesarten von Hegels Logik unterschieden. Als Ergebnis dieser Unterscheidung zeigt sich, dass Schellings zweiter Vorwurf nur dann trifft, wenn Hegels Logik so verstanden wird, dass sie für sich in Anspruch nimmt, mit dem ‚Begriff des Begriffs‘ den letzten Existenz-Grund zu bestimmen. Wird sie hingegen als Wissenschaft der Denkformen begriffen, trifft auf sie nur der erste Vorwurf zu. Eben diesem aber begegnet Hegel mit seiner Formalismuskritik. Als »Beigabe« findet sich am Ende des Bandes der Beitrag von S TEFAN G ERLACH , der sich mit Schellings Werdegang bis zum Eintritt ins Tübinger Stift befasst, d.h. mit Schellings Kindheit in Bebenhausen, wo Schelling ab seinem dritten Lebensjahr aufwuchs, nachdem sein Vater von einer Stelle als Diakon in Leonberg auf eine Stelle als ‚zweiter Professor‘ ins Evangelische Seminar Bebenhausen gewechselt war. Der Beitrag thematisiert zunächst Schellings Schul- und Seminarzeit und schildert seine außergewöhnliche Sprachbegabung. Ein zweiter Schritt widmet sich der von Schelling im Alter von 14 Jahren verfassten, leider nicht mehr vollständig erhaltenen handschriftlichen Beschreibung des Klosters Bebenhausen, die den Titel trägt: »Geschichte des Klosters Bebenhausen. Vom Ursprung bis in die jetztigen Zeiten«. Gegliedert in zwei Teile, enthielt sie eine Beschreibung der Bauten des Klosters sowie Einleitung 23 eine Darstellung seiner Geschichte, gefolgt von einem das Verzeichnis der Grabinschriften enthaltenden Anhang. Ziel des Beitrags ist es dabei, anhand ausgewählter Textpassagen zu zeigen, dass in Schellings Kindheit und früher Jugendzeit in Bebenhausen bereits Interessengebiete wie Natur, Freiheit, Geschichte und Religion thematisch werden, die später zu zentralen Gegenständen seines Denkens geworden sind. Für vielfältige Unterstützung danken die Herausgeber Stefan Brender, Juliane Klein, Steffen Kudella, Burkhard Nonnenmacher, Marianne Ott, Sarah Caroline Prang, Michael Ruppert, Christoph Schmidt und Nicole Sieber. Zudem gilt ihr Dank dem Künstler Željko Lapuh (Zagreb) für die freundliche Genehmigung zum Abdruck seines Bildes zur Gestaltung des Buchumschlages. Für weitere Unterstützung im Rahmen der Drucklegung sei dem Universitätsbund Tübingen, sowie Herrn Professor Dr. med. Joachim Schneider und Herrn Volker Kulessa gedankt. Sofern in den Beiträgen nicht anders vermerkt, wird Schelling zitiert nach: Schelling, F. W. J., »Historisch-kritische Ausgabe«, im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. J. Jantzen, T. Buchheim, J. Hennigfeld, W. G. Jacobs und S. Peetz, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976ff. (= AA). Schelling, F. W. J. von, »Sämmtliche Werke«, hg. v. K. F. A. Schelling, 1. Abteilung: 10 Bde., 2. Abteilung: 4 Bde., Stuttgart/ Augsburg 1856- 1861 (= SW). I. FREIHEIT UND NATUR Andreas Schmidt Wille und Willkür Zum Begriff der Willensfreiheit in der Frühphilosophie Schellings Ich habe mein Thema - den Begriff des Willens in der Philosophie Schellings - in zwei Hinsichten eingegrenzt. Zum einen zeitlich: Ich werde mich auf Schellings Frühphilosophie konzentrieren, also auf die Zeit zwischen 1795 und 1800; zum anderen thematisch: Ich werde mich vor allem mit der Frage nach der Freiheit des Willens bei Schelling beschäftigen. Das Interessante an diesem Thema ist, dass es im Anschluss an Kant eine recht intensive Diskussion darüber gab, ob es - unter Voraussetzung Kantischer Prämissen - so etwas geben kann wie eine Freiheit, zwischen Gut und Böse zu wählen. An dieser Diskussion haben sich Leute wie Carl Christian Erhard Schmid, Carl Leonhard Reinhold, Leonhard Creuzer und Kant selbst beteiligt, und die Frage, der ich im Folgenden nachgehen möchte, ist, wie Schelling auf diese Diskussion reagiert und wie er sich in dieser Diskussion positioniert. 1. Der Diskussionskontext: Kant, Schmid, Reinhold, Creuzer - und nochmals Kant Ausgangspunkt der Diskussion, die ich hier nachzeichnen will, ist eine These Kants, die er in seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (von 1785) folgendermaßen formuliert: „Ein freier Wille und ein Wille Wille und Willkür 25 unter sittlichen Gesetzen [ist] einerlei“. 1 Das klingt, zugegebenermaßen, zunächst etwas merkwürdig, wird aber durchaus verständlich, wenn man sich Kants Argument für diese These genauer ansieht. Kant stellt sich nämlich folgende Frage: Unter welchen Bedingungen kann ein Wille frei genannt werden? Nach Kant müssen dazu drei Bedingungen erfüllt sein. Eine erste Bedingung liegt darin, dass der Wille unabhängig sein muss, und zwar unabhängig von den Gesetzen, die ihm durch die Naturtriebe auferlegt werden. Das ist eine ziemlich starke Bedingung: Wenn mein Willensentschluss von Naturtrieben motiviert bzw. durch sie erklärbar ist, gilt er nicht als frei. 2 Aber die Erfüllung dieser Unabhängigkeitsbedingung ist noch nicht hinreichend, um von Freiheit sprechen zu können. Denn diese Bedingung würde auch ein ganz und gar gesetzloser Wille erfüllen. Ein Wille, der völlig gesetzlos wäre, wäre nach Kant aber ein ‚Unding‘. Der Grund dafür ist folgender: Wenn die Entscheidungen, die jemand fällt, nicht unter einem Gesetz stünden, also völlig unmotiviert wären - denn das ist hier mit ‚gesetzlos‘ gemeint -, dann ließe sich diese Entscheidung gar nicht mehr von einem bloßen Zufallsereignis unterscheiden. Wäre es aber ein bloßer Zufall, wie unsere Entscheidungen ausfallen, dann würden wir uns keineswegs für frei halten. Auch ein freier Wille muss also einem Gesetz unterliegen, nur eben einem anderen Gesetz, einem Gesetz, das von den Gesetzen der Naturtriebe unterschieden ist. Es fragt sich aber, welches Gesetz, welche Motivation das sein könnte. Für Kant kommt nur das Vernunftgesetz in Frage. Denn wenn ich mich entscheide, etwas Bestimmtes zu tun, weil es vernünftig ist, es zu tun, und aus keinem anderen Grund, dann ist es plausibel zu sagen, meine Motivation sei in diesem Fall nicht-sinnlich. Das ist also die zweite Bedingung: Abhängigkeit von einem nicht-sinnlichen Gesetz, das heißt, vom Gesetz, vernünftig zu handeln. 3 Nun stellt sich aber folgende Frage: Wenn der Wille nun wiederum einem Gesetz unterliegt, Vernunftgesetz hin oder her, ist er dann nicht immer noch unfrei? Er ist dann zwar, so könnte man sagen, nicht mehr 1 Kant, I., »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (= GMS), AB 98, Kant- AA IV, 447. (AA =»Kants gesammelte Schriften«, hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff., GMS =»Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«; MS =»Metaphysik der Sitten«, KrV =»Kritik der reinen Vernunft«). 2 „Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit.“ (KrV, B 562, Kant-AA III, 363). 26 Andreas Schmidt der Sinnlichkeit unterworfen, aber statt dessen der Vernunft; die Unterwerfung - und damit Unfreiheit - bleibt bestehen. Hier kommt nun eine dritte Bedingung mit ins Spiel. Der Wille kann nur frei sein, wenn das Gesetz, dem er unterliegt, selbstgegeben ist. Aber was heißt das nun? Das Gesetz, dem der Wille unterliegt, tut - so Kant - der Freiheit nur dann keinen Abbruch, wenn es sich um ein Gesetz handelt, das der Wille sich selbst gibt, ein Gesetz, das er gewählt hat. Aber jetzt scheinen wir in einen Regress zu geraten. Das Gesetz tut nur dann meiner Freiheit keinen Abbruch, wenn der Wille es sich selbst gibt - schön und gut: Aber der gesetzgebende Wille muss seinerseits bereits einem Gesetz unterliegen - ein gesetzloser Wille ist nach Kant ja ein Unding, wie wir ebenfalls gerade gehört haben. Also müsste auch dieses Gesetz, dem der gesetzgebende Wille unterliegt, auf einen gesetzgebenden Willen zurückgeführt werden und so weiter und so fort: Wir geraten in einen Regress. Kant glaubt (so verstehe ich ihn zumindest), dass er diesem Regress entgehen kann, indem er als Regress-Stopper einen Willen einführt, zu dessen Wesen es gehört, etwas Bestimmtes zu wollen. Das heißt: Der gesetzgebende Wille unterliegt nun zwar einem Gesetz, aber da es sich um sein Wesensgesetz handelt und damit nicht um etwas, das ihm von außen auferlegt wird, wird seiner Freiheit durch dieses Gesetz kein Abbruch getan. Das Gesetz kommt aus ihm selbst. Wenn wir das nun zusammenbringen mit der vorherigen Bedingung - Abhängigkeit von einem nicht-sinnlichen Gesetz, das heißt, vom Gesetz, vernünftig zu handeln -, dann ergibt sich, dass wir nur dann frei sein können, wenn es einen Vernunftwillen gibt, zu dessen Wesen es gehört, nur das zu wollen, was auf einsichtige Weise vernünftig ist. Es entsteht dann folgende Situation. Erstens: Dieser Wille gibt sich ein Gesetz, nämlich das Gesetz, vernünftig zu handeln. Das ist das Moment der Selbstgesetzgebung. Zweitens: Diese gesetzgebende Wahl ist motiviert durch ein Gesetz, dem der Wille bereits unterliegt, nämlich dem Gesetz, nur das zu wollen, was vernünftig ist - und es ist eben vernünftig, vernünftig zu sein. Das ist das Moment der nicht-sinnlichen Motiva- 3 „Da der Begriff einer Causalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muß: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Causalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding.“ (GMS, BA 97f., Kant-AA IV, 446). Wille und Willkür 27 tion. Drittens: Der Regress, der sich dadurch ergeben würde, dass dieses Gesetz, dem der Wille unterliegt, seinerseits wieder auf eine Willensentscheidung zurückgeführt werden müsste, wird blockiert, indem es als das Wesensgesetz des vernünftigen Willens aufgefasst wird. 4 Auf die Frage, unter welchen Bedingungen ein Wille für Kant frei genannt werden kann, haben wir jetzt eine Antwort gefunden: Ein Wille ist frei, wenn er erstens die Bedingung der Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit erfüllt, zweitens die Bedingung der Abhängigkeit von einem nichtsinnlichen Gesetz, nämlich vom Vernunftgesetz, drittens die Bedingung, sich das Gesetz, dem er unterliegt, selbst zu geben. Nach Kant werden diese Bedingungen nur vom vernünftigen Willen erfüllt, der das Vernunftgesetz will. Nun ist das Vernunftgesetz aber für Kant identisch mit dem Sittengesetz, und so bin ich endlich wieder bei der Formel angelangt, mit der ich begonnen habe und die ich erklären wollte: „Ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen [ist] einerlei“. 5 Soweit mein knapper Versuch, Kants Theorie der Freiheit als Unterwerfung unter das Sittengesetz ein wenig zu erläutern. Worauf es mir aber nun vor allem ankommt, ist eine merkwürdige Konsequenz, die sich aus dieser Kantischen Theorie zu ergeben scheint: nämlich dass ich nur frei bin, wenn ich moralisch bin. Das wäre natürlich ganz angenehm, 4 „Die Frage ist also diese: ist es ein nothwendiges Gesetz für alle vernünftigen Wesen, ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maximen zu beurtheilen, von denen sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen Gesetzen dienen sollen? Wenn es ein solches ist, so muß es (völlig a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden sein.“ (GMS, BA, 62, Kant-AA IV, 426, letzte Hv. von AS) Zur Fundierung des Sittengesetzes in der Natur des Willens (nicht in dessen kontingenten Entscheidungen) vgl. Kain, P., »Self-Legislation in Kant’s Moral Philosophy«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 86 (2004), 257-306. Kain weist darauf hin, dass wir nach Kant zwar Gesetzgeber, nicht aber Autor des Sittengesetzes sind. Der Ursprung des nichtsinnlichen Gesetzes wird also durch den Willen erklärt - allerdings jetzt nicht durch einen Entschluss des Willens, sondern durch das Wesen des Willens. Allerdings hat das Wesen des Willens den Entschluss des Willens zur Folge, genau das zu wollen, was das Wesen des Willens ausmacht. Es wird Fichte und Schelling vorbehalten bleiben, das, was gewollt wird - nämlich die Vernunft -, und das Gesetz, aufgrund dessen es gewollt wird, vollständig zu identifizieren und als ›Subjekt-Objekt‹ zu beschreiben. (Siehe unten.) Denn man kann sich allerdings fragen, ob der Rekurs auf das Wesen des Willens hinreichend ist, um tatsächlich von einer Selbstgesetzgebung zu sprechen, die mit Freiheit kompatibel ist. 5 GMS, AB 98, Kant-AA IV, 447. 28 Andreas Schmidt denn das würde heißen, dass man mir unmoralisches Handeln prinzipiell gar nicht zurechnen könnte; ich wäre, was meine unmoralischen Handlungen angeht, sozusagen von vornherein, a priori, aus dem Schneider und könnte mich darauf beschränken, mir lediglich meine guten Handlungen zuzuschreiben. Diese Konsequenz der Kantischen Freiheitstheorie wird in den Kantischen Texten allerdings nie wirklich deutlich ausgesprochen. Dass die Kantische Freiheitstheorie diese Konsequenz hat, wurde zum ersten Mal von Carl Christian Erhard Schmid behauptet, in seinem 1790 erschienenen Buch »Versuch einer Moralphilosophie«. 6 Er schreibt dort: „Also haben wir keine Freyheit, keinen ursprünglich innern Bestimmungsgrund, das Böse zu wollen. In dieser Rücksicht sind wir blos abhängig.“ „Ist der Wille des Menschen […] nicht […] gegen das Gute und Böse indifferent, so folgt daraus, dass kein Mensch […] die würklichen Hindernisse des Erfolgs [des] reinen, sittlichen Willen[s] auf seine Gesinnung […] setzt, sondern dass sie [die Hindernisse] ihm durch etwas anderes ohne Zuthun seines Willens gesetzt sind.“ 7 Solange wir also moralisch handeln, sind wird frei; wenn wir unmoralisch handeln, geschieht das ‚ohne Zutun [unseres] Willens‘, sondern aufgrund irgendwelcher ‚Hindernisse‘, die es dem Vernunftwillen unmöglich machen, hinreichend wirksam zu werden, für die wir aber nicht verantwortlich sind. Schmid selbst ist bereit, sich diese Konsequenz zu eigen zu machen, und er nennt seine Moraltheorie - die für ihn die wahre Kantische Theorie ist - daher ‚intelligibler Fatalismus‘. Dagegen wendet sich nun Carl Leonhard Reinhold 1792 in seinen so genannten »Briefen über die Kantische Philosophie«. 8 Sowohl morali- 6 Schmid, C. C. E., »Versuch einer Moralphilosophie«, 2., vermehrte Aufl., Jena 1792. 7 Schmid, C. C. E. »Moralphilosophie« (Anm. 6), § 252, 341. Creuzer, der selbst zum ‚intelligiblen Fatalismus‘ Schmids hinneigt, folgert, „daß […] nicht nur alle Schuld wegfällt, sondern daß auch […] wenn es Verdienst giebt, dies Verdienst bey allen Menschen gleich seyn müsse. Denn die Vernunft ist sich selbst gleich. Daß sie bey dem einen Menschen mehr sich äusert, als beym andern, davon liegt der Grund nach dieser Theorie nicht in ihr selbst und in ihrer Freyheit, sondern in der größern oder geringern Einschränkung derselben durch das, was der Sinnlichkeit und ihren Erscheinungen zum Grunde liegt.“ (Creuzer, L., »Skeptische Betrachtungen über die Freiheit des Willens«, Giessen 1793, reprograph. Nachdruck, Hildesheim 1978, 184f.). 8 Reinhold, C. L., »Briefe über die Kantische Philosophie«, hg. v. R. Schmidt, Leipzig 1923. Vgl. auch die Auszüge in: Bittner, R., Cramer, K. (Hg.), »Materialien zu Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹«, Frankfurt 1975, 252-274. Wille und Willkür 29 sches als auch unmoralisches Handeln muss zurechenbar sein, meint Reinhold. Eine Moralphilosophie, die die Zurechenbarkeit unmoralischen Handelns unmöglich macht, würde sich selbst als Moralphilosophie disqualifizieren. Reinholds Reparaturversuch, der diese unerwünschte Konsequenz vermeiden soll, ist relativ einfach gestrickt. Er ergreift drei Maßnahmen. Erstens: Er trennt den Begriff des Willens von dem der praktischen Vernunft. Wille und praktische Vernunft sind also jetzt zweierlei. Zweitens: Er definiert den Willen als das Vermögen der Wahlfreiheit, d.h. als „das Vermögen der Person sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens entweder nach dem praktischen Gesetze oder gegen dasselbe zu bestimmen“. 9 Drittens: Er definiert die praktische Vernunft als Vermögen, ein moralisches Gesetz hervorzubringen, spricht ihr aber das Vermögen ab, von sich aus den Willen zu bestimmen. Es liegt also einzig und allein an der freien Entscheidung des Willens, ob er sich dem Sittengesetz unterwirft oder nicht. Und dabei kann sich Reinhold sogar auf Kant selbst berufen. Nicht zwar auf die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und die »Kritik der praktischen Vernunft«, wohl aber auf eine im selben Jahr, 1792, erschienene Schrift Kants mit dem Titel »Über das radikal Böse in der menschlichen Natur« (1792), in der Kant - ganz wie Reinhold - betont, auch unmoralische Handlungen müssten zuschreibbar und daher auf ein Vermögen freier Wahl zurückführbar sein. 10 Reinholds Vorschlag, ein Vermögen der Wahlfreiheit einzuführen, scheint zunächst völlig plausibel zu sein. Trotzdem wurden schon kurz darauf schwerwiegende Einwände erhoben. Sie finden sich in einer Schrift mit dem Titel »Skeptische Betrachtungen über die Freiheit des Willens«, die 1793 von Leonhard Creuzer veröffentlicht wurde. Creuzer meint, Reinholds Theorie sei mangelhaft, was die Moralphilosophie, die Ontologie und die Erkenntnistheorie betrifft. Zunächst zur moralphilosophischen Kritik. Creuzer schreibt dazu Folgendes: „[W]ie kann bey einer solchen Freyheit, die gegen die Vorschriften der Vernunft und die Reitze der Sinnlichkeit absolut gleichgültig ist, die sowohl vom sittlich Guten als auch vom sittlich Bösen den vollständigen Grund in sich enthält und wirksam macht, - moralische Nothwendigkeit, allgemein gesetzmäßig und zweckmäßig zu handeln, 9 Reinhold, C. L., »Briefe« (Anm. 8), 502, »Materialien« (Anm. 8), 255. 10 Dieser Aufsatz wurde später in »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793) integriert. 30 Andreas Schmidt noch ferner gedacht werden? - Ein gegen Gutes und Böses indifferenter Wille hebt ja offenbar alle Sittlichkeit auf.“ 11 Unter ‚moralischer Notwendigkeit‘ versteht Creuzer hier das Gefühl moralischer Verpflichtung. Seine These ist also, dass wir, wenn wir eine Willkürfreiheit besäßen, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit zu entscheiden, beiden gegenüber indifferent wären, so dass das Gefühl moralischer Verpflichtung nicht mehr erklärbar wäre. So wie der Einwand formuliert ist, scheint er allerdings auf einem Missverständnis zu beruhen. Das Missverständnis besteht darin, dass für Creuzer, wie es scheint, Indifferenzfreiheit auch psychologische Indifferenz impliziert. Das ist jedoch ein Irrtum. Indifferenzfreiheit heißt lediglich, dass ich die Freiheit habe, auch anders zu handeln: Ich tue A, aber ich hätte es auch unterlassen können, A zu tun; aus ihr folgt nicht, dass mir die Handlungsalternativen gleichgültig sein müssten. 12 Dennoch kann man diesen Einwand Creuzers leicht so reformulieren, dass er auf ein wirkliches Problem der Freiheitstheorie Reinholds hinweist. Und zwar auf folgendes: Indem Kant Freiheit und Moralität identifiziert, kann er eine Erklärung dafür anbieten, wieso wir ein Motiv dafür haben, moralisch zu sein. Das Motiv liegt darin, dass wir erst, wenn wir moralisch sind, wirklich frei sind (und unter der Prämisse, dass wir wesentlich freie Wesen sind, sind wir so erst dann ganz wir selbst, wenn wir moralisch handeln). Bei Reinhold fällt dieses Motiv an der Moralität weg: Frei sind wir sowieso, ob wir nun moralisch handeln oder nicht; unsere Freiheit hat von der Moralität gar nichts zu erwarten. Warum also überhaupt moralisch sein? Natürlich stünde es Reinhold frei, eine eigene Theorie moralischer Motivation zu entwickeln, die dann eben nichts mit Freiheit und Autonomie zu tun hätte. Aber es scheint klar zu sein, dass eine Kantische Moraltheorie für ihn dann nicht mehr offensteht. Und Reinhold möchte eine Kantische Theorie vertreten. Insofern hat Reinhold tatsächlich ein Problem. Soviel also zum moralphilosophischen Einwand Creuzers. Der ontologische Einwand Creuzers besteht darin, dass Reinhold gegen den Satz vom zureichenden Grund verstoße. Ein Ereignis, das keinen hinreichenden Grund hätte, wäre bloßer Zufall, und der Begriff des bloßen Zufalls ist, wie Creuzer meint, ‚vernunftwidrig‘: Es gibt 11 Creuzer, L., »Betrachtungen« (Anm. 7), 132f. 12 Siehe Tafani, D., »Christoph Andreas Leonhard Creuzer. La discussione della dottrina morale di Kant alla fine del Settecento«, Genua 1999, 109. Wille und Willkür 31 keine Zufälle, alles geschieht mit Notwendigkeit. Und wenn alles mit Notwendigkeit geschieht, dann auch meine Entscheidung für oder gegen die Vernunft. - Nun könnte man meinen, Reinhold könne auf dieses Argument einfach mit einem Kantischen Schachzug antworten: nämlich mit der Unterscheidung zwischen phänomenaler und intelligibler Welt. Gemeint ist Folgendes: (a) Die Dinge in Raum und Zeit sind nach Kant bloße Erscheinungen oder Phänomene. Für diese Welt der Phänomene gilt der Grundsatz, dass jeder Zustand der Welt mit kausaler Notwendigkeit aus dem vorhergehenden folgt. Hier kann es also keinerlei Freiheit geben. (b) Aber dieser Grundsatz gilt nur für die Welt der Phänomene; und dort gilt er nur, weil wir die Welt der Phänomene als eine solche, die diesem Grundsatz unterworfen ist, denken und auch denken müssen. Das ist aber kompatibel mit der Position, dass dieser Grundsatz für die Dinge an sich nicht gilt. Die Welt der Dinge an sich erscheint allerdings auch nicht, wir können sie nur denken - und deswegen nennt Kant sie die intelligible Welt. (c) Nun gibt es auch mich in doppelter Ausführung (oder zumindest in zwei Perspektiven): einerseits als Bewohner der phänomenalen Welt - als solcher bin ich ein Ding in Raum und Zeit und dem Kausalgesetz unterworfen -, andererseits gehöre ich als Ding an sich auch der intelligiblen Welt an. Damit ist der Weg frei zu sagen, dass ich - als Ding an sich - dem Kausalgesetz möglicherweise nicht unterworfen bin. Und die Gewissheit des Moralgesetzes in mir beweist mir, dass ich ihm tatsächlich nicht unterworfen bin. - Aber mit dem Hinweis auf diese Unterscheidung hätte Reinhold gegen Creuzers Kritik, er verstoße gegen den Satz vom zureichenden Grund, noch nichts gewonnen: Creuzer selbst akzeptiert nämlich diese Unterscheidung von Phänomenalem und Intelligiblem; aber er insistiert darauf, dass wir uns selbst als intelligible Wesen zumindest denken können müssen; und es ist das Denken, das die Anwendung des Satzes vom zureichenden Grund erfordert. Es ist schon wahr: Als intelligible Wesen sind wir der Naturkausalität der erscheinenden Dinge in Raum und Zeit entzogen, sagt Creuzer, aber dennoch muss es für alles, was uns als intelligiblen Wesen zukommt, hinreichende Gründe geben. Creuzer drückt das aus, indem er zwischen ›Ding an sich‹ und ›Noumenon‹ folgendermaßen unterscheidet: „Anstatt das intelligible Ich […] nach logischen Gesetzen zu denken, hielt sich wahrscheinlich Reinhold […] durch den Begriff des Dinges an sich für berechtigt, ihm ein Vermögen beyzulegen, das jenen Gesetzen widerspricht […]. Allein das intelligible 32 Andreas Schmidt Ich als Ding an sich ist für uns völlig = x, und selbst sein Daseyn nur Gegenstand des Glaubens. Wir wissen von ihm als Ding an sich schlechterdings nichts, und können ihm folglich weder eine deterministische noch indeterministische Freyheit beylegen. Denn sobald wir es denken, hört es auf Ding an sich zu seyn, und wird Noumenon, d.h. ein Ding an sich, insofern wir es denken. Vernünftige Denkbarkeit ist also eine unnachlassliche Forderung unserer Vernunft, bei allem, was wir unserem intelligiblen Ich nur immer beylegen mögen. […] Ist aber wohl eine Freyheit vernünftig den[k]bar, die ein und dasselbe Wesen gleichvermögend macht, für kontradiktorisch entgegengesetze Handlungen? Ich wenigstens kann sie unmöglich dafür erkennen.“ 13 Wenn wir das Ding an sich also als etwas auffassen, das sogar jenseits des Denkbaren liegt, dann können wir gar nichts von ihm aussagen - auch nicht, dass es frei ist. Wenn wir es aber denken wollen - es als ›Noumenon‹ auffassen -, dann müssen wir uns auch an die Gesetze des Denkens halten, und der Satz vom zureichenden Grund ist ein solches Denkgesetz. Man muss zugeben, dass Reinholds Antwort gegen diesen Einwand etwas schwächelt: Er meint, der Satz vom zureichenden Grund fordere keineswegs, dass alles einen von sich verschiedenen Grund habe; vielmehr lasse er zu, dass einiges auch Grund seiner selbst sein könnte. Das müssten zumindest all diejenigen zugeben, die Theisten sind und Gott als causa sui auffassen. Auf ähnliche Weise sei auch die Willkürfreiheit als Grund ihrer selbst durchaus mit dem Satz vom zureichenden Grund vereinbar. 14 Aber diese Analogie der Wahlfreiheit mit der causa sui kann, glaube ich, nicht funktionieren: Gott ist causa sui, sofern seine Existenz notwendig aus seinem Wesen folgt; es ist aber gerade die Pointe der Wahlfreiheit, dass die Entscheidung nicht notwendig aus dem Vermögen der Wahlfreiheit folgt. Die Analogie funktioniert nicht. 15 Kommen wir nun zum epistemologischen Einwand Creuzers. Um die Aussage zu rechtfertigen, dass es tatsächlich eine Freiheit der Wahl gibt, beruft sich Reinhold auf die Erfahrung: „Aus ihren Wirkungen, durch welche sie unter den Tatsachen des Bewußtseyns vorkommt, ist mir die Freiheit völlig begreiflich.“ 16 Aus dem Bewusstsein der Freiheit kann aber - so Creuzer - unmöglich auf deren Realität geschlossen werden. 13 Creuzer, L., »Betrachtungen« (Anm. 7), 130-132. Vgl. auch ebd. 138f. 14 Reinhold, C. L., »Briefe« (Anm. 8), 510f.; »Materialien« (Anm. 8), 262. 15 Vgl. Tafani, D., »Discussione« (Anm. 12), 113f. 16 Reinhold, C. L., »Briefe« (Anm. 8), 511; »Materialien« (Anm. 8), 263. Wille und Willkür 33 Das Ich, das der Naturkausalität entzogen ist, ist, wie gesagt, das intelligible Ich. Das intelligible Ich ist aber der Erfahrung unzugänglich. Wenn wir also die Erfahrung machen, frei zu sein, dann folgt daraus keineswegs, dass wir es tatsächlich sind. Ja man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen: Was wir erfahren, sind Phänomene; als Phänomen bin ich aber der Naturkausalität unterworfen. Insofern muss meine Erfahrung der Freiheit - da sie sich nur auf das Ich als Phänomen beziehen kann - eine Täuschung sein. In Creuzers Worten: „Diejenigen, welche den Erkenntnisgrund für oder gegen die Freyheit in der Erfahrung finden, berufen sich hauptsächlich auf das Selbstgefühl des Menschen. Die sinnlichen Indifferentisten behaupten, dies Selbstgefühl lehre den Menschen, daß wenn er unter gewissen genau bestimmten Umständen etwas gewollt habe, er unter vollkommen denselben innern und äusern Umständen auch nicht wollen oder das Gegenteil habe wollen können. Wenn er z.B. eine böse Handlung verübt habe, so sage ihm sein innerstes Bewußtseyn, daß er anders hätte handeln können, wenn er gewollt hätte. […] Überhaupt aber kann die Erfahrung für Freiheit […] keine Beweise liefern. Denn alles, was wir als zu dem Kontext der Erfahrung gehörig erkennen, ist auch den Gesetzen derselben unterworfen. Aber Freyheit als absolutes Vermögen zu handeln läßt sich weder anschauen, noch nach versinnlichten Verstandesbegriffen denken. Das ursprüngliche Bewußtseyn derselben ist also entweder bloße Täuschung oder der Grund desselben muß außerhalb der Erfahrung aufgesucht werden.“ 17 Creuzer selbst glaubt, dass man die Freiheit aus dem Begriff des Sittengesetzes ableiten kann, so dass die Gewissheit des Sittengesetzes auch (indirekt) die Gewissheit der Freiheit verbürgt. 18 Aber unter Freiheit versteht Creuzer dann eben nicht die Freiheit der Wahl wie Reinhold, sondern die Selbstgesetzgebung des Vernunftwillens wie Kant. 19 Letztlich stimmt Creuzer dem ‚intelligiblen Fatalismus‘ Schmids zu, wenn 17 Creuzer, L., »Betrachtungen« (Anm. 7), 42, 49. 18 Vgl. ebd., 64; „Freyheit ist also nothwendige Bedingung des Sittengesetzes, und die praktische Vernunft postulirt schlechthin das uns durch unser Bewußtseyn gegebene, von der speculativen Vernunft nur problematisch gedachte Vermögen einer Kausalität durch Freyheit für alle vernünftigen Wesen.“ Allerdings hieß es noch am Beginn: „[Das Bewußtsein der Freiheit] ist nicht Folge vom Bewußtsein des moralischen Gesetzes, sondern notwendige Bedingung desselben.“ (ebd., 8f.) 19 Ebd., 133. 34 Andreas Schmidt auch mit Skrupeln, da er sich der problematischen Konsequenzen des intelligiblen Fatalismus für die Moralphilosophie sehr wohl bewusst ist. So weit also Creuzers Kritik an Reinhold. Sowohl Reinhold als auch Creuzer berufen sich auf Kant: Reinhold auf die »Religionsschrift«, Creuzer auf die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und die »Kritik der praktischen Vernunft«. Es stellt sich also die Frage, wer hier der treuere Kantianer ist. 1797 entscheidet Kant höchstselbst diesen Streit in seiner »Metaphysik der Sitten« - sehr zur Enttäuschung Reinholds zugunsten Creuzers. 20 Kant schreibt dort zwar einerseits Folgendes: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts Anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung fähig ist. Nur die Willkür also kann frei genannt werden.“ 21 Diese Unterscheidung erinnert zunächst durchaus stark an diejenige Reinholds. Zwar nennt Reinhold das Vermögen, das er der Willkürfreiheit entgegensetzt, nicht wie Kant ‚Wille‘, sondern ‚praktische Vernunft‘ - ich habe vorhin darauf hingewiesen -, aber dieser Unterschied scheint rein terminologischer Natur zu sein. Entscheidend ist doch, dass es ein Vermögen der Willkürfreiheit gibt, das von der gesetzgebenden Instanz (ob wir sie nun ‚Wille‘ oder ‚praktische Vernunft‘ nennen) unabhängig ist. Allerdings scheint es nur so, als mache sich Kant diese Reinholdsche Unterscheidung zu eigen; denn zugleich macht Kant klar, dass er unter der Freiheit der Willkür überhaupt nicht das Vermögen der Wahlfreiheit meint, sondern bereits die Freiheit unter dem Sittengesetz: „Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein. Dieses ist aber nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstern zum allgemeinen Gesetze.“ 22 20 Reinhold reagiert darauf in »Einige Bemerkungen über die in der Einleitung zu den ›Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre‹ von I. Kant aufgestellten Begriffe von der Freiheit des Willens« (1797). 21 Kant, I., »Metaphysik der Sitten«, AB 26f., Kant-AA VI, 226. Wille und Willkür 35 Damit hat Kant die Freiheitstheorie Reinholds klar zurückgewiesen. Was Kant an Reinhold kritisiert, ist erstens, dass die Berufung auf die Erfahrung der Wahlfreiheit nichts beweist, da wir keinen direkten kognitiven Zugang zum intelligiblen Ich haben. Wenn wir die Freiheit aber als Bedingung der Sittlichkeit postulieren, dann - und das ist die zweite Kritik - nur im Sinne eines autonomen Subjekts, das sich selbst das Vernunftgesetz gibt und das dann nicht zugleich das Vermögen haben kann, es sich nicht zu geben; denn die Vernunft kann sich nicht gegen sich selbst wenden. 23 2. Schellings Theorie der Willkürfreiheit als Selbstbewusstsein des Willens Kommen wir nun endlich zu Schelling und zu der Frage, wie er sich in dieser Diskussion positioniert. Für Schelling ist diese Diskussion insofern von besonderem Interesse, als für ihn der Geist als solcher identisch ist mit dem Wollen: „[D]er Geist ist nur dadurch, daß er will, und kennt sich selbst nur dadurch, daß er sich selbst bestimmt“ 24 ; es ist gerade die 22 MS, AB 5f., Kant-AA VI, 213f. 23 „Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln, (libertas indifferentiae) definirt werden - wie es wohl einige versucht haben, [hier spielt Kant zweifellos direkt auf Reinhold an, Anm. AS] - obzwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beispiele giebt. Denn die Freiheit […] kennen wir nur als negative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnliche Bestimmungsgründe zum Handeln genöthigt zu werden. Als Noumen aber […], mithin ihrer positiven Beschaffenheit nach, können wir sie theoretisch gar nicht darstellen. Nur das können wir wohl einsehen: daß, obgleich der Mensch als Sinnenwesen der Erfahrung nach ein Vermögen zeigt[,] dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen, dadurch doch nicht seine Freiheit als intelligiblen Wesens definirt werden könne, weil Erscheinungen kein übersinnliches Object (dergleichen doch die freie Willkür ist) verständlich machen können, und daß die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subject auch eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann.“ (MS, AB 27, Kant-AA VI, 226) Wenn wir dem Sittengesetz entgegen handeln - das soll vorkommen -, dann ist das, so Kant, nicht zurückzuführen auf ein Vermögen freier Entscheidung, sondern vielmehr auf „ein Unvermögen“ (MS, AB 28, AA VI, 227), also auf einen Mangel der praktischen Vernunft, wirksam zu werden. Dieser Mangel ist aber etwas, für das wir keineswegs verantwortlich sind. 24 Schelling-AA IV, 122. 36 Andreas Schmidt Pointe der Frühphilosophie Schellings, dass er die verschiedenen Vermögen, die bei Kant unterschieden werden - insbesondere theoretische und praktische Vernunft -, zurückführen will auf ein einziges Grundvermögen. Die verschiedenen Vermögen sollen dann ausgehend von diesem Grundvermögen als dessen unterschiedliche Ausprägungen beschrieben werden. Und dieses Grundvermögen ist eben für Schelling der Wille. Der Geist ist Wille. Diese Idee der Systematisierung der Kantischen Philosophie durch ein Primat des Praktischen übernimmt Schelling von Fichte, und Schelling selbst zögert auch gar nicht, sich dabei auf Fichte zu berufen: „Denn eben darinn besteht das eigenthümliche Verdienst des Letztern [sc. Fichtes], daß er das Princip, das Kant an die Spitze der praktischen Philosophie stellt, (die Autonomie des Willens) zum Princip der gesammten Philosophie erweitert, und dadurch der Stifter einer Philosophie wird, die man mit Recht die höhere Philosophie heißen kann, weil sie ihrem Geiste nach weder theoretisch noch praktisch allein, sondern beides zugleich ist.“ 25 Wenn aber die Autonomie des Willens zum höchsten Prinzip der Philosophie überhaupt wird, dann wird die Frage, wie sich die Autonomie des Willens zur Willkürfreiheit verhält, zu einer Frage, die ins Zentrum des systematischen Interesses rückt. Der frühe Schelling nimmt denn auch an drei Stellen auf die Willkür-Theorie Reinholds ausführlicher Bezug. Zum ersten Mal in seiner Schrift »Vom Ich als Princip der Philosophie« von 1795, in der Reinhold explizit erwähnt wird; dann am ausführlichsten in seinen »Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre« von 1797 26 und schließlich im »System des transzendentalen Idealismus« von 1800, diesmal allerdings ohne Reinhold explizit zu nennen. In den Abhandlungen von 1797 präsentiert Schelling seinen Beitrag zur Diskussion als einen Versuch der Synthese von Reinhold und Kant: „Hier [zwischen den Positionen Kants und Reinholds] ist nun ein solcher Widerspruch der Behauptungen, dergleichen man in solchen Dingen kaum für möglich halten sollte. Der Grund dieses Widerspruchs wird also wohl im Object selbst liegen. Wenn Kant behauptet: Der Wille an sich ist weder frei noch unfrei, also auch weder gut noch böse; Reinhold dagegen sagt, der Wille, als solcher, könne nicht anders, als frei seyn, und er sey nur insofern Wille, als er 25 Schelling-AA IV, 136. 26 Ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel »Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur«. Wille und Willkür 37 böse oder gut seyn könne: so ist doch hier offenbar von zwei ganz verschiedenen Willen die Rede. Es fragt sich, ob das Object (der Wille) selbst eine solche doppelte Ansicht möglich macht.“ 27 Die Grundidee ist also, dass beide recht haben, weil der Wille sowohl frei (im Sinne der Wahlfreiheit) als auch nicht frei ist. Die Frage ist nun aber, in welcher Hinsicht der Wille das eine und in welcher Hinsicht er das andere ist - denn in derselben Hinsicht kann er ja kaum beides sein. Schellings These ist nun, dass die Willkürfreiheit nichts anderes als das Selbstbewusstsein des reinen Willens ist; die Willkürfreiheit ist die Weise, in der der Wille sich erscheint. In der »Abhandlung zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre« versucht Schelling, den Begriff der Willkürfreiheit aus dem Selbstbewusstsein des Willens folgendermaßen abzuleiten: „Das Ich aber soll sich seines Wollens als eines absoluten bewusst werden. Dies ist nicht möglich, als negativ, d.h. es soll sich bewußt seyn, daß es durch sinnliche Antriebe nicht bestimmt ist. Dies ist […] nicht möglich, ohne positiven Gegensatz zwischen den sinnlichen Antrieben und dem, was der Wille, als reiner Wille, gebietet. Ebendesswegen, weil, und nur insofern, als dieser positive Gegensatz statt findet, ist es möglich, durch das Bewusstseyn selbst auf einen absoluten Willen getrieben zu werden. Da jener Gegensatz positiv ist, so müssten sich beide Entgegengesetzte aufheben, das Resultat also = 0 seyn. Da nun doch eine Handlung erfolgt, der wir uns bewusst sind, der Grund davon aber weder im moralischen Gesetz, insofern es im Bewusstseyn vorkommt, noch in den sinnlichen Antrieben gesucht werden kann, weil Beide einander gleich gesetzt worden sind, so können wir uns das Entstehen einer Handlung vom Stand- Punkt des Bewussteyns aus nicht weiter erklären, als aus einer freien Wahl, der wir den Namen Willkür geben. Eben dies aber sollte erreicht werden; das Problem war, das Bewusstseyn der Freiheit begreiflich zu machen (gleichsam zu construiren). Dies thun wir durch den Begriff der Willkür, welche daher mit vollem Recht als das Phänomen des Willens erklärt werden kann.“ 28 Dieser Text verlangt nun allerdings einige Erläuterungen. Ich werde versuchen, Schellings Position in drei Schritten näher zu klären. Erster Schritt: Das Argument beruht darauf, dass der absolute Wille, der sich selbst das Vernunftgesetz gibt, erscheinen soll; dass er aber nur erscheinen kann, wenn er eingeschränkt wird durch etwas ihm Ent- 27 Schelling-AA IV, 161. 38 Andreas Schmidt gegengesetztes. Aber hier steht man gleich vor einem Dilemma: Entweder wird der absolute Wille eingeschränkt, dann ist er nicht mehr absolut, oder er bleibt absolut, dann ist die Einschränkung bloßer Schein. Beides scheint Schelling aber zu verneinen. Um dieses Dilemma zu vermeiden, müssen wir die Hinsichten unterscheiden, in denen der absolute Wille eingeschränkt wird bzw. absolut bleibt. Und das ist auch nicht besonders schwierig: Denn offenbar muss unterschieden werden zwischen dem Willen, der sich das Vernunftgesetz gibt, und dem Willen, der sich zwischen Handlungsalternativen in konkreten Situationen zu entscheiden hat - dem empirischen Willen. Wenn man diese Unterscheidung trifft, dann ist es immerhin möglich, dass der reine Wille sich das Vernunftgesetz gibt und darin nicht irgendwie eingeschränkt ist, dass aber seine Kausalität auf den empirischen Willen insofern eingeschränkt ist, als der empirische Wille nicht notwendigerweise der Handlungsmöglichkeit folgt, die im Einklang mit dem Vernunftgesetz steht. Allerdings gibt es hier noch eine Komplikation, auf die ich kurz 28 Schelling-AA IV, 162f. Vgl. dazu auch die entsprechende Passage im »System des transzendentalen Idealismus«: „Die Thätigkeit sonach, deren unmittelbares Objekt das reine Selbstbestimmen selbst ist, kann nicht zum Bewußtseyn gelangen, als im Gegensatz gegen eine Thätigkeit, deren Objekt ein Aeußeres ist, auf welches sie ganz blindlings sich richtet. Es ist also so nothwendig, als es ein Bewußtseyn des Wollens gibt, ein Gegensatz zwischen dem, was die sich durch das Sittengesetz zum Objekt werdende, nur auf das Selbstbestimmen an sich gerichtete Thätigkeit, und dem, was der Naturtrieb verlangt. Diese Entgegensetzung muß reell, d.h. beide Handlungen, die durch den sich selbst zum Objekt gewordenen reinen Willen gebotene und die durch den Naturtrieb verlangte, müssen im Bewußtseyn als gleich möglich vorkommen. Es müßte also nach Naturgesetzen keine Handlung erfolgen, denn beide heben sich auf. Erfolgt also eine Handlung, und es erfolgt eine so gewiß, als das Bewußtseyn fortdauert, so kann diese nicht nach Naturgesetzen, d.h. nothwendig, also nur durch freie Selbstbestimmung erfolgt seyn, d.h. durch eine Thätigkeit des Ichs, welche, indem sie zwischen der bis jetzt sogenannten subjektiven und objektiven in der Mitte schwebt, und diese durch jene oder jene durch diese bestimmt, ohne selbst wieder bestimmt zu seyn, die Bedingungen hervorbringt, unter welchen, sobald sie gegeben sind, das Handeln, welches immer nur das Bestimmte ist, völlig blindlings und gleichsam von selbst erfolgt. Jener Gegensatz gleich möglicher Handlungen im Bewußtseyn ist also die Bedingung, unter welcher allein der absolute Willensakt dem Ich selbst wieder zum Objekt werden kann. Nun ist aber jener Gegensatz eben das, was den absoluten Willen zur Willkür macht, also ist die Willkür die von uns gesuchte Erscheinung des absoluten Willens, nicht das ursprüngliche Wollen selbst, sondern der zum Objekt gewordene absolute Freiheitsakt, mit welchem alles Bewußtseyn beginnt.“ (SW III, 575f.) Wille und Willkür 39 eingehen muss. Man könnte nämlich gegen diese Einteilung Folgendes einwenden: Nehmen wir einmal an, der empirische Wille würde nicht den Handlungsmöglichkeiten folgen, die im Einklang mit dem Vernunftgesetz stehen. Was soll es dann noch heißen, der Wille gebe sich das Vernunftgesetz? Wenn der Wille überhaupt keine Kausalität hat, kann man ja wohl kaum noch von einem autonomen Willen sprechen. - Der Einwand ist durchaus berechtigt, aber Schelling hat vorgesorgt. Er verändert nämlich die Selbstgesetzgebungs-Theorie Kants in einem entscheidenden Punkt: Im Anschluss an Fichte transformiert er sie in eine Selbstsetzungs-Theorie. Die Kantische Autonomie-Lehre hatte ich oben so erklärt: Der Wille gibt sich ein Gesetz - nämlich das Gesetz, vernünftig zu handeln - und er unterliegt zugleich einem Gesetz, das ihn bei dieser Wahl motiviert, nämlich dem Gesetz, vernünftig zu handeln. Und Letzteres wiederum war fundiert im Wesen des Vernunftwillens. Zur Selbstsetzungstheorie wird das Ganze, wenn man das Gesetz, das sich der Wille gibt, und das Gesetz, dem der Wille unterliegt, strikt identifiziert, so dass der Wille, indem er sich ein Gesetz gibt, zugleich das Motiv erschafft, nach dem er sich dieses Gesetz gibt. Und da diese Motivation das Wesen des Vernunftwillens ausmacht, erschafft sich der Vernunftwille auf diese Weise selbst. Es steht natürlich außer Frage, dass sich Schelling damit eine Reihe schwerwiegender theoretischer Probleme einhandelt, die von derselben Art sind wie das Problem, das sich aus dem Begriff der ‚causa sui‘ ergibt. Aber für unser jetzt vorliegendes Problem hat die Selbstsetzungstheorie eine erfreuliche Pointe: Sie ermöglicht es Schelling nämlich, dem gesetzgebenden Willen, selbst wenn er keinerlei Kausalität auf den empirischen Willen hat, eine eigene, unantastbare Kausalität zuzuschreiben: nämlich eine Kausalität auf sich selbst, eine Kausalität, die darin besteht, sich als gesetzgebenden Willen allererst zu setzen, also in die Existenz zu bringen, und zwar indem der Wille sich ein Gesetz gibt. Soviel also zum ersten Argumentationsschritt in der Ableitung der Willkürfreiheit als Selbstbewusstsein des Willens. Zweiter Schritt: Schelling betont - darin mit Kant, Schmid und Creuzer ganz einig, dass dem reinen Willen, der sich das Vernunftgesetz gibt, keinerlei Wahlfreiheit zukommt: „Das Gesetz, das von ihm ausgeht“, schreibt Schelling, „ist für den absoluten Willen ein bloßes Natur-Gesetz, wodurch er gar nichts ausdrückt, als sich selbst“. 29 Nun soll die Willkürfreiheit aber die Erscheinung dieses absoluten Willens sein, und 29 Schelling-AA IV, 164. 40 Andreas Schmidt zwar eine Erscheinung, die offenbar keineswegs bloßer Schein ist. Die Frage ist nun aber: Wie soll das gehen, wenn dem absoluten Willen selbst überhaupt keine Willkürfreiheit zukommt? Wie kommt es denn dann zur Willkürfreiheit? Es könnte nun angesichts des Zitats so scheinen, als wollte Schelling die Wahlfreiheit irgendwie dadurch erklären, dass sich eine Pattsituation aus gleichstarken einander widerstrebenden Motivationen ergibt. Aber das wäre reichlich absurd: Erstens würde eine derartige Situation extrem selten, vielleicht nie auftreten, so dass die Anzahl der freien Handlungen gegen Null tendieren würde, und außerdem bliebe immer noch völlig unverständlich, wie es in dieser Situation zur Freiheit, eine Entscheidung zu treffen, kommen könnte. Das Prinzip exegetischen Wohlwollens sollte uns also nach anderen Interpretationen Ausschau halten lassen. Gott sei Dank gibt es einen Hinweis in Schellings »Ich-Schrift«, die uns aus dieser Verlegenheit hilft. In der »Ich- Schrift« schreibt Schelling nämlich: „Giebt es nemlich für das endliche Ich eine praktische Möglichkeit, d.h. ein Sollen, so ist dieß schlechterdings nicht ohne den Begriff der Freiheit des empirischen Ichs denkbar“. 30 Schelling beruft sich also in diesem unschuldig daherkommenden Satz auf das Prinzip, dass die Freiheit Bedingung der Möglichkeit des Sollens ist. Und aus dem Kontext wird klar, dass Schelling hier unter ‚Freiheit‘ tatsächlich Wahlfreiheit zwischen Alternativen versteht. Das heißt: Wenn ich etwas tun soll, dann impliziert das, dass ich es erstens auch tun kann und zweitens nicht tun muss, dass ich also frei bin, es zu tun oder zu unterlassen. Und das scheint auch ganz plausibel zu sein: Wenn ich etwa beim Klettern im Gebirge abstürze, dann wäre es widersinnig, mich während des Falls aufzufordern, ich solle nach unten fallen. Ein Sollen hat nur dann Sinn, wenn ich das, was ich da soll, tun kann und zugleich nicht tun muss. Das Erste wäre ja erfüllt: Ich kann nach unten fallen, da ich es ja gerade tue und - ab esse ad posse valet consequentia - es also kann; aber das Zweite wäre leider nicht erfüllt: Ich habe nicht die Freiheit, es zu unterlassen, und daher ist die Aufforderung, ich solle nach unten fallen, witzlos. - Angewandt auf Schelling heißt das: Die Wahlfreiheit lässt sich ableiten aus dem Sollensanspruch des Vernunftgesetzes, das mich auffordert, nur in Übereinstimmung mit dem Vernunftgesetz zu handeln. Und da das Vernunftgesetz seinerseits seinen Ursprung in der notwendigen Selbstgesetzgebung des absoluten 30 Schelling-AA II, 166. Wille und Willkür 41 Willens hat, kann man sagen, dass die Freiheit zurückgeführt werden kann auf den absoluten Willen und dessen Erscheinung ist. Ich sollte dabei vielleicht noch erwähnen, dass sich dieses ‚Du kannst, denn du sollst‘-Argument bereits in ähnlicher Form auch bei Kant findet. 31 Aber so weit ich sehe, leitet Kant aus dem Sollen nur das Können ab, nicht jedoch das Nicht-Müssen und deswegen auch nicht die Freiheit des Auch-anders-handeln-Könnens. 32 Diesen Aspekt des Implikationsverhältnisses von Sollen und Können scheint mir Schelling neu in die Diskussion eingebracht zu haben. Dritter Schritt: Wir verstehen jetzt zwar, wie die Freiheit im absoluten Willen, der selbst nicht frei ist, fundiert ist, wir verstehen aber noch nicht, welchen Zusammenhang Schelling sieht zwischen Freiheit und der Einschränkung der Kausalität des absoluten Willens durch sinnliche Antriebe. Wieso bin ich nur dann frei, wenn der absolute Wille eingeschränkt wird? Schellings Gedanke dabei ist, dass das Vernunftgesetz, das sich der absolute Wille selbst gibt, noch nicht automatisch einen Sollenscharakter für das Ich hat. Es erhält erst einen Sollenscharakter, wenn es auch gegenläufige Motive gibt. Stellen Sie sich ein Wesen vor, das so beschaffen wäre, dass die Einsicht, dass eine bestimmte Handlung moralisch ist und alle anderen Handlungsmöglichkeiten nicht moralisch sind, bereits ein hinreichendes Motiv wäre, um diese erste Handlungsmöglichkeit zu wählen. Es würde sich sozusagen um ein Wesen handeln, das niemals in Versuchung wäre, etwas zu tun, was unmoralisch wäre. Die Frage ist nun folgende: Sollen wir diesem Wesen die Freiheit des Auch-anders-handeln-Könnens in Bezug auf diese moralische Handlung zuschreiben mit dem Argument, dass dieses Wesen ja so handeln soll, also auch kann und nicht muss, obwohl es für dieses Wesen nicht das geringste Motiv gibt, anders zu handeln? Schellings Antwort zumindest ist nein: Dieses Wesen wäre sich des Vernunftgesetzes gar nicht als eines Sollens, gar nicht als eines Imperatives bewusst, sondern einfach als das, was es eben - ohne irgendwelche Anfechtungen - sowieso will. 33 Und insofern fehlt für dieses Wesen mit dem Bewusstsein des Sollens 31 Siehe dazu Stern, R., »Does Ought Imply Can? And Did Kant Think It Does? «, in: Utilitas 16 (2004), 42-61. 32 Um welches ‚Können‘ handelt es sich dann? Vielleicht nur um ein Vermögen, das ich auch dann besitze, wenn mir seine Ausübung gelegentlich unmöglich ist. Siehe dazu (in Bezug auf Creuzer) Tafani, D. »Discussione« (Anm. 12), 68ff. 42 Andreas Schmidt auch das Bewusstsein seiner Freiheit im Sinne des Auch-andershandeln-Könnens. Und wenn man außerdem die These vertritt, dass man nur dann wirklich von Freiheit sprechen kann, wenn man sich der Freiheit auch bewusst ist, dass es also keine unbewusste Freiheit gibt, dann heißt das, dass man erst dann frei ist, dem Vernunftgesetz zu folgen oder auch nicht zu folgen, wenn man tatsächlich Motive hat, ihm nicht zu folgen. Erst wenn es also sinnliche Antriebe gibt, die mich in Versuchung führen, dem Vernunftgesetz nicht zu folgen, bin ich frei - nämlich frei auch dem Vernunftgesetz gegenüber. Denn erst dort, wo ich in Versuchung bin, erscheint mir das Vernunftgesetz als ein Sollen; und nur wenn es mir als ein Sollen erscheint, erscheine ich mir als ein Wesen, das die Freiheit besitzt, dem Sollen Folge zu leisten oder nicht. Das ist der Grund, warum Schelling sagt, es müsse einen positiven Gegensatz zwischen den sinnlichen Antrieben und dem, was der Wille, als reiner Wille, gebietet, geben, und beide müssten sich aufheben: Sie müssen sich insofern auf-heben, als keine von beiden Seiten für sich genommen ein hinreichendes Handlungsmotiv sein darf. Soweit also Schellings These, Willkürfreiheit sei nichts anderes als das Selbstbewusstsein des absoluten Willens. Wie verhält sich diese Position Schellings nun zu den Einwänden, die Creuzer gegen Reinhold erhoben hatte? Zunächst zum praktischen Einwand. Kann Schelling erklären, warum wir, sofern wir freie Wesen sind, auch ein Interesse daran haben, uns dem Vernunftgesetz (und nicht den Gesetzen der Naturtriebe) zu unterwerfen? Ich denke, ja: Denn die Willkürfreiheit ist nun kein vom Vermögen der Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft getrenntes Vermögen, wie bei Reinhold, sondern deren Erscheinung. Es gibt sie, damit die praktische Vernunft sichtbar wird, und dazu ist die Einschränkung der unmittelbaren Kausalität der praktischen Vernunft durch sinnliche Antriebe nötig. Aber erst wenn die Willkürfreiheit sich gegen die sinnlichen 33 Diese These lässt sich allerdings bestreiten. Selbst wenn die Erkenntnis dessen, was ich soll, hinreichendes Motiv dafür ist, es zu wollen, werden Sollen und Wollen für mich doch keineswegs ununterscheidbar. Ich würde daher eher die - cartesianische - These vertreten wollen, dass ich ein Bewusstsein der Freiheit (und die Freiheit) habe, auch anders zu handeln, selbst wenn ich nicht das geringste Motiv habe, anders zu handeln. Das Anders-Handeln wäre dann ‚moralisch unmöglich‘ (in dem Sinne, in dem der Terminus im 17. Jahrhundert verwendet wurde: es gibt kein Motiv, die Handlungsmöglichkeit wird also nicht gewählt werden), aber theoretisch möglich, und dies notwendigerweise. Wille und Willkür 43 Antriebe und für die Forderungen der praktischen Vernunft entscheidet, wird die praktische Vernunft vollständig sichtbar - eben im sittlichen Handeln. Nun zum ontologischen Einwand: Verstößt Schelling gegen den Satz vom zureichenden Grund? Nun, da es bei Schelling eine Freiheit der Wahl gibt, die mehr als bloßer Schein ist, muss er wohl oder übel die Geltung des Satzes vom zureichenden Grund einschränken. Ich glaube, dass Schelling damit nicht wirklich ein Problem hat. Die Art, wie diese Einschränkung geschieht, ist aber vielleicht etwas überraschend. Für einen orthodoxen Kantianer gilt das Gesetz vom zureichenden Grund nämlich in der Erscheinungswelt ohne Ausnahme - sie untersteht dem Gesetz der Naturkausalität. Wenn es etwas gibt, für das der Satz vom zureichenden Grund nicht gilt, dann bestenfalls etwas in der intelligiblen Welt, die der Naturkausalität nicht unterworfen ist. Bei Schelling scheint es nun gerade umgekehrt zu sein. Der Wille an sich als Teil der intelligiblen Welt ist nicht frei: Das Vernunftgesetz, das er sich gibt, folgt aus seiner Natur und ist für ihn sozusagen eine Art Naturgesetz. Der Wille, sofern er erscheint, ist dagegen frei. Insofern könnte man meinen, der Satz des zureichenden Grundes sei für Schelling ausschließlich ein Gesetz der intelligiblen Welt, während die Erscheinungswelt davon ausgenommen sei. Allerdings ist die Sache tatsächlich etwas komplizierter, da sich auch Schelling zu einer durchgehenden Naturkausalität in der Erscheinungswelt bekennt, und es entsteht nun die Frage, wie das zur Freiheit des erscheinenden Willens passt. In der »Ich-Schrift« schreibt Schelling: „Nun ist zwar eine transcendentale Kaussalität des empirischen Ichs wohl begreiflich, wenn sie die unendliche [Kausalität] selbst, nur unter den Bedingungen der Endlichkeit gedacht, ist: allein, da das empirische Ich selbst nur erscheinende Realität hat, und unter demselben Geseze der Bedingtheit steht, unter welchem alle Erscheinungen stehen, so tritt die neue Frage ein: wie die transcendentale […] Kaussalität des empirischen Ichs mit der Naturkausalität desselben Ichs übereinstimmen könne? “ 34 34 Schelling-AA II, 171. Vgl. SW III, 602f.: „Frei ist es [das Freie] nur als innere Erscheinung, und darum sind wir und glauben wir innerlich immer frei zu seyn, obgleich die Erscheinung unserer Freiheit, oder unsere Freiheit, insofern sie übergeht in die objektive Welt, ebenso unter Naturgesetze tritt wie jede andere Begebenheit.“ 44 Andreas Schmidt Die Frage ist nun also, wie wir zwei Arten von Erscheinung zusammenbringen: die Erscheinung der Freiheit und die Erscheinung der Naturkausalität. Das ist die zentrale Frage, die die Schellingsche Naturphilosophie zu lösen hat: Wie muss die Natur beschaffen sein, wenn in ihr menschliche Freiheit möglich sein können soll? Schelling glaubt, dass der Begriff des Lebens hier eine vermittelnde Rolle spielen könnte. In seiner »Neuen Deduktion des Naturrechts« schreibt er: „Leben ist die Autonomie in der Erscheinung, ist Schema der Freiheit, insofern sie in der Natur sich offenbart“. 35 Und in der »Abhandlung« heißt es: „Soll er [der Geist] also sich selbst als thätig in der Succession seiner Vorstellungen anschauen, so muß er sich als ein Object anschauen, das ein innres Princip der Bewegung in sich selbst hat. Ein solches Wesen heißt lebendig. […] Alles am Menschen trägt den Charakter der Freiheit. Er ist durchaus ein Wesen, das die todte Natur ihrer Vormundschaft entlassen, und der Gefahr seiner eignen (unter sich streitenden) Kräfte überantwortet hat. Seine ganze Fortdauer ist eine immer wiederkehrende, immer neubestandne Gefahr, eine Gefahr in die er sich durch eignen Impuls begiebt, und aus der er sich selbst wieder rettet.“ 36 Schließlich zum erkenntnistheoretischen Einwand: Beruft sich Schelling illegitimer Weise auf das Freiheitsbewusstsein als Tatsache des Bewusstseins? Nein, denn wie wir gesehen haben, ist das Freiheitsbewusstsein für Schelling nicht unabhängig vom Bewusstsein des Moralgesetzes. So gewiss das Moralgesetz ein Sollen für mich ist, so gewiss bin ich frei. Soviel also zur Theorie der Willensfreiheit beim frühen Schelling. Sicherlich wäre es nun auch eine ganz interessante Aufgabe, sich anzusehen, ob diese Deduktion der Willkürfreiheit als Selbstbewusstsein des Willens auch noch in Schellings späterem Werk, insbesondere in seiner »Freiheitsschrift« von 1809, eine Rolle spielt. Das müsste freilich Gegenstand einer eigenen Untersuchung werden, die ich an dieser Stelle nicht mehr in Angriff nehmen will. Hier nur soviel: Obwohl in der »Freiheitsschrift« das erste Prinzip nicht mehr das absolute Ich ist, sondern Gott, wird doch gleichzeitig Gott - wie vorher das absolute Ich - mit dem Willen identifiziert: „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn.“ 37 Insofern 35 Schelling-AA III, 141, §9. 36 Schelling-AA IV, 115f. 37 SW VII, 350. Wille und Willkür 45 gibt es in der »Freiheitsschrift« einen direkten Anknüpfungspunkt für einen Vergleich. Und es scheint, dass auch hier die Willkürfreiheit des Menschen nichts anderes ist als so etwas wie das Selbstbewusstsein des absoluten Willens -, nämlich (wie sich Schelling jetzt ausdrückt) die Selbstoffenbarung des göttlichen Willens. Diese Selbstoffenbarung des göttlichen Willens ist wiederum nur möglich, wenn es so etwas gibt, wie eine Versuchung zum Bösen - auch das ist ein Zug, den die »Freiheitsschrift« mit der Schellingschen Frühphilosophie teilt. Die Möglichkeit des Bösen (nicht deren Wirklichkeit) ist also Bedingung der Möglichkeit der Selbstoffenbarung des göttlichen Willens. 38 38 Zu Schellings Rückgriff in der »Freiheitsschrift« (über die Identitätsphilosophie hinweg) auf die Frühphilosophie siehe Buchheim, Th., »Einleitung«, in: Schelling, F. W. J., Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hg. v. Th. Buchheim, Hamburg 1997, XIII. Zur Notwendigkeit der Möglichkeit (nicht der Wirklichkeit) des Bösen in der Freiheitsschrift siehe Buchheim, Th., »Schelling und die metaphysische Zelebration des Bösen«, in: Philosophisches Jahrbuch 107 (2000), 47-60. Wolfgang M. Schröder Naturrecht, das sich selbst zerstört Zur historisch-rechtstheoretischen Kontextualisierung von Schellings »Neue[r] Deduction des Naturrechts« (1796/ 97) ‚Naturrecht‘ trägt (s)ein Ferment in sich. Inwiefern, deduziert Schelling in einer vermutlich Anfang 1796 entstandenen Jugendschrift, publiziert in zwei Tranchen als »Neue Deduction des Naturrechts« (ND) (1796/ 97). 1 Deren Thesen wirken in Schellings Gesamtwerk erratisch, sind aber von rechtsphilosophischem Interesse: Schellings ND bündelt und pointiert die innovativsten Denklinien der deutschsprachigen Naturrechtsdebatte der 1790er Jahre bis zum Erscheinen von Kants »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre« (1797). Einerseits greift der Argumentationsgang der ND Grundweichenstellungen abendländischen Rechtsdenkens auf; andererseits und spezifischer rezipiert Schelling den genannten aufklärerischen Naturrechtsdiskurs. Wie die ND beides verbindet, soll das Folgende grundrisshaft zeigen. Versucht wird eine historisch-rechtstheoretische Kontextualisierung der Schellingschen Schrift, beginnend mit einer ideengeschichtlichen Verständigung über den Rechtsbegriff. I. Recht, wie (nicht nur) die abendländische Tradition es versteht, bringt die Grammatik eigener wie fremder Freiheit und Pflicht zur Sprache. Historisch wie systematisch scheint ein ursprünglichster Blickwinkel solcher Freiheits- und Verpflichtungsordnung vorgegeben: der des 1 Vgl. unten Abschnitt II. Naturrecht, das sich selbst zerstört 47 subjektiven Rechts. Das gilt jedenfalls für die vom altrömischen ius herkommende Tradition. Die Ursprungsbedeutung dieses Rechtsbegriffs war offenbar die eines Unterscheidungskriteriums legitimer und illegitimer individueller Handlungsfreiheit. Das ius stand inbegrifflich für erlaubte Freiheitsbetätigung, besonders auch Herrschaftsausübung über Personen und Sachen - im Unterschied zu friedensstörender Gewaltausübung (vis). 2 Im Vergleich hierzu verweist die altgriechische Vorstellung vom Rechtlichen, die Idee des díkaion, auf eine völlig andere ursprüngliche Rechtsfunktion. Zunächst war das díkaion noch nicht durch seine normative Bedeutung definiert. Als díkaios konnte alles gelten, was irgendwie in Ordnung war. Mit der Zeit aber wurde das díkaion zum rechtstheoretischen Inbegriff ontologisch oder ethisch zu bestimmender objektiver Ordnungs- und Richtigkeitsmaßstäbe, nach denen die Angemessenheit und Geradheit (itheía) von Verhältnissen beurteilt werden konnte. Recht (díkaion) und Gerechtigkeit (dikaiosýne) sind hier dezidiert relationale Kriterien. Sie machen die Verhältnismäßigkeit zweier Größen bestimmbar, auch und besonders in Zu- und Verteilungsfragen. 3 Damit steht das díkaion zwar nicht in kontradiktorischem Gegensatz zum altrömischen ius. Jedoch scheint es, dass díkaion, dikaiosýne und itheía inhaltlich eher den lateinischen rechtstheoretischen Begriffen iustum, iustitia und rectum entsprechen als dem eigentlichen ius-Konzept. Neben verschiedensten Vorstellungen davon, was ‚Natur‘ und ‚natürlich‘ zu heißen verdient 4 , waren es der díkaion- und der ius-Gedanke, welchen die Entwicklung des ‚Naturrechts‘ (als philosophischer Rechtslehre par excellence) die entscheidenden Impulse verdankt. Aus der 2 Schiemann, G., Art. »‚ius‘«, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. H. Cancik und H. Schneider, Bd. 6, Stuttgart/ Weimar 1999, 89-99. 3 Vgl. Ilting, K.-H., Art. »‚Naturrecht‘«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, 1. Aufl. der Studienausgabe, Bd. 4, Stuttgart 2004, 245-313; Neschke, A., »Art. ‚Gerechtigkeit/ Recht‘«, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. H. Cancik und H. Schneider, Bd. 4, Stuttgart/ Weimar 1998, 951-953. 4 Vgl. dazu Ilting, K.-H., Art. »‚Naturrecht‘« und Sauter, J., »Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts. Untersuchungen zur Rechts- und Staatslehre«, Wien 1932. 48 Wolfgang M. Schröder Tradition des altrömischen ius heraus sind vorpositive, ursprüngliche, subjektive Freiheitsrechte zu Grundthemen der Naturrechtstheorie geworden. Parallel dazu haben altgriechische Konzeptionen des díkaion und der dikaiosýne Grundweichen für Lehren vom objektiven natürlichen Sittengesetz gestellt. Lange, allzu lange hat das Naturrecht beide Traditionsstränge in systematischer Engführung entwickelt - und damit ohne klare Abgrenzung von Rechts- und Sittlichkeitstheorie. Der Preis dieses Verfahrens war hoch: ‚Recht‘ im strengen Sinn wurde von ‚Rechtsethik‘ oder, allgemeiner, ‚Sittlichkeit‘ systematisch fast ununterscheidbar, wodurch vor allem Begriff und Sache des Naturrechtlichen ihre klaren Konturen verloren. Der Durchbruch hin zur modernen, Recht und Ethik unterscheidenden Auffassung vom Naturrecht vollzog sich als Übergang von der alten materialethischen Naturrechtslehre zu einer kritischen Philosophie des Rechts. 5 Was spezifisch die Ausbildung eines prägnanten kritisch-philosophischen Rechtsbegriffs angeht, so hat diese maßgebliche Impulse durch eine Grundunterscheidung von Thomas Hobbes erfahren, die sich im »Leviathan« (1651) findet. Dort wird ‚Naturrecht‘ (ius naturale) so vom ‚Naturgesetz‘ (lex naturalis) abgegrenzt, dass ius naturale als existentiell-freiheitstheoretischer, lex naturalis dagegen als rationalistisch-bindungstheoretischer Grundbegriff der Rechtsphilosophie zu stehen kommt. 6 Ideengeschichtlich gesehen hat Hobbes diese Differenzierung zwar nicht erfunden, sondern nur wiederentdeckt. 7 Jedoch hat er sie erstmals zu einer rechts-, politik- und staatstheoretischen Leitdifferenz neuzeitlicher Naturrechtstheorie erhoben. 8 II. Folgt man der Hobbesschen Sicht, dass ‚Recht‘ naturgemäß mit ‚Freiheit‘ und ‚Gesetz‘ naturgemäß mit ‚Bindung‘ zusammenzudenken sind („because R IGHT consisteth in liberty to do or to forbear, whereas L AW determineth and bindeth to one of them“; Hobbes, »Leviathan«, I, 5 Vgl. Schneiders, W., »Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius«, Hildesheim [u.a.] 1971. Ders., »Philosophie der Aufklärung - Aufklärung der Philosophie«, in: Gesammelte Studien, hg. zu seinem 70. Geburtstag v. F. Grunert, Berlin 2005. Naturrecht, das sich selbst zerstört 49 14), dann verbietet es sich, Naturrechtstheorie im Kern anders denn als Freiheitstheorie zu entwerfen. Jedenfalls scheint es verquer, ihr Grundziel in etwas anderes zu legen als eben darein, die argumentative Logik und die rechtsbegrifflichen Grenzen naturgegebener Freiheitsansprüche auszuloten. Radikal wie kaum ein anderer vor und nach ihm hat der junge Schelling die Konsequenzen dieser Einsicht entfaltet: in Form einer »Neuen Deduction des Naturrechts« (ND). 9 Wohl zu Beginn des Jahres 1796 entstanden 10 , erscheint Schellings ND 1796/ 97 im »Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten« 11 , ab 1795 heraus- 6 Das 14. Kapitel von Buch I des »Leviathan« bahnt den Übergang von vorstaatlichen begrifflichen und gesellschaftlichen Prämissen zu den unmittelbar staatstheoretischen Materien mit einem definitorischen Dreischritt an. Bestimmt wird, was unter ‚natural right‘, ‚liberty‘ und ‚natural law‘ zu verstehen sei. Hobbes befindet: „The R IGHT OF NATURE , which writers commonly call jus naturale, is the liberty each man hath to use his own power, as he will himself, for the preservation of his own nature, that is to say, of his own life, and consequently of doing anything which, in his own judgement and reason, he shall conceive to be the aptest means thereunto.“ (Hobbes, T., »Leviathan«, hg. v. E. Curley, Indianapolis, Cambridge 1994) Im Blick hierauf wird der ‚liberty‘- Begriff wie folgt bestimmt: „By L IBERTY is understood, according to the proper signification of the word, the absence of external impediments, which impediments may oft take away part of man’s power to do what he would, but cannot hinder him from using the power left him, according as his judgement and reason shall dictate to him.“ (Ebd.) Abgrenzend hierzu definiert Hobbes: „A L AW OF N ATURE (lex naturalis) is a precept or general rule, found out by reason, by which a man is forbidden to do that which is destructive of his life or taketh away the means of preserving the same, and to omit that by which he thinketh it may be best preserved. For though they that speak of this subject use to confound jus and lex (right and law), yet they ought to be distinguished, because R IGHT consisteth in liberty to do or to forbear, whereas L AW determineth and bindeth to one of them; so that law and right differ as much as obligation and liberty, which in one and the same matter are inconsistent.“ (Ebd.) 7 Ideengeschichtlich geht sie zurück auf die antike Meinung, aus der kosmischen Natur- und Weltordnung (lex) sei teils als Richtschnur, teils als Berechtigungsrahmen ein naturhaft-ursprünglichstes Dürfen (ius) menschlichen Handelns herzuleiten. Vgl. dazu Ilting, »Naturrecht«. 8 Man vergleiche etwa Hobbes, »Leviathan«, I, 14 mit Grotius, H., »De iure belli ac pacis libri tres«, Paris 1625, nebst einer Vorr. von Christian Thomasius zur 1. dt. Ausg. v. Jahre 1707 = Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens/ Hugo Grotius. Neuer dt. Text u. Einl. v. W. Schätzel, Tübingen 1950, I, i, 10, 12. 50 Wolfgang M. Schröder gegeben von F. I. Niethammer (später gemeinsam von Niethammer und J.G. Fichte). Nimmt man Schellings Abschnittsüberschriften als strukturierende Rubriken, so gliedert sich die ND formal wie folgt 12 : 1. Deduction der Rechtswissenschaft überhaupt, und ihres obersten Grundsatzes (§§ 1-75) 2. Analyse des obersten Grundsatzes, und Deduction der ursprünglichen Rechte (§§ 76-163), Übergang und Vorbemerkung (§§ 76f.) A: Klärung der Materie und der Form des rechtlichen Dürfens (§§ 78- 95) B: aa) Recht, im Gegensatz gegen allgemeinen Willen (§§ 96-109) bb) Recht, im Gegensatz gegen individuellen Willen (§§ 110-128) cc) Recht, im Gegensatz gegen Willen überhaupt (§§ 129-163) Schon diese Übersicht lässt die Hauptanliegen der ND erkennen: Erwiesen bzw. geklärt werden sollen (1) die Eigenständigkeit der Rechtswissenschaft (vor allem gegenüber der Moral- und Sittenlehre), (2) die Existenz naturhaft-ursprünglicher Rechte, (3) das Wesen des Rechts als Dürfen sowie (4) mögliche Kollisionsszenarien des Rechts mit den Willenssphären. Vor diesem Hintergrund erscheint Schellings ND als Diskussionsbeitrag zu mindestens vier Diskursen: (1) zur Debatte über die Unterscheidbarkeit von ‚Recht‘ im strengen Sinn von ‚Rechtsethik‘ oder, 9 Wir zitieren Schellings ND unter Angabe der betreffenden Paragraphen durchweg nach der Textfassung der Historisch-kritischen Ausgabe von Schellings Werken. Umsichtige Zusammenfassungen und Analysen des Gedankengangs der ND finden sich bei Osten, M., »Der Naturbegriff in den Frühschriften Schellings«, München 1969; Smid, S., »Einführung in die Philosophie des Rechts«, München 1991; Ders., »Moral bei Hegel und Schelling«, in: Die Rechtsphilosophie des Deutschen Idealismus (Schriften zur Transzendentalphilosophie, hg. v. V. Hösle, Bd. 9, Hamburg 1989, 117-145; Sandkühler, H.-J., »Freiheit und Wirklichkeit«, Frankfurt a.M. 1968; Dierksmeier, C., »Der absolute Grund des Rechts. Karl Christian Friedrich Krause in Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling«, Spekulation und Erfahrung, Abt. II, Bd. 52, Stuttgart- Bad Cannstatt 2003. 10 So Osten, »Der Naturrechtsbegriff in den Frühschriften Schellings«, 16. Vgl. auch die diesbezüglichen Einschätzungen in Tilliette, X., »Schelling. Biographie«, Stuttgart 2004. 11 Verlagsort ist Neustrelitz, 1795ff. 12 Vgl. Jacobs, W. G., »Neue Deduction des Naturrechts. Editorischer Bericht«, in: F. W. J. Schelling, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 3, hg. v. H. Buchner, W. G. Jacobs, A. Pieper, Stuttgart 1982, 115-135. Naturrecht, das sich selbst zerstört 51 allgemeiner, ‚Sittlichkeit‘; (2) zur Begründung naturhaft-ursprünglicher Rechte (natürliche ‚Menschenrechte‘ - unabhängig von Bürgerrechten und anderen staatlich definierten Rechtspositionen); (3) zur Konturierung des Rechtsbegriffs und seines Wesenskerns; und schließlich (4) zur durch Rousseaus ‚Contrat Social‘ verschärften Frage nach der Vermittelbarkeit von Einzelwillen und volonté générale, die Schelling indes um das Szenario einer Kollision von ‚Recht‘ und ‚Wille überhaupt‘ originell erweitert. III. Näherhin betrachtet hat Schellings ND ein doppeltes Grundthema und ein dreifaches Grundziel. Passend zu Schellings Sicht, das „ganze Geschäft der theoretischen und praktischen Philosophie“ sei „nichts als Lösung des Widerstreits zwischen dem reinen und empirisch-bedingten Ich“ 13 , ist das doppelte Grundthema der ND die Selbstbestimmung und Herrschaft des absoluten menschlichen Ich in der „Welt der Erscheinungen“. Dabei meint ‚Selbstbestimmung‘ hier nicht nur ‚ursprüngliche Autonomie‘ schlechthin. Präziser meint sie eine das freie Selbst in ‚freyer That‘ verwirklichende ‚Causalität der Freiheit‘ im Blick auf Objekte. Es geht entscheidend um eine ‚physische Causalität‘, die „doch ihrem Princip nach autonomisch, d.h. durch kein Naturgesetz erreichbar“ ist (ND § 8). Schelling nennt diese ‚Causalität‘, welche Autonomie und Heteronomie in sich vereinigt, ‚Leben‘ - als ‚Autonomie in der Erscheinung‘ und „Schema der Freiheit, insofern sie in der Natur sich offenbart“ (ND § 9). Vor diesem Hintergrund denkt Schelling die Herrschaft des Ich in der Welt der Erscheinungen weniger als kopernikanisch gewendete Erkenntnissubjektivität, sondern präzise als ein „die Natur nach moralischen Gesetzen regieren“ (ND § 8). 14 Das dreifache Grundziel der ND ist ebenfalls schnell skizziert: Die geschilderte Selbstbestimmung und Herrschaft des absoluten menschli- 13 Vgl. dazu Schelling, F. W. J., »Vom Ich als Prinzip der Philosophie«, SW I/ 1, 176, und Osten, »Der Naturbegriff in den Frühschriften Schellings«, 6. 14 Vgl. auch ND § 7: „Ich herrsche über die Welt der Objecte; auch in ihr offenbart sich keine andre, als meine Causalität. Ich kündige mich an, als Herrn der Natur, und fordere, daß sie durch das Gesetz meines Willens schlechthin bestimmt sei […].“ 52 Wolfgang M. Schröder chen Ich in der „Welt der Erscheinungen“ soll (1) als Naturordnung begrifflich hergeleitet, (2) in ihrer Geltung begründet und (3) auf ihre Grundaporie hin durchsichtig gemacht werden. Letztlich geht es darum, ‚NaturRecht‘ (so die prägnante Schreibweise in einem Teil des Erstdrucks der ND 15 ) sowohl als wirkliche als auch als bloße Natur- (rechts)ordnung zu erweisen. Und dies durchaus im Sinne einer kritischen Rechtsphilosophie, nicht mehr im Horizont der alten materialethischen Naturrechtslehre. Ihr Herleitungsziel verfolgt die ND am Leitfaden einer Theorie unveränderlichen Selbstseins. Diese geht von einem existentiellen Imperativ der Freiheit aus, der Selbstsein als Selbstwerdung und insofern Freisein für das menschliche Ich verbindlich macht. Verwirklicht wird diese Forderung dadurch, dass „das absolute Seyn, das in jedem Dasein sich offenbart, als identisch mit mir selbst, mit dem Letzten, Unveränderlichen in mir“ (ND § 2) gedacht wird, dergestalt, dass meine selbstbestimmte Subjektivität gegen jedes Umschlagen in fremdbestimmtes Objektsein grundsätzlich gesichert werden kann. Entscheidend hierfür ist, dass das Ich aufhört, selbst Erscheinung (und also fremdbestimmbar) zu sein, und konsequent danach strebt, ein Wesen an sich zu werden, das nur von sich selbst abhängig und durch kein fremdes Gesetz bestimmbar ist. Konkret muss das Ich eine scharfe kategoriale Unterscheidung treffen und wahren zwischen sich als dem absoluten, unveränderlichen Subjekt und dem, was Objekt werden kann. Ist dies erreicht, so „kündige ich mich an, als ein Wesen, das alles Widerstrebende bestimmt, selbst aber durch nichts bestimmbar ist“ (ND § 6). „Meine Freiheit weist jedes Object in die Schranken der Erscheinung zurück, und schreibt ihm eben damit Gesetze vor, über die es nicht treten darf. […] alles, was nicht dieses Selbst ist - alles was Object werden kann - ist heteronomisch, ist Erscheinung für mich. Die ganze Welt ist mein moralisches Eigenthum.“ (ND § 7) Und dies gilt für Schelling als natürliches ‚Grundrecht‘ jedes menschlichen Individuums, gleichsam als Grundrecht auf Natur. Die Geltungsbegründung dieser Position versucht die ND anhand der These einer für alle moralischen Wesen unbedingt geltenden Forderung 15 Vgl. erläuternd zum redaktionell-verlagstechnischen Hintergrund dieser Schreibweise Jacobs, »Neue Deduction des Naturrechts. Editorischer Bericht«, in: F. W. J. Schelling, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 3, hg. v. H. Buchner, W. G. Jacobs u. A. Pieper, Stuttgart 1982, 117. Naturrecht, das sich selbst zerstört 53 individueller Freiheitswahrung: „Ich kann nicht aufhören meine Freiheit zu behaupten, so lange die Forderung: Strebe nach Unbedingtheit! noch nicht erfüllt ist. […] Also ist die Individualität meines Willens selbst durch jene höchste Forderung der praktischen Vernunft sanctionirt. […] Jedes moralische Wesen - soll nicht, aber muß - Individuum bleiben, so lange es noch jene Forderung erfüllen soll“. (ND § 23f.) Dieses für alle moralischen Wesen unbedingt geltende „nicht sollen, aber müssen“ deutet Schelling als Forderung, die in ethischen Kategorien nicht darstellbar ist. Denn Ethik macht das „allgemeine Wollen aller moralischen Wesen“ als Regulativ und Korrektiv des „empirische[n] Wollen[s] jedes einzelnen Individuums“ geltend (ND § 30). Für Schelling sind also Ethik und Moral zwar aufeinander bezogen. Sie treten aber auch spezifisch auseinander: „Die Moral überhaupt stellt ein Gebot auf, das sich nur ans Individuum wendet, und nichts als die absolute Selbstheit des Individuums fodert: die Ethik, ein Gebot, das ein Reich moralischer Wesen voraussetzt, und die Selbstheit aller Individuen durch die Forderung, die sie ans Individuum macht, sichert.“ (ND § 31) Folglich enthält das Gebot der Ethik nicht den Ausdruck des individuellen, sondern den Ausdruck des allgemeinen Willens. Dies jedoch gerade so, dass die Bedingtheit und Abhängigkeit des ethischen Gebots von dem „höhern Gebot der Moral“, vom Imperativ „Sei! “ deutlich wird (ND § 32f.). Genauerhin stellt die Ethik „nur deßwegen den allgemeinen Willen als Gesetz auf, um durch den allgemeinen Willen den individuellen zu sichern. Nicht weil ich mich dem allgemeinen Willen unterwerfe, mache ich Anspruch auf Individualität, sondern, weil und insofern ich Anspruch auf Individualität mache, unterwerfe ich mich dem allgemeinen Willen. Der allgemeine Wille ist bedingt durch den individuellen, nicht der individuelle durch den allgemeinen.“ (ND § 33) Wenn dabei gilt, dass der allgemeine Wille durch die „Form des individuellen Willens (Freiheit) überhaupt“ bestimmt wird, so dass „von aller Materie des Wollens“ abgesehen wird, dann gilt auch: „[…] die Materie des allgemeinen Willens [ist] bestimmt durch die Form des individuellen Willens, nicht umgekehrt“ (ND § 34). Für Schelling heißt dies: Form des allgemeinen Willens ist „Freiheit überhaupt“, deren Materie hingegen ist die „Moralität“. Demnach wäre laut ND § 35 „die Freiheit nicht abhängig von der Moralität, sondern die Moralität von der Freiheit. Nicht weil und insofern ich moralisch bin, bin 54 Wolfgang M. Schröder ich frei, sondern weil und insofern ich frei sein will, soll ich moralisch sein.“ IV. Auf dieser Grundlage entwickelt Schellings ND zunächst ihren Rechtsbegriff: „Das, was theoretisch-möglich ist, kann ich; was praktischmöglich ist, darf ich. Was ich darf, heißt nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch recht überhaupt, und die praktische Möglichkeit selbst, wodurch etwas recht wird, heißt das Recht überhaupt. Recht nämlich ist das, was zwar nicht nothwendig praktisch-wirklich ist, aber eben deßwegen auch nicht unter der bestimmten Bedingung eines Gebotes steht.“ (ND § 65) In Fortführung dieser Grundlinien wird dann die Eigenart der Rechtswissenschaft bestimmt: „Die oben problematisch-angenommene Wissenschaft also, welche mich lehrt, die Individualität des Willens zu behaupten, könnte allein die Wissenschaft des Rechts überhaupt sein, und der oberste Grundsatz aller Rechtsphilosophie wäre dieser: Ich habe ein Recht zu allem, wodurch ich die Individualität meines Willens der Form nach behaupte, oder: Ich habe ein Recht zu allem, was der Form des Willens überhaupt gemäß ist, (ohne welches der Wille aufhören müßte, Wille zu sein).“ (ND § 68) Und weiter: „Die Wissenschaft des Rechts, (welche lange von der Moral gar nicht getrennt, und bis jetzt noch in Rücksicht auf das Verhältniß zu dieser Wissenschaft völlig unbestimmt war) behauptet sich demnach einzig und allein im Gegensatz gegen die Wissenschaft der Pflicht.“ (ND § 69) Bemerkenswerter noch als diese Zuordnung von Moral und Freiheit, die im Namen der Abgrenzung von Rechtswissenschaft und Pflichtwissenschaft erfolgt, ist das Schlusstheorem von Schellings ND. Deren Schlussbefund lautet: ‚NaturRecht‘ (als das von der Vernunft sanktionierte moralisch-praktische Vermögen individuellen Seins) führt „in seiner Consequenz, (insofern es zum ZwangsRecht wird)“, notwendig zu seiner Selbstzerstörung, „d.h. es hebt alles Recht auf“. 16 „Denn das Letzte, dem es die Erhaltung des Rechts anvertraut, ist physische Uebermacht“. 17 Insofern führt „das NaturRecht nothwendig auf ein neues 16 ND § 162. 17 Ebd. Naturrecht, das sich selbst zerstört 55 Problem: die physische Macht des Individuums mit der moralischen des Rechts identisch zu machen, oder auf das Problem eines Zustandes, in dem auf der Seite des Rechts immer auch die physische Gewalt ist.“ 18 Dieses Problem lösen zu wollen, führt aber „in das Gebiet einer neuen Wissenschaft“ 19 - und bringt Naturrechtstheorie als Ursprungstheorie des subjektiven Rechts an ihre Grenzen. Von ihrem Ende her gelesen, führt die ND eine seinerzeit unerhörte, in ihrer beispiellosen Radikalität wirklich „neue“ 20 philosophische Sicht auf Naturrecht vor. Sie erweist dieses als innerlich autodestruktive ‚Naturordnung‘ diesseits des Hobbesschen bellum omnium contra omnes. Ohne Abstriche nimmt Schelling den Gedanken ernst, dass ‚Naturrecht‘ per definitionem als subjektives ‚Recht‘ zu fassen sei, das vor und jenseits aller von Menschen gesetzten Normen mit naturhaftursprünglich gegebenen Ordnungen steht und, als natürliches Zwangsrecht, auch fällt! 21 Der Nachsatz „und fällt“ ist, ohne dass er ein Schelling-Zitat wäre, ein Schellingscher Kontrapunkt zu den optimistischeren Grund- und Leittönen klassisch-neuzeitlicher Naturrechtslehre. Deren Hauptthema sind nämlich gerade die mehr als bloß willkürlichen, schlechthin ursprünglichen, mit „konventionellen“ theoretischen Waffen unzerstörbaren Quellen und Prinzipien gerechter Rechts- und Gesellschaftsverhältnisse. Klassisch-neuzeitliches Naturrecht erörtert Profil und Logik, nicht aber mögliche Fermente vorpositiver Rechtsgrundsätze. 22 Entsprechend bleiben inhaltliche Veränderungs- und begriffliche Selbstauflösungsszenarien des Naturrechts in der Regel außen vor. Selbst die Missdeutbarkeit naturrechtlicher Positionen als naturalistische Fehlschlüsse wird, 18 Ebd., 163. 19 Ebd. 20 Indes ist Schelling nicht der einzige, der rechtsaufhebendes Naturrecht lehrt. Bei Fichte findet sich 1796 in der Naturrechtslehre Ähnliches. Jedoch hat Schelling wohl als erster diesen Gedanken in voller Radikalität philosophisch entfaltet und ist insofern der philosophische Pionier dieser Naturrechtsauffassung. 21 Zu Schellings doppeltem Begriff des Naturrechts als (1) ‚NaturRecht im engern Sinn‘ (ND, Teil II) und (2) ‚Zwangsrecht‘ (ND, Teil III) vgl. Osten, »Der Naturbegriff in den Frühschriften Schellings«, 16ff. 22 Vgl. exemplarisch dazu Grotius, »De iure belli et pacis«, Lib. I, Cap. I, § 10, 5: „Est autem jus naturale adeo immutabile, ut ne a Deo quidem mutari queat.“ 56 Wolfgang M. Schröder einmal als Gefahr erkannt, nachhaltig gebannt: durch Konturierung des Naturrechts als ‚Vernunftrecht‘ im emphatischen Sinn. 23 Solche Ausgrenzung von Selbstauflösungsszenarien des Naturrechts im Rahmen klassischer Naturrechtstheorie ist weder Zufall noch Versäumnis. Vielmehr folgt sie stringent aus der vielleicht nächstliegenden Interpretation der Idee eines naturhaft-ursprünglich gegebenen Rechts selbst. Diese steht doch offenbar inbegrifflich für die These, dass apriorisch-ursprüngliche Rechtsgrundsätze (re-)konstruierbar sind, die vielleicht zuzeiten unentdeckt, unvollkommen erkannt oder auch in praxi missachtet, aber nicht wirklich durch sich selbst oder äußere Umstände „vernichtet“ werden können. Allgemein jedenfalls verbindet man mit Apriorisch-Ursprünglichen vor allem Dauerhaftigkeit, ja „Unzerstörbarkeit“ par excellence, nicht aber äußere Manipulierbarkeit oder gar innere Selbstwidersprüchlichkeit (mit dem Endeffekt der Selbstaufhebung des ganzen Gegenstands). Entsprechend affirmativ-konstruktiv stellt sich die typische Perspektive klassischer Naturrechtstheorie dar. Fünf Themenkreise stehen immer wieder im Blickpunkt: erstens die Option grundsätzlicher Hinterfragbarkeit von „Menschensatzungen“ im Blick auf vorpositive Gerechtigkeitsmaßstäbe, denen der Anschein naturhaft-ursprünglicher Gegebenheit auch naturhaft-ursprüngliche Autorität verleiht; zweitens die These eines natürlich-ursprünglichen Gerechtigkeitsbewusstseins des Menschen, das als moralische Instanz zur Unterscheidung richtigen (gerechten) und unrichtigen (ungerechten) positiven Rechts in Frage kommt; drittens die Idee eines aus naturgegebenen Ordnungen oder grundlegenden Vernunftbegriffen abzuleitenden rectum et iustum menschlichen Verhaltens sowie menschlicher Institutionen; viertens die rechtsvergleichende Frage nach einem gemeinsamen (Grund-)Bestand im Recht der Völker (ius gentium), der dann ‚Naturrecht‘ (ius naturale) zu heißen verdiente; sowie schließlich fünftens die legitime Inanspruchnahme einer Verhaltensmöglichkeit, die einem das rechtliche Dürfen als Option (subjektives Recht) einräumt. 23 Vgl. dazu ebd., § 10, 1: „Jus naturale est dictamen rectae rationis, indicans actui alicui, ex ejus convenientia aut disconvenientia cum ipsa natura rationali ac sociali, inesse moralem turpitudinem, aut necessitatem moralem, ac consequenter ab autore naturae Deo talem actum aut praecipi aut vetari.“ Naturrecht, das sich selbst zerstört 57 V. Einzig die Diskussion um zwei Theoreme, um das ‚Notrecht‘ und den ‚Naturzustand‘ der menschlichen Gesellschaft, scheint ins Vorfeld der Frage vorgedrungen zu sein, ob und wann Naturrecht als Naturordnung sich auch selbst aufheben könne. Das Notrecht (ius necessitatis) steht gemeinhin als Paradebeispiel für potenziert ‚problematisches‘, mit sich selbst in Widerspruch geratendes 24 Naturrecht. Gemeint ist, dass in existenzbedrohenden Notsituationen moralisches Recht seine Eindeutigkeit einbüßen kann. Klassischer Topos seit Pufendorfs ‚Ius naturae‘ (Buch II, Kap. 6) ist der Kampf zweier im Meer treibender Schiffbrüchiger um die eine rettende Schiffsplanke (das „Brett des Kerneades“). Hier stehen zwei gleiche moralische Ansprüche auf Überlebenschancen einander so gegenüber, dass ihre Kollision moralisch nicht bruchlos zu überwinden ist. Für beide Schiffbrüchige gilt in gleicher Weise: Eine Selbstrettung, die ohne Preisgabe des Lebens des Konkurrenten nicht zu betreiben ist und daher moralisch fragwürdig erscheint, kann ausnahmsweise als moralisch akzeptabel vertreten werden. Denn wenn - wovon man in der Regel ausgehen darf - sich niemand gerne selbst opfern möchte, und für beide Überlebenswilligen eine Selbstrettung ohne rücksichtslose Eroberung der Schiffsplanke unmöglich ist, dann übt der Rücksichtslose nur deshalb eine unmoralische Handlung aus, „weil die ihr entgegengesetzte Handlung gleichfalls unmoralisch sein würde, eine derselben aber doch ausgeübt werden muß.“ 25 Eine dritte, moralisch problemfreie Lösungs- 24 Vgl. dazu Kants Diskussion des Notrechts als ‚zweideutiges Recht‘ (ius aequivocum) in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre«: „Dieses vermeinte Recht soll Befugnis sein, im Fall der Gefahr des Verlustes meines eigenen Lebens, einem Anderen, der mir nichts zuleide tat, das Leben zu nehmen. Es fällt in die Augen, dass hierin ein Widerspruch der Rechtslehre mit sich selber enthalten sein müsse - denn es ist hier nicht von einem ungerechten Angreifer auf mein Leben, dem ich durch Beraubung des seinen zuvorkomme (ius inculpatae tutelae), die Rede, wo die Anempfehlung der Mäßigung (moderamen) nicht einmal zum Recht, sondern nur zur Ethik gehört, sondern von einer erlaubten Gewalttätigkeit gegen den, der keine gegen mich ausübte.“ (Kants Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff. (= AA), VIII, 235). 25 Maimon, S., »Ueber die ersten Gründe des Naturrechts«, in: Philosophisches Journal, Ersten Bandes zweites Heft, hg. v. F. Niethammer, Neustrelitz 1795, 141-174, hier: 151f. 58 Wolfgang M. Schröder option ist in dem skizzierten Fall offenbar nicht gegeben. Dass im Zweifel beide Schiffbrüchige auf die Planke verzichten und ertrinken müssen, würde eine ebenso absurde wie ihrerseits unmoralische, zwei Leben kostende Forderung sein. Indes: Der dargestellte Notrechtscasus ist und bleibt ein - wenn auch hochproblematischer - Naturrechtscasus. Er illustriert einen Grenzfall innerhalb, nicht außerhalb des naturrechtlichen Ambitus. Selbst der gestrenge Kant schließt ihn nur aus der „eigentlichen“, auf festen metaphysisch-systematischen Grundsätzen beruhenden Rechtslehre aus, nicht aber aus der vernunftrechtstheoretischen Betrachtung überhaupt. 26 Die Notrechtssituation zeigt an, dass und wann zwei gleichwertige moralische Rechtspositionen einander so gegenüber stehen können, dass zwei exakt gleich starke moralische Nötigungen aufeinander treffen und so sich gegenseitig neutralisieren. Per se aber sagt das Beispiel des Notrechts (noch) nichts darüber, ob oder wann ‚Naturrecht‘ überhaupt ‚als Recht‘ sich selbst aufhebt. Verdeutlicht wird nur, dass, wann und worin ‚hochproblematisches Naturrecht‘ bestehen kann. Was nunmehr das Naturzustandstheorem angeht, so (re-)konstruiert dieses in der neuzeitlichen Staats- und Politiktheorie das Hauptlegitimationsargument für souveräne Staatsmacht als Garantin gesellschaftlicher Friedensordnung. In seiner Hobbesschen Fassung 27 beschreibt es einen vorstaatlich-naturbelassenen Gesellschaftszustand, in dem das Recht aller auf alles den Rechtsgedanken absurd werden lässt, insgesamt zum Bedrohungszustand eines Krieges aller gegen alle führt und zur Herstellung der gesellschaftlichen Friedensordnung letztlich die gleiche Unterwerfung aller unter eine einheitliche, autoritär geführte Rechtsstaatlichkeit verlangt. Im Vergleich hierzu verschiebt sich bei Kant der Fokus des Naturzustandstheorems: und zwar vom etatistisch abgezweckten zum allein rechtsstaatstheoretischen Legitimationsprinzip. 28 Kants Konzeption des Naturzustands entfaltet die These eines in statu naturali nur provisorisch, nicht peremptorisch geltenden, nicht sicher durchsetzbaren Rechts. Um Rechtssicherheit herzustellen und zu garantieren, bedarf es eines zwangsbefugten öffentlichen Rechts und der dazugehörigen 26 Vgl. Kant, AA VIII, 233. 27 Vgl. in Hobbes, »Leviathan«, I, 13. 28 Vgl. Kant, AA VIII, 306ff. Naturrecht, das sich selbst zerstört 59 öffentlichen Institutionen, also öffentlicher Gewalten in Rechtsstaatsform. Zumindest in seiner Kantischen Form ist das Naturzustandstheorem ebensowenig ein Beispiel für die Selbstaufhebung des (Natur-)Rechts wie das eben diskutierte Notrecht. In seiner Hobbesschen Gestalt jedoch enthält es Elemente einer Selbstwidersprüchlichkeit und potentiellen Selbstaufhebung von naturzuständlichen Rechtspositionen. Was aber für Hobbes und Kant vergleichbar gilt, ist das Nicht-Stehenbleiben beim Befund unbefriedigender Rechtsverhältnisse im Naturzustand. Bei beiden dient das Naturzustandstheorem „nur“ als Szenario, von dem her denkend der Imperativ „exeundum est e statu naturali! “ motiviert und die Rechtfertigung des souveränen (Rechts-)Staats hergeleitet wird. VI. Vor diesem Hintergrund erscheint es buchenswert, wenn, wie bei Schellings ND der Fall, ein Naturrechtstheorieentwurf ohne unmittelbar deutliche Notrechts- oder Naturzustandsbezüge nicht nur den Problemcharakter, sondern gar die ‚Selbstzerstörung‘ des ‚Naturrechts als Recht‘ vorführt. Ist dieses Ende schon in Schellings Deduktionsansatz angelegt? Es scheint so, wenn man ernst nimmt, wovon Schelling ausgeht: vom unbedingten Imperativ zur Realisierung des subjektiven Rechts des absoluten Ich. Wo eingangs soviel Unbedingtes rechtstheoretisch verbindlich gemacht wird, ist zu erwarten, dass gravierende Probleme auftreten, wenn das Rechtliche als begrifflich schlüssig austarierte Ordnung eigener wie fremder Freiheit und Pflicht dargelegt werden soll. Gleichwohl hat Schelling selbst offenbar nicht so sehr den Ansatz seiner ND als Anlass für die Schlussthese der ND empfunden. Entscheidend waren wohl eher die Entwicklung des Argumentationsgangs im Teil B (namentlich bei der Betrachtung des Rechts im Gegensatz gegen Willen überhaupt [§§ 129-163]) sowie eine Konsequenz des wörtlich verstandenen Begriffs ‚NaturRecht‘ (diese Schellingsche Schreibweise betont geradezu den Kompositumcharakter und die mögliche innere Bruchstelle des Naturrechtskonzepts). Denn Schellings ND zeigt nicht von Anfang an, sondern erst in ihrem letzten Teil: Ein wörtlich verstandenes ‚NaturRecht‘ auf freie Kausalität des Individuums in der 60 Wolfgang M. Schröder Natur hat bei konsequenter begrifflicher Fortbestimmung (‚Deduktion‘) zum ‚ZwangsRecht‘ die Verdrängung, ja die Aufhebung allen Rechts durch ‚Natur‘ (in Form von Zwang und ‚physischer Uebermacht‘ [ND § 162]) zur Folge. Schelling erweist die „Forderung der Vernunft, daß das Physische durch moralische Gesetze bestimmt, und jede NaturMacht mit der Moralität im Bunde sey“ (ND § 163), im Verlauf seiner Naturrechtsdeduktion als ambivalent. Einerseits ist sie für Schelling Seins- und Erkenntnisgrund des Naturrechts, andererseits aber auch dessen Ferment. Fermentwirkung hat zumindest die zugespitzte Form obiger Forderung: das Postulat der Identität der physischen Macht des Individuums mit der moralischen des Rechts. Hier ist ein Problem beschrieben, das ‚NaturRecht‘ als solches nicht bewältigen kann, sondern an dem es innerlich zerbricht: Natur und Recht treten auseinander. Lösbar ist das fragliche Problem, wie schon gesagt, nur jenseits des ‚NaturRechts‘ -, in einer ‚neuen Wissenschaft‘ (ebd.), über deren näheres Profil Schelling sich ausschweigt. Der junge Schelling hat indes ausdrücklich den Neuheitscharakter und den wissenschaftlichen Befriedigungsanspruch seiner ND gegenüber seinem Verleger betont. 29 Das mag zum Teil Autorenstolz eines zweiundzwanzigjährigen klugen Schwaben sein. Gleichwohl bleibt ernst zu nehmen, dass der Nicht-Rechtswissenschaftler Schelling sich hier einen gewissen Überblick und Bezug zum neuesten Stand der Naturrechtsdebatte um 1795/ 96 zuschreibt. Manche Grundkenntnis und erste eigene Inhaltsskizzen einer Rechtslehre (vielleicht aber noch nicht so strukturiert wie die am Ende der Schrift »Vom Ich« 30 ), kaum aber mehr, mag aus der Tübinger Stiftszeit herrühren. 31 Die entscheidenden Anregungen für eine radikal innovative Sicht von Recht und Naturrecht dürfte Schelling in der kurzen Zeitspanne zwischen seinem Weggang vom Tübinger Stift und vor der Publikation der ND er- 29 Vgl. dazu Jacobs, »Neue Deduction des Naturrechts. Editorischer Bericht«, 125. 30 Vgl. dazu SW I/ 1, 233f. 31 Vgl. zu Schellings rechtstheoretischer Belehrung in Tübinger Zeit Jacobs, »Neue Deduction des Naturrechts. Editorischer Bericht«, 119ff., sowie ders., »Zwischen Revolution und Orthodoxie. Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen. Texte und Untersuchungen«, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989. Naturrecht, das sich selbst zerstört 61 fahren haben. Näheres ist bislang mangels einschlägiger Quellen ungewiss, so dass wir vorerst auf schlüssige Vermutungen angewiesen sind. Eine naheliegende Annahme bezieht sich auf den ersten Jahrgang (1795) 32 von Niethammers »Philosophischem Journal«. Schelling dürfte diese Zeitschrift aus mindestens drei Gründen aufmerksam zur Kenntnis genommen haben. Neben Schellings Bekanntschaft mit Niethammer und Fichte dürfte auch die Ausrichtung dieser Zeitschrift auf die Fortentwicklung der von Kant begründeten kritischen Philosophie eine Rolle gespielt haben. Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Tatsache, dass Schelling hier schon 1795 selbst als Autor auftritt: vor seiner ND erscheinen hier seine »Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus«. 33 Einen Gutteil der damals innovativsten und kritischsten Kurzbeiträge zur deutschen Naturrechtsdiskussion konnte man im ersten Jahrgang des Philosophischen Journals nachlesen. Über mögliche Bezüge der in den ersten Monaten des Jahres 1796 entstandenen ND zu Ideen oder Lehrstücken aus der damals aktuellen Rechtstheoriedebatte ist in der Schelling-Forschung manches angedeutet worden. 34 Kaum etwas aber hat eine ausführlichere Erörterung erfahren. Im Folgenden sollen - fokussiert auf die rechtstheoretische Diskussion im »Philosophischen Journal« vor Erscheinen der ND 1796/ 97 - ein erster Vorstoß zu einer solchen ausführlicheren Prüfung versucht werden. Dabei setzen wir auf Autopsie ausgewählter Aufsätze, verschaffen uns aber zuvor einen knappen Überblick anhand einer 1797 anonym erschienenen Besprechung der ersten vier Bände des Philosophischen Journals (dessen vierter Band 1796 auch den ersten Teil von Schellings ND enthält). 32 Das letzte Heft des Jahrgangs 1795 erscheint allerdings erst Anfang 1796. 33 Deren erster Teil, die Briefe 1-4 umfassend, erscheint im Philosophischen Journal, Jg. 1795, Zweiten Bandes drittes Heft, 177-203. Der zweite Teil mit den Briefen 5-9 erscheint im gleichen Jahr ebd., Dritten Bandes drittes Heft, 173- 239. 34 So etwa bei Hollerbach, A., »Der Rechtsgedanke bei Schelling. Quellenstudien zu seiner Rechts- und Staatsphilosophie (Philosophische Abhandlungen; Bd. XIII)«, Frankfurt a.M. 1958; Sandkühler, »Freiheit und Wirklichkeit«; Osten, »Der Naturbegriff in den Frühschriften Schellings«; Jacobs, »Neue Deduction des Naturrechts. Editorischer Bericht« und Hofmann, M., »Über den Staat hinaus. Eine historisch-systematische Untersuchung zu F. W. J. Schellings Rechts- und Staatsphilosophie«, Zürich 1999. 62 Wolfgang M. Schröder Publikationsort der Rezension ist die Jenaer »Allgemeine Literatur- Zeitung« 35 , der Autor ist Friedrich Schlegel. Dieser befindet im Blick auf Trends der 1795 und Anfang 1796 in Niethammers »Philosophischem Journal« veröffentlichten Beiträge zur Naturrechtstheorie 36 : „Sehr auffallend zeigt es sich auch in dieser Zeitschrift an einer Menge der verschiedenartigsten Abhandlungen über Gegenstände der Rechtslehre […] wie sehr gerade dieses Gebiet jetzt ein vorzüglicher Tummelplatz der philosophirenden Vernunft ist. Aus dem akademischen Bedürfniß oder dem herrschenden Ton eines revolutionären Zeitalters läßt sich das Phänomen schon darum nicht allein erklären, weil die Thätigkeit und die Uneinigkeit sich gerade in dem Wissenschaftlichsten und Allgemeinsten, der Deduction des Grundbegriffs und besonders der Gränzbestimmung der Wissenschaft am stärksten äußert. Es scheint also eine Indication zu seyn, daß hier mehrere Knoten des verschlungnen und verwickelten Gewebes der Philosophie zusammentreffen mögen. Aus der Vergleichung der verschiedenen Gränzbestimmungen des Naturrechts in dieser einzigen Sammlung erhellt wenigstens, daß die Selbstständigkeit und specifische Verschiedenheit dieser Wissenschaft noch keineswegs ausgemacht sey.“ 37 Schlussendlich fasst der Rezensent zusammen: „Die Resultate dieser Indicationen, worinn entweder alle, oder mehrere und vorzüglich scharfsinnige und sonst sehr verschiedene Schriftsteller über die Rechtslehre in diesem Journal übereinstimmen, sind in kurzem folgende: 1) der Rechtsgrundsatz ist unabhängig von der Moral; 2) er ist nicht bloß technisch nützlich, sondern praktisch und absolut nothwendig; 3) er ist nur die Bedingung und Beschränkung eines positiven Gesetzes; 4) die Möglichkeit des Rechtsgesetzes beruht auf dem Begriff einer Gemeinschaft freyer Wesen. Am bestimmtesten ist dieses gesagt in der »Recension von Kant zum ewigen Frieden« im I. Heft des II. Jahrg. S. 85.“ 38 35 Vgl. Nr. 90-92 der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Jena 21.-22. März 1797, Sp. 713-720; 721-728; 729-733. 36 Vgl. Jacobs, »Neue Deduction des Naturrechts. Editorischer Bericht«, 123. 37 Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 90-92, Jena 21.-22. März 1797, Sp. 721f. = Schlegel, F., »Kritische Ausgabe«, hg. v. E. Behler, unter Mitw. anderer Fachgelehrter, Bd. 8, 1. Abt., Kritische Neuausgabe, Studien zur Philosophie und Theologie, eingel. u. hg. v. E. Behler u. U. Struc-Oppenberg, Paderborn 1975, 8, 20f. 38 Ebd., 723 = Schlegel, »Kritische Ausgabe«, 22. Naturrecht, das sich selbst zerstört 63 Schemenhaft deuten diese Einschätzungen an, in welchem rechtstheoretischen Kontext Schellings ND entsteht. Sie ersetzen nicht den eigenen gründlichen Blick auf die 1795 im »Philosophischen Journal« vertretenen rechtsphilosophischen Positionen. Wir beginnen eine eigene Durchsicht mit einem historischen »Review Article«, der oft für die zentrale rechtstheoretische Inspirationsquelle für Schellings ND gehalten wird. Gemeint ist der »Versuch über den Begriff des Rechts«, ein Frühwerk des bedeutenden Rechtswissenschaftlers Paul Johann Anselm Feuerbach. VII. Publiziert ist dieser Aufsatz in Niethammers »Philosophischem Journal«, Jg. 1795, Zweiten Bandes zweites Heft, 138-162. 39 Ein Jahr später erscheint er umgearbeitet und zu einem Buch erweitert unter dem Titel »Kritik des natürlichen Rechts« (1796). Feuerbachs Schreib- und Denkstil erweist ihn als Kantianer, zumal als intensiven Leser der »Kritik der reinen Vernunft«. Gleichwohl sucht der junge Jurist - von Kants kritischer Philosophie her denkend - in der Rechtsphilosophie einen eigenen Standort. Sein »Versuch über den Begriff des Rechts« zielt auf eine originelle elementare Klärung des Rechtsbegriffs. Feuerbachs Ausgangsfrage fokussiert „die inneren, wesentlichen und nothwendigen Merkmale, die den Begriff des Rechts ausmachen“. 40 Im kursorischen Durchgang durch die Grundlegungsteile der damals bedeutendsten Naturrechtslehrbücher (vor allem Hoffbauer 41 und Hufeland 42 , aber auch Heydenreich 43 und Schaumann 44 ) diagnostiziert Feuerbach zwei 39 In: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, Zweiten Bandes zweites Heft, hg. v. F. I. Niethammer, Neustrelitz, 138-162. 40 Ebd., 138. 41 Hofbauer, J. C., »Naturrecht aus dem Begriffe des Rechts entwickelt«, Halle 1793. 42 Hufeland, G., »Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften«, Jena 1790. Darin heißt es: „Die Beschaffenheit einer Handlung, vermöge deren sie erlaubt und der Handelnde dazu befugt ist, heisst ein Recht (jus), und eine solche Handlung heisst recht oder rechtmäßig.“ (Ebd. 3, § 4) 43 Heydenreich, K. H., »System des Naturrechts nach kritischen Prinzipien«, Leipzig 1794. 44 Schaumann, J. C. G., »Wissenschaftliches Naturrecht«, Halle 1792. 64 Wolfgang M. Schröder alternative Grundansätze der damals zeitgenössischen Naturrechtstheorie sowie ein darauf bezogenes Dilemma. Die beiden Grundansätze nennt er die „absolute“ und die „relative Deduction“. Diese deskriptive Unterscheidung ist als Ansetzung von Idealtypen zu verstehen (dass es auch Mischformen aus beiden gibt, räumt Feuerbach erst in seiner »Kritik des natürlichen Rechts« ein). 45 Die „absolute Deduction“ setzt „den Grund des Rechts“ allein „in das berechtigte Subject selbst“ und will nur von Letzterem ausgehend herleiten, was „Recht“ ist. 46 Dagegen sieht die „relative Deduction“ zunächst vom „berechtigten Subject“ ab und will das „Recht“ von der Verpflichtetheit der anderen her begründen. Das „Recht bestünde, nach dieser Deduction, bloß darinn, daß der Andere nicht darf.“ 47 Oder präziser: „Vermöge der relativen Deduction habe ich in so ferne ein Recht, als die Andern die Verbindlichkeit haben, mich an gewissen Handlungen nicht zu hindern, und ich, vermittelst eben derselben Verbindlichkeit, ein Recht erhalte die Vollziehung derselben selbst mit Zwang durchzusetzen.“ 48 Beide Grundansätze sind nachhaltig problembehaftet. Die „absolute Deduction“, zumindest „nach der Art, wie diese bisher geführt worden ist“, scheitert, wenn sie begründen will, dass nur Pflichten der Gerechtigkeit, nicht aber Pflichten der Güte mit Zwang durchgesetzt werden dürfen. 49 Denn „sobald man den Grund des Rechts in das berechtigte Subject selbst setzt, und gleichwohl dem Naturrecht, indem man ihm äußere Rechte zum Gegenstand setzt, ein eigenthümliches von dem Gebiete der Moral abgesondertes Gebiet (wie es sein soll) anweisen will, so wird das Sittengesetz in Widersprüche mit sich selbst verwickelt, und, wenn man diesen Widersprüchen ausweichen will, die Moral mit dem Naturrecht verwirrt.“ 50 Indessen krankt die „relative Deduction daran, dass in das berechtigte Subject […] also nichts gesetzt“ wird; denn „es versteht sich nicht von 45 Vgl. dazu Feuerbach, P. J. A., »Kritik des natürlichen Rechts«, Altona 1796, 207ff. 46 Feuerbach, P. J. A., »Versuch über den Begriff des Rechts«, in: Philosophisches Journal, hg. v. F. Niethammer, Jg. 1795, Zweiten Bandes zweites Heft, Neustrelitz 1795, 140. 47 Ebd., 143. 48 Ebd., 140f. 49 Vgl. ebd. 50 Ebd., 140. Naturrecht, das sich selbst zerstört 65 selbst, wie aus einem bloßen Nicht-Recht auf der einen Seite, ein wirkliches Recht auf der andern entspringen, und dadurch, daß etwas für den Andern unerlaubt ist, für mich das Gegentheil erlaubt werden könne. So lange dieser Beweis noch nicht geführt ist, so lange ist den Ausdrücken: Recht, Erlaubtsein, Dürfen u.s.w. in diesem System noch keine Bedeutung bestimmt.“ 51 Bleiben beide Problemgruppen ungelöst nebeneinander bestehen, dann gibt es nur einen dilemmatischen, also keinen wirklichen Ausweg aus dieser Lage. Das Dilemma baut sich auf wie folgt. Einerseits erscheint „bei dem jetzigen Zustande der natürlichen Rechtslehre, die Ableitung des Rechts aus der gegenüberstehenden Zwangsverbindlichkeit der einzige Ausweg, auf dem man einerseits die Würde des Naturrechts, als einer für sich bestehenden von der Moral abgesonderten Wissenschaft, andererseits aber die Vernunft vor Widersprüchen retten kann.“ 52 Andererseits aber ist für Feuerbach klar, dass „sobald wir den Grund des Rechts in das dem berechtigten Subject gegenüberstehende bepflichtete Subject setzen, das Recht völlig aufgehoben wird“; ergo müssen wir „mithin doch auf einen in dem berechtigten Subject an sich gelegenen Grund des Rechts zurückkommen“. 53 Ab hier aber träte man dann in den oben skizzierten circulus vitiosus ein. Feuerbach meint nun, „daß es noch ein Drittes geben müsse, durch dessen Auffindung jene Probleme beider Parteien beantwortet, die Vernunft in ihren Forderungen befriedigt, und Einigkeit auf dem Gebiete der Rechtslehre herbeigeführt werden könne. Dieses Dritte aber kann nichts anderes sein, als ein von dem Pflichten gebenden Vermögen der Vernunft abgesondertes Rechte gebendes Vermögen, zu dessen Annahme jene in Rücksicht auf den Grund des Rechts vorkommenden Antinomien uns unwidersprechlich nöthigen, welches aber durch eine Ableitung aus höhern speculativen Principien erst begründet werden muß.“ 54 Zur präzisen Bezeichnung dieses Vermögens fehlen Feuerbach offenbar noch die Begriffe. Er bezeichnet „jenes besondere Rechtegebende Vermögen, worein ich den Entstehungsgrund des Rechts setze, einstweilen mit dem Ausdruck: Vernunft“. 55 Dass es noch 1795 51 Ebd., 143. 52 Ebd., 140. 53 Ebd., 142. 54 Ebd., 158. 55 Ebd., 159. 66 Wolfgang M. Schröder wesentlich konkretere Ansätze zu dem gesuchten „Dritten“ gab, etwa bei Karl Heinrich Heydenreich im Gedanken einer rechtsbegründenden bewussten Wechselseitigkeit von Erlaubnissen und Verpflichtungen 56 , hat Feuerbach in seinem Beitrag wohl noch nicht berücksichtigen können. Entsprechend umrisshaft bleibt sein Vorschlag. Er geht vom Kantischen Gedanken aus, dass die Form der theoretischen (auf Natur bezogenen) wie der praktischen (auf Freiheit bezogenen) Vernunft „systematische Einheit“ ist. Die „Realisirung dieser Vernunftform“, die nur durch Freiheit möglich ist, muss sichergestellt werden. Dies gelingt der Form nach, wenn die Vernunft selbst in Verbund mit ihren Gesetzen eine Verbindlichkeits- und Unverletzlichkeitserklärung für die Bedingungen gibt, unter denen diese Realisierung faktisch steht. 57 Diese „Sanction durch Vernunft um des Sittengesetzes willen“ ist für Feuerbach „der Grund des Rechts, das wodurch Rechte durch Vernunft existiren, das Medium, wodurch gewisse Handlungen positiv mit der Vernunft verknüpft und dadurch zu Rechten erhoben werden“. 58 Entsprechend kann er „Recht“ nun definieren als „ein durch Vernunft positiv bestimmtes Vermögen zu handeln“. 59 Präziser gefasst, liegt der Grund dieser positiven Bestimmung darin, „daß die Rechte Bedingungen sind zur Erreichung des höchsten Zweckes. Und das Wesen der positiven Bestimmung besteht in der Sanction, d.h. daß die Vernunft etwas für unverletzlich erklärt und die Ausübung desselben, selbst wenn sie mit Zwang gegen vernünftige Wesen verbunden wäre, möglich macht. Das Recht wäre demnach, eine durch Vernunft sanctionirte Freiheit, als Bedingung zur Erreichung des höchsten Zwecks.“ 60 Zusammengefasst lautet Feuerbachs Rechtskonzept demnach: Die Ver- 56 Vgl. Heydenreich, K. H., »Grundsätze des natürlichen Staatsrechts und seiner Anwendung nebst einem Anhange staatsrechtlicher Abhandlungen«, Erster Theil, Leipzig 1795, 29f.: „Jeder Mensch, können wir sagen, weiß, daß er verpflichtet ist, jedes ihm gleiche Wesen seinem eignen Willen zu überlassen, weiß, daß jedes andre dieselbe Verpflichtung trägt, weiß, daß jedes andre dies auch weiß, daß jedes sie weiß. Aus dieser Identität des Bewußtseyns, dieser Reciprocität des Wissens der Pflicht für äußere Freyheit seiner Mitwesen, entspringt das, was wir Recht nennen.“ Diese Sicht läuft auf die Aufhebung des Gegensatzes von „absoluter“ und „relativer Deduction“ hinaus. 57 Feuerbach, »Versuch über den Begriff des Rechts«, 159. 58 Ebd. 59 Ebd., 161. Naturrecht, das sich selbst zerstört 67 nunft handelt durch das Recht, dergestalt, dass sie formale Voraussetzungen für vernunftgemäßes freies Handeln positiv als Handlungsmöglichkeiten fasst und durch deren grundlegende Bedeutung für die „Erreichung des höchsten Zwecks“ rechtfertigt. Geht man diese Feuerbachschen Thesen auf mögliche Anknüpfungspunkte für Schellings ND durch, so erscheint als erster Kandidat hierfür Feuerbachs Favorisierung der „absoluten Deduction“ des Rechts aus dem „berechtigten Subject“. Der Gedanke, dass „Recht“ im Grundsatz auf solche absolute Weise hergeleitet und begründet werden muss - ungeachtet der bisher fehlgeschlagenen Versuche, dies überzeugend zu leisten -, dieser Gedanke klingt wie ein Präludium zu Schellings ND- Modell der Verankerung des absoluten Grundes des Rechts im absoluten Ich. Ferner ist deutlich, dass die These in ND § 23: die „Individualität meines Willens selbst“ sei „durch jene höchste Foderung der praktischen Vernunft sanctionirt“, klare Anleihen bei Feuerbachs rechtstheoretischem Sprachgebrauch macht. Mehr noch: Feuerbachs Sicht des Rechts als „eine durch Vernunft sanctionirte Freiheit, als Bedingung zur Erreichung des höchsten Zwecks“ 61 , scheint die Essenz des Schellingschen Versuchs zu nennen, mit rechtsphilosophischen Denkmitteln die praktische Realisierung des Unbedingten (als höchsten Zweck) durch physische Kausalität theoretisch zu fassen. 60 Ebd. Inwiefern diese Position einen Fortschritt gegenüber dem von Feuerbach festgestellten Dilemma der bisherigen Naturrechtslehre darstellt, wird wie folgt erklärt: „Statt daß in den andern das Sittengesetz als Grund des Daseins der Rechte erklärt wird, wird hier das Recht von einem besondern Vermögen als deren Quelle abgeleitet. Statt daß nach den andern das Recht in eine bloße Negation gesetzt wurde, wird es hier in etwas reales, in ein durch Vernunft positiv bestimmtes Vermögen gesetzt. Während aus den andern Bestimmungen, die das Recht in ein bloßes Erlaubtsein setzen, die Vernunftmäßigkeit des Zwanges gegen vernünftige Wesen gar nicht gefolgert werden konnte, wird hier, in wieferne das Recht als eine durch Vernunft sanctionirte Freiheit gedacht wird, die Möglichkeit des Zwangs in dem Begriffe des Rechts selbst mit befaßt, und dadurch, daß Rechte als Bedingungen des Sittengesetzes erklärt werden, der Grund seines Daseins zugleich mit dem Grund der Rechte erkannt.“ (Ebd., 161f.) 61 Ebd., 161. 68 Wolfgang M. Schröder VIII. Eine weitere Inspirationsquelle für Schellings ND könnte der von der Schelling-Forschung bislang kaum beachtete Beitrag Salomon Maimons »Ueber die ersten Gründe des Naturrechts« sein. Auch dieser Aufsatz erscheint 1795 in Niethammers Philosophischem Journal. 62 Maimon wendet sich kritisch gegen die „neuern Rechtslehrer“, die „das Naturrecht als die Wissenschaft von den äußern Zwangsrechten“ erklären; diese Erklärung sei bloß „eine Nominal- und keine Realerklärung“, da sie den Widerspruch zwischen äußerem Zwang und Moralgesetz nicht aufheben kann und daher weder die Entstehungsart noch die Möglichkeit eines solchen Rechtes einsehbar macht. 63 Demgegenüber will Maimons Erklärung des Naturrechts „eine Realerklärung“ sein; sie möchte „die Entstehungsart des Naturrechts aus dem Moralgesetze entweder als Bedingung seines möglichen Gebrauchs, oder als indirecte Folge aus demselben“ darlegen. 64 Konkret fasst Maimon das Naturrecht als „die Wissenschaft von dem, durch das Moralgesetz a priori bestimmten, nothwendigen und allgemeingültigen scheinbaren Ausnahmen von demselben“. 65 Als gemeinsames Grundelement von Moral und Naturrecht wird der „Willen eines vernünftig-sinnlichen Wesens“ bestimmt; beider Unterschied liegt jedoch darin, „daß die Moral bloß das Vernünftige, allen vernünftigen Wesen gemeinschaftliche; das Naturrecht aber das sinnlich Individuelle dieses Willens betrachtet, das als Bedingung der möglichen Darstellung von jenem, demselben vorausgesetzt, und unter seine Gesetze subsumiert werden muß“. 66 Genauerhin bestimmt die „Moral […] die Pflichten der Menschen gegen einander, und ihre Rechte auf einander. Das Naturrecht fügt noch hinzu die Befugniß desjenigen, der 62 Philosophisches Journal, Jg. 1795, Ersten Bandes zweites Heft, 141-174. Einen Aufsatz gleichen Titels publiziert Maimon auch in der von Biester herausgegebenen Berlinischen Monatsschrift, April-Ausgabe, 310-341. 63 Philosophisches Journal, 143. Erläuternd heißt es ebd.: „Aeußerer Zwang, an sich betrachtet, ist dem Moralgesetz zuwider. Dieses gebietet Allgemeingültigkeit des Willens. Jenes hingegen giebt dem Zwingenden die Befugniß, seinen eigenen Willen, ungeachtet der Wille des zu Zwingenden demselben entgegen ist, in Ausübung zu bringen.“ 64 Ebd. 65 Ebd., 142. 66 Ebd., 147. Naturrecht, das sich selbst zerstört 69 dadurch, daß ein anderer ihm verpflichtet ist, ein Recht auf denselben hat, diesen zur Erfüllung seiner Pflicht zu zwingen.“ 67 Auf dieser Grundlage teilt Maimon das Naturrecht der „Form der Modalität nach“ in drei Kategorien ein: „Das Recht für das eine Subject, welches indirecte aus dem Moralgesetz, durch eine Pflicht für das andere Subject bestimmt wird, ist ein apodiktisches. Das Recht, das ohne eine solche Pflicht, bloß durch den wirklichen Willen des Subjectes, bestimmt wird, ist ein assertorisches. Dasjenige aber, das durch physische Stärke bestimmt werden muß, ist ein problematisches“. 68 Separat wird das Zwangsrecht untergliedert, „nach den verschiedenen Arten des Zwangs“; hiervon ist für unseren Zusammenhang nur Maimons Fassung des Notrechts interessant, da hieran beispielhaft das Wesen des „problematischen Rechts“ deutlich wird. 69 Für Maimon ist „Nothrecht ein Recht“, bei dem „die moralische Nöthigung sich selbst aufhebt“, weil es „zwei aufeinander entgegengesetzte Handlungen moralisch möglich d.h. legal macht, zwischen beiden entgegengesetzten Handlungen zu wählen. Man übt also bloß aus dem Grunde eine unmoralische Handlung aus, weil die ihr entgegengesetzte Handlung gleichfalls unmoralisch sein würde, eine derselben aber doch ausgeübt werden muß.“ 70 So definiert, verliert bei der Ausübung des Notrechts nicht nur die Moral ihr Recht. Mehr noch: Seine erfolgreiche Ausübung hängt allein von physischer Durchsetzungskraft ab. 71 Vor diesem Hintergrund lautet für Maimon die erste zusammenfassende Formel des Naturrechts wie folgt: „Ein vernünftiges Wesen darf in gewissen Fällen, auch wider den Willen eines andern vernünftigen Wesens, seinen Willen in Ausübung bringen. Diese gewissen Fälle sind 67 Ebd., 168f. Vgl. ferner zu Maimons Bestimmung des Verhältnisses von Naturrecht und Moral ebd., 160: „Die Formeln der Moral sind 1. (Verbot) Du darfst nicht wollen, wenn dein Wille nicht als allgemeingültig gedacht werden kann. 2. (Befugniß) Du darfst wollen, wenn dein Wille als allgemeingültig gedacht werden kann. 3. (Nothwendigkeit dieser Befugniß) Du mußt wollen dürfen, wenn dein Wille als allgemeingültig gedacht werden kann. Die Formeln des Naturrechts sind 1) (Befugniß): du darfst, in gewissen Fällen, wollen, wenn schon dein Wille, dem Anschein nach, nicht als allgemeingültig gedacht werden kann. 2) (Nothwendigkeit dieser Befugniß): du mußt in gewissen Fällen wollen dürfen, wenn schon dein Wille, dem Anschein nach, nicht als allgemeingültig gedacht werden kann.“ 68 Ebd., 147. 69 Vgl. ebd., 150ff. 70 Ebd., 151f. 70 Wolfgang M. Schröder 1) wenn dieses andere vernünftige Wesen nicht das Gegentheil wollen darf, sondern zur Uebereinstimmung mit dem erstern verpflichtet ist. Der Gläubiger z. B. darf wollen, daß der Schuldner seine Schuld abtragen soll. 2) Wenn auch dieses vernünftige Wesen das Gegentheil von Jenem wollen darf, so daß keines von beiden zur Uebereinstimmung mit dem andern verpflichtet ist.“ 72 Bei einer Gesamtbetrachtung der Maimonschen Darlegung fallen mindestens drei Lehrstücke auf, die als Anküpfungspunkte der Schellingschen ND in Frage kommen: (1) der Gedanke, dass ‚Naturrecht‘ im Gegensatz zur Moral das ‚sinnlich Individuelle‘ des Willens betrachtet; (2) die Beschränkung des ‚problematischen Naturrechts‘ auf solches Zwangsrecht, das durch physische Stärke bestimmt werden muss; und (3) die Logik der Selbstaufhebung moralischer Nötigung in der Notrechtssituation. Besonders die beiden letztgenannten Punkte könnten wichtige Inspirationsquellen für das Schlusstheorem von Schellings ND sein: für die Idee, dass in der Konsequenz des (letztlich auf physischer Stärke beruhenden) Zwangsrechts die Selbstzerstörung des Naturrechts als ‚Recht‘ liegt. IX. Ungewohnt in der ND-Forschung dürfte auch die gründlichere 73 Betrachtung zweier weiterer vorangehender rechtstheoretischer Beiträge aus dem Philosophischen Journal sein. Wir meinen zunächst Reinhards »Deduction des Rechtsbegriffes«, die ebenfalls 1795 im Philosophischen Journal, zweiten Bandes drittes Heft, erschienen ist 74 - zeit- und ortsgleich mit dem ersten Teil der Schellingschen »Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus«. Reinhard meint, dass die „Nothwendigkeit der freien Willensthätigkeit die Form einer 71 Vgl. ebd., 152: „Z.B. Cajus und Titius bemächtigen sich im Schiffbruch eines Brets, das nur Einen tragen kann: so hat ein jeder derselben das Recht, das Bret durch Hülfe seiner physischen Kräfte zu seiner eigenen Rettung zu gebrauchen, und den andern davon zurück zu halten, sollte dies auch nicht anders als dadurch geschehen können, daß er den andern mit Gewalt ins Wasser stieße; weil hier das Moralgesetz sich selbst aufhebt. […] Was soll nun zufolge des Moralgesetzes geschehen? Etwan, daß beide zugleich ertrinken? “ 72 Ebd., 161f. 73 Vgl. dazu Jacobs, »Neue Deduction des Naturrechts«, 123f. Naturrecht, das sich selbst zerstört 71 nothwendigen praktischen Aufgabe oder eines Gesetzes annehmen“ muss 75 - und zwar so, dass der „Charakter des unbedingten Seins“ den „Charakter der Persönlichkeit, Selbstheit“ ausmacht. 76 Letzteres „absolute Sein“ wird auf moralische Wesen bezogen und beschränkt: „Als freie, moralische Wesen sind wir, im absoluten Sinne, und streben ungeachtet unsrer Abhängigkeit in Hinsicht auf unsre sinnliche Natur, nach dem unbedingten Sein. Als sinnlichbedingte Wesen haben wir, und wollen wir haben.“ 77 Die Mittel zur Erreichung des Zwecks unseres sinnlichen Daseins: Glückseligkeit, finden wir in der Natur. Insofern stellt sich die Frage nach der Art des Bezugs, in dem das Freisein des moralischen Wesens Mensch zur Natur steht. Für Reinhard definiert sich dieser so: „Der Mensch […] als wollendes Wesen, das mit Freiheit eigne Zwecke bildet, ist Herr der Natur, ohne daß diese Herrschaft durch die Natur beschränkt werden könnte.“ 78 Demnach könnte zwar nicht das Wollen, wohl aber das Können von der Natur beschränkt werden. Es fällt schwer, hierin nicht eine Vorlage für ND § 7 zu sehen. Doch zurück zu Reinhard. Bei diesem gewinnt die Natur als „gemeinschaftliches Gebiet“ der freien Wesen 79 und zugleich als Sphäre möglicher Widerstände gegen ein moralisch erlaubtes Können eine neue 74 Philosophisches Journal, Jg. 1795, Zweiten Bandes drittes Heft, 204-233 (= Reinhard, N. N., »Deduction des Rechtsbegriffes«, in: Philosophisches Journal, hg. v. F. Niethammer, Jg. 1795, zweiten Bandes drittes Heft, Neustrelitz 1795, 204-233). Um welchen Juristen Reinhard „aus Marburg“ es sich hier handelt, ist bislang nicht eindeutig ausgemacht. In Frage kommen Philipp Christian Reinhard, Johann Jacob Reinhard und Johann Theodor Reinhard. 75 Ebd., 209, § 3. Vgl. dazu ebd. ferner 210, § 4: „Dieses Gesetz also, (welches man das Moralgesetz nennt) gebe ich mir - oder giebt mein Wille sich selbst: denn es ist nichts anders als der Ausdruck der Nothwendigkeit der dem Willen eigenthümlichen Handlungsweise, soferne diese Nothwendigkeit mit einer andern außer dem Willen gegründeten Nothwendigkeit in Beziehung steht.“ 76 Ebd., 212, § 5. 77 Ebd., 226, § 12. Unmittelbar vorangehend führt Reinhard ebd. erläuternd aus: „Damit etwas recht sei, dazu bedarf es einer Handlung, und einer Regel. Alsdann sagen wir: wir thun recht, oder die Handlung ist recht. Etwas anderes aber ist es, wenn wir sagen: Wir haben das oder ein Recht, oder welches einerlei ist: wir haben eine Sache mit Recht oder auf rechtmäßige Weise. Der Sprachgebrauch ist hier ganz richtig; denn meistenteils, wenn von einem Rechte die Rede ist, wird nicht sowohl auf eine Handlung sondern auf eine Sache, die wir haben oder haben wollen, Rücksicht genommen: man beurtheilt nicht sowohl die Gesetzmäßigkeit des Thuns als die Gesetzmäßigkeit des Habens.“ 78 Ebd., 228, § 12. 72 Wolfgang M. Schröder naturrechtstheoretische Wertigkeit. Natur erscheint hier nicht mehr so sehr als Quelle, sondern vielmehr als Objekt und Bewährungsfeld des Naturrechts. Letztlich wird Naturrecht hier als Recht nicht von Natur aus, sondern als Recht über die Natur aufgefasst 80 , wenn auch nicht in exklusivem Sinn. 81 Die skizzierte Sicht des Naturrechts als „Recht über die Natur“ wird ein Heft später im Philosophischen Journal von Johann Christian Gottlieb Schaumann noch schärfer gefasst (auf dessen Bedeutung für die ND bereits M. Osten aufmerksam gemacht hat). 82 Sein »Versuch, die Gegenstände des allgemeinen Naturrechts aus Principien zu bestimmen« 83 geht von der Frage nach dem „praktische[n] Dasein des Selbstgesetzes (oder der praktischen Vernunft, des moralischen Gesetzes)“ aus. 84 Entsprechend steht „Selbstgesetz“ hier wohl als Verdeutschung für „Autonomie“ im Kantischen Sinn. Die Antwort auf die genannte Frage wird auch hier im Blick darauf gesucht, in welchem Grundverhältnis der mit praktischer Vernunft begabte Mensch zur Natur steht. Auch Schaumann nimmt beinahe Schellingsche Formulierungen in ND § 7 85 vorweg, wenn er befindet: „Nicht genug, daß die Natur keine praktische Macht über den Men- 79 Ebd., 230f., § 14: „Sie, die Natur, ist ihr [d.h.: der Menschen; W. M. S.] gemeinschaftliches Gebiet, und, soll dieses Gebiet abgetheilt werden, welches bei endlichen Wesen und zur Möglichkeit der Ausübung einer bestimmten Herrschaft nothwendig ist, so gebührt allen, bloß als Menschheit betrachtet, gleicher Antheil, worüber jeder mit Freiheit gebieten kann, aber jeder nur so, daß er die Herrschaft des andern nicht hindere und beeinträchtige. Folglich bestimmt hier das Gesetz eine Gränze, welche die Freiheit (als relative) nicht überschreiten darf.“ 80 Ebd., 232, § 14: „Ein Recht, jus, ist demnach eine bestimmte Ausübung meiner Herrschaft über die Natur, betrachtet von Seiten ihrer Gesetzmäßigkeit, oder bestimmter: betrachtet von Seiten ihres Verhältnisses zum verbietenden Gesetze. […] Daher spricht man in der Moral nur von recht oder unrecht thun; in der Rechtslehre dagegen, welche bestimmt, aus welchen Gründen diesem oder jenem Subjecte ein bestimmter Antheil von der gemeinschaftlichen Herrschaft über die Natur zukomme oder nicht zukomme, wird nur von Rechten gehandelt.“ 81 Vgl. dazu ebd., 233, § 14. 82 Vgl. Osten, »Der Naturbegriff in den Frühschriften Schellings«. 83 Vgl. Philosophisches Journal, Jg. 1795, Dritten Bandes erstes Heft, 52-65 (= Schaumann, J. C. G. »Versuch, die Gegenstände des allgemeinen Naturrechts aus Principien zu bestimmen«). 84 Ebd., 53. Naturrecht, das sich selbst zerstört 73 schen hat; der Mensch hat Macht über die Natur: er ist der Schöpfung Herr.“ 86 Die Bestimmung der Quelle und des Geltungsgrundes solcher Macht führt deduktiv auf den Begriff des Rechts: „Da diese Macht des Menschen über die Natur eine vom Selbstgesetze verliehene Macht ist; so ist sie diesem gleich oder gemäß: und da das, welches dem Selbstgesetze gleich ist, recht heißt, so ist die Macht des Menschen über die Natur eine Rechtsmacht oder ein Recht, ein Naturrecht.“ 87 Offenbar korrigiert Schaumann hier seine frühere, auf die Menschennatur bezogene Naturrechtsdefinition in seinem »Wissenschaftlichen Naturrecht« von 1792. 88 Als näheres Ergebnis von Schaumanns Deduktion ergeben sich vier Punkte: „1) die Realität eines Naturrechts des Menschen; der Mensch hat ein Naturrecht, denn er soll es haben; 2) die Formel für den Begriff der Wissenschaft des Naturrechts: das Naturrecht ist die Wissenschaft von dem Rechte des Menschen über die Natur: 3) die Formel für den Grundsatz des Naturrechts, d.i. für denjenigen Satz, welcher das Naturrecht scientifisch setzt (begründet): dem Menschen ist durch das Selbstgesetz, welches ihn in Pflicht genommen hat, Macht über die Natur verliehen; oder kürzer: der Mensch hat ein Recht über die Natur. 4) Endlich wird auch durch obige Deduction die Streitfrage: ob das Naturrecht bloß Rechte oder auch Pflichten lehre, und wie es sich von der Moral unterscheide, beantwortet. Das Naturrecht hat es bloß mit dem Natur- 85 Vgl. ND § 7 (SW, 140): „Ich herrsche über die Welt der Objecte; auch in ihr offenbart sich keine andre, als meine Causalität. Ich kündige mich an, als Herrn der Natur, und fodere, daß sie durch das Gesetz meines Willens schlechthin bestimmt sei. Meine Freiheit weist jedes Object in die Schranken der Erscheinung zurück, und schreibt ihm eben damit Gesetze vor, über die es nicht treten darf. Nur dem unveränderlichen Selbst kömmt Autonomie zu, alles, was nicht dieses Selbst ist - alles was Object werden kann - ist heteronomisch, ist Erscheinung für mich. Die ganze Welt ist mein moralisches Eigenthum.“ 86 Schaumann, »Versuch, die Gegenstände des allgemeinen Naturrechts aus Principien zu bestimmen«, 54. 87 Ebd. 88 Dort hatte es noch geheißen: „Die Wissenschaft der durchs Sittengesetz bestimmten Möglichkeit nach Naturgesetzen [gemeint sind hier: Triebe; W. M. S.] zu handeln, […] heißt Vernunftrecht (jurisprudentia rationalis), in wie fern ihre Principien aus dem moralischen Gesetze der Vernunft abgeleitet und durch dasselbe bestimmt werden; Naturrecht aber (ius naturae), in wie fern diese durchs Sittengesetz bestimmten Principien auf den Menschen, als Menschen, (die Menschennatur) angewendet werden.“ (Vgl. Schaumann, »Wissenschaftliches Naturrecht«, 7, § 10). 74 Wolfgang M. Schröder recht zu thun; aber die Entwicklung dieses Naturrechts des Menschen ist zugleich eine Entwicklung der äußeren Verbindlichkeiten, welche in Beziehung auf jenes Recht allen Menschen obliegen.“ 89 Als Gesamtfazit hält Schaumann fest: „Die Moral ist die Wissenschaft von der Verpflichtung des Menschen an das Selbstgesetz: das Naturrecht aber die Wissenschaft von der Berechtigung der Menschen über die Natur.“ 90 In Reinhards und Schaumanns Ausführungen fallen viele Formulierungen auf, die sich so oder doch sehr ähnlich in Schellings ND finden, allen voran die Rede vom Menschen als Herren über die Schöpfung/ Natur, die Fassung des Naturrechts als Rechtsmacht des Menschen über die Natur sowie die Engführung von Moralbegriff und „Verpflichtung des Menschen an das Selbstgesetz“. Zudem aber formuliert Reinhard auch eine Erwartung an das Naturrecht, an der dieses - wie Schelling meint - als bloße Natur(rechts)ordnung letztlich scheitern muss. Reinhard meint, dass, wenn die Naturrechtslehre ihren Namen mit Recht tragen soll, die „Natur, so wie sie es ist, welche die Collisionen erregt“, auch „etwas an die Hand geben“ müsse, „woraus Bestimmungsgründe zur Entscheidung solcher Collisionen können hergenommen werden.“ 91 Genau dies aber gelingt für Schelling nicht mehr im Fall des konsequenten Zwangsrechts; hier ist ein Auseinandertreten von Natur und Recht nicht verhinderbar (vgl. ND § 163). X. Wir brechen an dieser Stelle ab und ziehen ein Fazit unserer Betrachtungen. Grundsätzlich scheint es, dass Schellings ND vor allem formalarchitektonisch beanspruchen darf, eine „neue“ Deduktion des Naturrechts als emphatisch subjektiven Rechts zu sein. Tatsächlich entwirft sie einen ‚neuen‘ Deduktionsansatz insoweit, als sie (anders als bei einem ‚Deduktion‘ genannten Herleitungsverfahren klassischerweise erwartbar) nicht einen allgemeinen Begriff oder Satz als Ausgangspunkt und Ableitungsgrundlage aller folgenden Sätze nimmt. Vielmehr setzt die ND eine Einsicht Schellings um, über die dieser spätestens seit dem 89 Schaumann, »Versuch, die Gegenstände des allgemeinen Naturrechts aus Principien zu bestimmen«, 54f. 90 Ebd., 55f. 91 Reinhard, »Deduction des Rechtsbegriffes«, 233, § 14. Naturrecht, das sich selbst zerstört 75 Frühjahr 1795 verfügt: Die Philosophie ist nicht auf Sätze, sondern auf Forderungen gegründet 92 - die theoretische Philosophie ebenso wie die praktische. Entsprechend hebt die ND mit einer (quasi grundsatzhaften) Forderung an: „Was ich theoretisch nicht realisiren kann, soll ich praktisch realisiren.“ (ND § 1) Gemeint ist die Realisierung des „Unbedingte[n], dem die Vernunft entgegenstrebt“, das aber nicht durch theoretische Vernunft, sondern nur durch ein zur „freyen That“ 93 aufgefordertes und fähiges Ich erreichbar ist. Dieses Verfahren unterscheidet sich offenkundig auch von den Deduktionsmodellen Kants und - zumindest graduell - vom Deduktionsbegriff des frühen Fichte. Bei Kant und Fichte nämlich geht es um Gültigkeitsbzw. Realitätsnachweise allein von Begriffen. Kant unterscheidet dabei zwischen einer „transzendentalen“ und einer „empirischen“ Deduktion: „Ich nenne daher die Erklärung, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen, die transcendentale Deduction derselben und unterscheide sie von der empirischen Deduction, welche die Art anzeigt, wie ein Begriff durch Erfahrung und Reflexion über dieselbe erworben worden, und daher nicht die Rechtmäßigkeit, sondern das Factum betrifft, wodurch der Besitz entsprungen“. 94 Der frühe Fichte will philosophische Begriffe als „reelle“ erweisen (in Abgrenzung zu den „leeren“ Begriffen bloßer „Formular-Philosophie“ 95 ) und diese so in ihrem Gebrauch rechtfertigen. Anknüpfungspunkt beider Deduktionsverständnisse ist der Sprachgebrauch der damals zeitgenössischen Rechtspraxis. Diese war vor der Wiederbelebung des Römischen Rechts und vor Begründung der modernen Gesetzestheorie um allgemein anerkannte Rechtsfindungsprinzipien verlegen. Entsprechend kam in juristischen Streitfällen alles auf die findige Herleitungskunst der Ad- 92 Vgl. Frank, M., »„Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik«, Frankfurt a.M. 1997, 426ff. In dieser Haltung Schellings spiegelt sich wohl die Ablehnung der „Grundsatzphilosophie“ Reinholds durch den Jenenser philosophischen Kreis um Niethammer und Diez, zu dem Schelling und - enger noch - Hölderlin Kontakt unterhalten. 93 Vgl. dazu Schellings Rückblick auf eine (von Johann Benjamin Erhard stammende) Rezension seiner Ich-Schrift: „Weil aber das philosophische Publikum einmal nur für erste Grundsätze Ohren zu haben schien, so konnte [m]ein erster Grundsatz - in Bezug auf den Leser - nur ein Postulat sein, die Forderung derselben freyen That, mit der [m]eines Erachtens erst alles Philosophieren beginnen kann.“ (Schellingiana rariora, 58 [SW I, 243]) 94 Kant, I., »Kritik der reinen Vernunft«, A 104. 95 Vgl. dazu §§ 1-4 von Fichtes »Grundlage des Naturrechts« (1796). 76 Wolfgang M. Schröder vokaten an. Ein kontroverser Rechtsanspruch war letztlich nur durch dessen (‚Deduction‘ genannte) argumentative Rückführung auf ein unbestreitbares Datum oder Faktum als legitim oder eben illegitim auszuweisen. 96 Im Vergleich hierzu verfolgt Schellings ND zwar kein völlig konträres, aber doch ein deutlich komplexeres Ziel. Nicht Geltungsreflexion und Anspruchsrechtfertigung ist ihr gedanklicher Leitfaden, sondern Praxistheorie der Umsetzung eines absoluten Postulats. Absolut ist dieses in mindestens zweifachem Sinn. Einerseits „äußerlich“, insofern die Forderung „Was ich theoretisch nicht realisiren kann, soll ich praktisch realisieren“ rein axiomatisch eingeführt wird - ohne jede Begründung, wenn auch mit einigen Erläuterungen (vgl. ND § 1ff.). Andererseits ist dieses Postulat auch „innerlich absolut“ zu nennen. Denn es läuft auf eine Selbstaufforderung des absoluten Ich hinaus, die von dessen Wesen gefordert und somit auch begründet wird. Das gilt zumindest dann, wenn man das zitierte Postulat inhaltlich als kreatives Fazit (d.h. als etwas, das mehr ist als eine bloße streng-logische conclusio) einer kritischen Subjektphilosophie liest, die zweierlei würdigt: Kants kritische Ausgrenzung des „Dings an sich“ aus dem Phänomen- und Erkenntnisbereich des Subjekts, ferner aber auch die mit Fichte startenden Versuche zur Rückgewinnung einer Erkenntnismöglichkeit des Absoluten für das Subjekt. Von Kant übernimmt Schelling den Grundgedanken, dass das „Ding an sich“ (als Chiffre für das Absolute) kein Phänomen und daher kein Objekt unserer Erkenntnis sein könne. Anders als Kant meint Schelling aber nicht, das Absolute sei völlig aus der Sphäre der Erkenntnissubjektivität auszugrenzen. Wenn das Absolute das „Unbedingte“ ist, „dem die Vernunft entgegenstrebt“, das aber durch theoretische Vernunft nicht erreicht werden kann, sollte praktisch „realisiert“ werden können; indes nicht in der Objektsphäre, wohl aber auf der Ebene der Selbsttätigkeit meiner Erkenntnissubjektivität. 97 Entlang dieses Leitgedankens ist Schelling für Fichte offen, der ebendiese Selbsttätigkeit über Kant hinaus präziser zu fassen bestrebt ist. Indes trennen sich auch hier die Wege, wo Fichte das Absolute als Gegenstand des Bewusstseins und somit doch objekthaft fassen will. Wenn damit der Neuigkeitscharakter der Form der Schellingschen ND im Grundriss beschrieben ist, bleibt dennoch die Frage nach dem 96 Vgl. Frank, »„Unendliche Annäherung“«, 158f. 97 Vgl. ND § 1. Naturrecht, das sich selbst zerstört 77 Neuigkeitscharakter ihrer Inhalte. Hier wird man vorsichtiger formulieren müssen. Schon aufgrund unseres kurzen Durchgangs durch die rechtstheoretische Debatte in Niethammers Philosophischem Journal scheint es, dass Schelling wesentliche rechtstheoretische Überlegungen der ND nicht allein, vielleicht sogar am allerwenigsten aus seinen eigenen bisherigen philosophischen Arbeiten entwickelt hat. Ausnahmen mit begrenzter Tragweite für die Ausgestaltung der ND mögen manche Stellen in »Vom Ich« sowie in den »Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus« sein. Vieles spricht dafür, dass Schellings ND in großen Teilen von einer kreativen Aneignung rechtsphilosophischer Ideen u.a. mancher der Mitautoren Schellings im Philosophischen Journal lebt. Diesen Autoren ist gemeinsam, dass ihr Denken irgendwie „auf der Linie“ der frühen Ich- und Naturphilosophie Schellings liegt. Insgesamt scheint es, dass nicht nur das der ND zugrunde liegende rechtstheoretische Problembewusstsein, sondern auch und gerade das originellste Lehrstück der ND, das Theorem von der begrifflich zwingenden Selbstzerstörung des Naturrechts als ‚Recht‘ in Form des konsequenten Zwangsrechts, ohne Denkmittel aus dem zitierten rechtstheoretischen Diskurs kaum möglich geworden wären. Was die von Schelling nur problematisch angedeutete „neue Wissenschaft“ angeht, die die physische Macht des Individuums mit der moralischen des Rechts identisch machen und einen Zustand definieren könnte, in dem auf der Seite des Rechts immer auch die physische Gewalt ist: diese „neue Wissenschaft“ könnte schon 1797 in Gestalt von Kants »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre« modellhaft greifbar geworden sein. Auf jeden Fall gelingt Kant dort der Schritt über die Aporien des subjektiven Rechts hinaus auf eine Ebene, auf der Rechtsbegriff und Rechtsprinzip zu einem nicht selbstwidersprüchlichen Begriff von Zwangsrecht ausbuchstabiert werden. Schelling hat die diesbezügliche Bedeutung der Kantischen Rechtslehre wohl erkannt; zumindest kann man seine „Nachschrift“ zum verspätet veröffentlichten zweiten Teil der ND dahingehend deuten. 98 Aber das ist ein anderes Thema. 98 Vgl. dazu Schelling, »Historisch-kritische Ausgabe«, Bd. 3, 174f. Gian Franco Frigo Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 1. Der geschichtliche Rahmen Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in einem Moment bedeutender Entwicklungen auf verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaften, befand sich die Medizin in einer tiefen Krise, weil sie die Ungewissheit über ihren epistemischen Status und die Unsicherheit hinsichtlich der Wirksamkeit der therapeutischen Maßnahmen zunehmen sah. Die antike Form der ‚techne‘, der ‚ars‘, hatte das moderne Denken seit Descartes durch die der ‚episteme‘, der strengen ‚scientia‘, zu ersetzen versucht. 1 Auch setzten in der Physik das newtonsche Paradigma und auf philosophischem Gebiet die ‚kopernikanische Revolution‘ Kants einen neuen Begriff der Erfahrung und der Mechanismen ihrer Erkennbarkeit durch. Tatsächlich hatte die Medizin eine beeindruckende, aus der direkten Beobachtung abgeleitete, verschiedenartig durch die Lehren des Hippokrates und des Galen untermauerte und mit der aristotelischscholastischen Tradition verbundene Menge an Erfahrungen angehäuft, 2 doch auf theoretischer Ebene verfügte sie über keine klaren und allgemein anerkannten Definitionen der Phänomene, auf die sie einwirken sollte, wie Leben, Organismus, Krankheit und Gesundheit. „[…] so sind wir endlich am Ende des Jahrhunderts so weit vorgerückt, daß der 1 Zur Komplexität der Situation, in der die verschiedenen Wissensgebiete sich befinden, vgl. Wiesing, U., »Kunst oder Wissenschaft? Konzeptionen der Medizin in der deutschen Romantik«, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995; und Engelhardt, D. v., »Was heißt Krankheit um 1800? «, in: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff- Gesellschaft für die klassisch-romantische Zeit 59 (1999), 93-113. 2 Was die zeitgenössische Wiedergeburt des Hippokratismus betrifft, vgl. Sprengel, K. P. J., »Apologie des Hippokrates und seiner Grundsätze«, T. 1, Leipzig 1789. Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 79 Anfänger nicht mehr weiß, was er ohne Gefar des Irrthums annehmen und glauben soll. Der Lehrer stehet, wie Herkules, am Scheidewege, unentschlüßig, welche Parthie zu ergreifen, und wo die Wahrheit, die er vortragen soll, zu finden seyn möchte. Der Praktiker schwankt, auf das morsche Rohr des Pyrrhonismus gestützt, am Krankenbette hin und her, und der Kranke, hinblickend auf die skeptischen Gesichter und Mienen der berathschlagenden Aerzte, ruft mit beklommenem Herzen aus: Ach, wie ungewiß ist die Kunst! “ 3 In der Neuzeit hatte sich neben der ärztlichen Praxis, die sich mehr auf die Wirksamkeit der Kuren als auf die Folgerichtigkeit des sie fundierenden wissenschaftlichen Unterbaus gründete, ein mechanistisches Modell des menschlichen Körpers und seines Funktionierens entwickelt (Hiatromechanik), das jedoch seit der Mitte des 18. Jahrhunderts seine Offenkundigkeit zu Gunsten vitalistischer Theorien verloren hatte. 4 So war zu dem nie bewältigten Gegensatz zwischen der alten Humoralpathologie und der modernen Solidarpathologie nun noch der unüberwindbare Gegensatz zwischen Mechanismus und Vitalismus getreten, mit dem Ergebnis, den Status der Medizin unsicherer zu machen; eine Unsicherheit, die sich auch in der Terminologie und in den Titeln der Handbücher und der wissenschaftlichen Artikel spiegelte, in denen fast gleichwertig Hinweise sowohl auf den Aspekt der ‚ars‘ (Kunst) als auch auf den der ‚scientia‘ (Kunde und Wissenschaft) auftauchen: ‚Heilkunst‘, ‚Heilkunde‘, ‚Heilwissenschaft‘, ‚Heilungswissenschaft‘, ‚Genesungskunde‘, ‚Arzneykunde‘, ‚Arzneikunst‘, ‚Arzneygelehrtheit‘, ‚Arzneywissenschaft‘, ‚Kunstwissenschaft‘, ‚Erfahrungswissenschaft‘. 5 So wird es verständlich, dass nach einer weitverbreiteten zeitgenössischen Tendenz die nächstliegende Antwort auf eine sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht unhaltbare Situation in einem 3 Gruner, C. G., »Bilanz über den Zustand der Medizin am Ende des achtzehnten Jahrhunderts«, in: Almanach für Ärzte und Nichtärzte, Jena 1792, 250- 260, hier: 252-253. 4 Vgl. Duchesneau, F., »Vitalism in Late Eighteenth-Century Physiology. The Cases of Bartez, Blumenbach, and John Hunter«, in: W. F. Bynum, R. Portre (Hg.), William Hunter and the Eighteenth-Century Medical World, Cambridge/ New York 1985, 261-295; Cimino, G., Duchesneau, F. (Hg.), »Vitalism from Haller to the Celle Theory. Proceedings of the Zaragoza Symposium«, Florenz 1997; Maurer, H.-J., »Medizin der Aufklärung«, in: H. J. Schoeps (Hg.), Zeitgeist der Aufklärung, Paderborn 1972, 173-197; und Rothschuh, K. E., »Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart«, Stuttgart 1978. 80 Gian Franco Frigo offenen Skeptizismus hinsichtlich der Möglichkeit der Medizin, sich als Wissenschaft zu konstituieren, bestand, wie der Aenesidemus von Schulze bezeugt. 6 Besonders bedeutsam erscheint ein Artikel »Ueber die Medicin. Arkesilas an Ekdemus«, der anonym im »Neuen Teutschen Merkur« 7 erschien. Wie der anonyme Verfasser des Artikels behauptet, besitzt die Medizin keinerlei gesicherten Begriff, weder von ihrem Gegenstand noch vom Menschen und seinen Krankheiten. 8 Im Besonderen unterstreicht der Autor, dass eine allgemeine Auffassung von Krankheit fehlt, während die einzelnen Begriffe der spezifischen Krankheiten nicht die Prozesse erkennen lassen, die im Körper ablaufen, und sich darauf beschränken, ihnen einen Namen zu geben. 9 Daraus folge, dass der Arzt nicht weiß, ob das, was er wahrnimmt, ein Symptom ist oder eine Krankheit und welche Rolle im Heilungsprozess das, was er wahr- 5 Für die allmähliche Präzisierung dieser Termini vgl. z. B. Zedler, J. H., »Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste«, 64 Bde., 4 Suppl. Bde., Leipzig/ Halle 1732-1754 und Adelung, J. C., »Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart«, 5 Bde., Leipzig 1774-1786; 2. Aufl., 4 Bde., Leipzig 1793-1801. 6 Schulze, G. E., »Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie, nebst einer Vertheidigung des Skeptizismus gegen die Anmassungen der Vernunftkritik«, Helmstedt 1792. 7 Neuer Teutscher Merkur (1795), 8. Stück, 337-378. Der Artikel sollte eine Vorwegnahme (vgl. 337) eines umfangreicheren Essays mit dem Titel: »Arkesilas oder über Wahrheit und Täuschung« sein. Der Autor war Johann Benjamin Erhard, wie er sich selbst 1799 verraten wird, indem er einen Artikel mit dem Pseudonym „Arkesilas“ im Magazin zur Vervollkommnung der theoretischen und praktischen Heilkunde (1799, 2, 7) unterzeichnen wird. Über die Reaktion auf den Artikel und die epistemologisch unbestimmte Lage der zeitgenössischen Medizin vgl. Hufeland, C. W. und Wieland, C. M., »Ein Wort über den Angriff der razionellen Medicin im N. T. Merkur, August 1795«, in: Der neue Teutsche Merkur 3 (1795), 138-155; Erhard, J. B. und Wieland, C. M., »An Hrn. Rath D. Hufeland in Jena über dessen Wort im N. T. Merkur 1795, 10 St., S. 168 vom Verf. des Arkesilas«, in: Der neue Teutsche Merkur 1 (1796), 76-94; Anonym, »Vertheidung der rationellen Arzneywissenschaft, gegen Angriffe auf dieselbe im Neuen Teutschen Merkur«, in: Journal der Erfindungen, Theorien und Widersprüche in der Natur- und Arzneiwissenschaft 5/ 18 (1796), 70-125; Anonym, »Etwas über das Savoir faire der Aerzte«, in: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzney-Kunst 6/ 2 (1798), hg. v. C. W. Hufeland, 446-448. 8 Neuer Teutscher Merkur 8 (1795), 340. 9 Ebd., 344f. Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 81 nimmt, spielt. Das Zeichen der Krankheit, das ‚indicans‘, welches grundlegend für den behandelnden Eingriff ist, ermangelt jeglicher Gewissheit. Außerdem würde die Methode der Medizin ihre Gehaltlosigkeit zeigen, wenn man sie aus einer Kenntnis und einem der Medizin selbst innewohnenden Vorgehen ableiten müsste. Nach dem anonymen Verfasser würde das beweisen, dass es keine Theorie der Heilung gibt, sondern dass man sich mit Andeutungen begnügt. Auch was das ‚indicatum‘ betrifft, das Heilmittel, bewegt sich die Medizin nicht auf der wissenschaftlichen Ebene der empirischen Erfahrungen. Er zählt vierundzwanzig Gruppen von Medikamenten für die Behandlung des ‚Kalten Fiebers‘ auf zum Beweis dafür, dass zwischen einem wissenschaftlichen System der Medizin und der Therapie der Zusammenhang rein zufällig ist. 10 Der Schluss daraus ist, dass die Medizin nicht imstande ist zu beweisen, warum ein ‚indicatum‘ einer ‚indicatio‘ entspricht. Ob sie sich als Wissen im Ausgang von Kenntnissen a priori konstituieren will oder ob sie dies dadurch erreichen will, dass sie ihre Prinzipien a posteriori erarbeitet, es sei der Medizin versagt, den Titel einer Wissenschaft zu erstreben. 11 Zudem könne sie auch nicht den Rang einer Kunst beanspruchen. 12 Die anderen möglichen Auswege aus der Krise, in der die Medizin als Wissenschaft sich befand, waren entweder zu einer beruhigenden Form von Eklektizismus Zuflucht zu suchen 13 oder eine neue theoretische Begründung zu suchen, die imstande war, die alten Kenntnisse zu beherrschen und sie mit neuen zu vervollständigen, die von der modernen Experimentalmethode herkamen. In diesen praktischen und theoretischen Zusammenhang, der auch wichtige soziale Folgen hatte, fügt sich die ausgeprägte Aufmerksamkeit der Ärzte für die neuen wissenschaftlichen Entdeckungen, vom Galvanismus zur Elektrizität und zur 10 Ebd., 347. 11 Ebd., 364. 12 Ebd., 377. 13 Nach dem Motto Hufelands: „Prüfe und das Beste behalte“, zit. in Toellner, R., »Randbemerkungen zu Schellings Konzeption der Medizin als Wissenschaft«, in: L. Hasler (Hg.), Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981 (= Schelling), 120. Zur eklektisch-traditionalistischen Richtung, die sich auf die Erfahrung und die hippokratisch-galinische Tradition gründete, gehörten außer Christian Wilhelm Hufeland (1772-1836): Ernst Ludwig Heim (1747-1834), Friedrich Ludwig Kreysig (1770-1839), Johann Hermann Heinrich Ferdinand v. Autenrieth (1772- 1835), Ernst Horn (1772-1848), Friedrich Wilhelm v. Hoven (1760-1838). 82 Gian Franco Frigo neuen Chemie, wie auch für die neuen philosophischen Ordnungssysteme, die dazu eine Interpretation und allgemeine Rechtfertigung lieferten. 14 Die zwei wichtigsten Vorbilder, die zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts selbstständige Betrachtungen von Physiologen und Medizinern anregten, waren Immanuel Kant (1724 - 1804) 15 mit seinem Erfahrungsbegriff, was die empirische Welt und die Anerkennung der Anwendung teleologischer Prinzipien für das Verständnis der lebenden Organismen betrifft, 16 und Friedrich Wilhelm Jo- 14 Neben der eklektisch-traditionalistischen Richtung unterscheidet E. Rothschuh die naturphilosophische, deren Anstifter Schelling ist, die anthropologische (Johann Michael Leupoldt, 1794-1874; Johann Christian Heinroth, 1773- 1843; Karl Wilhelm Ideler, 1795-1860 und Christian Friedrich Nasse, 1778-1851) und die theoretisch-pragmatische von Andreas Röschlaub (1768-1835) vertretene Richtung. Vgl. Rothschuh, K. E., »Deutsche Medizin im Zeitalter der Romantik. Vielheit statt Einheit«, in: Schelling, hg. v. L. Hasler (Anm. 13), 145- 151. 15 In dem »Streit der Fakultäten« (1798) hatte Kant behauptet, dass der Arzt ein „Künstler [ist], der doch, weil seine Kunst von der Natur unmittelbar entlehnt und um deswillen von einer Wissenschaft der Natur abgeleitet werden muß, als Gelehrter irgend einer Facultät untergeordnet ist, bei der er seine Schule gemacht haben und deren Beurtheilung er unterworfen bleiben muß“. »Kants gesammelte Schriften«, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff. (= AA), Bd. VII, 26. Unter den wichtigen Anhängern Kants zeichnen sich aus: Carl Christian Erhard Schmid (1761-1812), Johann Benjamin Erhard (1766-1827), Jacob Friedrich Fries (1773-1843), Johannes Köllner (Ende 18. Jh.), Johann Stoll (1796-1848) und Immanuel Meyer. Über dieses Thema vgl. Engelhardt, D. v., »Il dialogo fra medicina e filosofia in Kant nel contesto storico«, in: C. Bertani, M. A. Pranteda (Hg.), Kant e il conflitto delle facoltá. Ermeneutica, progresso storico, medicina, Bologna 2003, 253- 265; aber auch Funke, G., »Kant für Mediziner? «, in: Philosophia naturalis 15 (1975), 293-307. 16 Man bezieht sich hier hauptsächlich auf die ‚kopernikanische Revolution‘ der »Kritik der reinen Vernunft« (1781), die einen neuen Begriff von Erfahrung stiftet, und auf die epistemologischen Aspekte des Streits zwischen Präformisten und Epigenisten, dem Kant in dem zweiten Teil (»Kritik der teleologischen Urteilskraft«) der »Kritik der Urteilskraft« (1790) Rechnung trägt (Kant, AA V, 357ff.); aber dazu hatte er schon in dem Essay »Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie« (1788) Stellung genommen (vgl. AA VIII, 157-184). Lenoir, T., »Kant, Blumenbach, and Vital Materialism in German Biology«, in: Isis 71 (1980), 77-108; Model, A., »Kant und die Medizin der Aufklärung«, in: Sudhoffs Archiv 74 (1990), 112-116; Marino, L., »Soemmering, Kant and the Organ of the Soul«, in: S. Poggi, M. Bossi (Hg.), Romanticism in Science. Science in Europe (1790-1840), Dordrecht 1994, 127-142. Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 83 seph Schelling (1775-1854) mit seiner neuen Auffassung der »Naturphilosophie«, welche die idealistisch-romantische Kunst und Wissenschaft weitgehend beeinflusste. 17 2. Die Naturphilosophie Der geniale Beitrag Schellings war eine neue Auffassung von Natur, die ausgehend von der ursprünglichen Kantischen Sichtweise von einem Gegensatz zwischen einem Subjekt, dem einzigen Gesetzgeber in der Erfahrungswelt, und der natürlichen Welt als dem Reich der Notwendigkeit dazu gelangt, zuerst die Entsprechung zwischen der objektiven und der subjektiven Welt zu beweisen, dann die Identität des Prozesses, der sie gründet, und schließlich die tiefe, grundlegende Einheit zwischen Natur und Geist, zwischen Körper und Seele. 18 17 Vgl. Rothschuh, K. E., »Naturphilosophische Konzepte der Medizin aus der Zeit der deutschen Romantik«, in: R. Brinkmann (Hg.), Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion, Stuttgart 1978 (= Romantik in Deutschland), 243-266. 18 Vgl. insbesondere »Ideen zu einer Philosophie der Natur«, Leipzig 1797; »Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus«, Hamburg 1798; »Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Zum Behuf seiner Vorlesungen«, Jena/ Leipzig 1799; »Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Oder: Ueber den Begriff der speculativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft«, Jena/ Leipzig 1799; »Allgemeine Deduction des dynamischen Prozesses oder der Categorien der Physik«, in: Zeitschrift für spekulative Physik, I 1 (1800), 100-136 und I 2 (1800), 3-87; »Anhang zu dem Aufsatz des Herrn Eschenmayer betreffend den wahren Begriff der Naturphilosophie, und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen«, in: Zeitschrift für spekulative Physik, II 1 (1801), 109-146. Über das Verhältnis zwischen der Naturphilosophie Schellings und den Naturwissenschaften vgl. Durner, M., Moiso, F., Jantzen, J., »Ergänzungsband zu Werke Band 5 bis 9. Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797-1800«, Stuttgart 1994; Engelhardt, D. v., »Prinzipien und Ziele der Naturphilosophie Schellings. Situation um 1800 und spätere Wirkungsgeschichte«, in: L. Hasler (Hg.), Schelling (Anm. 13), 77- 96; Moiso, F., »Cabanis, Schelling und die Tradition der Physiologie von Stahl«, in: Annalen der internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie. Societas Hegeliana VI, 1 (1989), 215-225; und Moiso, F., »Vita, natura, libertà. Schelling (1795-1809)«, Milano 1990; Poggi, S., »Il genio e l’unità della natura. La scienza della Germania romantica (1790-1830)«, Bologna 2000. 84 Gian Franco Frigo Die neue Auffassung ist Frucht einer Reihe von Studien und Kontakten mit Gelehrten, welche auch die einzelnen akademischen Etappen des jungen Schelling zwischen 1797 und 1809 kennzeichnen. In dieser Zeitspanne veröffentlicht er eine Reihe von wichtigen Aufsätzen, welche das Entstehen der Naturphilosophie und ihren Erfolg unter den Naturwissenschaftlern und den Medizinern zeigen. Die wichtigsten Etappen sind Leipzig (Ende April 1796-Mitte August 1798), wo er verschiedene naturwissenschaftliche Kurse besucht, 19 Jena (1798-1803), wo er die ersten Vorlesungen über Naturphilosophie hält, Bamberg, wo er mit Adalbert Friedrich Marcus (1753-1816) und Andreas Röschlaub (1768-1853) zusammenarbeitet, und Würzburg (1803-1806), wo er durch seine Lehrtätigkeit und die Veröffentlichung der »Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft« (1805-1808) der Inspirator bedeutender Mediziner und Naturforscher wird, wie Karl Joseph Hieronymus Windischmann (1775- 1839), Ignaz Döllinger (1770-1841), Henrik Steffens (1773-1845), Gotthilf Heinrich Schubert (1780-1860), Friedrich Joseph Schelver (1778- 1832), Johann Bernhard Wilbrand (1779-1846), Dietrich Georg Kieser (1779-1862) und Lorenz Oken (1779-1851). Die späteren Überlegungen eher psychologischer Art, die besonders in die »Stuttgarter Privatvorlesungen« (1810) und in die »Weltalter« (1811-15) eingefügt sind, sind zwar äußerst interessant, beziehen sich jedoch auf einen Kontext, welcher nicht mehr der der Naturphilosophie ist. 20 In den Jenaer und Würzburger Jahren ist der Einfluss der Schellingschen Theorien auf die jungen Mediziner enorm, wie die Veröffentlichung zahlreicher diesbezüglicher Werke 21 und das oft flüchtige Er- 19 Vgl. Durner, M., »Schellings Begegnung mit den Naturwissenschaften in Leipzig«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 72 (1990), 220-236. 20 Vgl. Theunissen, M., »Schellings anthropologischer Ansatz«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 47 (1965), 174-189; und Hennigfeld, J., »Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Die Menschlichkeit des Absoluten«, in: F. Decher, J. Hennigfeld (Hg.), Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, Würzburg 1992, 37-49. 21 Vgl. Hirschfeld, E., »Romantische Medizin. Zu einer künftigen Geschichte der naturphilosophischen Ära«, in: Kyklos 3 (1930), 1-89; Leibbrand, W., »Die spekulative Medizin der Romantik«, Hamburg 1956; Tsouyopoulos, N., »Andreas Röschlaub und die Romantische Medizin«, Stuttgart/ New York 1982; Lohff, B., »Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit der Romantik. Ein Beitrag zur Erkenntnisphilosophie der Medizin«, Stuttgart/ New York 1990, 210-224. Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 85 scheinen von Fachzeitschriften bezeugen, die mit ihren direkten Beiträgen und ihren Polemiken dazu beitragen, das Interesse wach zu halten. 22 Es sind dies die Jahre, in denen in der vielgestaltigen Gemeinschaft der Naturwissenschaftler, der Mediziner, der Philosophen und der Theologen wichtige Auseinandersetzungen zum Abschluss gelangen, wie die zwischen Präformismus und Epigenese, wobei sich Letztere behauptet, und wo meteorengleich die Physiognomik von Johann Caspar Lavater (1741-1801) 23 und die Phrenologie von Franz Joseph Gall (1758-1828) 24 auftauchen, aber auch der Erfolg der medizinischen Theorien von John Brown in Deutschland stattfindet, 25 des Brownismus eben, mit welchem auch die Position Schellings der Medizin gegenüber oft verwechselt wurde. Für kurze Zeit setzt sich in einigen Zentren eine romantische Wissenschaft durch, welche Schelling zu ihrem geistigen Vater erwählt und welche findige und komplizierte, sich mehr als auf die empirische Untersuchung auf die Spekulation und auf die Analogie stützende Systeme erarbeitet. Das Ergebnis solch unsinnigen Vorgehens konnte nichts anderes sein als Misskredit, wo nicht Lächerlichkeit: Ein Ergebnis, das teilweise auch Schellings Positionen betraf, welcher doch frühzeitig die 22 Unter den Zeitschriften seien benannt: Neuer Teutscher Merkur; Archiv für Physiologie (hg. v. J. C. Reil, 1795-1815); Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst (hg. v. C. W. Hufeland); Magazin zur Vervollkommnung der theoretischen und practischen Heilkunde (hg. v. A. Röschlaub, 1799-1809); Zeitschrift für Jatrotechnik (hg. v. A. Röschlaub, 1804). Im Allgemeinen vgl. Heun, M., »Die medizinische Zeitschriftliteratur der Romantik. Versuch einer Bibliographie«, Inaugural-Dissertation, Leipzig 1931, und Engelhardt, D. v., »Bibliographie der Sekundärliteratur zur romantischen Naturforschung und Medizin 1950-1975«, in: R. Brinkmann (Hg.), Romantik in Deutschland (Anm. 17), 307-330. 23 Lavater, J. C., »Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe«, Bd. 1-4, Leipzig/ Winterthur 1775-1778. 24 Gall, F. J., »Schreiben über seinen bereits geendigten Prodromus über die Verrichtungen des Gehirns der Menschen und der Thiere, an Herrn Jos. Fr. von Retzer«, in: Der Neue Teutsche Merkur 3/ 12 (1798), 311-332. 25 Brown, J., »Elementa medicinae«, Edinburgh 1780; das Werk wurde vielmals ins Deutsche übersetzt: »Grundsätze der Arzneylehre«, aus dem Lateinischen übersetzt von A. M. Weikard, Frankfurt a.M. 1795, 2. Aufl. 1798; »System der Heilkunde«, nach der letzten, vom Verfasser sehr vermehrten und mit Anmerkungen bereicherten englischen Ausgabe übersetzt und mit einer kritischen Abhandlung über die Brownschen Grundsätze begleitet v. C. H. Pfaff, Kopenhagen 1796; »Anfangsgründe der Medizin«, Bd. 1-2, in: Sämmtliche Werke, hg. v. A. Röschlaub, Frankfurt a.M. 1806. 86 Gian Franco Frigo Nachäffer seines Denkens verurteilt hatte, und das schließlich das Urteil der Wissenschaftshistoriker bis vor nicht allzu langer Zeit bedingte, wie das Urteil einer Medizinhistorikerin bezeugt: „Man nennt die deutsche Medizin des frühen 19. Jahrhunderts auch die ‚romantische Medizin‘. […] Ihr Oberpriester war der Naturphilosoph […] Schelling […], ihre Bibel dessen ‚Entwurf eines Systems der Naturphilosophie‘ (1799). […] Schelling versucht offenbar, den heterogenen Gesamtbestand zeitgenössischen Wissens- und Ideengutes in einem einzigen System zu ordnen. Wie die meisten derartigen Versuche wirkt auch dieser auf den heutigen Leser, zum Beispiel mich, ebenso unverständlich und unüberzeugend, wie er seinerzeit fasziniert und eingeleuchtet haben muß.“ 26 Die neuere Geschichtsschreibung (Nelly Tsouyopoulos, 27 Dietrich von Engelhardt, 28 Werner E. Gerabek, 29 Urban Wiesing 30 ) hat die epistemologische Bedeutung der Schellingschen Reflexion für die Debatte über die Natur und über den Statut der Medizin unterstrichen und diese in den problematischen Kontext der neuen wissenschaftlichen Entdeckungen eingefügt, sie hat die Kohärenz mit dem Bedürfnis eines neuen Paradigmas hinsichtlich des Lebenden gezeigt, wie auch eine daraus folgende neue Definition der Beziehung zu den anderen Wissenschaften. Insbesondere hat sie die Unhaltbarkeit des Vorwurfs bewiesen, nach 26 Fischer-Homberger, E., »Geschichte der Medizin«, Berlin 1975, 95, zitiert nach: Gerabek, W. E., »Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Romantik. Studien zu Schellings Würzburger Periode«, Frankfurt a.M. 1995, 442f. 27 Vgl. Tsouyopoulos, N., »Der Streit zwischen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Andreas Röschlaub über die Grundlagen der Medizin«, in: Medizinhistorisches Journal 13 (1978), 229-246; Dies., »Schellings Konzeption der Medizin als Wissenschaft und die ‚Wissenschaftlichkeit‘ der modernen Medizin« (= Schellings Konzeption der Medizin), in: L. Hasler (Hg.), Schelling (Anm. 13), 107-116; Dies., »Schellings Krankheitsbegriff und die Begriffsbildung der Modernen Medizin«, in: R. Heckmann, H. Krings, R. W. Meyer (Hg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1985, 265-290. 28 Vgl. Engelhardt, D. v., »Der metaphysische Krankheitsbegriff des Deutschen Idealismus. Schellings und Hegels naturphilosophische Grundlegung«, in: E. Seidler (Hg.), Medizinische Anthropologie, Berlin/ Heidelberg 1984, 17-31; Engelhardt, D. v., »Schellings philosophische Grundlegung der Medizin«, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Natur und geschichtlicher Prozeß. Studien zur Naturphilosophie Schellings, Frankfurt a.M. 1984, 305-325. 29 Vgl. Gerabek, W. E., »Schelling und die Medizin der Romantik« (Anm. 26). 30 Vgl. Wiesing, U., »Kunst oder Wissenschaft? « (Anm. 1). Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 87 dem die naturphilosophische Forschung Schellings nicht Bezug auf die Erfahrung nimmt, sei es als Ausgangspunkt, sei es als Endbestätigung, während er sich dessen voll bewusst ist, dass die philosophische Betrachtung der natürlichen Prozesse nicht von der Beobachtung und von der Deutungsebene, die die Wissenschaft bietet, absehen kann. Ludwig Hasler hat bemerkt: „Naturphilosophie im Sinne Schellings ist nicht selbst Naturforschung; sie vermehrt nicht das Erfahrungswissen von Natur, fragt eher nach der rechten Art, mit ihm umzugehen. Ebensowenig will sie spekulative Konkurrenz zur empirischen Forschung sein; Schelling kennt keinen naturphilosophisch vornehmeren Zugang zum Inneren der Natur, qualitates occultae heißt ihm fromme Betrachtung, nicht Philosophie, und daß die Rede von Naturtheorie jenseits empirischer Befunde gar nichts zu sagen hat, steht für ihn ebenso fest wie dies, daß Erfahrung jenseits von Theorie gar nicht weiß, was sie eigentlich sagt.“ 31 3. Organismus und Theorie der Erregung Schelling fasst die Natur als das Resultat der Tätigkeit zweier einander entgegengesetzter Kräfte auf, nach dem von Kant in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« (1786) 32 gegebenen Modell. Die Natur ist für ihn ein unendlicher Prozess, der jedoch dauernd behindert wird, weshalb er nie dazu gelangt, sich in einem unendlichen Produkt zu objektivieren, so dass er sich nur momentan in endlichen Produkten verdichten kann. „In der Natur strebt alles continuirlich vorwärts; daß dieß so ist, davon müssen wir den Grund in einem Princip suchen, das, eine unerschöpfliche Quelle positiver Kraft, die Bewegung in der Welt immer von neuem anfacht und ununterbrochen unterhält. Dieses positive Princip ist die erste Kraft der Natur. Aber eine unsichtbare Gewalt führt alle Erscheinungen in der Welt in den ewigen Kreislauf zurück. Daß dieß so ist, davon müssen wir den letzten Grund in einer negativen Kraft suchen, die, indem sie die Wirkungen des positiven Princips continuirlich beschränkt, die allgemeine Be- 31 Hasler, L., »Zur Einführung. Schelling ernstnehmen«, in: ders. (Hg.), Schelling (Anm. 13), 11f. 32 Kant, AA IV, 465-565. 88 Gian Franco Frigo wegung in ihre Quelle zurückleitet. Dieses negative Princip ist die zweyte Kraft der Natur.“ 33 Wenn die Natur nur ein physikalisch-chemischer Mechanismus wäre, würden wir in ihr nur Übereinstimmung mit Gesetzen finden und die Prozesse würden zum Gleichgewicht gelangen. Dem ist aber nicht so und folglich ist ein gesetzloses Element einem gesetzmäßigen eng verbunden. Die Gesetzmäßigkeit kann nicht nur mechanisch sein, der Trieb beweist es. „Die Natur soll in ihrer blinden Gesetzmäßigkeit frey, und umgekehrt in ihrer vollen Freyheit gesetzmäßig seyn, in dieser Vereinigung allein liegt der Begriff der Organisation. Die Natur soll weder schlechthin gesetzlos handeln, (wie die Vertheidiger der Lebenskraft, wenn sie consequent sind, behaupten müssen), noch schlechthin gesetzmäßig (wie die chemischen Physiologen behaupten), sondern sie soll in ihrer Gesetzmäßigkeit gesetzlos, und in ihrer Gesetzlosigkeit gesetzmäßig seyn. Das aufzulösende Problem also ist dieses: wie die Natur in ihrer blinden Gesetzmäßigkeit einen Schein der Freyheit behaupten, und umgekehrt, indem sie frei zu wirken scheint, doch nur einer blinden Gesetzmäßigkeit gehorchen könne? “ 34 Folglich sind die einzelnen Produkte selbst Organismen, weil sie das Resultat einer sich selbst reproduzierenden und organisierenden Aktivität sind. „Organisation ist mir überhaupt nichts anderes, als der aufgehaltne Strom von Ursachen und Wirkungen. Nur wo die Natur diesen Strom nicht gehemmt hat, fließt er vorwärts (in gerader Linie). Wo sie ihn hemmt, kehrt er (in einer Kreislinie) in sich selbst zurück. Nicht also alle Succession von Ursachen und Wirkungen ist durch den Begriff des Organismus ausgeschlossen; dieser Begriff bezeichnet nur eine Succession, die innerhalb gewisser Gränzen eingeschlossen in sich selbst zurückfließt.“ 35 Die Natur ist organisch in ihren ursprünglichen Produkten, doch die Funktionen des Organismus können nicht abgeleitet werden, es sei denn in der Gegenüberstellung zu einer anorganischen Welt. Man muss also das Wesen des Organismus in eine Fähigkeit, zu erleiden und zugleich zu reagieren, setzen, welche John Brown ‚incitabilitas‘ (Erregbarkeit) 33 Schelling, F. W. J., »Von der Weltseele - Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus« (= Weltseele), AA I, 6, 77 (SW II, 381). 34 Ebd., AA I, 6, 215-216 (SW II, 527). 35 Ebd., AA I, 6, 69 (SW II, 349). Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 89 genannt hatte und dank deren allein es der organischen Aktivität versagt ist, sich in ihrem Produkt zu erschöpfen, das eben „nie ist, sondern immer nur wird“. 36 Der Natur widerstrebt die Individualität, sie verlangt nach dem Absoluten und ist dauernd damit beschäftigt, es zu verwirklichen. Die individuellen Produkte also, bei denen ihre Aktivität stillsteht, könnten nur als „mislungne Versuche“ betrachtet werden, eine solche Proportion zu erreichen. 37 Die lebenden Systeme sind im Gleichgewicht, d.h. sie erhalten ihre Form nur dank der Provokation äußerer, zufälliger Faktoren. Schelling ist überzeugt, „daß es möglich ist, die organisirenden Naturprocesse auch aus Naturprincipien zu erklären. Die Bildung des thierischen Stoffs würde ohne Einfluß eines äußern Princips nach todten chemischen Kräften geschehen, und bald einen Stillstand des Naturprocesses herbeyführen, wenn nicht ein äußeres, dem chemischen Proceß nicht unterworfnes, Princip continuirlich auf die thierische Materie einwirkte, den Naturproceß immer neu anfachte, und die Bildung des thierischen Stoffs nach todten chemischen Gesetzen continuirlich störte; nun aber, wenn ein solches Princip vorausgesetzt wird, können wir erstens die blinde Gesetzmäßigkeit der Natur in allen Bildungen aus den dabey mitwirkenden chemischen Kräften der Materie, die Freyheit in diesen Bildungen aber, oder das Zufällige in ihnen aus der in Bezug auf den chemischen Proceß selbst zufälligen Störung der eigenthümlichen Bildungskräfte des thierischen Stoffs durch ein äußres, vom chemischen Proceß selbst unabhängiges Princip, wie mir scheint, vollkommen erklären.“ 38 Diese Ausdrücke dürfen nicht denken lassen, dass das Lebensprinzip sich von außen her der organischen Materie hinzufügt (so als wäre es eine Infusion), ganz im Gegenteil: „Dieses Princip hat sich die organische Materie angebildet. So indem es in einzelnen Wesen sich individualisirte, und hinwiederum diesen ihre Individualität gab, ist es zu einem aus der Organisation selbst unerklärbaren Princip geworden, dessen Einwirkung nur als ein immer reger Trieb dem individuellen Gefühl sich offenbart.“ 39 Da sich dieses Prinzip als Lebensursache der Sicht entzieht und sich nur in den Phänomenen enthüllt, macht die Betrachtung der 36 Schelling, F. W. J., »Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799)« (= Erster Entwurf), AA I, 7, 171 (SW III, 143). 37 Ebd., AA I, 7, 102 (SW III, 43). 38 Schelling, F. W. J., »Weltseele«, AA I, 6, 218 (SW II, 529). 39 Ebd., AA I, 6, 255 (SW II, 568). 90 Gian Franco Frigo anorganischen und der organischen Natur bei jenem Unbekannten halt, in dem die älteste Philosophie die erste Naturkraft vermutete. 40 Nachdem Schelling im »Ersten Entwurf« den Charakter andauernder, unerschöpfter Produktion umrissen hat, der die Natur im Allgemeinen bildet, geht er dazu über, das Individuum zu behandeln. Wie die ganze organische Natur eine Folge von Funktionen enthüllt, welche der Ausdruck entgegengesetzter Kräfte sind, so ist auch das Individuum nichts anderes als „der sichtbare Ausdruck einer bestimmten Proportion der organischen Kräfte“ 41 . Seine Struktur wie seine Gestalt sind das Ergebnis eines höheren Verhältnisses von Kräften: Jede Organisation besteht nämlich in einer bestimmten Proportion, welche die Grenzen ihrer Existenz bezeichnet, welche aber gleichzeitig die Möglichkeit einer Abweichung von dieser Proportion voraussetzt. Die Krankheit ist folglich der Zustand, in dem sich die Organisation befindet, wenn Proportion und Abweichung gleichzeitig bestehen. Als Abweichung ist die Krankheit also „ein völlig relativer Begriff“ 42 , welcher sich einzig auf ein organisches Naturprodukt anwenden lässt; aber auch der Grad der Abweichung ist relativ, da er von Individuum zu Individuum, von Situation zu Situation verschieden ist. Wenn man den epistemischen Rahmen vertieft, der diesen Begriff von Krankheit ermöglicht - im schellingschen Sprachgebrauch: ihre ‚Construction‘ -, so scheint es offensichtlich, dass die Krankheit die gleichen Ursachen hat, welche auch die anderen Lebenserscheinungen hervorbringen; ja dass sogar bei der Krankheit die gleichen Faktoren am Werke sind, welche das Leben bilden. Nun ist, wie Schelling früher bewiesen hatte, jeder Organismus nicht ein „Seyn, sondern ein beständiges Reproducirtwerden“: Es ist eine „beständig[e] Selbstreproduction“, die aus einer nicht absoluten, sondern aus einer konstitutiv durch eine „Receptivität“ dem Einfluss äußerer Kräfte gegenüber vermittelten Aktivität entspringt. 43 Der einzelne Organismus ist also durch eine Synthese entgegengesetzter Kräfte gekennzeichnet, wie Aktivität und Rezeptivität; eine Synthese, welche die ursprüngliche Doppelheit zusammenhält, aber nicht aufhebt. Wie wir gesehen haben, hatte John Brown dieser dem Lebenden eigenen Fähigkeit 40 Vgl. ebd., AA I, 6, 256 (SW II, 568). 41 Schelling, »Erster Entwurf«, AA I, 7, 231 (SW III, 221). 42 Ebd. 43 Ebd., AA I, 7, 232 (SW III, 222). Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 91 in seinen »Elementa medicinae« die Bezeichnung ‚incitabilitas‘ gegeben, weil sie die selbstständige Fähigkeit eines Organismus darstellte, auf äußere Reize zu reagieren. Sie wurde als etwas Selbstständiges, Konstitutives gedeutet, auch wenn man dann auf andere Ursachen zurückgreifen muss, um sie verändern zu können. 44 Schelling unterscheidet zwischen Erregbarkeit und Erregung und zwischen der Ursache der Ersten, die nur eine höhere und allgemeine Ursache sein kann, und der Ursache, welche die Zweite hervorruft und die von Reizen dargestellt wird oder von dem, was John Brown die ‚erregenden Potenzen‘ nannte. Der wahre Sitz der Krankheit ist also die ‚Erregbarkeit‘, aber ihre Möglichkeit beruht auf der Veränderlichkeit der Erregbarkeit, welche jedoch konkret nur dank der erregenden Potenzen besteht: „Die Ursache der Krankheit kann also auch nicht in der Erregbarkeit liegen, insofern sie selbstständig ist, sondern nur in ihrem Verhältniß zu den erregenden Potenzen.“ 45 Die erregenden Potenzen, die Reize, sind die Bedingungen, dank derer die Erregbarkeit sich verändern kann. Zwischen den beiden bildet sich ein umgekehrtes Verhältnis, wodurch das Ansteigen des Reizes die Intensität der Erregung verringert und das Anwachsen dieser die Intensität des anderen geringer werden lässt: Das Produkt ist das gleiche. Dies kann geschehen, weil die Erregbarkeit, wie man gesehen hat, Duplizität ist: Sie ist Vereinigung von Tätigkeit und Rezeptivität, von zwei Faktoren, die sich hier als Irritabilität und als Sensibilität darstellen. Die Irritabilität ist nicht nur die Fähigkeit, erregt zu werden, sondern „die organische Thätigkeit selbst, insofern sie durch Receptivität vermittelt ist“; und die Sensibilität ist „die organische Receptivität, insofern sie das vermittelnde der organischen Thätigkeit ist“. 46 Ursprünglich und strukturell ist es der Gegensatz der beiden Faktoren, der bewirkt, dass, wenn einer sich erhöht, der andere sich vermindert und umgekehrt. Dieses Gesetz gilt, solange die beiden Faktoren 44 „Das Leben, alle Erscheinungen desselben […] leitet Brown aus einer Quelle her, nehmlich aus der Wirkung gewisser thätiger Dinge auf eine Kraft des belebten Körpers, welche diesen von der todten Materie unterscheidet. Diese Kraft nennt er Erregbarkeit […]. Diese Erregbarkeit wird durch jene wirksamen Dinge, durch die erregenden Potenzen in Thätigkeit gesezt.“ Pfaff, C. H., »Abhandlung über Browns System der Arzneywissenschaft«, in: J. Brown, System der Heilkunde XVIII, in: »Erster Entwurf«, AA I, 7, 453. 45 »Erster Entwurf«, AA I, 7, 233 (SW III, 224-225). 46 Ebd., AA I, 7, 237 (SW III, 230). 92 Gian Franco Frigo sich innerhalb bestimmter Grenzen halten; wenn diese überschritten werden, sei es nach oben, sei es nach unten, verschwindet die Duplizität und folglich auch der Gegensatz zwischen den beiden. Nach Schelling hat John Brown dieses Gesetz erahnt, doch nicht weiterentwickelt. 47 Wie das Leben, so stellt auch die Krankheit einen von einer äußeren Affektion hervorgerufenen Gegensatz zwischen Sensibilität und Irritabilität dar, mit der Folge, dass die „Irritabilität, oder die Energie steigt, wie die Sensibilität oder die Receptivität fällt, und umgekehrt […].“ 48 Eben weil er auf der allgemeinen physiologischen Ebene die Brownsche Theorie der Erregung teilt, die er in seine Auffassung des Organismus einzubauen versucht, kann Schelling nicht annehmen, wie es hingegen der schottische Arzt behauptete, dass die Krankheit auf ein Missverhältnis zwischen Reiz und Erregbarkeit zurückzuführen ist, denn auf diese Art würde der Reiz einer der Faktoren der Krankheit. Für Schelling entspringt die Krankheit der Disproportion zwischen den „Factoren der Erregbarkeit“, d.h. der Irritabilität und der Sensibilität. Diese Disproportion kann nur „mittelst der unablässigen oder der plötzlichen Wirkung des Reizes“ hervorgerufen werden. 49 Doch die Disproportion der Faktoren, die sich wechselseitig ergänzen, bedeutet an sich noch nicht Krankheit, wie Sthenie und Asthenie an sich keine Krankheit sind. 50 Nach Schelling gibt es Krankheit nur, „wo der Organismus als Object verändert wird“. 51 Wenn das „Wechselspiel“ der Faktoren der Erregbarkeit die jedem Individuum eigene „Breite“ überschreitet, entsteht eine „Unverträglichkeit“ in seiner Existenz und diese „Veränderung des Organismus“ wird als Krankheit empfunden. 52 Nach diesem Erklärungsmodell teilen sich die Krankheiten in „Krankheiten der erhöhten Sensibilität (Receptivität) und herabgestimmten Irritabilität (Wirkungsvermögen)“ und in „Krankheiten der herabgestimmten Sensibilität und erhöhten Irritabilität“; zu diesen sind die Krankheiten der „indirecten Schwäche des Reactionsvermögens“ hinzuzufügen, bei denen einer Erhöhung der Irritabilität kein Absinken 47 Vgl. ebd., AA I, 7, 238 (SW III, 232). 48 Ebd., AA I, 7, 241 (SW III, 235). 49 Ebd. 50 Nach Brown waren Sthenie und Asthenie die zwei möglichen Zustände des Organismus; die Gesundheit bestand in ihrem Gleichgewicht. Vgl. Brown, J., System der Heilkunde (Anm. 44), 86. 51 »Erster Entwurf«, AA I, 7, 241 (SW III, 236). 52 Vgl. ebd., AA I, 7, 242 (SW III, 236). Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 93 der Sensibilität entspricht. 53 Die Krankheit hat also für Schelling ihren Sitz in der Sensibilität, da diese der Mittler jeder organischen Aktivität ist, aber ihr Erscheinen vollzieht sich zuerst im Bereich der Irritabilität und verbreitet sich dann auf die Reproduktionskraft: Sensibilität, Irritabilität und Reproduktionskraft sind nämlich die drei konstitutiven Momente alles organischen Lebens. Das Leitprinzip der Heilkunde als Therapie muss also darin bestehen, auf die Irritabilität einzuwirken und durch diese auf die Sensibilität und die Reproduktionskraft. 54 Die Bedingungen für das Entstehen der Irritabilität jedoch sind bekannt und experimentell erforschbar, wodurch es möglich wird, die „Erregungstheorie“ auf „die Grundsätze der Physik“ zurückzuführen und die Heilkunde „auf sichre Principien“ und ihre Ausübung „auf unfehlbare Regeln“ zu gründen. 55 4. Die Kritik an Brown Nach einer anfänglichen Kritik der Brownschen Sichtweise der Erregbarkeit in der »Weltseele« 56 hatte Schelling dank des Studiums der Werke von Röschlaub 57 versucht, diese in seine Auffassung vom Organismus einzubauen und ihr das wissenschaftliche Fundament zu geben, dessen sie bedurfte. Doch gerade der Versuch, der Medizin den Status der reinen Wissenschaft zu geben, führt Schelling nach und nach dazu, die Medizin vom praktischen, klinischen Moment zu lösen, um sie in den Bereich der organischen Welt zurückzuführen, deren Moment sie wird. Bei dieser Operation, die zuerst in den »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« 58 auftaucht, werden die Grenzen der Brownschen Theorie, aber auch die von Röschlaub offenbar. 59 53 Ebd. (SW III, 236f.). 54 Vgl. ebd., AA I, 7, 243 (SW III, 238) . 55 Ebd., AA I, 7, 244 (SW III, 238). 56 Vgl. Tsouyopoulos, N., »Schellings Konzeption der Medizin« (Anm. 27), 111f. 57 Röschlaub, A., »Von dem Einflusse der Brown'schen Theorie in die praktische Heilkunde«, Würzburg 1798; ders., »Untersuchungen über Pathogenie oder Einleitung in die medizinische Theorie«, T. 1-2, Frankfurt a.M. 1798. 58 Schelling, F. W. J., »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums«, SW V, 207-352. 94 Gian Franco Frigo Nun muss die Medizin für Schelling „erstens […] allgemeine Wissenschaft der organischen Natur [… sein], von welcher die sonst getrennten Theile derselben sämmtlich nur Zweige wären“. 60 Damit die Medizin ihre verschiedenen Gebiete vereinen und vor allem Anspruch auf den Rang einer Wissenschaft erheben kann, muss sie sich auf Prinzipien gründen, die nicht einfach empirisch oder hypothetisch sein dürfen, sondern gewiss und selbstbegründend, also philosophisch, sein müssen. Es ist dies ein in den neuen Theorien über die Natur, aber ganz besonders in der Medizin, empfundenes Bedürfnis. 61 Ihr Modell kann also nicht die Physik sein, die nur einige Aspekte der Natur betrachtet. Auch das chemische Modell, das damals Grundlage jedes Naturvorganges zu sein schien, ist nach Schelling unzulänglich, um die organischen Prozesse und das Leben selbst zu erklären, denn es ist nicht imstande, die „Wahlanziehung oder Krystallisation“ der Elemente zu erklären. 62 Empirische Erklärungen und Hypothesen zurückweisend, hatte Brown das Bedürfnis der Einheit und der Einfachheit bei der Erklärung der pathologischen Phänomene behauptet. Seiner Lehre muss man tatsächlich das Verdienst zugestehen, das Prinzip „der bloß quantitativen Verschiedenheit aller Erscheinungen“ aufgestellt und angewandt wie auch „die Consequenz, mit der sie aus Einem ersten Princip folgert“, 63 eingesehen zu haben. Ihre Grenze besteht darin, Halt zu machen bei „dem Begriff der Erregbarkeit“; zugleich verwirft Brown „alle empirische Erklärung davon, und warnt, sich nicht auf die ungewisse Untersuchung der Ursachen, das Verderben der Philosophie, einzulassen“. 64 Nach Schelling ist der Begriff der Erregbarkeit ein Begriff, der nur die einzelne organische Wirklichkeit erklärt, aber nicht „das Wesen des Organismus“, denn das, was das Wesen des Organismus bildet, ist das Sichobjektivieren einer subjektiven Aktivität (des Selbst), das im ‚In eins bilden’ der Materie besteht und sie in „bloßes Accidens des An-sich des Organimus und demnach ganz Form“ verwandelt. 65 In dieser Phase seiner Spekulation, in der er die Wirklichkeit als die Identität des 59 Vgl. Tsouyopoulos, N., »Der Streit zwischen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Andreas Röschlaub« (Anm. 27). 60 Schelling, F. W. J., »Vorlesungen über die Methode«, SW V, 336. 61 Vgl. ebd. 62 Ebd., SW V, 335. 63 Ebd., SW V, 336. 64 Ebd. 65 Ebd., SW V, 337. Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 95 natürlichen und des idealen Moments betrachtet, bestimmt das „Princip der Formwerdung der Materie […] nicht allein die Erkenntniß des Wesens, sondern auch der einzelnen Funktionen des Organismus, deren Typus mit dem allgemeinen der lebendigen Bewegungen derselbe seyn muß“. 66 Aufgrund des Aufbaus selbst der natürlichen organischen Produkte ist das einzelne Individuum „auf eine gewisse Grenze eingeschränkt, welche nicht überschritten werden kann, ohne sein Bestehen als Produkt unmöglich zu machen: es ist dadurch der Krankheit unterworfen. Die Construktion dieses Zustandes ist ein nothwendiger Theil der allgemeinen organischen Naturlehre, und von dem, was man Physiologie genannt hat, nicht zu trennen.“ 67 Allgemein betrachtet, ist die Krankheit das Resultat des letzten Widerspruchs zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit des Organismus und der Störung ihres ausgewogenen Verhältnisses. Im Besonderen lassen sich die pathologischen Formen und einzelnen Phänomene nur aus den Veränderungen „der drei Grundformen der organischen Thätigkeit“ erkennen. 68 In der Schellingschen Auffassung unterhält der Organismus ein doppeltes Verhältnis: das Erste mit der Außenwelt; das Andere mit dem Universum, dessen Bild er ist. Als Arzt hat Brown das Erste analysiert; wohingegen nur das Andere den Arzt „die Gründe der Formen, den ersten und hauptsächlichsten Sitz des Mißverhältnisses“ lehren und ihm die Mittel zum Eingreifen zeigen kann, da auch die Pharmakologie zur Wissenschaft vom Organismus gehört. 69 „Dieselben Gesetze, welche die Metamorphosen der Krankheit bestimmen, bestimmen auch die allgemeinen und bleibenden Verwandlungen, welche die Natur in der Produktion der verschiedenen Gattungen übt. Denn auch diese beruhen einzig auf der steten Wiederholung eines und desselben Grundtypus mit beständig veränderten Verhältnissen, und es ist offenbar, daß die Medicin erst dann in die allgemeine organische Naturlehre vollkommen sich auflösen wird, wenn sie die Geschlechter der Krankheiten, dieser idealen Organismen, mit der gleichen Bestimmtheit wie die ächte Naturgeschichte die Geschlechter der realen Organismen construirt, wo denn beide nothwendig als sich entsprechend erscheinen müssen.“ 70 Hilfsmit- 66 Ebd. 67 Ebd., SW V, 340. 68 Ebd. 69 Ebd. 96 Gian Franco Frigo tel bei dieser Forschung ist die vergleichende Anatomie, die aber nicht im empirischen Sinn zu verstehen ist. Der Anatom sollte „das Symbolische aller Gestalten“ begreifen, er sollte begreifen, wie „auch in dem Besondren immer eine allgemeine Form, wie in dem Aeußern ein innerer Typus, ausgedrückt ist“. 71 Schelling bevorzugt die historische Untersuchung gegenüber der rein funktionellen, denn der Leitgedanke ist der „der Einheit und inneren Verwandtschaft aller Organisationen, der Abstammung von Einem Urbild, dessen Objektives allein veränderlich, das Subjektive aber unveränderlich ist“. 72 Mit Hilfe der Erfahrung lässt sich ein „Schematismus aller innern und äußern Dimensionen […], in welche sich der produktive Trieb werfen kann,“ umreißen. 73 5. Die Medizin als höchste Naturwissenschaft Die Polemik gegen Röschlaub, die Grenzen der Brownschen Theorie sowie deren Missbrauch von Seiten angeblicher Schüler führen Schelling dazu, auf die Verfälschungen seiner Theorien zu reagieren und nach einem sichereren Fundament für die medizinischen Doktrinen innerhalb einer Neuformulierung der »Naturphilosophie« zu suchen. Dieser Versuch beginnt 1805 in Würzburg mit der Veröffentlichung der »Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft«, um dann schon 1808 bei seiner Versetzung nach München zu enden. In der »Vorrede« klärt Schelling, wie die Naturprozesse sich in den kosmischen Prozess einfügen, von welchem aus sie erst Sinn bekommen und studiert werden müssen. Die Wirklichkeit ist ein von einer Weltseele belebtes und von einem göttlichen Geist erleuchtetes Ein-Alles. Eine religiöse Eingebung durchdringt die Naturforschung; das Leben selbst in all seinen Formen ist Ausdruck des Göttlichen. In diesem Sinn kann Schelling ausrufen: „Die Arnzeiwissenschaft ist die Krone und Blüthe aller Naturwissenschaften, wie der Organismus überhaupt und der menschliche insbesondere die Krone und Blüthe der Welt ist.“ 74 70 Ebd., SW V, 341f. 71 Ebd., SW V, 343. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Schelling, F. W. J., »Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft«, »Vorrede« (1805), SW VII, 131. Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 97 Schelling ist davon überzeugt, dass die großen in den Naturwissenschaften erfolgten Veränderungen (Galvanismus, Magnetismus und Chemismus) das mechanistische Paradigma erschüttert und die organische Einheit des All bewiesen haben. Nach so vielen Jahrhunderten ist erst jetzt eine allgemeine Deutung der Ergebnisse der Experimentalwissenschaft möglich, die sich nicht dem Bereich der Subjektivität und der Sphäre der Freiheit entgegenstellt und die es Philosophen, Naturforschern, Chemikern, Zoologen und Heilkünstlern erlaubt, „die Wissenschaft des Organismus und dadurch die Heilkunde“ zur Vollendung zu bringen. 75 Die Wissenschaft vom Organismus ist die Weiterführung der spekulativen Physik, die Schelling in den Jenaer Jahren vorangetrieben hatte: Eine Weiterführung, welche Fortsetzung ist, aber auch Vertiefung, nach einem Wissenschaftsideal, das seine Berechtigung aus dem Wissen um das Absolute zieht. „Es gibt keine höhere Offenbarung weder in Wissenschaft noch in Religion oder Kunst als die der Göttlichkeit des All: ja von dieser Offenbarung fangen jene erst an und haben Bedeutung nur durch sie.“ 76 Für Schelling ist Wissenschaft die Kenntnis der Gesetze des Alls und der Naturforscher wird in gewissem Sinn zum „Priester der Natur“, 77 da er sich dem Studium des Besonderen widmet, doch in Verbindung mit dem Allgemeinen. Denn Gott hat in den Menschen den „Trieb zum Allgemeinen“ gesetzt, den er in der Wissenschaft, eben vom Besonderen zum Allgemeinen schreitend, entwickelt, in der Kunst, die Schelling als „die Ineinsbildung des Allgemeinen und Besonderen“ deutet, 78 und in der Philosophie, welche die Darstellung des Alls im Einzelnen ist. 79 Wie man sieht, ist die Wissenschaft im Allgemeinen und die Medizin im Besonderen mit einer stark monistischen Auffassung von der Wirklichkeit verbunden, weshalb sie, obgleich sektorielles und spezielles Wissen, ihren Sinn nur im Zusammenhang, nicht nur mit der ganzen organischen Natur, sondern auch mit dem Ganzen erlangt, das in seiner Totalität und als Totalität Manifestation Gottes ist: „Wem eine gründliche Naturanschauung fehlt und die Heilkunde niemals im Zusammen- 75 Ebd. 76 Schelling, F. W. J., »Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie«, SW VII, 140. 77 Ebd., SW VII, 141. 78 Ebd. 79 Vgl. ebd., SW VII, 142. 98 Gian Franco Frigo hange der allgemeinen Naturforschung erschienen ist, der kann jetzt, da man den Organismus überhaupt, und den menschlichen insbesondere, als das Centrum der Natur und den Inbegriff aller Kräfte derselben zu begreifen anfängt, unmöglich für einen gelehrten oder eigentlich erfahrenen Arzt gelten, sondern allein für einen platten Routinier“. 80 Diese Haltung bedingt nicht ein Verlassen, oder noch schlimmer, eine Missachtung der Empirie, sondern ihre bedeutsame Wiedergewinnung, da die Erfahrungsebene offen und mit der wissenschaftlichen und philosophisch-rationalen Ebene verbunden ist. Das Besondere ist im Allgemeinen, das Allgemeine bestimmt sich im Besonderen und gestattet ein Sichgliedern in verschiedene, untereinander verbundene Verständnisebenen derselben Wirklichkeit. Eine moderne Tradition hat nur der Erfahrung die Kenntnis der Wirklichkeit zugestanden, während die Theorie, die Spekulation nur Abstraktionen errichten würde, rationale Gebäude ohne jede Bestätigung. Schelling hingegen sieht die untrennbare Verbindung zwischen Erfahrung und Theorie: In der wahren Kenntnis gibt es die eine nicht ohne die andere, wie er in den »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« angemerkt hatte, so „daß die Wissenschaft der Medicin in diesem Sinne nicht nur überhaupt philosophische Bildung des Geistes, sondern auch Grundsätze der Philosophie voraussetze; […] daß in Ansehung dieses Gegenstandes das Experiment, die einzig mögliche Art der Construktion für die Empirie, an sich unmöglich ist, daß alle angebliche medicinische Erfahrung ihrer Natur nach zweideutig ist, und mittelst derselben über Werth oder Unwerth einer Lehre niemals entschieden werden kann […], daß in diesem Theile des Wissens, wenn in irgend einem andern, die Erfahrung erst durch die Theorie möglich gemacht werde […].“ 81 6. Die Theorie der Dimensionen Im Jahr 1805 nahm Schelling mit dem Aufsatz »Vorläufige Bezeichnung des Standpunktes der Medicin nach Grundsätzen der Naturphilosophie«, der in den »Jahrbüchern der Medicin« erschienen war, Abstand 80 Schelling, F. W. J., »Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft«, »Vorrede« (1805), SW VII, 138. 81 Schelling, F. W. J., »Vorlesungen über die Methode«, SW V, 340f. Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 99 von der Brownschen Stellung, die er anfänglich, wenn auch mit bedeutsamen Änderungen, angenommen hatte. Nach Schelling hatte die geschichtliche Bedeutung von Brown darin bestanden: In einem Moment des Niedergangs der Wissenschaft, „nachdem die Wissenschaft vor ihm das natürliche und göttliche Verhältniß des Organismus weder in deutlicher Unterscheidung noch in wahrhafter Einheit erkannt, hob er das erste entschieden hervor, setzte eine Lehre darüber fest und gründete das organische Leben selbst und den Wechsel seiner Zustände, vornämlich den der Gesundheit und Krankheit, einzig auf diese Seite des Organismus, von welcher er durch äußere Dinge bestimmbar und stets wirklich bestimmt ist.“ 82 Schelling ist nun davon überzeugt, dass die neue, in der »Naturphilosophie« dargelegte Auffassung es der Medizin erlaubt, auch den anderen Aspekt des Organismus in Betracht zu ziehen, den Brown vernachlässigt hatte und der epistemologische Schwierigkeiten mit sich brachte. Mit der Behauptung nämlich, dass der Organismus „von außen erregt“ wird, konnte Brown nicht umhin, auch das „Erregbare“ als „ein von der bloß äußern Bestimmung unabhängiges Seyn und Wesen“ zu setzen, 83 von dem aus die Erregbarkeit möglich war. Als echter Anhänger der empiristischen Tradition hat er sich freilich auf die Erregbarkeit als die „bloße Bestimmbarkeit zur Thätigkeit durch äußere Einwirkung“ konzentriert 84 und deren Grundlage unerforscht gelassen. Nun zeigt sich aber, dass diese Eigenschaft sowohl den organischen als auch den anorganischen Körpern eigen ist. Verdienst der »Naturphilosophie« ist es, bewiesen zu haben, dass das „Wirkungsvermögen“ des Organismus darin besteht, seine eigene wesentliche Form den äußeren Einflüssen gegenüber zu erhalten, „Selbstreproduktion“ durch äußere Reize zu sein. 85 Der Organismus ist „Gleichgewicht […] der Empfänglichkeit und Thätigkeit“; 86 er ist Einheit des Endlichen und Unendlichen, er ist „ein partiales All, eine zeitliche Ewigkeit“. Er setzt „die besondere Form seines Seyns als eine selbst wesentliche und urbildliche“, als die „Urgestalt“, als „die zur Identität mit dem Wesentlichen erhobene besondere 82 Schelling, F. W. J., »Vorläufige Bezeichnung des Standpunktes der Medicin nach Grundsätzen der Naturphilosophie«, (= Vorläufige Bezeichnung), SW VII, 261. 83 Ebd., SW VII, 262. 84 Ebd., SW VII, 263. 85 Ebd. 86 Ebd. 100 Gian Franco Frigo Form“, die „vom ersten Keime an bis zur letzten Entwicklung unverändert dieselbe“ bleibt. 87 Die Theorie der Erregbarkeit stellt ihre Distanz einer philosophischnaturwissenschaftlichen Begründung gegenüber heraus; und auch auf der Ebene der klinischen Anwendung enthüllt sie wesentliche Grenzen. Tatsächlich ist nach Schelling die Unterscheidung zwischen sthenischen und asthenischen Krankheiten allzu vereinfachend, da es Krankheiten gibt, die weder unter die eine noch unter die andere Kategorie fallen. Die gleiche Schwäche lässt sich bei der Unterscheidung der Medizin in stärkende und schwächende und bei den Reizen in positive und negative entdecken. Dank seiner monistischen Auffassung der Natur ist Schelling überzeugt, dass die ursprünglichen chemischen Elemente gleich wie die anderen äußeren Dinge, die imstande sind, den Organismus zu beeinflussen, wirksam sind, „inwiefern sie selbst ein bestimmtes Verhältniß zu den Dimensionen der Materie und der allgemeinen dynamischen Thätigkeit haben; ferner […], daß jeder äußere Stoff an den Organismus, oder richtiger zu reden an das An-sich, welches Grund seiner Existenz ist, die ihm selbst entsprechende Dimension fordert.“ 88 Schelling gibt zu, dass die Verbreitung der Erregungstheorie in Deutschland durch Röschlaub einen Fortschritt beim Studium der Natur und des Ursprungs der Krankheiten bedeutet hat. 89 Doch die neue Perspektive, die des Identitätssystems, mit dem Schelling die Natur und den Organismus deutet, bedingt auch eine neue Deutung der Krankheit und macht die Änderung gegenüber der vorausgehenden, an die Erregungstheorie geknüpften Erklärung klar. Die Krankheit wird hier „in dem Widerstreit des Allgemeinen (der organischen Thätigkeit) mit ihrem gegebenen Exponenten, der Besonderheit eines Gebildes“ gesehen. 90 Es handelt sich um ein „Mißverhältnis[ses] zwischen der Erre- 87 Ebd., SW VII, 264. 88 Ebd., SW VII, 279. 89 Vgl. ebd., SW VII, 273. Schelling zitiert hier Röschlaub, A., »Erster Entwurf eines Lehrbuches der allgemeinen Jaterie«, 1. Theil, Frankfurt 1804, 324-326; von demselben Autor vgl. auch: »Von dem Einflusse der Brown'schen Theorie in die praktische Heilkunde«, Würzburg 1798; und »Traité de l’influence de la théorie de Brown sur la médecine pratique«, trad. de l’allemand par S. Breinersdorf, Bamberg 1802. 90 Schelling, F. W. J., »Vorläufige Bezeichnung«, SW VII, 272. Schelling verweist hier an Troxler, I. P. V., »Ideen zur Grundlage der Nosologie und Therapie«, Jena 1803, 19, 21, 28. Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 101 gung oder der organischen Thätigkeit und dem Qualitativen des Organismus“, das entstehen kann, wenn das wesentliche Eins-Sein der reellen und ideellen Faktoren, das den Organismus bildet, in ein „bestimmtes quantitatives Verhältniß beider“ übergeht. 91 Ein solches Verhältnis der beiden Faktoren in der Erregung kann „durch äußere Einwirkungen“ verändert werden, doch bis zu dem Grad, der „die innere oder qualitative Bestimmtheit des Organismus im Ganzen oder Einzelnen“ nicht beeinträchtigt. 92 Das quantitative Verhältnis ist ein Akzidens des qualitativen, und es drückt sich als inneres Gleichgewicht, als Dimension aus: Der Bruch des quantitativen Gleichgewichts durch äußere Ursachen verändert auch das Innere. 93 Der Erregungsgrad ist der Ausdruck der Quantität oder der Existenzenergie in Bezug auf die äußere Natur; an sich ist die Erregung Erscheinung des inneren qualitativen Verhältnisses, während die Stärke eines bestimmten Organismus darin besteht, dass jede Dimension, welche die Tätigkeitsform ist, in harmonischem Verhältnis mit dem All steht. 94 So beschränkt sich der menschliche Organismus nicht auf die reproduktive Dimension, wie es bei der Pflanze der Fall ist: Bei ihm spielt die Dimension der Irritabilität eine entscheidende Rolle. Die Begriffe Sthenie und Asthenie sind hier nicht mehr wesentliche Momente des Organismus noch charakterisieren sie das Moment der Gesundheit und der Krankheit. Jetzt ist die „Krankheit als solche […] eine Veränderung der Dimensionen des Organismus, wodurch er aufhört reiner, ungetrübter Reflex des All zu seyn“. 95 Dies bedeutet eine neue Klassifizierung der Krankheiten und der Behandlungen, welche sich nicht mehr als ‚stärkende und schwächende‘ charakterisieren lassen, sondern die, da sie auf die Dimensionen einwirken müssen, nach dem Prinzip gedacht werden müssen, „daß Gleiches Gleiches hervorruft und kein äußeres Princip durch seinen Gegensatz mit dem organischen Stoffe wirkt“. 96 Das Symptom macht nicht die Krankheit deutlich, aber ein Symptomkomplex kann die Wirksamkeit eines Arzneimittels zeigen, welche die 91 Schelling, F. W. J., »Vorläufige Bezeichnung«, SW VII, 272. 92 Ebd., SW VII, 273. 93 Vgl. ebd., SW VII, 274. 94 Vgl. ebd., SW VII, 275. 95 Ebd., SW VII, 276. 96 Ebd., SW VII, 277. 102 Gian Franco Frigo „andere, die entgegengesetzte Seite“ der Krankheit ist, und obwohl sie theoretisch wenig Beachtung findet, hat sie eine solche Bedeutung, dass sie „den eigentlichen Probierstein einer wahren medicinischen Theorie“ darstellt. 97 Schelling erkennt an, dass Steffens 98 der Erste war, der eine Beziehung zwischen den Dimensionen der ursprünglichen Materie und den Dimensionen der Reproduktion, der Irritabilität und der Sensibilität gesetzt hat. Schelling meint, dass es eine Entsprechung gibt zwischen den aktiven, der Materie innewohnenden Prinzipien, den Seelen der Materie sozusagen, und den natürlichen Elementen und den Dimensionen des Organismus. Die erste von diesen Seelen ist „die Seele der Selbstheit“, „dasjenige Princip, vermöge dessen die Dinge am meisten in sich selbst zu seyn, in sich zusammenzuhangen, sich selbst fortzupflanzen trachten“, und sie hat ihr Entsprechendes in der Schwere und im Kohlenstoff. 99 Die zweite ist die „Seele des Lichtes, welche sich in der Materie durch das Zerfallen, die Auflösung der Cohäsion und Negation der Selbstheit ausdrückt“: Es ist das dem Erdprinzip entgegengesetzte Sonnenprinzip und entspricht dem Wasserstoff. Die dritte Seele stellt zugleich „das in-sich-selbst-Seyn und den Trieb sich fortzupflanzen“ dar, d.h. das „dem Urbild Aehnlichste, Animalische, Lebende“. 100 Außerhalb dieser Dreiheit gibt es nur „das die drei Dimensionen in sich auflösende, selbst dimensionslose göttliche Princip“, das den drei Naturprinzipien entgegengesetzt ist, d.h. „die verzehrende Feuerseele der Natur, von der Chemie im Sauerstoff wirksam erkannt“. 101 Die vier Prinzipien und der Grundsatz, dass „Gleiches Gleiches hervorruft“, 102 sind in jedem Moment und jeder Dimension vorhanden, jedoch mit dem Vorherrschen des einen gegenüber den anderen. Was das Arzneimittel betrifft, ist jenes angezeigt, „welches, es sey nun flüchtiger oder träger Art, die geforderte Dimension am bestimmtesten bekräftigt“. 103 Was für die Metalle gilt, gilt auch für das Pflanzenreich und bedingt auch das Verhältnis zwischen Reproduktionskraft, Irritabilität und 97 Ebd., SW VII, 278f. 98 Vgl. Steffens, H., »Beiträge zur innern Naturgeschichte der Erde«, Jena 1801, 73-77. 99 Schelling, F. W. J., »Vorläufige Bezeichnung«, SW VII, 280. 100 Ebd. 101 Ebd. 102 Ebd., SW VII, 281. 103 Ebd. Naturphilosophie und Medizin bei Schelling 103 Sensibilität mit den dem Organismus äußeren Potenzen. Tatsächlich reproduzieren sich in jedem System des Organismus alle Dimensionen zum Beweis der Entsprechung zwischen diesem und der Natur sowie des Umstands, dass das qualitative Verhältnis für die Gesundheit und die Krankheit verantwortlich ist, während das quantitative, auf das sich Brown stützte, ein einfaches Akzidens ist. 104 Die wissenschaftliche Darstellung der Krankheiten in ihren Eigenheiten besteht darin, ihre Verhältnisse zu den Dimensionen des Organismus zu zeigen, wie auch die Kunst, sie zu vertreiben, darin besteht, diesen Verhältnissen entgegenzuwirken. 105 Dank seines wohlgegliederten Verhältnisses zu den verschiedenen Einstellungen der zeitgenössischen Medizin beweist der Schellingsche Versuch, das Phänomen des Lebens und der Krankheit in einen weiteren theoretischen Horizont einzuordnen, der sich nicht auf reine Tatsachen beschränkt, deren Hermeneutik verwirrend und manchmal irreführend erschien, vollauf seine Verdienste. Es lässt sich nämlich zeigen, wie Schelling durch Fortbildung der von Brown und Röschlaub entwickelten Erregbarkeitstheorie die Medizin aus den Sackgassen ihrer mechanistischen wie vitalistischen Konzepte herausführte, wie er eine neue Pathologie und Therapie zu begründen vermochte in einer organistischen Konzeption, welche Krankheit nicht als eine Summe physikalischer Eigenschaften, sondern als Handlung des Organismus wissenschaftlich erfassen lässt. 106 104 Vgl. ebd., SW VII, 287. 105 Vgl. ebd., SW VII, 288. 106 Vgl. Hasler, L., »Zur Einführung. Schelling ernstnehmen«, in: ders. (Hg.), Schelling (Anm. 13), 11. II. ABSOLUTES UND SYSTEM Sebastian Schwenzfeuer Schellings Naturphilosophie Das System des transzendentalen Idealismus (1800) im Umbruch zur Identitätsphilosophie Gemäß dem »System des transzendentalen Idealismus« von 1800 (SW 1/ III, 341) ist die tote Natur ein misslungener Versuch, sich selbst anzuschauen. 1 Natur ist damit von vornherein nicht als regionalontologischer Sachbereich in den Blick genommen, sondern als ein - wie sich später zeigen wird - konstitutives Moment in der Grundlegung der transzendentalen Subjektivität. In der philosophischen Betrachtung der Natur, also dem, was dann kurz Naturphilosophie heißen mag, geht es um etwas ganz anderes als etwa in der Naturwissenschaft (heute und zu Schellings Zeiten), die die Beschaffenheiten und Gesetzmäßigkeiten des naturhaft Seienden herausarbeitet, es geht prinzipiell um die Ausbildung des menschlichen Weltverhältnisses und damit einhergehend des Verhältnisses zu sich selber. 2 Das Selbstverständnis menschlicher Subjekti- 1 „Die todten und bewußtlosen Produkte der Natur sind nur mißlungene Versuche der Natur sich selbst zu reflektieren, die sogenannte todte Natur aber überhaupt eine unreife Intelligenz, daher in ihren Phänomenen noch bewußtlos schon der intelligente Charakter durchblickt. - Das höchste Ziel, sich selbst ganz Objekt zu werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte Reflexion, welche nichts anderes als der Mensch, oder, allgemeiner, das ist, was wir Vernunft nennen, durch welche zuerst die Natur vollständig in sich selbst zurückkehrt, und wodurch offenbar wird, daß die Natur ursprünglich identisch ist mit dem, was in uns als Intelligentes und Bewußtes erkannt wird.“ SW III, 341. Schellings Naturphilosophie 105 vität zentriert sich in dem Begriff der Freiheit, der wesentlich gegenwendig zu dem Naturbegriff konzipiert ist. Dass darin der Naturbegriff als ein eben diese menschliche Subjektivität fundierendes Moment auftritt, ist wesentlich Schellings Einsicht. Die naturphilosophische Fundierung subjektivitätstheoretisch verstandener Freiheitsvollzüge bringt die Transzendentalphilosophie als solche an eine kritische Grenze, an der das Philosophieren sich grundsätzlich wandeln muss. Das Verhalten zu sich selber wird in der Nachfolge von Kants Kritiken und Fichtes Weiterführung derselben in seiner (frühen) Wissenschaftslehre als Selbstbewusstsein interpretiert. Bewusstsein ist Wissen als Bezugnahme auf Seiendes. Das Selbstverhältnis ist dann dasjenige der Reflexion, weil es um die Bezugnahme auf sich als dem Bezugnehmenden geht, d.i. um die rückwendige Bezüglichkeit auf sich selbst. Das heißt nun nicht, dass Selbstbewusstsein etwa in bloßer Reflexion bestehe 3 , es ist aber kein Zweifel, dass der Gedanke der Reflexion der immer schon leitende ist, von dem her das Selbstverhältnis bestimmt werden soll. Man denke etwa an Schellings Frühphilosophie, in der die Ausbildung menschlichen Selbstbewusstseins als ein spontaner reflexiver Akt gedacht wird, in dem sich der Mensch zuerst von der Welt unterscheidet, sich von ihr darin trennt, dadurch aber gerade auch Bezug auf sie nehmen kann. 4 2 Damit steht Schellings Naturphilosophie in einem viel größeren Kontext als nur dem einer methodischen Erörterung der Naturwissenschaften und deren Zugangsweisen zu dem Bereich der Natur. Damit soll gewissen Tendenzen in der Forschung nicht widersprochen werden, wenn etwa versucht wird, Schelling in Zusammenhang mit alten und modernen Theorien des Organischen, der Selbstorganisation etc. zu bringen; vgl. Heuser-Keßler, M.-L., »Die Produktivität der Natur: Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften«, Berlin 1986; Heuser-Keßler, M.-L., Jacobs, W. G. (Hg.), »Schelling und die Selbstorganisation. Neue Forschungsperspektiven«, Berlin 1994. Schellings Überlegungen könnten in der Folge auch entscheidende inhaltliche und methodische Konsequenzen für das Verständnis der Natur im engeren Sinne haben, vgl. etwa Rang, B., »Identität und Indifferenz. Eine Untersuchung zu Schellings Identitätsphilosophie«, Frankfurt a.M. 2000, der Schelling als einen Protagonisten einer phänomenologisch-physiognomischen Erkenntnisweise sieht. 3 Nach Henrich besteht ja schon Fichtes ursprüngliche Einsicht darin, den präreflexiven Charakter des Selbstbewusstseins erkannt zu haben. Vgl. Henrich, D., »Fichtes ursprüngliche Einsicht«, in: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für W. Cramer, hg. v. D. Henrich; H. Wagner, Frankfurt a.M. 1966, 188- 232. 106 Sebastian Schwenzfeuer Im System von 1800 werden nun das Konzept einer an Fichte anknüpfenden Transzendentalphilosophie und Schellings ureigenstes Projekt einer diese ergänzenden Naturphilosophie enggeführt. Dabei treten in der Konzeption dieses Systems eigentümliche architektonische wie inhaltliche Schwierigkeiten auf, die anzeigen, dass Schelling im Grunde schon längst über eine am subjektivitätstheoretischen Paradigma orientierte Philosophie hinaus ist, aber noch versucht, innerhalb dieses Paradigmas sich zu artikulieren, was notwendig zu Schwierigkeiten führen muss. Deutlich wird dieser Umstand an der problematischen Stellung der Naturphilosophie im System von 1800. Die Inhalte der Naturphilosophie, also etwa die Deduktion der Materie oder des Organismus, finden sich im Zusammenhang der theoretischen Philosophie im dritten Hauptabschnitt des Systems dargelegt, Schelling kann somit die Naturphilosophie innerhalb des Systems des transzendentalen Idealismus unterbringen. Dennoch aber bemerkt er in einer Fußnote, dass „[e]rst durch die Vollendung des Systems der Transcendental-Philosophie […] man der Notwendigkeit einer Naturphilosophie, als ergänzender Wissenschaft, inne werden, und dann auch aufhören, an jene Forderungen zu machen, welche nur eine Natur-Philosophie erfüllen kann.“ (SW III, 343) Dies entspricht ganz der in der Einleitung dargelegten Möglichkeit zweier Wege: einerseits vom Objekt auszugehen, um zum Subjekt zu gelangen, oder andererseits vom Subjekt auszugehen, um zum Objekt zu gelangen. Ersteres nennt er Naturwissenschaft bzw. Naturphilosophie, Letzteres Transzendentalphilosophie. 5 Es scheint dort, als wenn Schelling sich für die letztere Wegrichtung entscheiden wollte. Daher es 4 „Sobald der Mensch sich selbst mit der äußeren Welt in Widerspruch setzt (wie er das thut, davon späterhin), ist der erste Schritt zur Philosophie geschehen. Mit jener Trennung zuerst beginnt Reflexion; von nun an trennt er was die Natur auf immer vereinigt hatte, trennt den Gegenstand von der Anschauung, den Begriff vom Bilde, endlich (indem er sein eigenes Objekt wird) sich selbst von sich selbst.“ SW II, 13, wobei in der ersten Auflage der Schrift noch „Spekulation“ steht, der Sache nach aber ist die Reflexion gemeint. 5 „Das Objektive zum Ersten zu machen, und das Subjektive daraus abzuleiten, ist, wie so eben gezeigt worden, Aufgabe der Natur-Philosophie. Wenn es also eine Transscendental-Philosophie gibt, so bleibt ihr nur die entgegengesetzte Richtung übrig, vom Subjektiven, als vom Ersten und Absoluten, auszugehen, und das Objektive aus ihm entstehen zu lassen. In die beiden möglichen Richtungen der Philosophie haben sich also Natur- und Transscendental-Philosophie getheilt“, SW III, 342. Schellings Naturphilosophie 107 dann auch etwas verwundert, die Naturphilosophie im späteren Kapitel wieder anzutreffen, was eher nahelegt zu denken, die Transzendentalphilosophie sei das Umfassende und die Naturphilosophie einer von zwei Teilen derselben. Es bleibt also letztlich unklar, ob die Naturphilosophie nun in der Transzendentalphilosophie aufgeht oder nicht. Darin verbirgt sich nun der eigentümliche Umstand, dass die Naturphilosophie ein wesentliches, nicht hinwegzudenkendes Moment in der Genese der transzendentalen Subjektivität ausmacht, selber aber, konsequent zu Ende gedacht, in die Ablösung ebendieser transzendentalen Subjektivität als leitendem Prinzip des Systems führen muss, somit die Transzendentalphilosophie als solche verabschiedet. 6 Es kann nun nicht sein, dass Schelling die Natur damit in zweifacher Weise hat betrachten wollen, einmal transzendental vom Subjekt her und ein anderes Mal naturphilosophisch vom Objekt her. Dies würde nämlich bedeuten, die Natur innerhalb der vom Subjekt ausgehenden Transzendentalphilosophie nur subjektiv, vom Wissen her, zu betrachten. Da Natur aber einsteht für Objektsein, würde dies heißen, die Objekte bloß als subjektive zu betrachten. Man muss sich klarmachen, dass dies der Transzendentalphilosophie nicht gemäß sein kann, die doch gerade versucht die Objektivität selbst abzuleiten, indem das Wissen als transzendentale Identität von Subjekt und Objekt bestimmt wird. Dies lässt sich aber nicht durchführen, wenn das transzendentalphilosophische Ansetzen als nur subjektives veranschlagt wird. 7 Damit ist zumindest klar, wie schon 1800 in Schellings Denken von Anfang an etwas virulent ist, das nicht eigens bedacht werden kann. Erst 1801, mit dem Beginn der Identitätsphilosophie, soll dies ausdrücklich gemacht und systematisch in den Blick genommen werden können, sodass dieser Schritt in ein anderes Konzept von Philosophie als einer Philosophie des Absoluten mithin eine gewisse Notwendigkeit für sich beanspruchen kann. Das konsequente Durchdenken der Schellingschen Fassung von Transzendentalphilosophie, wie sie 1800 vorliegt, führt zugleich zu ihrer internen Auflösung. Es soll dies im Folgenden anhand 6 Vgl. etwa auch Wieland, W., »Die Anfänge der Philosophie Schellings und die Frage nach der Natur«, in: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, hg. v. M. Frank, G. Kurz, Frankfurt a.M. 1975, 237-279, der die Naturphilosophie als Selbstkritik der Philosophie liest. 7 Vgl. hierzu auch Brandner, R., »Natur und Subjektivität. Zum Verständnis des Menschseins im Anschluß an Schellings Grundlegung der Naturphilosophie«, Würzburg 2002, 73ff. 108 Sebastian Schwenzfeuer desjenigen Begriffes nachgewiesen werden, der der Identitätsphilosophie erst ihren Namen gegeben hat: der absoluten Identität von Subjekt und Objekt. Diese absolute Identität ist es nun, die auch bereits im System von 1800 im Hintergrund eine bestimmende Funktion ausübt. Die Transzendentalphilosophie geht vom reinen Subjekt aus, um aus diesem einen Weg hin zum Objekt zu schlagen, d.i. zu fragen, wie es kommt, dass wir von etwas wissen, das nicht wir selber sind. Dabei geht es nicht darum, im cartesischen Stil ein bereits vorhandenes, empirisches Wissen kritisch daraufhin zu überprüfen, ob es auch so sei, wie im Wissen angenommen werde. Solches Wissen wird gar nicht betrachtet. Vielmehr geht es um die transzendentalphilosophische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen. Dies hebt damit an, dass Schelling nach der Realität in unserem Wissen fragt. 8 Realität heißt da nur soviel wie ‚realitas‘, also Sachhaltigkeit. Diese Realität, als Hypothese genommen, soll auf ihre Bedingungen hin untersucht werden. Es wird also gefragt, wie ein Wissen, in dem Realität ist - ein Wissen ohne Realität wäre gar keines - strukturell beschaffen ist, nicht (was die cartesische Frage wäre), ob das, was im Wissen gewusst wird, wirklich so oder nur scheinbar ist. Schelling setzt nun in der Einleitung zum System von 1800 als erste Reflexion den Gegensatz von Subjekt und Objekt. Das Subjekt sei das Wissende, Bewusste, das Objekt das Gewusste, Bewusstlose. 9 Als Gegensätze schließen sich Subjekt und Objekt aus. Nun sei aber nach Schelling, der hier auf die alte Lehre von der Wahrheit als adaequatio zurückgreift, im wahren Wissen eine Übereinstimmung von Subjekt und Objekt gegeben. 10 Das, wie es im Wissen gesagt wird, und das, wie es ist, sind identisch. Wären sie es nicht, dann würde das Wissen nicht sagen, 8 „Es wird indeß als Hypothese angenommen, daß in unserem Wissen überhaupt Realität sey, und gefragt: was die Bedingungen dieser Realität seyen. - Ob in unserem Wissen wirklich Realität sey, wird davon abhängen, ob diese erst abgeleiteten Bedingungen nachher wirklich sich aufzeigen lassen.“ SW III, 353. 9 „Wir können den Inbegriff alles bloß Objektiven in unserm Wissen Natur nennen; der Inbegriff alles Subjektiven dagegen heiße das Ich, oder die Intelligenz. Beide Begriffe sind sich entgegengesetzt. Die Intelligenz wird ursprünglich gedacht als das bloß Vorstellende, die Natur als das bloß Vorstellbare, jene als das Bewußte, diese als das Bewußtlose.“ SW III, 339. 10 Schelling unterscheidet nicht zwischen Wissendem und Wissen, nur zwischen Wissen und Gewusstem. Das rechtfertigt sich später daraus, dass das Ich als Wissendes nichts weiter als ein Wissensakt ist und von diesem nicht noch als eine weitere seiende Entität, eine ‚Seele‘ etwa, unterschieden wird. Schellings Naturphilosophie 109 wie es ist, sondern sagen, wie es nicht ist. 11 In der Wahrheit sind die in der Reflexion unterschiedenen Gegensätze also immer schon eins, da sie aber dennoch als Gegensätze eins sein sollen, ergibt sich die Frage, wie das möglich ist. Wahrheit ist also keineswegs zureichend bestimmt, wenn von der Übereinstimmung oder Identität von Subjekt und Objekt die Rede ist. Vielmehr ist mit der Wahrheit immer schon mehr und anderes gedacht. Um Gegensätze in eins zu setzen, bedarf es aber eines vermittelnden Schrittes. 12 Wissen besteht nun nach Schelling in Sätzen oder, wie er auch in der damals üblichen Terminologie sagt, in Urteilen. Eine Analyse der Wahrheit wäre demzufolge eine Analyse von Sätzen bzw. Urteilen. 13 Wahre Sätze sagen, wie es ist, sind also eine Übereinstimmung von Satz und Sache, oder in Schellings Sprache: von Subjekt und Objekt. Es ist nun die Frage, was es dann heißt, vom Subjekt auszugehen? Der Standpunkt der Transzendentalphilosophie ist derjenige reiner Subjektivität. Er ist damit deutlich abgehoben von demjenigen Standpunkt, den jeder von uns alltäglich einnimmt, jener ist diesem gegenüber ein „künstliche[r]“ (SW 1/ III, 345). Ihn gilt es, erst eigens methodisch zu 11 Man nehme das so, wie es unmittelbar verständlich ist. Es ließen sich selbstverständlich gegen solche Erörterungen zahlreiche Sacheinwände machen. Es kommt aber an dieser Stelle nicht darauf an, was da genau unter Übereinstimmung oder Identität verstanden sei. Schelling redet etwa auch von Subjekt und Objekt als „Inbegriff[en]“ (SW III, 339), nicht von strengen Definitionen. Zu der Frage nach der Definierbarkeit von Begriffen hat Schelling denn auch eine eigene Ansicht. 12 „Wenn alles Wissen auf der Uebereinstimmung eines Objektiven und Subjektiven beruht (Einl. § 1), so besteht unser ganzes Wissen aus Sätzen, die nicht unmittelbar wahr sind, die ihre Realität von etwas anderem entlehnen.“ SW III, 353. 13 Das ist im Übrigen auch eine Einsicht, die Schelling vielleicht in eine interessante Perspektive für moderne Reflexionen auf die Sprache rücken kann. So werden Tugendhats Einwände gegen Schelling dadurch zumindest gemildert, da Tugendhat die propositionale Beschaffenheit der Erkenntnis gegen Schelling ausspielen will, aber übersieht, dass Schelling selber das Wissen immer an die Sprache (das Urteilen) rückbindet und somit die Einsichten der Transzendentalphilosophie gar nicht so weit von Tugendhats eigener Sprachanalyse entfernt sind. Vgl. Tugendhat, E., »Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen«, Frankfurt a.M. 1979, 316. Auch Manfred Frank verweist auf Schellings Einsicht entgegen moderner Polemik; vgl. Frank, M., »Einführung in die frühromantische Ästhetik: Vorlesungen«, Frankfurt a.M. 1989, 173. 110 Sebastian Schwenzfeuer gewinnen. Der erste Schritt dazu ist die Unterscheidung von Subjekt und Objekt. 14 Dieser grundsätzliche Unterschied wird nun von Schelling auf seine ursprüngliche Evidenz zurückgeführt, indem er das Subjekt an den Satz „Ich bin“ und das Objekt an den Satz „Es sind Dinge außer mir“ rückbindet. Strukturell ist daran zweierlei hervorzuheben. Erstens sind diese beiden Sätze, also das Subjektive und das Objektive als solche, selber Sätze (bzw. Urteile). Es soll ja die Struktur des wahren Wissens als eines wahren Satzes (Urteils) erläutert werden, gemäß der eigentlichen transzendentalen Aufgabe, die Realität (= Sachhaltigkeit) in unserem Wissen zu erklären. In jedem Urteil sind nach Schelling Subjekt und Objekt vermittelt. Jetzt erweist sich aber das Subjekt wie das Objekt, die erst den Satz als solchen ermöglichen sollen, selber schon jeweils als ein ganzer Satz. Das muss denn auch sein, insofern dasjenige, was den Urteilen als solchen zugrunde liegt, selber gewusst werden kann, wissensförmig ist und daher selber als Wissen in Form eines Satzes bestehen muss. In der Summe: Dem Satz als solchen liegen andere Sätze zugrunde. Diese anderen Sätze sind nun die beiden oben angegebenen. Da sie nach Schelling die Bedingungen der Möglichkeit von allen Sätzen überhaupt sind, haben sie einen anderen Status als „gewöhnliche“ Sätze. Sie gehen jedem Urteilen vorauf (= ihre Vor-Struktur). Andererseits sind sie, wie gesagt, selber Urteile, daher können sie in diesem Sinne Vor-Urteile heißen. Zweitens wird durch diese Feststellung um so fraglicher, was denn eigentlich ein Satz ist. Rekurriert man, um den Satz zu erklären auf Sätze, bewegt man sich ersichtlich im Kreis. Das ist denn auch gerade diejenige Form von Zirkularität, die Schellings Untersuchung über das oberste Prinzip allen Wissens eignet. Das oberste Prinzip soll gewusst werden können, d.h. es muss ein Satz sein. Dieses Satzsein ist aber seine Form. Das Prinzip als Inhalt scheint seine Form wesentlich voraussetzen zu müssen. Das oberste Prinzip kann also nur so das oberste sein, dass der Inhalt selber wesentlich auch die Form mitsetzt, und umgekehrt muss die Form selber den Inhalt erbringen. 1516 Einen solchen Inhalt, in 14 „Durch den Akt dieser Trennung selbst, wenn er vollständig ist, versetzt er sich in die transcendentale Betrachtungsart, welche keineswegs eine natürliche, sondern eine künstliche ist.“ SW III, 345. 15 „Das Princip der Philosophie muß also ein solches seyn, in welchem der Inhalt durch die Form, und hinwiederum die Form durch den Inhalt bedingt ist, und nicht eines das andere, sondern beide wechselseitig sich voraussetzen.“ SW III, 360. Schellings Naturphilosophie 111 dem Form und Inhalt sich wechselseitig bedingen und setzen, erblickt Schelling in der Struktur des Ich. Dazu weiter unten gleich mehr. Der transzendentale Standpunkt liegt aber im rein Subjektiven, d.h. in dem Satz „Ich bin“. Zur Gewinnung dieses Standpunktes stellt sich Schelling bewusst in die cartesische Tradition des Zweifels. 17 Durch Skepsis werden die Vorurteile als solche sichtbar gemacht. Dreierlei Arten von Vorurteilen unterscheidet Schelling: erstens die gewöhnlichen, die irgendwelche empirischen Sachverhalte betreffen, zweitens das natürliche Vorurteil, das mit dem Satz „Es sind Dinge außer mir“ identisch ist, und schließlich das dritte, absolute Vorurteil, dem „Ich bin“. Philosophisch relevant sind nur die letzten beiden. Die skeptische Methode 16 Dieses Wechselverhältnis zu durchdenken eröffnet die Möglichkeit einer transzendentalen Logik, die, anders als etwa formale Logik, die nur ein Abstraktum von Aufgefundenem ist und letztlich nicht mehr als Formulare anzubieten hat, die jedem Inhalte gegenüber gleichgültig sind, den wesentlichen Zusammenhang von Form und Inhalt auf den Begriff bringt. Schelling selber stellt so etwas in Aussicht (vgl. SW III, 360f., 513f.), ohne das aber näher auszuführen. Er wird diesen Gedanken in der Identitätsphilosophie wieder aufgreifen, dort allerdings geht gerade der eminent logische Charakter, also der Zusammenhang mit dem Urteil (= logos) verloren. Hegel wird später (1813) in der Wesenslogik genau jenen logischen Sachverhalt deutlicher auf den Begriff bringen, indem er die Formalität der Form, die den Inhalt erst erbringt, denkt. Vgl. Hegel, G. W. F., »Werke in 20 Bde«, auf d. Grundlage d. Werke von 1832 - 1845 neu ed. Ausgabe, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 6, 34ff., dazu Haas, B., »Die freie Kunst. Beiträge zu Hegels Wissenschaft der Logik, der Kunst und des Religiösen. Mit einem Anhang von Bernhard Haas: Über die Analyse von Musik des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts«, Berlin 2003, 38ff. 17 „Wenn der Transscendental-Philosophie das Subjektive - das Erste, und einziger Grund aller Realität, einziges Erklärungsprincip alles andern ist (§ 1), so beginnt sie nothwendig mit dem allgemeinen Zweifel an der Realität des Objektiven. Wie der nur aufs Objektive gerichtete Natur-Philosoph nicht so sehr zu verhindern sucht als Einmischung des Subjektiven in sein Wissen, so umgekehrt der Transscendental-Philosoph nichts so sehr als Einmischung des Objektiven in das rein subjektive Princip des Wissens. - Das Ausscheidungsmittel ist der absolute Skepticismus - nicht der halbe, nur gegen die gemeinen Vorurtheile der Menschen gerichtete, der doch nie auf den Grund sieht, sondern der durchgreifende Skepticismus, der nicht gegen einzelne Vorurtheile, sondern gegen das Grundvorurtheil sich richtet, mit welchem alle andern von selbst fallen müssen. Denn außer den künstlichen, in den Menschen hineingebrachten Vorurtheilen gibt es weit ursprünglichere, nicht durch Unterricht oder Kunst, sondern durch die Natur selbst in ihn gelegte, die, außer dem Philosophen, allen übrigen statt der Principien alles Wissens, und dem bloßen Selbstdenker sogar als Probierstein aller Wahrheit gelten.“ SW III, 343. 112 Sebastian Schwenzfeuer ist im Grunde die transzendentalphilosophische oder deren Vorstufe; es geht nur darum, diese Vorurteile als Vorbedingungen sichtbar zu machen, nicht darum, sie etwa zu kritisieren oder als falschen Schein zu entlarven. Als Vorurteile sind sie notwendig, in dem oben erläuterten Sinne, dass sie die Möglichkeitsbedingungen von Urteilen als solchen sind, d.h. deren vorgängige Struktur bilden. Die unterscheidende Trennung von Subjekt und Objekt ist der Standpunkt der Reflexion. Anknüpfend an die Tradition von Kritizismus und Dogmatismus entsprechen den beiden Reflexionsbegriffen zwei Gewissheiten: einerseits, dass ich bin, andererseits, dass es etwas gibt, d.h. Dinge außer mir sind. Der Standpunkt der Transzendentalphilosophie ist aber erst dann errungen, wenn es darum geht, beide Sätze systematisch aufeinander zu beziehen und auseinander herzuleiten. Schelling betont ja in der Einleitung, dass beides möglich ist: das Subjekt oder das Objekt als Erstes zu setzen. Damit ist zumindest angezeigt, dass er keinen der beiden Reflexionsstandpunkte als schlechthin Primären setzen will, 18 wenn auch letztlich aus den oben erörterten Schwierigkeiten heraus der vom Subjekt ausgehende als der weitreichendere anzusehen bleibt. Die beiden Begriffe müssen dadurch miteinander vermittelt, „identifiziert“ werden, dass sie in einem synthetischen Urteil auf eine Sache hin bezogen werden: die Identität von Subjekt und Objekt als die im Ich immer schon intendierte Einheit beider. Diese Einheit von Subjekt und Objekt im Ich macht gerade die Definition des Selbstbewusstseins aus. Es ist nun Schellings These, dass damit zugleich der wesensmäßige Zusammenhang der beiden Sätze „Ich bin“ und „Es sind Dinge außer mir“ bestimmt ist, das bedeutet: das Selbstbewusstsein zu denken, d.h. 18 Die Wechselseitigkeit von Idealismus und Realismus ist bei Schelling durchweg, auch weit später nach 1800, betont. Im transzendentalphilosophischen Rahmen führt das aber zu einer konzeptuellen Schwierigkeit, etwa die, wie denn einerseits aus dem Subjekt das Objekt abgleitet werden soll, wenn andererseits auch das Umgekehrte möglich sei. Schon Fichte betont im Briefwechsel mit Schelling die schlechte Zirkularität dieses Vorhabens (vgl. zum Briefwechsel Hühn, L., »Die Verabschiedung des subjektivitätstheoretischen Paradigmas. Der Grunddissens zwischen Schelling und Fichte im Lichte ihres philosophischen Briefwechsels«, in: Fichte-Studien 25 (2005), 93-111). Schlecht ist sie nicht, weil es sie überhaupt gibt, sondern wegen ihrer transzendentalen Unausgewiesenheit. Es bedürfte denn auch, wie Schelling ab 1801 einsieht, eines anderen philosophischen Rahmens, eines Konzeptes des Absoluten, das dieser Wechselseitigkeit gerecht werden kann. Schellings Naturphilosophie 113 bewusst zu vollziehen (= Objekt meiner selbst werden) ist gleichbedeutend mit der Antwort auf die Frage, warum in meinem Wissen Realität sei (= Wissen, das sich auf ein Objekt bezieht). Nur so ist klar, warum Schelling die Natur als das vergessene Eigene, als misslungene Versuche sich anzuschauen, denken kann. Um diesen synthetischen Schritt einer Identifikation beider Sätze zu leisten, bedarf es auch mehr und anderem als der trennenden Reflexion. So bemerkt Schelling schon vorausgreifend, wie die Untersuchung nur mittels eines eigenen Organs (= Werkzeuges) zu vollziehen sei, der im inneren Sinn sich vollziehenden intellektuellen Anschauung. Wie dies zu verstehen ist, muss ein genauerer Blick auf das Ich als Prinzip des Systems zeigen. Der Aufweis des Ich als obersten Prinzips ist denn auch nicht eine Deduktion, da das Ich ja erst das sein soll, aus dem so etwas wie Deduktion möglich ist. Das Deduzieren fängt erst mit dem Ich an. Die interessante Frage ist dann aber natürlich, wie Schelling eigentlich zu dem Ich als Prinzip gelangt. Denn es ist wohl weder ein bloß empirisch-anthropologischer Umstand, der nur aufgelesen werden müsste, was rein zufällig bliebe, noch irgendeine banale Selbstverständlichkeit. Es gehört also zum Prinzip als solchem irgendwie auch eine „Herleitung“, ein Aufweis der Dignität, wie Schelling sagt. 19 Anders gesagt: Das Prinzip steht nicht einfach notwendig oder zufällig fest, sondern bedarf einer eigenen Rechtfertigung. Das absolute Vorurteil betrifft die Gewissheit meiner selbst. Indem ich mein Sein bezweifle, komme ich gerade auf dasselbe zurück. Mein Sein ist zwar gewiss, aber an sich dunkel, muss also noch eigens ausgelegt und verstanden werden. Schelling sucht daher, grundlegend anders als Descartes, in der unbezweifelbaren Selbstgewissheit kein fundamentum inconcussum als ein letztes, unhintergehbares Seiendes. Schelling weist nach, dass das Ich wesentlich mit der Struktur des Urteils zu tun hat, darin liegt denn auch der transzendentale Nexus zwischen Inhalt (= Ich als einem Etwas) und seiner Form (= Ich als Urteilen). Das Ich ist eine sprachliche Struktur, die, gerade insofern man sie auszublenden versucht, sich immer wieder herstellt und darin sich als ursprüngliche Pro- 19 „Wir sprechen von einer Deduktion des höchsten Princips. Es kann nicht davon die Rede seyn, das Princip aus einem höheren abzuleiten, überhaupt nicht von einem Beweis seines Inhalts. Der Beweis kann nur auf die Dignität dieses Princips, oder darauf gehen, zu beweisen, es sey das höchste und trage alle jene Charaktere an sich, die einem solchen zukommen.“ SW III, 361. 114 Sebastian Schwenzfeuer duktivität, als eine beständige Tätigkeit erweist. Schelling geht also nicht von einer unmittelbaren Selbstgewissheit aus, die ein letztes (oder erstes) Seiendes verbürgen würde, sondern untersucht gerade diese Gewissheit auf ihre Form, d.i. ihre Urteilsstruktur, hin. Erst das setzt die Selbstgewissheit in ihre Funktion als ein transzendentales Ich. Das Ich, das Schelling als Prinzip setzt, ist nicht identisch mit dem Kantischen „Ich denke“. 20 Der Satz „Ich bin“ ist nach Schelling der höhere Satz, er ist das in einer bestimmten Evidenz stehende Sein selbst 21 , nämlich derjenigen der Selbstgewissheit. Insofern man nicht sagen kann, dass es ist, sondern nur durch es als transzendentale Bedingung Seiendes sein kann, ist es denn auch nicht etwas Empirisches, Kontingentes, sondern etwas Prinzipielles. Das Kantische „Ich denke“ ist dafür der Vorläufer. Was bei Kant aber immer ungedacht blieb, ist die Seinsweise der transzendentalen Subjektivität selber. 22 An der veränderten Formulierung des transzendentalen Prinzips sieht man, wie Schelling auf eine Klärung dieser bei Kant offen bleibenden Frage drängt. 20 „Man überlasse sich ganz der unwillkürlichen Succession der Vorstellungen, so werden diese Vorstellungen, so mannichfaltig und verschieden sie seyn mögen, doch als zu Einem identischen Subjekt gehörig erscheinen. Reflektire ich auf diese Identität des Subjekts in den Vorstellungen, so entsteht mir der Satz: Ich denke. Dieses Ich denke ist es, was alle Vorstellungen begleitet und die Continuität des Bewußtseyns zwischen ihnen unterhält - Macht man aber von allem Vorstellen sich frei, um seiner ursprünglich bewußt zu werden, so entsteht - nicht der Satz: Ich denke, sondern der Satz: Ich bin, welcher ohne Zweifel ein höherer Satz ist. In dem Satz: Ich denke, liegt schon der Ausdruck einer Bestimmung oder Affektion des Ich; der Satz: Ich bin, dagegen ist ein unendlicher Satz, weil es ein Satz ist, der kein wirkliches Prädicat hat, der aber eben deßwegen die Position einer Unendlichkeit möglicher Prädicate ist.“ SW III, 367. 21 „Da dem Ich auch keines von den Prädicaten zukommt, die den Dingen zukommen, so erklärt sich daraus das Paradoxon, daß man vom Ich nicht sagen kann, daß es ist. Man kann nämlich vom Ich nur deßwegen nicht sagen, daß es ist, weil es das Seyn selbst ist.“ SW III, 376. 22 Die Frage nach der Seinsweise der transzendentalen Subjektivität stößt gelegentlich auf Ablehnung, vgl. den frühen Aufsatz von Henrich, D., »Über die Einheit der Subjektivität«, in: Philosophische Rundschau 3 (1955), 28-69, auch Horstmann, R.-P., »Gibt es ein philosophisches Problem des Selbstbewußtseins? «, in: Theorie der Subjektivität, hg. v. K. Cramer, H. F. Fulda et al., Frankfurt a.M. 1987, 220-248; zur Kritik an dieser Haltung Brandner, R., »Natur und Subjektivität. Zum Verständnis des Menschseins im Anschluß an Schellings Grundlegung der Naturphilosophie«, Würzburg 2002, 39ff. Schellings Naturphilosophie 115 Das Ich als Prinzip des Systems ist nicht ein Seiendes, das es einfach so gibt. Zwar ist mit dem Ich das jedem vertraute Phänomen von Selbstbewusstsein notwendigerweise zuerst anvisiert, damit ist aber noch nicht das Prinzip selbst gefunden. Dieses ist von seinem empirischen Vorkommen als Ichheit gerade unterschieden, es ist ein transzendentales Ich angenommen, das allem einzelnen, empirischen Ich, es ermöglichend, voraus liegt. Wie ist dieses transzendentale Ich aber zu gewinnen? Der Gegenstand der Transzendentalphilosophie wird nun gemäß SW 1/ III, 350 erst als solcher durch die Transzendentalphilosophie hervorgebracht. 23 Diesem Produzieren des Ich als Prinzip entspricht nun aber gerade das Ich als Inhalt selber und das ist es letztlich, was ein Abgleiten in philosophische Willkür hier verhindert. Das Ich des Transzendentalphilosophen produziert das Prinzip frei aus sich, weil das Ich als transzendentales eben genau dies ist: freie, ursprüngliche Produktivität. Einerseits also ist es frei produziert, andererseits eben nur, weil es dies immer schon ist und war. Dieser merkwürdige Umstand ist treffend mit dem paradoxen Ausdruck der „freien Nachahmung“ beschrieben. 24 Es wird etwas gesagt, von dem es den Gegenstand erst in und mit diesem Sagen, d.h. dem Handeln des Subjektes, gibt. Das ist die ursprüngliche Produktivität des Ich. Das transzendentale Ich kann also nicht nur neutral-theoretisch reflektiert werden, sondern der Transzendentalphilosoph muss immer wesentlich selber mit involviert sein. 25 Bloße äußere Reflexion kann das Ich nur von der Welt unterscheiden, es aber nicht auf sie wieder beziehen. Soll das Ich als transzendentales einsichtig werden, dann muss dies durch einen Vollzug geschehen, der sich selbst zu dieser ursprünglichen Produktivität des Ich macht. Dies soll mit der intellektuellen Anschauung angezeigt sein, die nach Schelling ein 23 „Noch mehr, die Objekte des Transscendental-Philosophen existiren gar nicht, als insofern sie frei producirt werden.“ SW III, 350. 24 „Philosophie überhaupt ist also nichts anderes als freie Nachahmung, freie Wiederholung der ursprünglichen Reihe von Handlungen, in welchen der Eine Akt des Selbstbewußtseyns sich evolvirt. Die erste Reihe ist in Bezug auf die zweite reell, diese in Bezug auf jene ideell. Es scheint unvermeidlich, daß in die zweite Reihe Willkür sich einmische, denn die Reihe wird frei begonnen und fortgeführt, aber die Willkür darf nur formell seyn, und nicht den Inhalt der Handlung bestimmen.“ SW III, 397. 25 „Im gemeinen Handeln wird über dem Objekt der Handlung das Handeln selbst vergessen; das Philosophiren ist auch ein Handeln, aber nicht ein Handeln nur, sondern zugleich ein beständiges Selbstanschauen in diesem Handeln.“ SW III, 345. 116 Sebastian Schwenzfeuer Postulat ist, insofern dieser denkende Nachvollzug nur angesonnen, nicht aber erzwungen werden kann. 26 Nur in einem völlig freien Vollzug kann das Ich in seiner Freiheit so erfahren werden, dass es als transzendentales evident ist. Ist durch das Prinzip des Selbstbewusstseins die Welt der Objekte als Außenwelt notwendig mitgesetzt, so ist diese Objektwelt selber nur in und mit der Produktivität des Ich vorhanden. Es sei, um diesen Punkt nicht missverständlich werden zu lassen, noch einmal betont, dass es Schelling nicht um eine entlarvende Kritik an dem natürlichen Vorurteil, dem „Es sind Dinge außer mir“, geht, sondern dass es nach dessen Genese fragt. Das Vorurteil ist als solches notwendig, insofern zum Ich so etwas wie eine unabhängige Außenwelt gehört. Eben diese Unabhängigkeit der Außenwelt aber scheint nun durch die Feststellung, dass die Objekte nur in und mit der Produktivität des Ich gegeben sind, unterlaufen zu werden. Dieser Eindruck lässt sich nur dadurch vermeiden, dass gesagt wird: Nur das Sein der Objekte, also ihre Objektivität wird gesetzt, nicht aber sie als Seiende selber. Die Produktivität ist denn auch nicht einfach ein Herstellen der Objekte. Die Natur (als Summe der Objekte verstanden) ist nicht das Werk der Subjektivität, sondern dessen unbewusste Vorgeschichte. Die Rede vom „Herstellen“ suggeriert eine Willkür, die gar nicht vorliegt und auch nicht gedacht werden soll: Schließlich geht es darum, die Objekte als Seiende, nicht als Schein zu erklären, die Realität im Wissen zu erklären, nicht unser Scheinwissen aufzudecken. Die Transzendentalphilosophie will die Realität im Wissen erklären und geht dafür auf das reine Subjekt zurück, denn nach Schellings Bestimmung ist dieses Subjekt das Wissen selbst. Damit ist zugleich einsichtig, inwiefern das Ich als Selbstbewusstsein hier zum Zuge kommt und als Prinzip dienen kann. Im Ich ist ein Wissen von sich, also nicht nur von irgendetwas, sondern von dem Wissen selbst gegeben. Da im Ich Subjekt und Objekt identisch sind, das Gewusste zugleich das Wissende ist, ist es somit von vornherein, nämlich seiner grundlegenden 26 „Das Ich ist nichts anderes als ein sich selbst zum Objekt werdendes Produciren, d.h. ein intellektuelles Anschauen. Nun ist aber dieses intellektuelle Anschauen selbst ein absolut freies Handeln, diese Anschauung kann also nicht demonstrirt, sie kann nur gefordert werden; aber das Ich ist selbst nur diese Anschauung, also ist das Ich, als Princip der Philosophie, selbst nur etwas, das postulirt - wird.“ SW III, 370. Schellings Naturphilosophie 117 Definition nach, transzendental ausgezeichnet: das Gewusste, nämlich das Seiende, auf seine Bedingungen hin durchschauen zu können. Die Selbstgewissheit des „Ich bin“ ist die Möglichkeit der Transzendentalphilosophie selber. Das Ich ist eine Anschauung von sich selbst; darin allein liegt das für die transzendentale Aufgabe Entscheidende. Was das Ich außerdem kontingenterweise ist oder sein kann (also das empirische Ich im weitesten Sinne), kommt nicht in Betracht. Es ist dieses Anschauen seiner selbst aber nicht als ein ausdrückliches Wissen. Zwar bin ich mir gewiss, weiß aber durchaus nicht, was das heißt. Das Ich ist also eine Anschauung von sich nur als die Offenheit zu einer näheren Bestimmung dieser Anschauung, so gesehen kann man sagen: es ist ein Anschauenkönnen. 27 Insofern diese Selbstanschauung aber zu dem Wesen des Ich selber gehört, kann es auf diese Selbstanschauung nicht verzichten, ohne nicht mehr das zu sein, was es ist. Es muss sich also anschauen wollen, eben weil es Ich ist. 28 Das Ich ist in seinem Sein sich wissend und nur in seinem Sich-Wissen seiend. Dieses Anschauenwollen ausdrücklich zu vollziehen, ist die Aufgabe der Transzendentalphilosophie. Das Ich weiß von sich, jedes Wissen ist aber ein Urteil. Es muss sich also ein Satz angeben lassen, der das Sich-Wissen zum Ausdruck bringt. Schelling setzt dafür die Formel: Ich = Ich. 29 Das Ich ist ein Wissen des Wissens. 30 Über jedem Akt des Wissens wird aber ebendieser Akt vergessen. Wissen vergisst sich selbst, um etwas anderes als es selbst wissen zu können. Es ist auf anderes aus (das Phänomen der sogenannten Intentionalität). Das Wissen als solches, also dass ich weiß, wird nun in jedem Wissen mitgewusst, oder wie Kant 27 „Ich bin, dagegen ist ein unendlicher Satz, weil es ein Satz ist, der kein wirkliches Prädicat hat, der aber eben deßwegen die Position einer Unendlichkeit möglicher Prädicate ist.“ SW III, 367. 28 „Die Natur der transscendentalen Betrachtungsart muß also überhaupt darin bestehen, daß in ihr auch das, was in allem andern Denken, Wissen oder Handeln das Bewußtseyn flieht, und absolut nicht-objektiv ist, zum Bewußtseyn gebracht, und objektiv wird, kurz, in einem beständigen sich-selbst-Objekt-Werden des Subjektiven.“ SW III, 345 (Hervorhebung v. Verf.). 29 „Der Idealismus ist schon in unserem ersten Grundsatze ausgedrückt. Denn weil das Ich unmittelbar durch sein Gedachtwerden auch ist (denn es ist nichts anderes als das Sichselbstdenken), so ist der Satz Ich = Ich = dem Satz: Ich bin.“ SW III, 377. 30 „Das transcendentale Wissen ist also ein Wissen des Wissens, insofern es rein subjektiv ist.“ SW III, 345. 118 Sebastian Schwenzfeuer sagt, das „Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“. 31 Daher untersucht Kant, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Wissen für einen Wissenden, ein Ich, sein kann. Schelling fragt aber nach dem Sein dieses Ich, der transzendentalen Subjektivität. Es geht ihm keineswegs darum, das transzendentale Ich selber als ein Seiendes zu hypostasieren. Ganz an Kant festhaltend ist das Ich transzendental derjenige Einigungspunkt, der alles Wissen strukturiert, ganz unabhängig von jeder Empirie von Seiendem, dieser nämlich apriorisch vorausliegend. Das schließt aber nicht aus, dennoch nach diesem Ichpunkt eigens zu fragen. Das Ich als Wissen des Wissens ist nun ein ganz anderes Wissen als das verobjektivierte Wissen, es ist nicht gegenständlich. Es ist nicht einfach Reflexion, d.h. nachträgliche Thematisierung der Wissensakte. Vielmehr erkennt Schelling, wie das Ich, das jedes objektive Wissen begleitet, nicht selber in derartigem Wissen aufgehen kann. Jede Reflexion setzt dasjenige Sich-Wissen, um das es hier geht, bereits voraus. Das Wissen ist nun, das ist Kants grundlegende Einsicht, durch die ursprünglichen Verstandeshandlungen der transzendentalen Subjektivität strukturiert. Das Sein des Ich ist damit eine ursprüngliche Produktivität. Das Ich setzt aber durch diese Produktivität erst dasjenige, was es ihm ermöglicht, später reflektiert thematisch, d.h. als Objekt, sich zu wissen. Daher ist das Ich ursprünglich nicht als Objekt, es ist Subjekt, d.h. ursprünglich nicht bewusste Produktivität. Schelling zeigt nun dasjenige Geschehen auf, wie das ursprüngliche Subjekt sich selbst verfehlt, indem es sich zu verobjektivieren versucht. Was ihm darüber entsteht, ist die Voraussetzung seines Selbstbewusstseins. Dieses Geschehen versteht Schelling als die transzendentale Vorgeschichte des Ich, es ist die Geschichte eines fortwährenden Misslingens. 32 Von diesem Misslingen sei hier der Kürze halber nur das allerformalste angegeben. Betrachtet man den Satz Ich = Ich, dann ersieht man, dass 31 Kant, I., »Kritik der reinen Vernunft«, B 132. Zitiert nach Kant, I., Akademie-Textausgabe [Reprod. der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften von 1902], Berlin 1968, Bd. III., vgl. Schröder, 30, FN 94 und Brachtendorf, 3, FN 10. 32 „Durch die ganze theoretische Philosophie hindurch sahen wir das Bestreben der Intelligenz, ihres Handelns als solchen bewußt zu werden, fortwährend mißlingen.“ SW III, 536. Vgl. dazu Hühn, L., »Die Idee der neuen Mythologie. Schellings Weg einer naturphilosophischen Fundierung«, in: Evolution des Geistes: Jena um 1800, hg. v. F. Strack, Stuttgart 1994, 393-411, 402f. Schellings Naturphilosophie 119 die beiden Ichstellen nicht gleichwertig sind. Denn insofern darin die Identität von Subjekt und Objekt ausgedrückt werden soll, muss demgegenüber betont werden, wie das Ich ja gerade nicht in seinem Objektsein aufgeht. Insofern es Subjekt ist, ist es nicht Objekt. Dennoch ist es zugleich die Identität von beidem. Das Ich ist damit die Identität von Subjekt und Objekt so, dass beide auch unterschieden werden müssen. 33 Der Satz müsste also lauten Ich 1 = Ich². Die Zahlen geben die ursprüngliche Duplizität des Ich an, das Gleichheitszeichen die im nicht gegenständlichen Sich-Wissen erfahrene Einheit von sich selbst. Das Sich-Bestimmen der Subjektivität zu einem Wissen denkt Schelling nun so: Das Ich ist ein Akt des Wissens und nichts weiter. Über diesem Akt wird nun dieser Akt selber grade nicht gewusst. In dem Satz Ich 1 = Ich² ist damit aber das Ich nicht gewusst (das ja der Akt selbst ist, also ursprüngliche Produktivität). Lässt man den Inhalt weg, behält die Form aber bei, dann erhält man A = B, also die Form des Urteils. Damit ist das Schema des Beweises gegeben, wie aus dem „Ich bin“ das „Es sind Dinge außer mir“ deduziert werden kann. Die Realität des Urteils (als sein Gegenstand, sein Objekt) ist nun zugleich mitgesetzt. Denn: Das Ich als Akt kommt nicht bei sich an, sondern bei etwas anderem als ihm selbst. Das Subjekt ist also a priori über sich hinaus. Zeichnet man diesen Sachverhalt in das formalisierte Urteil ein, dann muss man schreiben: A = B ergibt X, d.h. das Urteil, das sich auf eine Sache bezieht. Es sei angemerkt, dass dieser Beweis nur funktioniert, wenn die transzendentalphilosophische Grundeinsicht festgehalten wird, dass das transzendentale Ich die Bedingung der Möglichkeit von Wissen durch das spontane Setzen der maßgeblichen Kategorien ist, was darin seinen Ausdruck findet, dass die Wahrheit, der Form nach betrachtet, gleich definiert ist wie das Selbstbewusstsein, nämlich als Identität von Subjekt und Objekt. Das Selbstbewusstsein begleitet ein jedes Wissen: Formal ist Wissen und Sich-Wissen nicht zu unterscheiden, dem Inhalte nach erweist sich das Selbstbewusstsein seiner Struktur nach als die apriorische, also vorgängige Bedingung von jeglichem Wissen. 33 „Nur was nicht ursprünglich Objekt ist, kann sich selbst zum Objekt machen, und dadurch Objekt werden. Aus dieser ursprünglichen Duplicität in ihm selbst entfaltet sich für das Ich alles Objektive, das in sein Bewußtseyn kommt, und nur jene ursprüngliche Identität in der Duplicität ist es, die in alles synthetische Wissen Vereinigung und Zusammenhang bringt.“ SW III, 374. 120 Sebastian Schwenzfeuer Das Sein der Subjektivität zeigt sich gerade in dem fortwährenden Scheitern der Selbstverobjektivierung des Ich. Darin ist nicht bloß gezeigt, dass das Sich-Wissen des Ich kein verobjektiviertes Wissen ist und sich daher grundsätzlich von anderem Wissen unterscheidet (und damit Transzendentalphilosophie möglich macht), sondern weit darüber hinausgehend wird das Sein der Subjektivität gerade als ursprünglich nicht bewusste Produktivität aufgewiesen. Diese Produktivität ist, insofern unbewusst, naturhaft und weist an eine unbewusste, transzendentale Vorgeschichte des Selbstbewusstseins. 34 Das Ich ist ursprünglich unbewusste Tätigkeit, weshalb auch die Selbstgewissheit des ‚Ich bin‘ nicht automatisch die Selbsttransparenz des Ich bedeutet, sondern dies erst durch die ausgeführte Transzendentalphilosophie möglich wird. Die Unbewusstheit als wesentliches Moment des Ich steht für diesen Umstand ein, ansonsten bliebe nämlich im Dunkeln, warum Schelling nicht schon mit der Einleitung, rekurrierend auf die das Subjekt-Objekt erbringende intellektuelle Anschauung, am Ende angelangt ist. Die intellektuelle Anschauung ist die Evidenz der Identität von Subjekt und Objekt, das Sich-Wissen des Ich in seiner spontanen selbstbestimmenden Tätigkeit, die ein jeder haben muss, der Transzendentalphilosophie verstehen will. Sie ist aber nicht ein absonderliches Vermögen, sondern zeigt das Wissen von der je eigenen Freiheit im Wollen an, die der vortheoretische Horizont ist, aus dem heraus die Transzendentalphilosophie erst möglich wird. Sie ist dasjenige am Sich-Wissen der Subjektivität, das gerade allem gegenständlichen Wissen vorausgehen muss und daher selber nicht unmittelbar gegenständliches Wissen (= äußere Anschauung) noch vermittelt gegenständliches (= Reflexion) sein kann und daher anders beschrieben werden muss, eben als intellektuelle Anschauung. Es soll im Folgenden kurz auf zwei Konsequenzen von Schellings Einsicht in die Seinsweise der transzendentalen Subjektivität hingewiesen werden. Die erste betrifft den Status der Naturphilosophie. Wenn das transzendentale Ich ursprünglich eine unbewusste Produktivität ist, 34 Was Schelling später in seinen Münchener Vorlesungen im Rückblick mit dem treffenden Begriff einer ‚transzendentalen Vergangenheit‘ beschreibt. „Ich suchte also mit Einem Wort den unzerreißbaren Zusammenhang des Ich mit einer von ihm nothwendig vorgestellten Außenwelt durch eine dem wirklichen oder empirischen Bewußtseyn vorausgehende transscendentale Vergangenheit dieses Ich zu erklären, eine Erklärung, die sonach auf eine transscendentale Geschichte des Ichs führte.“ SW X, 93f. Schellings Naturphilosophie 121 dann lässt es sich nicht mehr von der Natur im Schellingschen Sinne unterscheiden. Sie ist dann nämlich genauso bestimmt, wie die ‚natura naturans‘, die schaffend-tätige Natur, die allen Naturobjekten als ‚natura naturata‘ zugrunde liegt. 35 Die ‚natura naturans‘ ist das Subjekt für die ‚natura naturata‘ als Objekte. Es ist darin ein analoger Strukturzusammenhang zu dem Verhältnis von Wissen und Gewusstem. Wenn die Bewusstheit als wesentlichstes Kriterium des Subjektes im Zusammenhang des Wissens durch eine Unbewusstheit ersetzt wird, ist das Subjekt im Sinne des wissenden Ich und das Subjekt im Sinne der naturhaften Produktivität dasselbe, weil ununterscheidbar. Das erst macht auch einsichtig, wie die Naturphilosophie bei Schelling in ihren hohen Rang kommt. Das Ich erweist sich, transzendental untersucht, in einem gewissen Moment seines Seins als identisch mit demjenigen Ermöglichungsgrund, der allen Naturprodukten zugrunde liegen muss. Dabei scheint es, als wenn die Natur im Sinne der ‚natura naturans‘ als die Voraussetzung der Subjektivität als einer selbstbewussten gedacht werden muss. Die produktive Natur ist dann die transzendentale Vorgeschichte des wissenden Subjektes. Das Subjekt erweist sich in seiner ursprünglichen Unbewusstheit selber als naturhaft. Es scheint, als wenn damit die Natur als ein Erstes anzusetzen wäre. Andererseits kann dies kaum gemeint sein, insofern Schelling ja die Natur als das Andere des Subjektes erst aus diesem ableitet. Hierin zeigt sich denn die eingangs erwähnte architektonische Schwierigkeit als eine Schwierigkeit des Inhaltes, der Seinsweise des Subjektes. Dass die Natur und das Subjekt als Ich sich gegenseitig voraussetzen, ohne dass diese Zirkularität eine ersichtliche transzendentale Funktion hätte, muss, wie Fichte etwa zurecht moniert, 36 wie ein Lapsus aussehen. 35 „Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie).“ SW III, 284. 36 „Nun kann nicht umgekehrt das Ich wieder aus dem erklärt werden, was anderswo durchaus aus ihm erklärt wird.“ Fichte, J. G.; Schelling, F. W. J., »Fichte - Schelling. Briefwechsel. Mit einer Einleitung von W. Schulz«, Frankfurt a.M. 1968, 114. Vgl. Hühn, L., »Die Verabschiedung des subjektivitätstheoretischen Paradigmas. Der Grunddissens zwischen Schelling und Fichte im Lichte ihres philosophischen Briefwechsels«, in: Fichte-Studien 25, (2005), 93- 111. 122 Sebastian Schwenzfeuer Damit tritt die Natur ohne Zweifel in einen Rang, der im gesamten Deutschen Idealismus einzigartig ist. Weder Kant noch Fichte haben Natur in diesem Sinne denken können. Bleibt Kant letztlich ganz auf die Betrachtung kausalmechanisch determinierter Natur beschränkt, trotz des Versuches in der »Kritik der Urteilskraft«, lebendige Natur selber in den Blick zu bekommen, was aber unter den kritischen Vernunftbedingungen nur regulativ geschehen kann, 37 so ist für Fichte Natur als das Andere des Ich wesentlich ein anzueignendes Nicht-Ich. Diese Gegenüberstellung ist es, die Schelling beginnt zu unterlaufen, indem er dem Ich selber das Nicht-Ichhafte einschreibt und es dieses beständig als das verkehrte Eigene reproduzieren lässt, eine naturphilosophische Grundfigur, die Schelling später in ganz anderen Kontexten zur Analyse menschlicher Freiheit verwenden wird. 38 Die andere Konsequenz betrifft die Transzendentalphilosophie selber. Schelling muss sich die Frage stellen, wie dieser Nexus zwischen Natur und Subjektivität seinerseits ist. Es entsteht dadurch aber gewissermaßen eine Leerstelle im Begründungszusammenhang: Von woher kann das Sein der Subjektivität, das sich als eminent unbewusst-naturhafte Produktivität erweist, eigentlich verstanden werden? Die Natur als natura naturans ist dabei zwar mehr als eine Analogie, nämlich die innere Bedingung der Möglichkeit des Ich als Ich, mithin besteht zwischen beiden eine wesentliche Verwandtschaft, dennoch aber ist der Begriff der Natur wesentlich transzendental, d.h. vom Wissen eines Ich her gedacht nicht zureichend bestimmt. Es käme darauf an, Natur als ein Geschehen zu denken, in dem diese Möglichkeit eines sich-wissenden Ich in dieses Naturgeschehen selbst gehört. Subjekt und Objekt sind Gegensätze, sagt Schelling. Mit diesen Begriffen, die auf der immer schon geschehenen reflexiven Auftrennung eines ursprünglichen, transzendental nicht mehr ausweisbaren Seins beruhen, lässt sich das nicht denken. So geht Schellings Bemühen ab 37 Kant, I., »Kritik der Urteilskraft« Akademie-Textausgabe [Reprod. der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften von 1902], Berlin 1968, Bd. V, § 66. 38 Vgl. Schellings »Freiheitsschrift« von 1809. Dazu Hühn, L., »Die Idee der neuen Mythologie. Schellings Weg einer naturphilosophischen Fundierung«, in: Evolution des Geistes: Jena um 1800, hg. v. F. Strack, Stuttgart 1994, 393-411; Hühn, L., »Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit Schellings und Schopenhauers«, in: Selbstbesinnung der Moderne: Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe, hg. v. C. Iber, R. Pocai, Cuxhaven 1998, 55-94. Schellings Naturphilosophie 123 1800 auch dahin, die Gegensätze von Subjekt und Objekt auf das sie tragende Absolute zu beziehen. Es ist also die Transzendentalphilosophie über sich hinaus geführt. Der die Phase ab 1801 leitende Begriff der absoluten Identität bezieht den Unterschied von Subjekt und Objekt auf ein Subjekt-Objekt, das in sich jenseits dieses Unterschiedes steht und das Wovonher desselben darstellt. Insofern damit das Sein der Subjektivität als unbewusste Produktivität erst in sein Recht gesetzt wird, ist zu vermuten, dass schon im System von 1800, wo Schelling Natur- und Transzendentalphilosophie engführt, dieser Begriff eine, wenn auch versteckte Rolle spielen muss, wenn anders Natur und Subjektivität engzuführen gar nicht möglich sein könnte. Das Subjekt im System von 1800 ist nicht nur ursprünglich gar nicht es selbst, nämlich ein Ich als eben dieses, sondern Unbewusstes. Die eigentümliche Dynamik des Ich als eine auf sich selbst abzielende Produktivität ergibt sich erst aus dem Gedanken einer absoluten Einheit mit sich selbst. Erscheint das Ich im System stets als sich nicht genügend, nämlich als sich nicht in der Anschauung fassend, dann ist damit implizit der Gedanke einer solchen möglichen Einheit, eines absoluten Sich- Habens gedacht. Das Subjekt als unbewusstes wie als bewusstes, also die theoretische wie die praktische Philosophie hindurch, ist auf ein Objekt aus, in dem es sich selbst als Subjekt erkennen will. Nun ist dieses intendierte Subjekt-Objekt etwas, das als solches, das eben zeigt Schellings Durchführung, nicht aus der Vermittlung von Subjekt und Objekt, auf welche Weise auch immer, herzustellen ist. Das Subjekt-Objekt ist diesem Bestreben vielmehr vorgängig und durch Vermittlung von Subjekt und Objekt nicht einholbar, worin sich eben die grundsätzliche Unwahrheit der Transzendentalphilosophie zeigt. Das Sich-Wissen als ein Seinsphänomen ist immer schon anderes als ein Wissen im Sinne einer Übereinstimmung eines Subjektiven mit einem Objektiven, als ein Wissen mit Sachbezug, sondern es ist das Seinsgeschehen des Wissens selbst. Der Satz Ich = Ich meint das Subjekt-Objekt einer absoluten Identität, konkret geschieht aber das Umschlagen in A = B, also in den Satz als solchen. Die Identitätsphilosophie denkt nun diese absolute Identität selbst. Dass sie überhaupt ein sinnvoller Gedanke, also denkbar ist, dafür ist das »System des transzendentalen Idealismus« selber noch die Anzeige. Im System wird sie im Hintergrund der Ausführungen immer schon gedacht, kann aber im Zusammenhang des transzendentalen Denkens 124 Sebastian Schwenzfeuer nicht eigens hervortreten. Nur an der bekannten Stelle im sechsten Hauptabschnitt, sagt Schelling selber, dass es eigentlich um dieses „schlechthin Identische“ von Anfang an geht. 39 Darin liegt nur die letzte Konsequenz, die die Verabschiedung der Transzendentalphilosophie ankündigt. Schelling geht aus vom Subjekt, das sich selbst Objekt werden will. Er kommt aber bei etwas anderem an. Das, was dem Ich in der Durchführung sowieso immer geschieht, ist zugleich auch das Ende des ganzen Systems: die Ankunft bei etwas ganz anderem als der Transzendentalphilosophie. Darin liegt weniger ein Misslingen, sondern ein von der Sache her notwendiges Scheitern. Das Sein der Subjektivität zu bestimmen, führt notwendig zu etwas anderem als den immer schon in Subjekt und Objekt aufgetrennten Reflexionsbegriffen, also letztlich zu einem schlechthin Identischen, nicht zu einem vermittelt Identischen. 40 Noch 1800, dem transzendentalen Duktus noch gemäß, gilt das Ich als das Sein selbst, allem Seienden zugrunde liegend. Ab 1801 ist die absolute Identität der Inbegriff des Seins als solchen. 41 In diesen veränderten Formeln spricht sich der Ausgang aus der Transzendentalphilosophie 39 „Die ganze Philosophie geht aus, und muß ausgehen von einem Princip, das als das absolute Princip auch zugleich das schlechthin Identische ist. Ein absolut Einfaches, Identisches läßt sich nicht durch Beschreibung, überhaupt nicht durch Begriffe auffassen oder mittheilen. Es kann nur angeschaut werden. Eine solche Anschauung ist das Organ aller Philosophie. - Aber diese Anschauung, die nicht eine sinnliche, sondern eine intellektuelle ist, die nicht das Objektive oder das Subjektive, sondern das absolut Identische, an sich weder Subjektive noch Objektive, zum Gegenstand hat, ist selbst bloß eine innere, die für sich selbst nicht wieder objektiv werden kann: sie kann objektiv werden nur durch eine zweite Anschauung. Diese zweite Anschauung ist die ästhetische.“ SW III, 625, Anm. 1. 40 Vgl. Hühn, L., »Die Verabschiedung des subjektivitätstheoretischen Paradigmas. Der Grunddissens zwischen Schelling und Fichte im Lichte ihres philosophischen Briefwechsels«, in: Fichte-Studien 25 (2005), 93-111. 41 Was auch in den bekannten Formeln von der Freiheit des Subjektes und der aufgehobenen Freiheit in den Objekten zum Ausdruck gebracht ist, vgl. SW III, 376. Schellings Philosophie im Ganzen lässt sich denn auch wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Freiheit in den Blick nehmen, vgl. Ehrhardt, W. E., »Die Naturphilosophie und die Philosophie der Offenbarung. Zur Kritik materialistischer Schelling-Forschung«, in: Natur und geschichtlicher Prozeß, hg. v. H. J. Sandkühler, Frankfurt a.M. 1984, 339; Loer, B., »Das Absolute und die Wirklichkeit in Schellings Philosophie. Mit der Erstedition einer Handschrift aus dem Berliner Schelling-Nachlaß«, Berlin 1974, 164; Hühn, L., »Die Idee der neuen Mythologie. Schellings Weg einer naturphilosophischen Fundierung«, in: Evolution des Geistes: Jena um 1800, hg. v. F. Strack, Stuttgart 1994, 393-411, 397ff. Schellings Naturphilosophie 125 aus. Mit diesem Ausgang aus ihr muss aber auch ein denkerischer Wandel selbst verbunden sein, es geht keineswegs nur darum, ein nicht erfolgreiches Modell wieder zu verlassen, um etwas Neues zu versuchen. Dieses Geschehen betrifft das Sein des Menschen selber, insofern es in der Transzendentalphilosophie ja gerade um ihn als den maßgeblichen Ort einer Verständigung über das Sein als solches geht. Es geht nicht darum, ein Seiendes, hier das Selbstbewusstsein, nur formal in einer Theorie zu erklären. Vielmehr ist der Gegenstand, das sind wir in unserem philosophischen Selbstverständnis, selber von dieser Wandlung, d.h. dem Ende der Transzendentalphilosophie betroffen und nur aus diesem Grund ist es wohl heute noch interessant, sich damit zu beschäftigen. Die Transzendentalphilosophie baut wesentlich auf die Gewissheit seiner selbst als einer Grunderfahrung, die erst den Horizont auftut, innerhalb dessen der Transzendentalphilosoph seine Gedanken stringent entfalten kann. Sie ist in einem hier nicht genauer zu bestimmenden Sinne Erfahrung, d.h. etwas, das entgegengenommen wird. Schelling denkt sich dies nicht aus, sein Denken steht immer schon in dieser Erfahrung. Die nicht-reflexive Vertrautheit mit sich selbst, die in intellektueller Anschauung erschlossen ist, gibt den zentralen und alles bemessenden Maßstab für die Auslegung des menschlichen Wissens von der Welt. Der Klärung des Sachbezuges des Wissens, also was es heißt, dass wir von etwas Anderem wissen, steht unweigerlich im Lichte dieser Grunderfahrung. Wenn Schelling fortan von der absoluten Identität redet, dann hat sich auch mit dieser Grunderfahrung etwas getan. Es geht darum, dass in dem Wissen des Subjektes, in seinem Erkennen, seinem Denken sich etwas anderes als dieses vollzieht, nämlich die absolute Identität sich zur Darstellung bringt. Was kann es aber eröffnen, wenn das Denken, das doch auch das meinige ist, mit einem Mal zum Ort eines ganz Anderen wird, das nicht als Wissen und Gegenstand, Subjekt und Objekt beschrieben werden kann? Wenn das Denken selber nicht mehr die Tätigkeit eines Subjektes, vielmehr dieses, das Subjekt zur Darstellung des Denkens wird? Darauf kann an dieser Stelle nicht mehr geantwortet werden. Michael Steinmann Die Autonomie der Kunst und der Systemgedanke beim frühen Schelling Möchte man eines der Leitworte nennen, nach denen sich die Philosophie des frühen Schelling entfaltet, so kann zweifelsohne der Begriff der Einheit angeführt werden. ‚Einheit‘ bildet ein Moment, das auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Hinsichten Relevanz erlangt. Dass „ewige Einheit unter uns“, den Teilen der Menschheit, „herrschen“ solle, davon spricht schon der programmatische Text, der als »Das Älteste Systemprogramm« des deutschen Idealismus angesehen wird und als dessen möglicher Autor Schelling in Frage kommt. 1 Die Einheit, um die es dabei geht, ist zunächst eine politische, die sich in der „allgemeinen Freiheit und Gleichheit der Geister“ niederschlagen soll. 2 Eine solche ‚Gleichheit der Geister‘ kann jedoch nicht allein auf politischem Wege hergestellt werden, sondern setzt eine tiefgreifende geistige Vereinigung voraus. Zur Einheit gebracht werden sollen daher auch die verschiedenen geistigen Vermögen der Menschen. Die Rationalität der philosophischen Elite ist mit dem Bedürfnis des Volkes nach Anschaulichkeit und Fassbarkeit der Ideen zu vereinen. So heißt es, wiederum im »Systemprogramm«: „So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen.“ 3 1 Von Einem, G. und Düsing, K. (Hg.), »Das älteste Systemprogramm [1796/ 97]«, in: Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus, hg. v. R. Bubner (Hegel-Studien, Beih. 9), Bonn 1973, 263-265, hier: 265. 2 Ebd. 3 Ebd. Die Autonomie der Kunst 127 Eine sinnliche Philosophie wird also gefordert, eine Philosophie, die nicht im Gegensatz zum Bildhaften, zum Erscheinenden steht - eine Philosophie, die das abstrakte Medium des Begriffs mit dem Moment der Anschaulichkeit zu vereinigen weiß. Dass eine solche sinnliche Philosophie, wie zitiert, eine „mythologische“ ist, heißt dabei genauer, dass sie eine „ästhetische“ ist: 4 Sie stellt die Ideen nicht nur einfach sinnlich, sondern in der höchsten Form der Sinnlichkeit, im Schönen dar. Die Einheit von Sinnlichkeit und Begriff wird durch das Vorbild von Kunst und Poesie möglich gemacht. Schelling wird diese These von der Vorbildhaftigkeit der Kunst auch in der Folge aufrechterhalten. So heißt es, ebenfalls programmatisch, im »System des transzendentalen Idealismus« aus dem Jahr 1800, die Kunst sei „das einzige wahre und ewige Organon […] der Philosophie“. 5 Wohlgemerkt soll die Kunst nur ein ‚Organon‘ sein, d.h. nur ein Werkzeug und Mittel der Philosophie. Kunst und Philosophie fallen keineswegs in eins. Dennoch ergibt sich aus dieser These, dass die Philosophie in ihrem Grund wie Kunst verfährt, dass es wesentliche methodische Übereinstimmungen zwischen dem philosophischen und dem künstlerischen Denken gibt. Die Philosophie ist keine für sich stehende, abstrakte Begriffsarbeit, die sich nur analytisch oder reflexiv auf die anderen geistigen Bereiche beziehen würde. Vielmehr steht sie in wesentlicher Kontinuität zu den anderen Fähigkeiten des Denkens, und das heißt vor allem: zu den imaginativen Fähigkeiten des Denkens. In aller Vorläufigkeit lässt sich daher sagen: Alle geistigen Vorgehensweisen sind für Schelling auf einer fundamentalen Ebene zur Einheit vereint und können organisch auseinander entwickelt werden. Der Begriff der Einheit wird freilich auch auf einer anderen Ebene als dieser relevant. Er betrifft nicht nur das Verhältnis zwischen den verschiedenen Formen des Geistes, sondern auch das Verhältnis des Geistes 4 Ebd., 264. 5 Schelling, F. W. J., »System des transzendentalen Idealismus [1800]«, AA, 9.1 328, hg. v. H. Korten u. P. Ziche, in: ders., Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. v. J. Jantzen, Th. Buchheim, J. Hennigfeld, W. G. Jacobs, S. Peetz, Bd. 9, 1, Stuttgart 2005, 328. Vgl. auch: Schelling, F. W. J., »System des transzendentalen Idealismus [1800]«, mit e. Einl. v. Walter Schulz, hg. v. H. D. Brandt u. P. Müller, Hamburg 1992 (Neubearbeitung aufgrund der Originalausgabe), 475. Im Folgenden bezieht sich die erstgenannte Seitenzahl auf die historisch-kritische, die zweitgenannte auf die Originalausgabe. 128 Michael Steinmann zur Natur. Natur kann hierbei im weiten Sinn als das bewusstseinsunabhängige Sein oder als Sein überhaupt verstanden werden. Ebensowenig wie die Philosophie für Schelling in einem Gegensatz zu den Formen der Einbildungskraft steht, ebensowenig steht sie in einem Gegensatz zum Sein. Die Natur, die Dinge, die es außerhalb des Bewusstseins gibt, sind für dieses kein unzugängliches Außen. Fragt man, wie sich diese Einheit von Denken und Sein begreiflich machen lässt und wodurch sie sich als solche zeigt, so kommt wiederum die Kunst ins Spiel. Schelling schreibt: „Die Kunst ist ebendeßwegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln ebenso wie im Denken ewig sich fliehen muß.“ 6 Kunst verweist demnach nicht nur auf die Einheit von Begriff und Anschauung, sondern auch auf die Einheit von Begriff und Sein. Sie allein kann eine Einheit zur Darstellung bringen, die sich dem Denken notwendig entzieht. Das Denken ist für Schelling gerade nicht befähigt, seine Einheit mit dem bewusstseinsunabhängigen Sein zu erfassen. Die Philosophie erreicht die Ebene der ‚ursprünglichen Vereinigung‘ mit der Natur nicht durch sich selbst, sie erreicht sie nicht als Philosophie, zumindest wenn man unter ‚Philosophie‘ ein Denken in Begriffen verstehen will. Vielmehr benötigt sie die Kunst, um offenbar zu machen, dass eine solche Einheit in Wahrheit besteht. Verschiedene Stufen von Einheit sind damit ersichtlich geworden: Von der politischen Einheit der Geister über die Einheit der geistigen Vermögen bis zur Einheit von Geist und Natur. In all diesen Fällen wird die Kunst als dasjenige Moment genannt, in dem sich die gesuchte Einheit zeigt. Doch was heißt es, so wird im Folgenden zu fragen sein, dass die Einheit eben in der Kunst erwiesen werden soll? Kann die Kunst die Leistung, die ihr aufgebürdet wird, tatsächlich tragen? Wie sich zeigen wird, lässt sich auf diese Frage keine durchwegs positive Antwort geben. Die Kunst stellt zwar eine Form der Einheit dar, jedoch gerade nicht diejenige Einheit, die ihr aus systematischen Motiven angetragen wird. Sie besitzt gleichsam ein eigenes Leben, das sich nicht vollständig auf die Aufgabe fixieren lässt, die Einheit aller Denkvermögen darzustellen oder die Einheit von Denken und Sein zur Erscheinung zu bringen. 6 Ebd. Die Autonomie der Kunst 129 Um diese These zu erläutern, soll vor allem auf zwei Schriften näher eingegangen werden: auf das »System des transzendentalen Idealismus« aus dem Jahr 1800 und auf die Rede »Über das Verhältnis der Bildenden Künste zu der Natur« von 1807. Während sich im Ausgang vom »System« die grundsätzlichen Bedingungen für das Verständnis der Kunst beschreiben lassen, ist die »Rede« hilfreich, um dieses Verständnis zu konkretisieren. Sie zeigt, inwiefern die systematische Überforderung der Kunst in einer bestimmten Auffassung des Kunstwerks verwurzelt ist. Dabei macht sie zugleich ersichtlich, inwiefern diese Auffassung gar nicht anders kann, als die geforderte Einheitsfunktion zu konterkarieren. Schelling bindet die Kunst in sein systematisches Bestreben ein und setzt sie zugleich in ihrer unaufhebbaren Eigenständigkeit frei. Er entwickelt selbst den modernen Begriff einer frei gewordenen, gleichsam absoluten Kunst, der nicht mehr an die Forderungen des Systems zurückgebunden werden kann. 7 I. Das Geheimnis der Kunst im »System des transzendentalen Idealismus« 1. Einheit jenseits des Formalismus Um Schellings Ansatz begreiflich zu machen, gilt es zunächst, seine Problemstellung präziser zu umreißen, als dies bisher geschah. Was ist darunter zu verstehen, dass Denken und Sein bzw. Denken und Natur eine Einheit bilden sollen? Zwei Punkte sind hervorzuheben. Erstens ist die Gegenüberstellung von Denken und Natur bisher noch sehr unspezifisch und könnte in vielfacher Weise verstanden werden. Auf den ersten Blick werden mit ihr zwei Seinsbereiche bezeichnet, die nicht notwendig zu einer Einheit gebracht werden müssten. Denken und Natur könnten offensichtlich auch koexistieren, und es ist an sich genommen gar nicht einzusehen, warum sie darüber hinaus zu einer Einheit gebracht werden müssen. Schelling spricht jedoch in der Regel nicht allein vom „Den- 7 Im Gegensatz zu den genannten Schriften kann im Kontext dieser Überlegungen nicht näher auf die Vorlesungen über die »Philosophie der Kunst« von 1802/ 03 eingegangen werden. Die spekulative Ebene, welche dort erreicht wird, indem die Kunst auf das Absolute als solches zurückgeführt ist, würde den hier gesetzten Rahmen sprengen. 130 Michael Steinmann ken“, sondern von dem „Subjektiven“. Das Subjektive ist dasjenige, was einem Akt des Wissens als das im eigentlichen Sinne Wissende zugrunde liegt. Aus diesem Grund heißt das Subjektive auch das „Ich“ oder die „Intelligenz“. 8 Seine Funktion liegt in nichts anderem als dem, das Auffassende, das Wissende etc. zu sein. Zwar wird auch das Ich zum Objekt, dies geschieht jedoch allein durch seine Selbstanschauung und nicht dadurch, dass es ein „ursprünglich Objektive[s]“ ist. 9 Korrelativ dazu bedeutet die Natur, wie schon angedeutet wurde, das vom Wissen Unabhängige, das Sein. Sie ist das Objektive, im Sinn desjenigen, dessen Funktion in nichts anderem besteht, als gewusst, erkannt usw. zu werden. Auf diese Weise lassen sich die Begriffe des Subjektiven und des Objektiven noch weiter formalisieren, sie bezeichnen, so Schelling, das Bewusste und das Bewusstlose. 10 Das Objektive ist bewusstlos, weil es dasjenige ist, das nur gewusst wird und selbst nicht weiß, das also reiner Gegenstand des Wissens ist, während umgekehrt das Subjektive das Bewusstsein oder auch der Akt des Wissens selber ist. Fasst man das Verhältnis auf diese zugespitzte, formale Weise, so wird ersichtlich, warum nach der Einheit der beiden Momente gefragt werden muss. Lassen sich Bewusstes und Bewusstloses nicht vereinen, dann findet überhaupt kein Wissen statt, denn dann hätte das Bewusstsein gar nichts, was es weiß, und das Bewusstlose stünde außerhalb einer jeden Beziehung zum Wissen. Doch in welcher Hinsicht ist zweitens die Einheit ein Problem? In der Tradition der Erkenntnistheorie wird das Verhältnis von Subjekt und Objekt als Frage nach dem Verhältnis zur Außenwelt gefasst. Es wird gefragt, wie das subjektive Erkennen einen von ihm unabhängigen - etwa im äußeren Raum befindlichen - Gegenstand erkennen kann, wie es seine eigene Sphäre überschreitet, um zur Einsicht in ein von ihm Unterschiedenes zu gelangen. Diese Frage spielt für Schelling offensichtlich keine Rolle, denn das Bewusste ist kein ‚Innen‘, dem gegenüber das Bewusstlose ein ‚Außen‘ wäre. Die Frage, die er aufwirft, ist vielmehr die, wie sich das Objektive im Denken erschließt, wie sich innerhalb des Wissens die sachlichen Formen der Wirklichkeit konstituieren. Nicht, ob überhaupt ein Bewusstloses im Denken liegt, ist hierbei zu fragen, denn dies ist vorauszusetzen, wenn es irgendeine Form von Wissen 8 Vgl. AA 9.1, 29. 9 Vgl. AA 9.1, 58. 10 Vgl. AA 9.1, 29. Die Autonomie der Kunst 131 geben soll. Gefragt wird vielmehr, wie sich Bewusstes und Bewusstloses im Bewusstsein so begegnen, dass sich daraus die Gestalten der erkannten Wirklichkeit ergeben - etwa so, dass die Natur in ihren Grundbedingungen als eine gewusste, als für das Wissen auffassbare erscheint. 11 Die Frage nach dem Verhältnis von Ich und Natur ließe sich daher auch so formulieren: Warum ist Natur für das Ich überhaupt intelligibel? Und warum erschließen sich im Ich die Formen und Bestimmungen der Natur? Die Antwort, die Schelling auf diese Fragen gibt, ist der Entwurf des transzendentalen Idealismus selbst. Ihm zufolge sind die Formen und Erscheinungsweisen der Natur nichts anderes als Formen und Erscheinungsweisen des Ich. Die Überlegung, die die Grundlage für diesen Gedanken bildet, kann hier nicht näher ausgeführt werden. Sie beruht darauf, dass das Objektive in seinen verschiedenen Gestalten als die begrenzte, objektiv gewordene Form des Ich verstanden werden kann. Dies geschieht als eine notwendige Folge seiner Selbstanschauung: Indem das Ich sich selbst erkennt, ist es nicht mehr Ich im Sinn dessen, was Bewusstes und nichts anderes als Bewusstes ist. Es erscheint sich vielmehr als Erkanntes und damit als Bewusstloses. Die einzelnen Formen des Wirklichen lassen sich aus dieser Selbsterscheinung deduzieren. 12 Geht man von dieser Annahme aus, so stellt sich allerdings die Frage, warum überhaupt das Problem entsteht, die Einheit von Ich und Natur zu belegen. Der Idealismus setzt diese Einheit schon von Anfang an voraus, sie ist die Bedingung seiner Möglichkeit, denn ohne die Möglichkeit einer Selbstobjektivierung des Ichs bliebe er ohne jeden sachlichen Gehalt. Warum also wird die Kunst notwendig, um die Einheit zu erweisen? Was kann sie über die idealistische Grundannahme hinaus noch leisten? Um hierauf eine Antwort zu erlangen, gilt es zu beachten, dass es nicht genügt, die Natur nur als das objektivierte Ich aufzufassen. Dies zeigt sich, wenn man fragt, für wen die gesuchte Einheit jeweils besteht. Besteht sie für das Ich, so ist sie zuletzt nur eine gewusste und erscheint nur in subjektiver Hinsicht; besteht sie für die Natur, so ist das Subjektive gleichsam in ihr aufgegangen. 13 In beiden Fällen wird die Einheit 11 Vgl. AA 9.1, 46, sowie 57f. 12 Zur Selbstproduktion des Ichs als Objekt vgl. AA 9.1, 59 u. 83, zum Systemgedanken vgl. AA 9.1, 90f. 13 Vgl. für diese Argumentation AA 9.1, 304f. 132 Michael Steinmann von Subjekt und Objekt nicht als solche, d.h. nicht als Einheit dieser beiden unterschiedenen Pole, offenbar. Vielmehr wird jeweils einer der Pole in den anderen integriert und zu einem nachgeordneten Moment gemacht. Schelling sucht daher nach einer „Anschauung […], durch welche in Einer und derselben Erscheinung das Ich für sich selbst bewußt, und bewußtlos zugleich ist“. 14 Diese Anschauung lässt sich nicht mehr unter dem Vorzeichen des Ichs oder der Natur verstehen, sondern nur als die in sich zur Einheit gebrachte Doppelung der beiden, als gleichzeitiges ‚Freiheits-‘ und ‚Naturprodukt‘. 15 Für den transzendentalen Idealismus bedeutet dies, dass er die Einheit von Ich und Natur nicht nur in formaler Hinsicht begründen darf, etwa dadurch, dass die Natur bestimmte kategoriale Eigenheiten mit dem Denken teilt. Vielmehr ist an einem konkreten Einzelphänomen zu zeigen, wie das Ich trotz seiner Qualität als Bewusstsein, Subjektivität etc. als objektive Tätigkeit erscheint. Das Ich muss an sich erkennen können, was es durch die eigene Reflexion gerade nicht erkennen, sondern allenfalls voraussetzen kann. Das hierbei gesuchte Phänomen ist jedoch kein anderes als die Kunst. Auf diese Weise wird verständlich, dass es auf den anderen Ebenen des »Systems« zwar durchaus Einheitspunkte geben kann, die der Kunst vergleichbar sind, diese jedoch nicht der eigentlichen Forderung entsprechen. Das Handeln, in dem sich die Freiheit realisiert, ist ein solcher Einheitspunkt, und auch die Natur, sofern sie als zweckmäßige betrachtet werden kann (als zweckmäßige erscheint Natur, als ob sie „mit Bewußtseyn hervorgebracht wäre“ 16 ). Beide Punkte haben jedoch eben den Nachteil, dass sie die Einheit von Subjekt und Objekt nicht als solche erreichen können. Das Handeln, so Schelling, realisiert zwar meine Freiheit und macht so das Subjektive objektiv. Diese Realisierung wird jedoch zu einem Faktum in der Welt, das rein nach der Gesetzlichkeit des Objektiven aufzufassen ist. „Objektiv“, so Schelling, „handeln nie wir, sondern ein Anderes gleichsam durch uns“. 17 Die Einheit besteht daher nur in subjektiver Perspektive, also nur dadurch, dass der Handelnde sich selbst als Freier weiß. Das Handeln ist ein Vereinigungspunkt von Ich und Natur, der unter der Dominanz des Ichs erscheint. 14 AA 9.1, 310. 15 AA 9.1, 312. 16 AA 9.1, 307. 17 AA 9.1, 304. Die Autonomie der Kunst 133 Die Natur hat demgegenüber einen umgekehrten Nachteil: Sie bedeutet einen Vereinigungspunkt, welcher unter der Dominanz des Objektiven aufzufassen ist. Die Zweckmäßigkeit, die man ihr zuschreiben kann, bleibt gleichsam eingehüllt in das blinde Geschehen, als das Natur verstanden werden muss. Schelling folgt hierin Kant, indem er eine teleologische Betrachtung der Natur zwar als notwendig ansieht, es jedoch ablehnt, diese auch für eine wissenschaftliche Bestimmung des Natürlichen heranzuziehen. Der Naturprozess muss sich rein mechanistisch beschreiben und erklären lassen. 18 Auf diese Weise wird in der Natur eine Identität erbracht, „deren Princip [nicht] im Ich selbst liegt“. 19 Dass wir diese Identität, die innere Zweckmäßigkeit der Natur, überhaupt erkennen, liegt nur daran, dass das Ich sich auf einer höheren Stufe selbst in ihr erkennt, sich also gleichsam in sie zurückprojiziert. Das Ich bringt die Einheit immer schon mit, wenn es sie in der Natur entdecken will. Dies bedeutet jedoch, dass es sie auf anderem Weg, durch eine andere Erfahrung, erlangt haben muss. So gesehen ist das Denken nicht nur prinzipientheoretisch, sondern auch heuristisch auf die Kunst verwiesen. Diese Verwiesenheit auf die systematische Leistung der Kunst soll nun genauer betrachtet werden. 2. Der Umschlag in die Epiphanie des Werks Die Kunst, so führt Schelling aus, steht gleichsam in der Mitte zwischen der Freiheit und der Natur. Von der Freiheit übernimmt sie, dass sie gänzlich mit Bewusstsein hervorgebracht wird. Die Kunst ist eine Tätigkeit des Subjekts, ein absichtliches Herstellen, Entwerfen, Schaffen usw. Von der Natur dagegen nimmt sie auf, dass das geschaffene Werk als solches nur bewusstlos entstehen kann. Das Kunstwerk löst sich aus der Produktion und erlangt eine für sich stehende Gestalt, eine eigene, genuine Objektivität. 20 Diese beiden Bestimmungen ‚widersprechen‘ sich offenbar: 21 Das Kunstwerk ist als Produkt der Freiheit Ausdruck des Bewusstseins und als Produkt der Natur ein bewusstloses, gleichsam schlichtes Sein; es ist bewusst und bewusstlos zugleich. Freilich ist dieser 18 Vgl. AA 9.1, 310. 19 AA 9.1, 311. 20 Vgl. AA 9.1, 315. 21 Zur Rede vom Widerspruch in diesem Kontext vgl. AA 9.1, 313f. 134 Michael Steinmann Widerspruch zunächst nichts anderes als die Bedingung für das Schaffen selbst: Etwas zu schaffen, bedeutet auf der einen Seite, einen Akt der Freiheit zu vollbringen, auf der anderen Seite, etwas Objektives hervorzubringen. „Objectiv“, so Schelling, „ist nur, was bewußtlos entsteht.“ 22 Diese Bedingung teilt das Kunstwerk mit dem Handeln und der Natur; seine Objektivität ist, prinzipiell gesehen, keine andere als bei ihnen. Doch wie ist dieser Widerspruch zu lösen? Die bewusste Dimension des Kunstwerks ist, wie gesehen, sein Bezug auf das Schaffen des Künstlers. Soll sich daher die Identität von Bewusstem und Bewusstlosem ergeben, so muss diese „Production“, wie Schelling sagt, „aufhören, als eine freye zu erscheinen“. 23 Dies darf freilich nicht bedeuten, dass die Bewusstheit dann gar nicht mehr bestehen würde, denn in diesem Fall gäbe es keinen Unterschied zum bewusstseinsfreien Wirken der Natur. Vielmehr geht es darum, dass das bewusste Schaffen auch als ein bewusstloses erscheinen soll, dass sich die künstlerische Produktivität gleichsam vom Einfluss des Bewusstseins löst. Diese Loslösung geschieht jedoch nur durch einen Umschlag, d.h. sie geschieht nicht jederzeit im Bereich der Kunst, sondern erst an einem gewissen Punkt. Die bewusste Tätigkeit, die die Bedingung des Kunstwerks bildet, muss zu einem Ende gelangen und sich selbst in ihrer Identität mit der Bewusstlosigkeit erweisen. Dieser Umschlag wird durch eine Erfahrung ermöglicht, die man als die Epiphanie des Kunstwerks bezeichnen kann. Schelling schreibt: „Aller Trieb zu produciren steht mit der Vollendung des Products stille, alle Widersprüche sind aufgehoben, alle Räthsel gelöst. Da die Production ausgegangen war von Freyheit, […] so wird die Intelligenz jene absolute Vereinigung beider, in welcher die Production endet, nicht der Freyheit zuschreiben können, denn gleichzeitig mit der Vollendung des Products ist alle Erscheinung der Freyheit hinweggenommen; sie wird sich durch jene Vereinigung selbst überrascht und beglückt fühlen, d.h. sie gleichsam als freywillige Gunst einer höheren Natur ansehen, die das Unmögliche durch sie möglich gemacht hat.“ 24 Im vollendeten Kunstwerk endet demnach die Freiheit, im Sinn der freien und bewussten Tätigkeit des Schaffens. Das fertige Werk erscheint nicht nur als das Resultat dieses Tuns, nicht nur als ‚gemacht‘, ‚gewollt‘ etc., sondern in neuer und eigenständiger Form: als etwas, das gerade 22 AA 9.1, 313. 23 AA 9.1, 314. 24 AA 9.1, 315. Die Autonomie der Kunst 135 nicht gemacht, sondern gleichsam geschenkt worden ist, als eine ‚Beglückung‘ des Künstlers, nicht als ein bloßes Produkt seines Handwerks, seines Einfallsreichtums oder seines Fleißes. Die Erfahrung, die Schelling hierbei zugrunde legt, kann ohne weiteres nachvollzogen werden. Das fertige Werk braucht nicht mehr auf seinen Schöpfer bezogen zu werden, es erscheint als eigene, für sich stehende Gestalt. Auf diese Weise ist der Umschlag, wie er hier geschildert wird, etwa dem Schritt zurück vergleichbar, den ein Maler tut, wenn er von der Staffelei zurücktritt, um zu sehen, wie sein Werk im Ganzen wirkt. Die Arbeit an den malerischen Details wird unterbrochen, um die Gesamtheit der Darstellung erscheinen zu lassen. Jetzt wird auch erst die Schönheit des Werks erfahrbar, in diesem Schritt zurück, der es in seinem in sich abgeschlossenen Sein erkennbar macht. Zugleich bleibt das Werk jedoch ein Produkt der künstlerischen Tätigkeit, es ist mit Bedeutung und mit Intentionen gleichsam gefüllt und verschließt diese nicht in sich wie das Produkt der Natur. Die künstlerische Tätigkeit zeigt sich auf diese Weise als ein Geschehen, das sich gleichsam durch den Künstler hindurch vollzieht. Der Begriff für ein solches, bewusst-bewusstloses Tun ist der Begriff des Genies. Ein dunkler Begriff, wie Schelling einräumt, der das Kunstwerk nicht im eigentlichen Sinn erklärt. 25 Der Begriff des Genies ist letztlich nur ein anderes Wort für die Unbegreiflichkeit eines dem Bewusstsein widerfahrenden Tuns. 26 Nun könnte freilich eingewendet werden, dass die Epiphanie des Werks, der Umschlag in das Erscheinen der Schönheit, kaum geeignet scheint, den gezeigten Widerspruch zur Lösung zu bringen. Dass das künstlerische Werk ein eigenes Dasein besitzt, kann ohne weiteres zugestanden werden. Doch inwiefern ergibt sich daraus die tatsächliche Vereinigung von Ich und Natur? Ist es nicht nur die Natur des Künstlers, die sich mit seinem Bewusstsein vereint? Die Vereinigung mit der Natur im Ganzen ist zuletzt nur dadurch möglich, dass im Kunstwerk mehr erscheint als ein einzelnes, isoliertes Werk. Schelling führt aus: „Was hier die objective und die bewußte Thätigkeit in unerwartete Harmonie 25 Vgl. AA 9.1, 316. 26 Eine andere Deutung des Geniebegriffs als harmonischer Vereinigung gibt Barth, B., »Schellings Philosophie der Kunst. Göttliche Imagination und ästhetische Einbildungskraft«, Freiburg/ München 1991, 216, der sich dabei freilich nur an den programmatischen Zuordnungen orientiert. 136 Michael Steinmann setzt, ist nichts anders als jenes Absolute, welches den allgemeinen Grund der prästabilirten Harmonie zwischen dem Bewußten und dem Bewußtlosen enthält.“ 27 Die Vereinigung, die im Kunstwerk geschieht, weist über sich hinaus auf die Identität des Absoluten. Die wahren Künstler oder die Genies sind einem Medium vergleichbar, in welchem sich das „unveränderlich Identische“ als solches zeigt. 28 In Schellings Konzeption der Kunst wird auf diese Weise eine Dimension erkennbar, die mit den Kriterien des transzendentalen Systems nicht mehr gefasst werden kann, sondern in die weitere Entwicklung hin zur Identitätsphilosophie gehört. Auf diese Entwicklung kann jedoch in unserem Rahmen nicht eingegangen werden. 29 Wir beschränken uns vielmehr auf das Verhältnis der Kunst zu den bisher genannten Momenten. Was im Zentrum steht, ist so der Umschlag der bewussten Tätigkeit in Natur. Angesichts seiner lässt sich die Frage nach der Lösung des Widerspruchs auch noch auf andere Weise stellen. Es lässt sich fragen, ob sich der Widerspruch im Kunstwerk tatsächlich löst oder nicht einfach nur verschiebt. Bedeutet das Kunstwerk überhaupt die Vereinigung dessen, was außerhalb seiner und auch noch in seiner Produktion auseinandergetreten war? Der Sinn dieser Frage zeigt sich anhand von Schellings eigenen Beschreibungen. Das Gefühl, das die Vollendung des Werks begleitet, ist, so schreibt er, das der Rührung. Ein Gefühl der Rührung angesichts einer „Gunst seiner Natur“, die den Menschen etwas erreichen lässt, das er durch sich selbst gar nicht erreichen kann. Der Künstler scheint „un- 27 AA 9.1, 315. 28 AA 9.1, 317. 29 Der Kunstbegriff erfährt im Rahmen dieser Entwicklung seine größtmögliche spekulative Ausweitung. So heißt es etwa: „Das Universum ist in Gott als absolutes Kunstwerk und in ewiger Schönheit gebildet“, in: »Philosophie der Kunst (1802/ 03)«, SW V, 385. Zum metaphysischen Hintergrund dieser These, auch in Bezug auf das einzelne Kunstwerk, vgl. Beierwaltes, W., »Einleitung«, in: F. W. J. Schelling, Texte zur Philosophie der Kunst, hg. v. W. Beierwaltes, Stuttgart 1982, 21-26. Dass der Gedanke im »System« ebenfalls schon angelegt ist, zeigt AA 9.1, 333. - Zu den systematischen Problemen, die den Übergang aus der Transzendentalin die Identitätsphilosophie notwendig machten, vgl. Sandkaulen, B., »Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings«, Göttingen 1990, 99-145, sowie Iber, C., »Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos«, Berlin 1994, 122-131. Die Autonomie der Kunst 137 ter der Einwirkung einer Macht zu stehen, die ihn von allen anderen Menschen absondert“. Ihm gegenüber erscheint das Kunstwerk als ein „Wunder“, das Wunder der Offenbarung des Absoluten. 30 Diese Beschreibung ist insofern bezeichnend, als sie zeigt, dass der Umschlag in die Einheit eigentlich ein Umschlag in das Geheimnis des künstlerischen Werkes ist. Der Künstler kann sich das Kunstwerk zuletzt nicht mehr als seine Tätigkeit zurechnen, auch nicht als seine unbewusste Tätigkeit, sondern sieht in ihm eine andere, ihn überwältigende Macht. Zwischen dem, was vor, und dem, was nach dem Umschlag vor sich geht, herrscht keine Kontinuität. Mit dem bewusstlosen Tun des Genies zeigt sich eine neue Kraft, nicht jedoch zeigt sich mit ihm nur eine andere Gestalt des bewussten Produzierens. Dass es hierbei nicht nur die Natur des Künstlers ist, die sich im Kunstwerk zeigt, sondern das Absolute, wurde oben schon gesagt. Insofern kann die nun gemachte Überlegung keineswegs überraschen. Es geht ihr jedoch eigentlich nicht um das Absolute als den Fluchtpunkt der Vereinigung, sondern um das Moment der Vereinigung selbst. Dem »System« nach soll sich mit der Kunst gleichsam die Rückseite des bewussten Denkens oder Handelns offenbaren, die Natur, mit der es verbunden ist, ohne diese Verbundenheit einsehen zu können. Die Kunst soll eine Zusammengehörigkeit zum Ausdruck bringen, die von Anfang an vorausgesetzt ist und sich dennoch nur in ihr erweisen kann. Geht man jedoch davon aus, dass sich das bewusste Schaffen in eine gänzlich andere Kraft verwandelt sieht, dass zwischen dem bewussten Produzieren und dem Werk des Genies gleichsam ein Abgrund klafft, so kann das Kunstwerk gerade nicht als die Vereinigung dieser Kräfte oder Tätigkeiten angesehen werden. Vielmehr zeigt sich in ihm eigentlich nur ihre Inkongruenz. In Wahrheit reicht die Kunst damit in eine Dimension, die sich der Suche nach Einheit entzieht. Was in ihr erzielt wird, kann nicht als der Abschluss des Systems erachtet werden. Diese Einsicht zeigt sich indirekt auch in der Unausschöpflichkeit des Kunstwerks, auf die Schelling selbst verweist: „Der Künstler scheint in seinem Werk außer dem, was er mit offenbarer Absicht darein gelegt hat, instinctmäßig gleichsam eine Unendlichkeit dargestellt zu haben, welche ganz zu entwickeln, kein endlicher Verstand fähig ist.“ 31 Jedes Kunstwerk ist demnach einer „unendlichen Auslegung fähig.“ 32 30 AA 9.1, 317f. 31 AA 9.1, 320. 32 Ebd. 138 Michael Steinmann Das Kunstwerk ist in seinem bewusstlosen Ursprung über jede Bestimmtheit, die das Bewusstsein in ihm setzen könnte, hinaus. Damit aber bricht der Gegensatz von Ich und Natur an ihm gerade wieder auf. 33 Die Fähigkeit zu unendlicher Auslegung bedeutet für das Ich den Bezug auf eine unerschöpfliche Natur. 34 Die Interpretation, als eine Tätigkeit des Subjekts, steht vor einem ihr unzugänglichen Sein, mit dem sie sich nur akzidentell in eine Einheit zu setzen vermag. Man sollte sich allerdings hüten, die hier entwickelte Analyse als eine Kritik an Schellings Aufbau des Systems zu verstehen. Es wäre wenig fruchtbar, wenn sich die Betrachtung darauf beschränkte, Brüche und fehlende Übergänge nachzuweisen. Vielmehr gilt es, das Gezeigte ins Positive zu wenden. Der Umschlag der Kunst ins Bewusstlose, in die Tätigkeit des Genies steht demnach für die Eigenständigkeit, welche die Kunst in der Moderne erreicht. Schelling entlässt das Kunstwerk gleichsam wieder aus den Klammern des Systems und gibt ihm die Autonomie 33 Thomas Knisser (Knisser, Th., »Wie kann eine allgemeine Theorie der Wirklichkeit ihre eigene Wahrheit zeigen? Bemerkungen und Fragen zu Struktur und Funktion der Kunst in Schellings System des transzendentalen Idealismus«, in: Fichte-Studien 25 (2005), 133-150) kommt zu einer analogen Folgerung, indem er die Rolle der Kunst auf das Erkenntnisproblem zurückbezieht und fragt: „Spricht nicht die Philosophie, gerade indem sie die Selbstbezüglichkeit der Kunst anzeigt, sich selbst die Möglichkeit ab, darüber zu sprechen? “ (146). Die Einheit, die die Kunst erreicht, ist demnach keine Einheit für das Wissen. Diese Deutung steht im Gegensatz zu der Paetzolds (Paetzold, H., »Aesthetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer«, Wiesbaden 1983), welcher in der Kunst - der Systemlogik folgend - die Möglichkeit gegeben sieht, „daß an ihr die Struktur jeden Wissens paradigmatisch erfahren werden kann“ (137). Auch Jähnigs Lösung (Jähnig, D., »Schelling. Die Kunst in der Philosophie«, Pfullingen 1969, Bd. 2: »Die Wahrheitsfunktion der Kunst«) kann nicht überzeugen. So heißt es etwa in Bezug auf das ‚Aufhören‘ der bewussten Produktion im Werk: „Der Zustand des Endes muß hier von solcher Art sein, daß darin der Zustand des Anfangs nicht vergessen ist“ (30). Diese negative Formulierung zeigt jedoch an, dass der Anfang im Geschehen des Umschlags notwendig eben doch „vergessen“ werden muss. Jähnigs Intention zielt darauf, eine Schellingkritik zurückzuweisen, die in der „Erhebung der Kunst zum Organon der Philosophie einen Untergang des Denkens in die Nacht, wo alles grau ist, sieht“ (ebd.). Einen solchen „Untergang“ muss man jedoch nicht heraufbeschwören, wenn man, wie hier geschehen, die Besonderheit der Kunst betont. Die Frage nach dem Eigenwesen der Kunst präjudiziert nichts über die Frage nach der Reichweite der Philosophie. So auch Iber, C. (Anm. 29), 130. 34 Zur unendlichen Auslegung vgl. Jähnig, D. (Anm. 33), 183. Die Autonomie der Kunst 139 seiner Bedeutungsfunktionen zurück. Durch den Umschlag in die Epiphanie des Schönen wird ersichtlich, dass die Kunst prinzipiell nicht als ein Teil des systematischen Zusammenhangs bestehen kann, sondern eigentlich nur seine Grenze bildet. Im Kunstwerk transzendiert sich nicht nur das bewusste Denken, sondern das System als solches, indem es auf eine Einheit stößt, die kategorial nicht mehr eingeholt werden kann. Diese positive Einsicht in das unverfügbare Wesen der Kunst muss als die eigentliche Leistung Schellings angesehen werden. Ihr gegenüber zeigt sich die Sprache des Systems, die im Kunstwerk alle Widersprüche überwinden zu können glaubt, als oberflächlich. Sie hat dort keine Geltung, wo die Bedingungen des Systems als solche in der Eigenheit der Kunst unterzugehen gezwungen sind. 35 Mit diesen Überlegungen verlassen wir das »System des transzendentalen Idealismus«, um uns Schellings Rede »Über das Verhältnis der Bildenden Künste zu der Natur« zuzuwenden. Die Rede ist hilfreich, um das hier entwickelte Verständnis der Kunst zu konkretisieren. Sie wird auch die These untermauern, der zufolge Schellings Verständnis der Kunst systematisch zwar als problematisch anzusehen ist, dennoch der Sache nach eine positive Einsicht in das Wesen der Kunst bedeutet. Zugleich wird sich zeigen, dass die immerhin sieben Jahre nach dem »System« entstandene Rede durchaus noch weiter geht in der Kennzeichnung des Unverfügbaren der Kunst. II. Die Entgrenzung der Kunst in der Rede »Über das Verhältnis der Bildenden Künste zu der Natur« 1. Die Einschmelzung der Form Die 1807 an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehaltene Rede baut ihrerseits auf der Annahme auf, in der Kunst einen Punkt der 35 Dies bedeutet offenkundig nicht, dass Schellings Bezug auf Kunst inkonsistent oder schlechthin sinnlos wäre. So wie er die Kunst als Teil des Systems expliziert, kann ihre Funktion unmittelbar nachvollzogen werden. Es gilt daher zu unterscheiden zwischen dem systematischen oder systemimmanenten und dem sachlichen Begriff der Kunst. Wir beziehen uns auf Letzteren, vgl. dagegen zum Bezug auf Ersteren und auf die wechselweise Umfassung von Kunst und System: Salber, D., »System und Kunst. Eine Untersuchung des Problems bei Kant und Schelling«, Dissertation Aachen 1984, 182. 140 Michael Steinmann Vereinigung systematisch disparater Momente finden zu können. Die Kunst - und hier vor allem die Bildende Kunst - sei ein „thätiges Band zwischen der Seele und der Natur“, 36 in ihr fände „die vollkommene Einigkeit und gegenseitige Durchdringung“ 37 des Bewussten und des Bewusstlosen statt. Der leitende Gedanke einer Einheit, die die Kunst ermöglicht oder wenigstens erweist, wird also keineswegs aufgegeben. Dennoch wird nun in weit deutlicherer Weise hervorgehoben, inwiefern die Natur als die grundlegende Dimension der Kunst anzusehen ist. Natur, so heißt es, sei das „wahrhafte[n] Vorbild und Urquell“ der Bildenden Kunst. 38 Diese Formulierung, der zufolge die Natur ein Vorbild für die Bildende Kunst bereitet, ist nun allerdings noch unbestimmt und könnte in vielfacher Hinsicht verstanden werden. Offenkundig bezieht sie sich jedoch nicht auf die Frage nach den Gegenständen, von denen die Kunst ihren Ausgang nimmt, also etwa auf die Frage, ob die Kunst die Wirklichkeit nachahmt oder nicht. Vielmehr wird mit der Natur auch hier eine Dimension berührt, die in der Kunst selbst am Werke ist. Sie erscheint nun in der Entgegensetzung von innerem Wesen und äußerer Form: „Wenn wir die Dinge nicht auf das Wesen in ihnen ansehen, sondern auf die leere, abgezogene Form, so sagen sie auch unserm Innern nichts; unser eignes Gemüth, unsern eignen Geist müssen wir daransetzen, daß sie uns antworten. Was ist aber die Vollkommenheit jedes Dings? Nichts anders denn das schaffende Leben in ihm, seine Kraft dazuseyn.“ 39 Die äußere Form eines Werks, die Form, in der es sinnlich erscheint, ist demnach für sich genommen bedeutungslos. Wir erfüllen sie erst mit einer Bedeutung, indem wir gleichsam durch sie hindurchsehen auf das Innere in ihr. Kunst spricht nur zu uns, wenn sie zu unserem Gemüt, d.h. zu unserem Inneren spricht, und zu unserem Gemüt sprechen kann sie nur dadurch, dass sie selbst eine solche innere Dimension besitzt. Diese Auffassung der Kunst ist eine romantische, da sie das Maß und die Harmonie, in der ein Kunstwerk erscheint, nur als eine sekundäre Eigenschaft verstehen will. Harmonische Formen sind gleichsam nur die 36 Schelling, F. W. J., »Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur (1807)«, SW VII, 292. 37 SW VII, 300. 38 SW VII, 293. 39 SW VII, 294. Die Autonomie der Kunst 141 Epiphänomene seines inneren Wesens. Eine jede Form ist, nach Schelling, „erzeugt“ 40 und weist so auf die Dimension zurück, der sie ihre Erzeugung verdankt. Dasselbe gilt für die Schönheit: Auch die Schönheit entspringt aus einem inneren Wesen, sie geht aus ihm „hervor“ 41 und beruht nicht an sich in der Erscheinung einer Gestalt. Die hier getroffene Unterscheidung zwischen Innen und Außen kann ohne weiteres mit der Dichotomie von Bewusstem und Bewusstlosem verbunden werden. Die Form einer Sache ist demnach die Erscheinungsweise, in der sie sich für die Bewusstheit zeigt. Die Form kann nachgezeichnet werden oder lässt sich konstruieren, sie ist für das planende und herstellende Bewusstsein verfügbar. Anders dagegen das innere Wesen der Sache. Primär bedeutet es, wie die genannten Worte zeigen, das ‚schaffende Leben‘ in einer Sache, seine ‚Kraft‘, durch die es sich im Dasein hält. Es bedeutet also dasjenige, was die Natur an einer Sache ausmacht: das, was sie auf bewusstlose Weise ist. Der Künstler wie auch der Betrachter müssen durch die Form hindurch ein Wesen erfassen, das von der Form selbst unabhängig ist. Es ist daher, wie schon das »System« darlegte, eine besondere Macht, eine Gunst der Natur oder eine Beglückung, die dem Schaffenden dazu verhilft, dieses Wesen zu treffen. Die Natur kann nur auf eine Weise aufgefasst werden, die selbst natürlich ist. Die Form des Werkes muss nach Schelling „gleichsam schmelzen“, sie muss sich auflösen, damit „die lautere Kraft der Dinge mit der Kraft unseres Geistes zusammenfließt“. 42 Ein solches ‚Zusammenfließen‘ wird vom Geist jedoch nicht eigentlich bewirkt, sondern erlitten, es bezeichnet einen Punkt, an dem er selbst nur noch natürlich, und das heißt: bewusstlos, verfährt. Der Künstler hat, wie es auch heißt, einen ‚Naturgeist‘ zu ergreifen, und zwar ‚lebendig‘ zu ergreifen, was bedeutet, dass er ihn weniger ergreift, als vielmehr selbst von ihm ergriffen werden muss. 43 Auf diese Weise findet sich in der Rede auch die Gedankenfigur des Umschlags vom Bewussten ins Bewusstlose wieder. Das Beharren auf der Form bleibt ein vergebliches Bemühen, wenn es nicht von sich aus einen Sprung in dasjenige vollzieht, was sich durch die Form als solche nicht bewirken lässt. 44 40 SW VII, 296. 41 SW VII, 295. 42 SW VII, 299. 43 SW VII, 301. 142 Michael Steinmann Allerdings darf es nicht den Anschein haben, als versuchte Schelling, das Programm einer unbegrenzt romantischen, d.h. auf einer völligen Auflösung der Form beruhenden Kunst, zu entwerfen. Dies ist keineswegs der Fall, wie allein seine Hochschätzung der italienischen Malerei von Leonardo, Correggio oder Raphael zeigt. 45 Überdies geht es in der Rede von der inneren Kraft gerade nicht um die flüchtige Erfahrung eines einzelnen Naturgeschehens, sondern um ein Wesen, das im eigentlichen Sinn als „Allgemeines“, 46 als ein ewiges und zeitenthobenes Sein verstanden werden soll. 47 Die Natur, die sich im Kunstwerk offenbart, ist Natur, insofern sie als Grund der vielen Phänomene des Natürlichen fungiert. Zuletzt hätte eine Ästhetik, die für eine gänzliche Aufhebung der Form plädieren würde, für Schelling nicht verstanden, was der eigentliche Charakter des Formhaften ist. Äußerlich und dem Wesen entgegengesetzt sind die Formen nur dort, wo sie nicht aus diesem „fließen“. 48 Wo dies hingegen geschieht, sind sie die „Sinnbilder“, 49 durch welche der Naturgeist spricht und in denen er sich selbst zum Ausdruck bringt. Betrachtet man das Verhältnis von Wesen und Form aus dieser Perspektive, so wird deutlich, dass die Pointe von Schellings Überlegung gerade in der Möglichkeit der Unterscheidung von Innerem und Äußerem beruht. Die Konzeption einer in der Kunst erscheinenden natürlichen Kraft benötigt das Medium einer Form, der gegenüber sie als das im eigentlichen Sinne Innere betrachtet werden kann. So darf sich der Künstler auch keineswegs dem Anspruch einer angemessenen Beherrschung der Formen entziehen. Vielmehr hat er nach Schelling die Arbeit an ihnen so weit zu vollführen, bis sich aus der Form der Umschlag in das, was jenseits ihrer ist, ergibt - bis die Form selbst den Blick auf das unverfügbare Leben in ihr eröffnet. Das Ideal der Formbeherrschung ist es daher auch, „die äußerste Schönheit in Bildungen von höchster Einfalt bei unendlichem Inhalt erreichen zu wollen“. 50 Das innere Wesen 44 In diesem Fall bleibt „das Wunder, wodurch das Bedingte zum Unbedingten gehoben, […] aus; der magische Kreis ist gezogen, aber der Geist, der sich in ihm fassen sollte, erscheint nicht, unfolgsam dem Rufe dessen, der eine Schöpfung durch die bloße Form für möglich hielt“ (SW VII, 296). 45 Vgl. SW VII, 319f. 46 SW VII, 301. 47 Vgl. SW VII, 303. 48 SW VII, 301. 49 Ebd. Die Autonomie der Kunst 143 zeigt sich gerade dann in der Unbegrenztheit seines natürlichen Seins, wenn ihm keine Form entgegensteht, die es gleichsam zerstreut und in unterschiedliche Perspektiven zersplittert. Es verlangt vielmehr nach der Konzentration in einem Rahmen, der sich selbst zurücknimmt und die Unbegrenztheit rein als solche wirken lässt. Auf eine Formel gebracht, bedeutet dies, dass erst die „Vollendung der Form“ ihre „Vernichtung“ erbringen darf. 51 Die höchste Angemessenheit der Form wird nicht dort erreicht, wo sie schlichtweg aufgehoben wird, sondern wo sie so vollendet beherrscht wird, dass sie sich als äußere und äußerliche Gestaltung ganz zurückgezogen hat. 52 Schellings Konzeption ist, so gesehen, trotz ihrer romantischen Grundtendenz keine antiklassische, sondern integriert den Gedanken klassischer Formhaftigkeit, indem sie ihm eine neue Begründung verleiht. Im Übrigen kann sich Schelling klassischen Gestaltungsweisen allein schon deshalb nicht verschließen, weil er dem Kunstwerk auch in der »Rede« die Aufgabe einer Versöhnung des Geistes mit der Natur gegeben hat. Die Bewusstheit, die das Klassische als das Maßvolle charakterisiert, soll sich mit dem Naturgeist, aus dem das Kunstwerk entsteht, vereinigen können. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich in diesem Kontext noch weit deutlicher erweist, wie problematisch diese Forderung nach Einheit ist. Dies zeigt sich etwa beim Umgang mit dem klassischen Begriff der Anmut. Anmut bedeutet, wie es heißt, eine „Verklärung des Naturgeistes“. Eine Verklärung deshalb, weil sie eine Verbindung von „sittlicher Güte und sinnlicher Erscheinung“ 53 ist. Von dieser Verbindung heißt es: „Diese Schönheit, welche aus der vollkommenen Durchdringung sittlicher Güte mit sinnlicher Anmuth hervorgeht, ergreift und entzückt uns, wo wir sie finden, mit der Macht eines Wunders. Denn weil sich der Naturgeist sonst überall als von der Seele unabhängig, ja gewissermaßen ihr widerstrebend zeigt, so scheint er hier wie durch eine freiwillige Uebereinstimmung […] mit der Seele zu verschmelzen; den Beschauenden überfällt mit plötzlicher Klarheit die Erinnerung von der ursprünglichen Einheit des Wesens der Natur 50 SW VII, 305. 51 Ebd. 52 Schelling gibt auch naturphilosophische Gründe für diesen Gedanken an. „Von ihren ersten Werken an“, so heißt es, „ist die Natur durchaus charakteristisch“ (SW VII, 304); sie flieht die Bestimmtheit der Formen nicht, sondern entwickelt sich gleichsam durch sie hindurch. 53 SW VII, 315. 144 Michael Steinmann mit dem Wesen der Seele“. 54 Von einem ‚Wunder‘ hatte Schelling, wie gesehen, bereits im »System« gesprochen. Wie dort, so bleibt auch hier die Einheit unbegreiflich. Allerdings wird nun ausdrücklich gesagt, worin diese Unbegreiflichkeit liegt: Der Naturgeist, so heißt es, sei der Seele gewissermaßen widerstrebend; er taugt an sich genommen gar nicht zur Vereinigung mit dem Gehalt der Sittlichkeit. Nur durch eine ‚freiwillige Übereinstimmung‘, die er eingeht, können die Momente überhaupt verschmelzen. Was aber heißt dies anderes, als dass die Einheit, die erzielt wird, gar nicht die Einheit des zu Vereinigenden ist? Dass es nicht die Natur als solche ist, die mit der Sittlichkeit zusammenstimmen kann, sondern vielmehr eine andere Natur, eben die Natur der Kunst? Die Rede von einem ‚Wunder‘ weist zumindest implizit darauf hin, dass sich mit dem Umschlag in die Einheit der Übergang in eine andere Dimension ereignet hat, dass sich die beteiligten Momente gleichsam unter der Hand verändert haben. An der zitierten Stelle ist es freilich weniger die Eigenständigkeit der Kunst, in der sich dieses andere zeigt. Vielmehr verweist Schelling mit der Rede von der ‚Erinnerung‘ an eine ‚ursprüngliche Einheit‘ auf dem Grund allen Seins, der ihm zuletzt auch „die Gewißheit“ verleiht, „daß aller Gegensatz nur scheinbar, die Liebe das Band aller Wesen, und reine Güte Grund und Inhalt der ganzen Schöpfung ist.“ 55 Die Einheit ist auf diese Weise schöpfungstheologisch bestimmt. Was dies für das Verständnis der Kunst bedeutet, kann hier nicht näher ausgeführt werden. Es zeigt jedoch, dass die Einheit, die in ihr erscheint, die Ebene dessen, was es zu vereinigen gilt - ‚sittliche Güte und sinnliche Erscheinung‘ -, als solche hinter sich lässt und auf einen eigenen Grund der Möglichkeit verweist. 2. Die unendliche Produktivität der Natur Kommen wir zum Abschluss auf die schon angesprochene Tendenz zu sprechen, die Eigenständigkeit der Kunst noch weiter zu betonen. Schelling behält in seiner Rede zwar den systematischen Einheitsanspruch bei, bekräftigt und forciert jedoch zugleich die Autonomie der Kunst. Im Allgemeinen zeigt sich diese Autonomie darin, dass die Freiheit der Natur, so wie sie in der Kunst erscheint, hervorgehoben 54 SW VII, 315f. 55 SW VII, 316. Die Autonomie der Kunst 145 wird. Die Bildende Kunst, so Schelling, greift zwar zunächst nach der menschlichen Gestalt als dem „Höchsten und Entfaltetsten“. Das heißt, sie sieht „die gesamte Natur nur im Menschen“. Damit aber wird der Umfang der Natur nicht etwa beschnitten, vielmehr legt die Natur, so wie sie in der Kunst erscheint, „denselben Weg, den sie in ihrem weiten Umfange durchlaufen hatte, zum zweitenmal in einem engeren zurück.“ Im Mensch erscheint die „ganze Mannichfaltigkeit“ der Natur. 56 In ästhetischer Hinsicht bedeutet dies, dass Schelling jeden Versuch, die Kunst auf eine bestimmte Erscheinung des Menschlichen festzuschreiben, verwirft. Der Mensch ist zwar das Höchste der Natur, dennoch soll er keineswegs nur in der höchsten Form der Menschlichkeit dargestellt werden. Vielmehr ist die gesamte Breite, die die Natur in ihm erreicht, zur Darstellung zu bringen. Nicht nur das Edle und Schöne, sondern auch die Begrenztheit des Individuellen hat als Gegenstand der Kunst zu gelten. Diese Freiheit in den Gestaltungsmöglichkeiten der Kunst hat auch einen normativen Aspekt. „Nur mächtige Bewegungen des Gefühls“, so Schelling, „nur tiefe Erschütterung der Phantasie durch den Eindruck allbelebender, allwaltender Naturkräfte konnten der Kunst […] Kraft einprägen.“ 57 Daher sind auch all die Regungen aufzunehmen, die der Sittlichkeit entgegenstehen können. Nicht die Unterdrückung der Naturkräfte ist das Ziel, sondern ihre Integration in einen Zusammenhang höherer Kraft. Schönheit, so Schelling, besteht nicht in der Abwehr entstellender Kräfte, sondern darin, daß das Schöne diese gleichsam überstrahlt: „Die Kräfte der Leidenschaften müssen sich also wirklich zeigen, es muß sichtbar seyn, daß sie sich gänzlich empören könnten, aber durch die Gewalt des Charakters niedergehalten werden, und an den Formen festgegründeter Schönheit wie Wellen eines Stroms sich brechen“. 58 Die Modernität, die in dieser Forderung liegt, ist offenkundig, macht sie doch die Kunst jenseits aller inhaltlichen und formalen Ideale zum Medium der Wirklichkeit, sowohl in ihrer Individualität als auch in ihrer Unbeherrschbarkeit. Gleichsam notwendig ergibt sich daraus auch ein Plädoyer für die Darstellung des Niederen. Die „hohe und gleichgültige Schönheit“ kann, so Schelling, nicht das alleinige Maß der Dar- 56 SW VII, 305. 57 SW VII, 306. 58 SW VII, 310. 146 Michael Steinmann stellung sein. In der Natur ist das Höhere mit dem Niederen verbunden, die Natur lässt keines ohne das andere gelten. Daher hatten die alten Griechen immer wieder Faune und Silene dargestellt, in denen die Natur ihr Ideal gleichsam selbst parodiert. 59 Die Modernität von Schellings Ästhetik wird auch dort ersichtlich, wo er, in Bezug auf die Produktivität der Natur, den Fortschritt in der Kunst angelegt sieht. So heißt es in Beziehung auf die klassische italienische Malerei: „Ihre Zeit und die unsrige knüpft keine lebendige Ueberlieferung, kein Band organisch fortgewachsener Bildung zusammen: wir müssen die Kunst auf ihrem Wege, aber mit eigenthümlicher Kraft wieder erschaffen, um ihnen gleich zu werden.“ 60 Dass die Kunst mit eigener Kraft ‚wiedererschaffen‘ werden kann, resultiert vor allem daraus, dass sie von vornherein auf keine feste Form und keinen festen Stil festgeschrieben ist. Die Kunst ist in ihrer Gestaltung so frei wie die Natur, in der sie wurzelt. Es gibt daher keine Möglichkeit, ein Ende der Kunst einzuläuten, vielmehr muss sich Kunst im Rückgang auf Natur stets neu generieren. „Ein solcher Raphael“, so Schelling, „wird nicht wieder seyn, aber ein anderer“. 61 Das Kunstwerk ist nicht nur, wie an früherer Stelle angesprochen wurde, einer unendlichen Auslegung fähig, es ist selbst gleichsam eine unendliche Auslegung der Natur. In ihm zeigt sich die Natur in ihrer Unerschöpflichkeit. Kunst kann „immer neu erzeugt werden“. Sie entspringt, wie es auch heißt, „aus der Tiefe der Natur“ und kann daher durch das Bewusstsein nicht auf eine bestimmte geschichtliche Form festgeschrieben werden. 62 Das Bewusstlose in der Kunst ist so mannigfaltig und unendlich, wie es unverfügbar ist. Auf diese Weise zeigt sich wie- 59 SW VII, 308f. 60 SW VII, 326. 61 SW VII, 328. 62 SW VII, 321. Szondi weist zurecht auf die Schwierigkeiten hin, die in dieser Verbindung von Kunst und Natur auch begründet liegen: „Aber die Naturanalogie, der sich die Würde der Betrachtung des einzelnen Kunstwerks verdankt, führt zugleich über das einzelne Werk hinaus, das wegen des Vergleichs mit den Gewächsen der Natur immer schon in Gefahr ist, seine Individualität einzubüßen und zum bloßen Exemplar zu werden“ (Szondi, P., »Poetik und Geschichtsphilosophie II. Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. Schellings Gattungspoetik«, hg. v. W. Fietkau, Frankfurt a.M. 1974, 228). Dennoch spricht dies nicht dagegen, die sachlichen Einsichten Schellings, die für eine rein ästhetische, d.h. rein auf das Kunstwerk bezogene Überlegung wichtig sind, hervorzuheben. Die Autonomie der Kunst 147 derum, wie weit Schelling die Kunst der Sache nach aus dem Zusammenhang eines jeden Systems dissoziiert. Sie steht gleichsam exterritorial zu den anderen Formen des Geistes, zurückbezogen auf einen Ursprung in der Natur, der dem Bewusstsein und seinen Setzungen entzogen bleiben muss. In der Produktivität des Naturgeistes, der sie immer wieder neu gebiert und mit unendlicher Bedeutung versieht, wird die Kunst zu einer Domäne, die nur mehr eigenen Gesetzen gehorcht; sie besitzt eine Einheit der Kräfte, die nur ihr zu eigen ist. Wilhelm G. Jacobs Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte Zum Dialog »Bruno« 1 Schellings Schrift »Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge. Ein Gespräch« ist im Sommer 1802 in Berlin erschienen. 2 Schelling hatte im Oktober 1798 seine Lehrtätigkeit in Jena begonnen und seitdem dort wie auch Fichte seinen Wohnsitz. Dieser verlor im Frühjahr 1799 seine Professur in Jena infolge des Atheismusstreites und verließ anschließend die Stadt. Die beiden Philosophen führten seitdem einen Briefwechsel, in dem es zuletzt immer mehr um Grundlegungsfragen der Philosophie ging. Der Briefwechsel endete mit dem Brief Schellings an Fichte vom 25. Januar 1802, also einige Monate vor dem Erscheinen des »Bruno«. Schellings Sohn Karl Friedrich August veröffentlichte den »Bruno« im Band IV der »Sämmtlichen Werke« 3 seines Vaters; dort bezieht er in seinem Vorwort den Dialog auf die Diskussion der beiden Philosophen und weist auf Schellings Brief an Fichte vom 3. Oktober 1801 hin 4 ; dort heißt es: „Binnen Kurzem erhalten Sie ein philosophisches Gespräch von mir, von dem ich wünsche, daß Sie es lesen.“ 5 Die Abfassung des 1 Der vorliegende Beitrag erscheint nach dem Wunsch des Verfassers in hergebrachter Rechtschreibung. 2 Vgl. Durner, M., »Einleitung«, in: F. W. J. Schelling: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge. Ein Gespräch, mit einer Einleitung und Anmerkungen, hg. v. M. Durner, Hamburg 2005 (= Durner), IX. Diese vor kurzem erschienene Ausgabe ist die textkritisch beste und bietet wertvolle Verständnishilfen. 3 Schelling, F. W. J., »Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge. Ein Gespräch. 1802« (= Bruno), SW IV, 213-332. 4 SW IV, VI. Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte 149 Dialogs dürfte, wie Manfred Durner genauer ausführt, 6 in das ausgehende Jahr 1801, vielleicht noch den Beginn des Jahres 1802 fallen. Er steht, wie Schellings Sohn richtig vermutet, im Kontext der Auseinandersetzung der beiden Philosophen. 7 Die briefliche Auseinandersetzung steht unter einem ungünstigen Stern. „Weder Fichte noch Schelling bemühen sich darum, in ausführlichen und genau begründeten Argumentationen ihre Ansätze zu entwickeln. Man verweist sich gegenseitig auf bereits vorliegende Schriften und […] bald erscheinende Werke“, 8 wie beispielsweise Schelling auf »Bruno«. Beide Denker reflektieren ihre Ansätze jeweils neu und befinden sich, jeder für sich selbst, noch in dieser Denkbewegung. Daher spricht Walter Schulz von einer „Tragik, die diesen Briefwechsel bestimmt.“ 9 Man wird also die Auseinandersetzung der beiden Philosophen nicht als eine Bilanz ansehen können, vielmehr als eine Etappe auf dem Weg zu der jeweils eigenen Position. Das Denken des Anderen erscheint daher, so wie man es wahrnimmt, eher als Punkt, von dem man sich abstößt, denn als Anreiz, sich intensiv hineinzudenken und von dort her die Auseinandersetzung zu führen. 5 Fichte wird zitiert nach »J. G. Fichte-Gesamtausgabe«, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1982 (zitiert als GA). Fichte, J. G. »Briefwechsel 1801-1806«, hg. v. R. Lauth und H. Gliwitzky, GA III, 5, 87. 6 Durner, M., VII-XII (Anm. 2). 7 Vgl. ebd., XXIII-XXX und die Belege in den Anmerkungen des Herausgebers 131-152. 8 Schulz, W., »Der Briefwechsel Fichtes und Schellings.« Vorbemerkung, in: Fichte - Schelling Briefwechsel, Frankfurt a.M. 1968, 9. Die Ansicht von Schulz wird bestätigt durch die Untersuchung von Christian Klotz: »‚Synthesis der Geisterwelt.‘ Fichtes Systemskizze im Briefwechsel mit Schelling«, in: Grundlegung und Kritik. Der Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte 1794 - 1802, Fichte-Studien 25, hg. v. J. Jantzen, T. Kisser und H. Traub, Amsterdam/ New York 2005, 43-56. Klotz kann anders als Schelling die Skizze verstehen und verorten, weil er im Gegensatz zu diesem die »Wissenschaftslehre nova methodo«, die »Wissenschaftslehre 1801/ 1802« und die »Wissenschaftslehre 1804« vorliegen hat. Lore Hühn bemerkt, daß sich die Briefpartner „gegenseitig auf Positionen verpflichten, die der eine so gut wie der andere längst abgelegt und überwunden zu haben glaubt.“ (Hühn, L., »Die Verabschiedung des subjektivitätstheoretischen Paradigmas. Der Grunddissens zwischen Schelling und Fichte im Lichte ihres philosophischen Briefwechsels«, in: Fichte-Studien 25,110.) 9 Schulz, W., »Briefwechsel Fichtes und Schellings« (Anm. 8), 12. 150 Wilhelm G. Jacobs Berücksichtigt man diese Situation, so darf man hoffen, Schellings Stellung zu derjenigen Fichteschen Philosophie, die er in den Jahren 1801 bis 1802 nur vor Augen haben konnte, in dem gegen Ende des Briefwechsels mit Fichte verfassten »Bruno« deutlicher zu sehen als im Briefwechsel. In der Tat setzt sich dort Schelling mit Fichte auseinander, allerdings ohne dessen Namen zu nennen. Zu Recht sieht K. F. A. Schelling Fichte „im Bruno durch die Person des Lucian repräsentirt, allerdings aber so, daß er durchaus als der besseren Einsicht folgend gedacht wird.“ 10 Der Sohn verweist dann auf einige Stellen des Textes. Manfred Durner nennt in seinen 194 »Anmerkungen des Herausgebers« allein zwanzig Mal Fichtes Namen. So wird man der Einschätzung des jüngeren Schelling ohne Schwierigkeiten folgen. Von dem gereizten Ton der letzten Briefe zwischen den beiden Philosophen ist im »Bruno« nichts zu spüren; hier ist der Ton der Auseinandersetzung sachlich. Dennoch erscheint es angesichts der jeweils eigenen, dem anderen Partner verborgenen Denkentwicklung der Kontrahenten wenig fruchtbar, vom »Bruno« aus eine Abwägung der beiden philosophischen Positionen zu versuchen. Daher ist die vorliegende Untersuchung darauf beschränkt, Schellings Position zu verstehen, wobei die Polemik gegen Fichtes Philosophie nicht mehr als die Folie darstellt. Der vorliegende Beitrag wird sich auf zwei zentrale Probleme konzentrieren: Zum einen geht es um die Frage, wie die Einheit des ersten Prinzips zu denken ist, zum anderen, ob das Ich als erstes Prinzip gedacht werden müsse oder das vom Ich zu unterscheidende Absolute. Entsprechend diesen beiden Fragen gliedert sich der Aufsatz in zwei Teile. 1. Wie ist die Einheit des ersten Prinzips zu denken? Fichte hat von der »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre« 11 an bis zu seinen letzten Vorlesungen über die Wissenschaftslehre das höchste Prinzip als Einheit gedacht. Dies zeigt sich schon darin, daß dieses Prinzip laut Fichte in intellektueller Anschauung erkannt wird, also nicht durch Reflexion. Reflexion ist im Gegensatz zur intellektuellen Anschauung durch Differenz gekennzeichnet, jene also undifferenzierte 10 SW IV, VI. 11 Fichte, J. G., »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre«, Leipzig 1794/ 95, GA I,2: »Werke 1793-1795«, hg. v. R. Lauth und H. Jacob, 1965 (= GWL). Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte 151 Einheit. Anschauung und Reflexion oder das erste Prinzip und seine Erscheinung stehen sich getrennt durch einen ‚hiatus irrationalis‘, 12 wie es später in der »Wissenschaftslehre« von 1804 heißt, gegenüber. Die Irrationalität dieses Hiatus will nicht so verstanden sein, daß hier eine willkürliche Setzung erfolge, sondern so, daß an dieser Stelle der philosophischen Überlegung eingesehen werde, daß hier kein rationaler Übergang möglich sei. Fichte will diese Irrationalität durchaus rational begründet verstanden wissen. Da Fichte, je länger er philosophiert, eine differenzlose Einheit denkt, kann er keinen Übergang aus dieser Einheit zu Prinzipiaten denken; denn ein Übergang setzt die Differenz des einen, von dem zu dem anderen übergegangen wird, voraus. Das Absolute kann demnach, strikte gedacht, nicht als begründendes Prinzip angenommen werden, sondern als letzte Bedingung dessen, was außer dem Absoluten ist. Dieses Letzte ist seine Erscheinung; diese kann nur so gedacht werden, daß sie faktisch beim Absoluten ist. In dieser erscheint das Absolute; es ist nicht als Folge des Absoluten zu denken, sondern eben als dessen faktisches, unbegreifliches Erscheinen. Es bedarf keiner Diskussion, daß hier das Grundlegungsproblem der Philosophie angesprochen ist. Eben dieses Problem wird im Dialog »Bruno« von der Dialogfigur Bruno aufgegriffen. Er erbietet sich, von derjenigen Philosophie zu reden, von welcher er wisse, „daß sie die wahre sey,“ und er schränkt die Erörterung auf den Grund und Boden, „auf welchem sie erbaut und aufgeführt werden müsse“, 13 ein. Bruno bestimmt folglich als Gegenstand des Gespräches „die Idee dessen, worin alle Gegensätze, nicht sowohl vereinigt, als vielmehr eins, und nicht sowohl aufgehoben, als vielmehr gar nicht getrennt sind“. 14 Bruno unterscheidet zwei Möglichkeiten, das „Erste […], was allem vorangeht,“ zu denken: entweder sei es „die Einheit, welche den Gegensatz sich entgegenstehend hat, […] oder die Gegensätze“. 15 Zur ersten Möglichkeit merkt er an: „alsdann aber wird sie [die Einheit] selbst mit einem Gegensatz gesetzt“, sie ist dann zwar Einheit, aber sie hat etwas außer sich, eben die Gegensätze. Da aber doch 12 Vgl. Fichte, J.G., »Die Wissenschaftslehre [II. Vortrag im Jahre 1804.]«, in: Nachgelassene Schriften 1804, hg. v. R. Lauth und H. Gliwitzky, 1985, GA II, 8, 220f., 231, 248f. 13 SW IV, 235. 14 Ebd. 15 Ebd., 235f. 152 Wilhelm G. Jacobs die Einheit zusammen mit den Gegensätzen in einem Bewußtsein gedacht wird, müßen sie beide in einer höheren, noch näher zu bestimmenden Einheit gedacht werden. Gegen den zweiten Fall, nämlich die Gegensätze selbst als das Erste zu setzen, wendet Bruno ein: „alsdann aber werden diese ohne die Einheit gedacht, welches unmöglich ist, denn alles, was sich entgegengesetzt, ist es wahrhaft und auf reelle Weise nur dadurch, daß es in einem und demselben gesetzt seyn soll.“ 16 Es bleibt also nur der erste Fall zu diskutieren, und dieser ist, wie zuvor skizziert, der Fall der »Wissenschaftslehre«. Zu dieser Diskussion gibt die »Wissenschaftslehre« selbst Anlaß. Überraschend, weil der sonstigen Behauptung strikter Einheit des absoluten Ichs entgegengesetzt, betont Fichte im dritten Teil der »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre«, in § 5. II., daß das Ich sich selbst, und zwar als sich selbst und nur als sich selbst setze, und etwas vom Ich Verschiedenes, wenn es denn vorkomme, nur durch ein Nicht-Ich gesetzt sein könne. Dann aber formuliert Fichte das von Schelling hier im »Bruno« aufgegriffene Problem: „Soll aber das Nicht-Ich überhaupt etwas im Ich setzen können, so muß die Bedingung der Möglichkeit eines solchen fremden Einflusses im Ich selbst, im absoluten Ich, vor aller wirklichen fremden Einwirkung vorher gegründet seyn“; zur Deutlichkeit fährt Fichte fort: „das Ich muß ursprünglich, und schlechthin in sich die Möglichkeit setzen, daß etwas auf dasselbe einwirke; es muß sich, unbeschadet seines absoluten Setzens durch sich selbst, für ein anderes Setzen gleichsam offen erhalten.“ Und nun meint man geradezu Bruno reden zu hören, wenn Fichte schließt: „Demnach müßte schon ursprünglich im Ich selbst eine Verschiedenheit seyn, wenn jemals eine darein kommen sollte; und zwar müßte diese Verschiedenheit im absoluten Ich, als solchem, gegründet seyn.“ 17 Fichte geht zur Lösung des Problems darauf zurück, daß das Ich „sich für sich selbst setzen“ 18 soll. Daher muß das Ich „ohne allen Grund das Princip in sich haben über sich selbst zu reflektiren“. 19 Reflexion, so könnte Bruno einwenden und Fichtes Zustimmung sicher sein, setzt aber die zumindest formelle Differenz von Subjekt und Objekt voraus. Die »Grundlage« setzt somit ein absolutes Ich voraus, 16 Ebd., 236. „Einem“ statt SW „einem“ korrigiert nach Durner (Anm. 2), 25. 17 Fichte, J G., GWL. GA I, 2, 405 (Anm. 11). 18 Ebd., 406. 19 Ebd., 407. Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte 153 das sowohl Einheit, als auch eine zwar nicht materielle, aber doch formelle Differenz, nämlich die von Subjekt und Objekt, ist. Der spätere Fichte wird 1804 zur Problemlösung das angeführte Theorem des ‚hiatus irrationalis‘ bemühen. Dieses Theorem steht aber an der Jahreswende von 1801 zu 1802 nicht zur Debatte. Es ist eine berechtigte Frage, wie sich im absoluten Ich einerseits die Einheit, bzw. die intellektuelle, d.i. unvermittelte Anschauung, und andererseits die Verschiedenheit, nämlich die vermittelnde Reflexion, zueinander verhalten. Fichte gibt darauf in seinen Veröffentlichungen bis 1802 keine Antwort. Bruno bemüht zur Lösung des Problems die Unterscheidung von Begriff und Idee. Der Begriff ist Einheit für unendlich viele durch ihn zu begreifende Gegenstände. Die Unendlichkeit des Begriffs ist die des Zahlenstrahls; es läßt sich ins Unendliche immer noch eins hinzufügen. Diese „bloße Unendlichkeit ist […] eben deßwegen unmittelbar auch der Vielheit entgegengesetzt“; während die Idee, „indem sie Vielheit und Einheit, Endliches und Unendliches vereinigt, auch gegen beide völlig gleich sich verhält.“ 20 Die Idee ist - wie die Vernunft über dem Verstand -, so über dem Begriff, „dem nur ein Theil ihres Wesens zukommt,“ 21 nämlich ohne Ende Bestimmtes und Endliches zu erfassen. Der Begriff ist gegenüber dem von ihm bestimmten Endlichen unendlich. Seine Unendlichkeit ermöglicht ihm, allgemein zu sein; das Endliche ist dann als das Besondere zu verstehen. Dieses Besondere wird durch den Begriff bestimmt, aber nicht gegeben, dies geschieht in der Anschauung. In der Anschauung also wird Realität gegeben; dagegen ist der Begriff ideal. Alle hier genannten Gegensätze vereinigt die Idee in sich. Zu Brunos Problemlösung taugt kein Begriff, sondern nur eine Idee. Schelling denkt bei dieser Lösung durchaus in älteren metaphysischen Strukturen. Werner Beierwaltes hat gezeigt, daß Schelling vermittelt durch Giordano Bruno „genuin neuplatonische Elemente indirekt in sein Denken aufgenommen hat“ 22 , und zwar in „immer noch durchgehaltenen transzendentalen Intentionen“. 23 Diesen Intentionen soll hier nachgegangen werden. 20 SW IV, 243. 21 Ebd. 22 Beierwaltes, W., »Absolute Identität. Neuplatonische Implikationen in Schellings ‚Bruno‘«, in: ders., Identität und Differenz, Frankfurt a.M. 1980, 205. 23 Vgl. ebd. 211; vgl. weiter 230-232. 154 Wilhelm G. Jacobs Bruno nennt die „Einheit des Anschauens und des Denkens“ „eine hohe und vortreffliche Idee“. 24 Durner verweist an dieser Stelle 25 auf den Brief Schellings an Fichte vom 3. Oktober 1801, wo es heißt: „Die Identität des Ideal- und Realgrundes ist = der Identität des Denkens und Anschauens. Sie drücken mit dieser Identität die höchste spekulative Idee aus, die Idee des Absoluten, dessen Anschauen im Denken, dessen Denken im Anschauen ist.“ Schelling fährt unmittelbar danach fort: „(Zur Erläuterung berufe ich mich der Kürze halber auf Kants Kritik der Urtheilskraft §. 76 Anmerk.)“. 26 Von diesem Paragraphen bemerkt Schelling schon 1795 in seiner Abhandlung »Vom Ich als Princip der Philosophie«: „Vielleicht aber sind nie auf so wenigen Blättern so viele tiefe Gedanken zusammengedrängt worden, als in der Kritik der teleologischen Urtheilskraft §. 76. geschehen ist.“ 27 Wenn Schelling einige Jahre später an entscheidender Stelle auf diesen Paragraphen verweist, so dürfte sich an seiner Wertschätzung nichts geändert haben. Kant erläutert in diesem Paragraphen die Behauptung des Vorangehenden, daß menschliche Vernunft „objectiv gar nicht“ beurteilen könne, „ob ein nach Absichten handelndes Wesen als Weltursache (mithin als Urheber)“ 28 den Naturzwecken zu Grunde liege. Kant leitet seine »Anmerkung« ein, indem er für endliches Bewußtsein die Notwendigkeit von regulativen Ideen der Vernunft einerseits sowie von Verstandesbegriffen andererseits feststellt und Beispiele dafür anführt, daß die Notwendigkeit des Denkens im Subjekt liege und kein Grund für 24 SW IV, 241. 25 Durner, M. (Anm. 2), 133, Anm. 24. 26 Schelling, F. W. J., »Brief an Fichte in Berlin (612. [Sch. 480.])«, in: Fichte, J. G., Briefwechsel 1801-1806, GA III, 5, 80f. (Anm. 5). Dieser Brief ist nicht im Original erhalten, sondern nur in der Briefausgabe der Söhne, welche die Briefe redigiert haben. Der Hinweis auf Kants »KU« paßt allerdings sehr gut in den Zusammenhang, so daß jedenfalls keine Fehldeutung zu fürchten ist. Die Hrsg. der GA haben den Text der Söhne, der „§. 74“ liest, zutreffend korrigiert. § 74 enthält keine Anmerkung; dagegen ist § 76 überschrieben mit „Anmerkung“ und inhaltlich passend. 27 Schelling, F. W. J., »Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen«, Tübingen 1795, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. H. M. Baumgartner (†), W. G. Jacobs, J. Jantzen, H. Krings (†) und H. Zeltner (†), Bd. I, 2: Werke 2, hg. v. H. Buchner und J. Jantzen, Stuttgart 1980 = AA I, 2, 175 (= SW I, 242). 28 »KU«, 338, in: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V., Berlin 1908/ 1913, (= »Schriften«), 400. Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte 155 diese Notwendigkeit im Objekt behauptet werden könne. Das erste Beispiel, das in Schellings Brief das Wichtigste sein dürfte, geht von der Notwendigkeit aus, „Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unterscheiden.“ 29 Der Grund dieser Unterscheidung ist subjektiv und liegt im endlichen Erkenntnisvermögen, das, wie Eckart Förster ausführt, mit Denken und Anschauen „zwei heterogene, aber aufeinander bezogene, Erkenntnisstücke“ voraussetzt; „was sinnlich gegeben ist, ist wirklich; was nicht gegeben ist, aber ohne Widerspruch gedacht werden kann, ist möglich.“ 30 Daß dieser Unterschied im Subjekt und nicht im Objekt liegt, leuchtet für Kant „aus der unablaßlichen Forderung der Vernunft ein, irgend ein Etwas (den Urgrund) als unbedingt nothwendig existirend anzunehmen, an welchem Möglichkeit und Wirklichkeit gar nicht mehr unterschieden werden sollen, und für welche Idee unser Verstand schlechterdings keinen Begriff hat“. 31 Was gefordert ist, die Identität von Möglichkeit und Wirklichkeit, kann endliches Erkennen nicht fassen. Der Urgrund, bzw. Urheber, also Gott, ist dem endlichen Bewußtsein eine Idee der Subjektivität, über deren objektive Realität kein theoretisches Wissen möglich ist. Förster verweist erläuternd auf das Kapitel »Von dem transzendentalen Ideal« in der »Kritik der reinen Vernunft«, wo Kant ausführt, daß „für alle Dinge der Erfahrung ein ‚transzendentales Substratum‘ als ‚Inbegriff aller Möglichkeit‘ gedacht werden muß, d.h. ein All der Realitäten (omnitudo realitatis), das den ganzen Stoff für alle möglichen Prädikate der Dinge enthält und damit deren durchgängige Bestimmung überhaupt möglich macht (A 575f.).“ 32 Auf Kants Lehrstück vom transzendentalen Ideal weist der Dialog hin, wenn Bruno Übereinstimmung mit Lucian bezüglich der Bestimmtheit des Endlichen behauptet: „Das Endliche aber, sagtest du, sey als dieses nothwendig immer ein Bestimmtes, und als dieses Bestimmte bestimmt durch ein anderes Endliches, welches wiederum durch ein anderes, und so fort ins Unendliche.“ 33 Das Endliche, das durch den Begriff erkannt wird, ist ein Begrenztes, Bestimmtes; es wird ja definiert, wörtlich übersetzt: begrenzt. Etwas einen 29 »KU«, 340. »Schriften« V, 401 (Anm 28). 30 Förster, E., »Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie (= Förster)«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), 172. 31 »KU«, 341. Schriften, 402 (Anm. 28). 32 Förster, E., 174 (Anm. 30). 33 SW IV, 247. 156 Wilhelm G. Jacobs Begriff zuschreiben, heißt, es prädizieren. Wenn aber die Prädikation sich als ein Bestimmen eines Endlichen, das selbst durch eine unendliche Fülle von Bestimmungen bestimmt ist, zeigt, so setzt sie diese unendliche Fülle voraus. Jede Bestimmung setzt also ausnahmslos diese unendliche Fülle voraus. Von Kants Lehre vom transzendentalen Ideal sagt Schelling am Ende seines Lebens, daß an diese „die spätere Entwicklung [der Philosophie] sich als eine nothwendige Folge anschloß.“ 34 Es geht in diesem Lehrstück um Prädikation; diese bedeutet nicht formelle, kategoriale Ordnung, sondern Zusprechen von Realität, bzw. wie Kant sagt, von „Sachheit“. 35 Negationen beziehen sich stets auf Realitäten. Diese also sind die Bedingung der Möglichkeit von Prädikation. Daher enthalten die Realitäten „die Materie oder den transscendentalen Inhalt zu der Möglichkeit und durchgängigen Bestimmung aller Dinge.“ 36 Kant kann, wie Schelling dann aufgreift, argumentieren, Prädikation setze den Inbegriff aller Möglichkeit, anders alles Begreifens, voraus. Diese Idee von einem All der Sachgehalte ist also die Bedingung der Möglichkeit jeder Prädikation, damit zugleich Prinzip jeder Erkenntnis. Dieses Prinzip muß, wenn es denn Prinzip, oder besser: letzte Bedingung der Möglichkeit sein soll, Einheit sein, zugleich aber differenzierte Prädikation ermöglichen. Die Frage ist somit die nach der Einheit und dem Gegensatz in dieser Idee. Was hier different ist, sind Begriffe, nicht wirkliche Dinge. Nun sind Begriffe gegenüber den unendlich vielen Dingen, die sie bezeichnen, unverändert ewig. Sie ermöglichen die Prädikation, sind also Möglichkeiten der Behauptung von Wirklichkeiten. Als solche Möglichkeiten unendlicher Bestimmung des Endlichen sind sie im Absoluten, weil sie die, wenn auch niedere Weise der Unendlichkeit an sich haben. Als endlich aber haben sie ihre Möglichkeit in dem, was jeweils außer einem jeden ist. Sie sind also engstens verbunden. Nun ist gemäß § 76 der »Kritik der Urteilskraft« im Urgrund, bzw. im transzendentalen Ideal Möglichkeit und Wirklichkeit eines. Schelling denkt mit Kant die Idee einer Einheit, welche die angeführten Gegensätze von Möglichkeit und Wirklichkeit, und das heißt in eins damit zugleich die von Denken und Anschauen, Idealität und Realität sowie Un- 34 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Mythologie«, SW XI (1856), 283, Anm. 35 »KrV«, A 574, B 602. 36 »KrV«, A 575, B 603. Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte 157 endlichem und Endlichem in sich begreift. Diese Idee vereinigt konsequent auch die Gegensätze von Einheit und Gegensatz. Schelling fährt denn auch in seinem Brief unmittelbar nach dem Hinweis auf Kant fort: „Da diese absolute Identität des Denkens und Anschauens das höchste Princip ist, so ist sie, wirklich als absolute Indifferenz gedacht, nothwendig zugleich das höchste Seyn; anstatt daß das endliche und bedingte Seyn […] immer eine bestimmte Differenz des Denkens und Anschauens ausdrückt.“ 37 Kant betont in der ersten wie in der dritten Kritik, daß Ideen objektive Realität weder zunoch abgesprochen werden kann. Was berechtigt Schelling nun, über die von Kant erklärte Grenze hinauszugehen? Folgen wir einem Hinweis von Förster, nämlich auf Jacobis »Spinozabüchlein«. 38 Dieser „hatte den Gedanken Kants benutzt, um den Begriff der einen Substanz Spinozas durch den Gedanken von einem Sein zu ersetzen, das allem Dasein zugrunde liegt und von dem deshalb nicht gedacht werden könne, daß es sich dabei um eine bloße Möglichkeit, einen Gedanken ohne Wirklichkeit handle. Diesem Sein mußte deshalb die modale Bestimmung der Notwendigkeit zukommen“. 39 Mit Spinoza bringt Schelling den Paragraphen 76 der »Kritik der Urteilskraft« schon an der zitierten Stelle der Schrift »Vom Ich« in Verbindung: „Spinoza wollte, daß im absoluten Princip Mechanism und Teleologie [causa efficiens und finalis] als in derselben Einheit [der absoluten Substanz] befaßt gedacht werden.“ Dies mußte ihm, da er das Absolute als Objekt dachte, mißlingen, so daß Kant mit Recht sagt, „der Spinozism leiste nicht, was er wolle.“ 40 Kant gesteht nämlich Spinoza zu, daß er „einen Erklärungsgrund der Zweckverknüpfung (die er nicht läugnet) der Dinge der Natur angeben“ 41 wolle, dies aber nicht leisten könne, da er die Möglichkeit der Zwecke einem Urwesen inhärieren lasse, in Schellings Worten ausgedrückt: das Absolute als Objekt dachte. 37 Fichte, J. G., GA III, 5, 81 (Anm. 5). 38 Jacobi, F. H., »Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (= Jacobi)«, Breslau 1785, ²1789, in: F. H. Jacobi Werke. Gesamtausgabe, hg. v. K. Hammacher und W. Jaeschke, Hamburg. Bd. 1,1., hg. v. K. Hammacher und I.-M. Piske, 1998, vgl. 93. 39 Förster, 174 (Anm. 30), A 575f. = B 603f. Inbegriff aller Möglichkeit siehe A 573, B 601. 40 »Vom Ich«, AA I,2, 175. (= SW I, 242.) Kants Äußerung steht in § 73 der »KU«, 325 (»Schriften« V, 393). Vgl. AA I, 2, 314. 41 »KU«, 325, »Schriften« V, 393 (Anm. 28). 158 Wilhelm G. Jacobs Wenn Spinoza scheiterte, weil er das Absolute als Objekt dachte, dann kann man das Absolute nicht als Objekt denken. Objekt denken, heißt Subjekt denken, ein Gegensatzpaar also. Folglich ist das Absolute auch nicht als Subjekt zu denken. Es ist somit von beiden, vom Objekt, aber auch vom Subjekt zu abstrahieren. So heißt es denn auch im § 1 der »Darstellung meines Systems der Philosophie«, die dem zitierten Brief vorangeht: „Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird.“ Schelling erläutert, um die Vernunft „als absolut zu denken, […] muß vom Denkenden abstrahirt werden. Dem, welcher diese Abstraktion macht, hört die Vernunft unmittelbar auf etwas Subjektives zu seyn, […] ja sie kann selbst nicht mehr als etwas Objektives gedacht werden […]; sie wird also durch jene Abstraktion zu dem wahren Ansich, welches eben in den Indifferenzpunkt des Subjektiven und Objektiven fällt.“ 42 Wenn man dem entgegnen wollte, man könne ja gar nicht vom Abstrahieren abstrahieren, da man es ja damit gerade vollziehe, so ist diesem Einwand zwar nicht zu widersprechen, aber zu bezweifeln, ob er Schellings Theorem trifft. Vom Denken zu abstrahieren heißt von jeder Differenz zu abstrahieren. Fichte wird diesen Gedanken in der erwähnten »Wissenschaftslehre von 1804« durchführen. Es bleibt in Schellings Sprache Indifferenz. Dieser Begriff ist nicht als Negation von Differenz zu verstehen. Würde er als Negation verstanden, so wäre ja die Differenz wieder gesetzt. Also denkt Schelling das Absolute als Einheit, die keinen Gegensatz ausschließt, vielmehr alle vereinigt. Das Denken der Indifferenz kann nicht so gedacht werden, daß das Denken außerhalb der Indifferenz wäre. Fichte denkt 1804 die Negation des Begriffs, bzw. der Differenz. Schelling meidet diese Negation, welche die Differenz wieder setzt. Er denkt die Einheit als die aller Gegensätze, in der somit das Denken von Einheit und Gegensatz selbst aufgehoben ist. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit schlechthin jeder Entgegensetzung. Die durch das abstrahierende Denken gesetzten Differenzen sind damit eingeschlossen. Bei dieser Konzeption greift Schelling auf Überlegungen aus dem Jahr 1794 zurück, die in seinem Text »Timaeus« erhalten sind. Michael Franz ist zuzustimmen, wenn er schreibt, „daß Schelling bei der Erneuerung seines philosophischen Ansatzes, die durch die zutage getretenen Diffe- 42 Schelling, F. W. J., »Darstellung meines Systems der Philosophie. 1801«, SW IV, 114f. Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte 159 renzen zur Fichte’schen Philosophie nötig geworden ist, auf Gedankengänge zurückgreift, die er vor der ersten Beeinflussung durch Fichte, auf der Basis seiner Bestrebungen, die Kant’sche und Platonische Philosophie zu amalgamieren, schon angebahnt hatte“. 43 Hermann Krings hatte schon zuvor auf die Nähe des »Bruno« zu dem »Timaeus« und auf die in beiden Texten, nämlich SW IV, 242 und 35f., fast völlig gleichlautende Paraphrase von »Philebos« 15 d8-e3 hingewiesen. 44 Unmittelbar nach dieser Stelle im »Bruno« fährt Schelling mit einer weiteren Paraphrase, nämlich von Phil. 16 c5-7, die auch ihre Parallele im »Timaeus« hat, fort: „Diese Form ist eine Gabe der Götter an die Menschen, die zugleich mit dem reinsten Feuer des Himmels Prometheus auf die Erde brachte.“ Im »Timaeus« heißt es: „Diese Form ist eine Gabe der Götter an die Menschen, die ihnen einst durch Prometheus zugleich mit dem reinsten Feuer des Himmels zugesandt wurde.“ 45 Kein Zweifel, Schelling hat gerade an dieser Stelle auf sein altes Manuskript und damit auf seine alten Überlegungen zurückgegriffen. Die Erinnerung an Platon steht dort, wo Bruno vom „Gegenstand der Betrachtung“ sagt, er sei „der einzige der philosophischen Betrachtung würdige“, und fortfährt: „denn ist es nicht offenbar, daß die Neigung, das Unendliche in dem Endlichen und hinwiederum dieses in jenem zu setzen, in allen philosophischen […] Untersuchungen herrschend ist? “ 46 Schelling hatte zuvor das Unendliche und Endliche ja als Momente der Erkenntnis dem Begriff und der Anschauung zugeordnet. Beide Momente sind für jede Erkenntnis konstitutiv, und zwar so, daß beide nie ineinander übergehen, also strikt unterschieden sind und bleiben, aber notwendig in dieser Unterschiedenheit zusammengehören. Eben diese Zusammengehörigkeit liest Schelling auch an der zweiten hier zitierten »Philebos«-Stelle. In »Timaeus« übersetzt er weiter: „Deßwegen auch die Alten […] uns die Sage hinterlaßen haben, daß aus Einheit u. Mannigfaltigkeit (Vielheit) alles […] entstand, indem er das Uneingeschränkte ( ἀπείρον , Allgemeine) u. die Gränze ( το πέρας , die Einheit) in sich vereinigte: daß also auch wir […] von jedem Gegenstand Eine Idee voraus- 43 Franz, M., »Schellings Tübinger Platon-Studien«, Göttingen 1969, 269. Vgl. Exkursion zu »Bruno«, 262-269. 44 Vgl. Krings, H., »Genesis und Materie. - Zur Bedeutung der »Timaeus«- Handschrift für Schellings Naturphilosophie«, in: F. W. J. Schelling, Timaeus (1794), hg. v. H. Buchner, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1994, 146. 45 Schelling, F. W. J., »Timaeus«, 36. 46 SW IV, 242. 160 Wilhelm G. Jacobs sezen […] sollen.“ 47 Zu dem Wort „voraussezen“ setzt Schelling folgende Fußnote: „Eben diß ist die Hauptsache. Wir müßen bei allen unsern empirisch-logischen Untersuchungen schon eine allen Gegenständen zu Grund liegende lezte Idee voraussezen um sie aufsuchen zu können - nach Plato also voraussezen, daß im göttlichen Verstande eine solche vorhanden sei, die bei Hervorbringung der einzelnen Gegenstände zu Grunde gelegen habe.“ 48 Von diesen Ideen spricht Platon gemäß Schellings Auslegung „immer als Ideen eines göttlichen Verstandes“. 49 Hermann Krings resümiert: „Die reinen Formen haben ihren Ort im göttlichen Verstand.“ 50 Weiter interpretiert Krings: „Die Idee ist von ganz anderer Art als Seiendes, das existiert. Sie ist rein νοητόν […]. Dies entspricht nach Schelling ganz dem, was Kant unter reiner Vernunft versteht.“ 51 Genauer gesagt, der göttliche nous, in dem die Ideen eins sind, entspricht dem transzendentalen Ideal Kants, insofern die omnitudo realitatis die Totalität aller denkbaren Sachgehalte umfaßt. Eine nicht eindeutig zu interpretierende Stelle, die im »Timaeus« auf die angeführten »Philebos«-Zitate folgt, verweist weiter: „Die Idee von Verbindung der Einheit u. der Mannigfaltigkeit oder Vielheit ist 1ne bei Plato durchaus herrschende Idee“. 52 Eben diese Verbindung ist der Grund für die Weltentstehung, da die Welt gemäß dieser Idee geworden ist. Ob das im »Bruno« verhandelte Problem hier schon gemeint ist, muß offen bleiben; man wird vielleicht sagen können, daß es sich hier andeute. Der Dialog jedenfalls behauptet die notwendige Zusammengehörigkeit der nicht aufeinander reduzierbaren und nicht in einander übergehenden Momente: Denken, Allgemeines, Unendliches, Differenzloses, ἀπείρον einerseits und andererseits Anschauen, Besonderes, Endliches, Differentes, πέρας . Um deren Einheit geht es, bevor Schelling seine Erinnerungen an »Timaeus« einfügt. Die „Einheit des Anschauens und Denkens“ wird, wie oben schon angeführt, „eine hohe und vortreffliche Idee“ 53 genannt. In der endlichen Erkenntnis sind diese Momente getrennt. Als Ermöglichung dieser endlichen Erkenntnis muß aber dasje- 47 Schelling, F. W. J., »Timaeus«, 36; vgl. Phil. 16 c7-d2. 48 Ebd., 36 Anm. H. 49 Ebd., 37 Anm. I. 50 Krings, H., 123 (Anm. 44). 51 Ebd., 125. 52 Schelling, F. W. J., »Timaeus«, 36. 53 SW IV, 241 . Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte 161 nige gedacht werden, „in welchem durch das Allgemeine auch das Besondere, durch den Begriff auch die Gegenstände gesetzt und bestimmt werden, so, daß in ihm selbst beides ungetrennt ist“. 54 Bruno will „zwischen Denken und Anschauen eine solche Einheit setzen, daß, was in dem einen, nothwendig auch in dem anderen ausgedrückt, und beide nicht bloß in einem Dritten, sondern an sich und vor der Trennung Eins, und nicht sowohl zugleich, als vielmehr auf völlig gleiche Weise die Eigenschaften alles anderen seyen, was aus der Vortrefflichkeit jener Natur hervorgeht, die an sich nicht das eine oder das andere, auch nicht beides zugleich, sondern die Einheit davon ist.“ 55 Die von Schelling konzipierte Einheit hat die Aufgabe, die im endlichen Bewußtsein differenten und nicht aufeinander reduzierbaren, wohl aber notwendig aufeinander bezogenen Momente zu erläutern. Diese Einheit kann nicht so gedacht werden, daß sie dem endlichen Bewußtsein gegenüber steht; dann wäre man wieder in den fixen Gegensatz von Einheit und Differenz gefallen. Daher kann diese Einheit auch nicht das endliche Bewußtsein begründen; dann stünde sie ihm wiederum gegenüber. Das endliche Bewußtsein kann also nur „in“ der Einheit sein, wie schon Spinoza die Modi in der Substanz gedacht hatte. 56 Schelling führt seine Reflexion an einen Punkt, wo das unterscheidende endliche Bewußtsein, alias der Verstand, keinen Boden mehr findet. Bruno kann ja auch die Einheit nicht benennen, er kann sie nur inadäquat aussprechen, da er sich ja selber, wie zuletzt zitiert, der Negationen bedient wie z.B. „nicht das eine oder das andere, auch nicht beides zugleich“; er kann auf diese Einheit, welche das Bewußtsein übersteigt, eben weil sie es übersteigt, nur hinweisen. Der Verstand kann diese Einheit nicht fassen, weil er, der nur Endliches zu fassen vermag, sich zu dem, was von dieser Einheit gedacht werden muß, umgekehrt verhält. In jener Einheit, die Schelling das Absolute, gelegentlich auch Gott nennt, sind ja die für den Verstand getrennten Endliches und Unendliches etc. eines. Im Verstand tritt diese Einheit auseinander, indem der Begriff die Möglichkeit von Wirklichkeit enthält, die Wirklichkeit aber im Endlichen und Begrenzten gesehen 54 Ebd. 55 SW IV, 241f. „Eins“ statt SW „eins“ korrigiert nach Durner, M., 31 (Anm. 2). 56 Zu Schellings Verständnis von Spinozas Philosophie siehe in der »Freiheitsschrift«, SW VII, 338-350. 162 Wilhelm G. Jacobs wird. Wo Grenze und Endlichkeit sind, erscheint dem Verstand Wirklichkeit, wo Unendlichkeit, bloße Möglichkeit. So erscheint „im endlichen Verstande, verglichen mit der höchsten Idee […], alles umgekehrt und wie auf den Kopf gestellt“. 57 Daher sind die Begriffe des Verstandes „in Ansehung der höchsten Idee ohne alle Bedeutung“. 58 Schelling greift hier Kants Gedanken aus dem § 76 der »Kritik der Urteilskraft« auf, daß die Unterscheidung von Möglichem und Wirklichem „bloß subjectiv für den menschlichen Verstand gilt“ 59 , andererseits aber die Vernunft fordere, einen Urgrund, für den diese Unterscheidung nicht gelte, anzunehmen. 60 Wenn auch der menschliche Verstand nur derart unterscheidend erkennen könne, so beweise dies nicht, „daß dieser Unterschied in den Dingen selbst liege.“ 61 Kant relativiert also die menschliche, Schelling wird sagen: endliche Erkenntnis auf den Menschen. Gegenüber einem göttlichen, unendlichen Erkennen kann das menschliche keine absolute Wahrheit beanspruchen, wenngleich es die Idee eines solchen Erkennens fassen muß; denn nur eine solche Idee läßt überhaupt das endliche Erkennen als relativ einsehen. Schelling behauptet folglich von der höchsten Idee, sie sei „allein wahr“ und „das höchste Maß der Wahrheit“; „absolut wahr“ sei nur, „was in Ansehung dieser Idee wahr ist, […] relative […] Wahrheit[en] […], welchen in Ansehung dieser Idee keine Wahrheit zukommt.“ 62 Endliches Erkennen kann sich seiner Endlichkeit nur versichern angesichts der höchsten Idee, welche Philosophie zu diesem Behuf bedenken muß. Vor allem aber ist der Begriff des Nichtseins und damit auch des Unmöglichen im Absoluten nicht denkbar. „Denn der Begriff des Nichtseyns setzt ein Denken voraus, das nicht in der Anschauung ausgedrückt ist, welches im Absoluten unmöglich ist, weil in Ansehung seiner, was in dem einen, unmittelbar auch in dem andern ausgedrückt seyn muß“. 63 Sein und Bewußtsein, oder besser: Sein und Vernunft sind im Absoluten eins. Es versteht sich, daß ebenfalls das Auseinanderfallen in der Zeit für das Absolute undenkbar ist. 57 SW IV, 244. 58 Ebd. 59 »KU«, 340, »Schriften« V, 402 (Anm. 28). 60 Vgl. »KU«, 341, »Schriften« V, 402. 61 Ebd. 62 SW IV, 243. 63 Ebd., 245. Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte 163 Die Einheit des Absoluten kann Bruno nur durch eine Analogie aussprechen, nämlich durch die Analogie zum Organismus. Dieser kann als Abbild des urbildlichen Absoluten verstanden werden. Im »System des transscendentalen Idealismus« hatte Schelling schon geschrieben: „Der Grundcharakter der Organisation ist, daß sie aus dem Mechanismus gleichsam hinweggenommen, nicht nur als Ursache, oder Wirkung, sondern, weil sie beydes zugleich von sich selbst ist, durch sich selbst besteht.“ 64 Wechselwirkung ist somit, wie Schelling in § 65 der »Kritik der Urteilskraft« lesen konnte, der erste Begriff, durch den ein Organismus gedacht werden muß. Im nächsten Paragraphen hatte er dann lesen können: „Ein organisirtes Product der Natur ist das, im welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“ 65 Auf diesem Hintergrund versteht man, daß Schelling die causa efficiens nicht einlinig auf das Absolute angewandt wissen will. Das Verhältnis von Endlichem zu Endlichem im Absoluten ist „das, welches der Theil eines organischen Leibes zu den andern einzelnen hat; nur daß jene Verknüpfung des Endlichen mit dem Unendlichen im Absoluten unendlich vollkommener ist als die in einem organischen Leib“. 66 Dieser Begriff des Organismus ist zugleich der des Systems, wie ebenfalls schon Kant gelehrt hatte. 67 Schelling nennt dieses System „das wahre Universum“ und hört in diesem lateinischen Wort die ursprüngliche Bedeutung: in eins gewendet; in dieser unendlichen Fülle ist nichts „außer dem anderen, getrennt, alles absolut eins und ineinander“. 68 Insofern ist es die Einheit des durchgängigen Lebens einer Idee, welche sich gliedert, ohne in Differenzen zu zerfallen. Von der durch Schelling entwickelten Position der Indifferenz aus erscheint Fichtes Wissenschaftslehre defizitär. Sie zeigt keine Einheit, die imstande wäre, alle Gegensätze, auch den von Einheit und Gegensatz selbst, zu begreifen. Daher ist es nach Schelling nötig, Indifferenz als Anfang der Philosophie zu denken. 64 Schelling, F. W. J., »System des transcendentalen Idealismus«, AA I, 9.1, hg. v. H. Korten und P. Ziche, Stuttgart 2005, 192; vgl. SW III, 495. Auf diese Stelle verweist Durner, M., (Anm. 30), 133f. (Anm. 2). 65 »KU«, 295f., »Schriften« V, 376 (Anm. 28). 66 SW IV, 250. „den andern einzelnen“ statt SW „dem andern Einzelnen“ korrigiert nach Durner (Anm. 2). 67 Vgl. »KrV«, A 833, B 861 (vgl. FN 34, 35 u. 84). 68 SW IV, 251. „Eins“ statt SW „eins“ korrigiert nach Durner (Anm. 2). 164 Wilhelm G. Jacobs 2. Kann das Ich als Prinzip gedacht werden? Bruno hat, wie Lucian zugibt, die Idee, welche Lucian als Prinzip aufgestellt hatte, in ihrem höchsten Sinn genommen, nämlich als Idee des Absoluten, „aber so,“ wendet Lucian ein, „daß jene Einheit aufhört Princip des Wissens zu seyn, und eben dadurch auch […] der Philosophie, welche die Wissenschaft des Wissens ist.“ 69 Ganz Fichtisch argumentiert Lucian weiter, Bruno übersehe, „daß wir die Einheit zwar, sofern sie Princip des Wissens ist, als absolut, aber als absolut eben nur in ihrer Beziehung auf das Wissen selbst wissen, und als Princip des Wissens erkennen.“ 70 Auf diesen Einwand hin einigt sich Bruno zunächst mit Lucian: „Das Wissen als Einheit des Denkens und Anschauens ist Bewußtseyn.“ 71 Dies ist gemäß dem schon Angeführten so zu verstehen: Denken vollzieht sich in Begriffen, welche unendliche Möglichkeiten für Realitäten, die in der Anschauung erscheinen, darstellen. Bewußtsein ist somit Einheit von Idealität (Denken) und Realität (Anschauen). „Das Princip aber des Bewußtseyns ist dieselbe Einheit, nur rein oder absolut gedacht; sie ist das absolute Bewußtseyn, jenes dagegen ist das abgeleitete oder begründete Bewußtseyn.“ 72 Im abgeleiteten Bewußtsein ist die Einheit zwar dieselbe wie im absoluten, jedoch nicht rein und absolut, sondern relativ. Ist nämlich das absolute Bewußtsein eines, bzw. indifferent, so müssen im relativen Bewußtsein im Unterschied zum absoluten dessen Momente unterscheidbar sein; Idealität und Realität treten auseinander und sind im Bewußtsein unterschieden. Wenn allerdings diese beiden Momente aus der ursprünglichen Einheit im absoluten Wissen her zu verstehen sind, so können sie nicht schlechterdings getrennt sein, sondern nur in Beziehung zueinander unterschieden sein; das eine hat das andere an sich, keines ist ohne das andere. Wären sie schlechterdings getrennt, so ließe sich kein Übergang vom Sein zum Wissen und umgekehrt erklären. Damit ist das Wissen ebenso wie das ihm gegenüberstehende Sein eine relative Einheit von Idealität und Realität. Bruno schließt daraus: „Keine von beiden Einheiten kann also das Princip der andern seyn.“ 73 Ausführlich formuliert Bruno: „Es 69 SW IV, 252. 70 Ebd., 253. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd., 256. Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte 165 ist […] kein Grund, die absolute Einheit vorzugsweise als Princip der einen von beiden relativen Einheiten zu betrachten, z.B. des Wissens, und in der auf diese Weise betrachteten Einheit die relativen Gegensätze aufzuheben, denn sie ist gleiches Princip beider“. 74 Kurzum, das Ich kann nicht das Absolute selbst sein. Wenn die absolute Einheit wirklich absolut gedacht wird, kann sie nicht an etwas gebunden sein. Daher hält Bruno Lucian entgegen, er werde erst dann glauben, daß „du“ die absolute Einheit „wahrhaft an sich erkennest und die intellectuelle Anschauung von ihr habest, wenn du sie auch von der Beziehung auf das Bewußtseyn befreit haben wirst.“ 75 Schelling formuliert an dieser Stelle keine explizite Auseinandersetzung mit Fichte; wir unsererseits können sie etwa so formulieren. Das Absolute kann nicht festgelegt werden, eben weil es absolut ist. Wenn es im Wissen erscheint, so erscheint es, weil es sein Wesen ist zu erscheinen. Es unterscheidet sich aber, wenn es im Wissen erscheint, vom Wissen. Da das Absolute von Fichte als strikte Einheit gefaßt ist, muß im Wissen Differenz gedacht werden. Eine solche Differenz reißt das Wissen nicht auseinander, wenn denn Erkenntnis sein soll, vielmehr ist eine solche Differenz nur als die einer Einheit zu denken. Die Momente sind somit relativ zueinander. Die ersten im Wissen identifizierbaren Momente sind Idealität und Realität. Das Wissen des Absoluten und das relative Wissen sind unterschieden. Die Momente Idealität und Realität sind solche, in denen das Absolute erscheint. Würde es in einem der beiden nicht erscheinen, wäre kein Wissen möglich. Dieses Moment müßte absolut getrennt vom Absoluten gedacht werden, damit als ein zweites Absolutes. Ein solches ist aber nicht denkbar. Die Momente müssen daher aufeinander bezogen sein, das heißt aber, in der Idealität muß Realität erscheinen und umgekehrt. Wenn Fichte die Realität vom Wissen soweit trennt, daß an dieser nichts Ideales mehr sein solle, so trennt er damit auch das Reale vom Absoluten und in Konsequenz auch vom Idealen. Wissen ist dann nicht möglich. - So etwa wäre Schellings Kritik zu formulieren. Damit ist Lucian aber noch nicht geschlagen. Den Gegensatz von Idealität und Realität gibt er zu, nennt aber seine Lehre Idealismus, „nicht weil sie das Reelle von dem Ideellen bestimmt [seyn läßt], sondern weil 74 Ebd. 75 Ebd. 166 Wilhelm G. Jacobs sie den Gegensatz beider selbst bloß ideell seyn läßt.“ 76 Mit anderen Worten: Dieser Gegensatz ist einer des Bewußtseins, nur im Bewußtsein kann Reales und Ideales unterschieden werden. Das sieht auch Bruno ein; er muß also gegen Lucian zeigen, daß dieser Gegensatz nicht ein bloß ideeller ist. Wenn er dies nicht ist, wenn er kein Gegensatz bloß des Wissens selbst ist, so ist er vom Absoluten her zu verstehen. Bruno sieht sich infolgedessen von Lucian aufgefordert, zu zeigen, wie das Heraustreten des Gegensatzes aus dem Ewigen „als nothwendig eingesehen werden könne“. 77 Bruno geht darauf zurück, daß das Absolute selbst als höchste Einheit „das zeitlos gegenwärtige und unendliche Endliche“ bei sich hat, „beide als Ein Ding, selbst nur im Erscheinenden unterscheidbar und unterschieden“. 78 Das Absolute selbst hat als absolute Einheit in sich keine Veränderung, wie etwa einen Willensentschluss zur Schöpfung. Das Absolute als unbewegt zu denken, hatte Spinoza gelehrt und Jacobi hatte, Spinoza interpretierend, vom Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen gesagt: „Von Ewigkeit her ist also […] das Endliche bey dem Unendlichen gewesen“. 79 Dem gemäß kann Bruno nicht vom Absoluten aus argumentieren, vom Endlichen ebensowenig aus; denn das Endliche selbst ist zu erklären; es kann sich nicht selbst hervorbringen. Indem Schelling auf Spinozanische Gedanken zurückgeht, hat er die Schwierigkeit, dem Atheismusvorwurf zu entgehen - er wird ihn 1812 doch treffen - und Freiheit - „das A und O aller Philosophie“ 80 - zu behaupten. Um dies zu leisten, muß er das Absolute unbewegt denken, das Endliche beim Absoluten, aber nicht schlechterdings identifiziert mit diesem begreifen. Hervorgehen kann also nur etwas, wo eine Differenz zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit ist, also aus der Indifferenz. In ihr können keine reellen Unterschiede gedacht werden, wenn sie denn Indifferenz sein soll. Andererseits kann sie auch nicht pure Identität sein. Differenzen sind also in ihr nur ideell zu denken. Hier liegt „wie in einem unendlich fruchtbaren Keim das Universum mit dem Ueberfluß seiner Gestalten, dem Reichthum des Lebens und der Fülle seiner […] Ent- 76 Ebd., 257. 77 Ebd. 78 Ebd., 258. 79 Jacobi, F. H., »Ueber die Lehre des Spinoza«, Werke 1, 1, 94. 80 Schelling, F. W. J., »Brief an Hegel vom 4. Februar 1795«, AA III, 1, hg. v. I. Möller und W. Schieche, Stuttgart 2001, 22. Vgl. »Vom Ich« AA I, 2, 101. Schellings Konzeption des Absoluten in Absetzung von Fichte 167 wicklungen“. 81 Ein Keim entfaltet sich aus sich selbst. Wenn Freiheit und Selbständigkeit gedacht werden sollen, so muß die Indifferenz die differenten Gestalten „so enthalten, daß für sich selbst jedes aus ihr sich ein eignes Leben nehmen, und, ideell zwar, in ein unterschiedenes Daseyn übergehen kann.“ 82 Die Gedankenkonstruktion wäre dann so zu verstehen, daß das All der Realität, weil es beim Absoluten ist, an dessen unbegrenzter Spontaneität teilhat, kraft deren ein jedes sich das eigene Leben nehmen kann, wie das Absolute sein eigenes Leben hat. Diese Interpretation wird bestätigt durch eine von K. F. A. Schelling wiedergegebene Bemerkung in Schellings Handexemplar der »Darstellung meines Systems der Philosophie«, welche im Mai 1801 gedruckt vorlag, 83 so daß es durchaus möglich ist, daß Schelling diese Bemerkung zur Zeit der Niederschrift des »Bruno« eingetragen hat. Dort wird als Prinzip der Individuierung das Selbstbewußtsein genannt und das Ich darin als „selbstthätig“ bezeichnet. Es heißt ferner: „Was sich absondert, sondert sich nur für sich ab, nicht in Ansehung des Absoluten. Dieß ist freilich am klarsten an dem höchsten Absonderungsakt, dem Ich. Ich bin nur dadurch, daß ich von mir weiß, und unabhängig von diesem Wissen überhaupt nicht als Ich. Das Ich ist sein eignes Thun, sein eignes Handeln.“ 84 Mit dem Gesagten ist garantiert, daß jedes Einzelne sowohl für sich ist, wie auch im Zusammenhang aller steht. Dieser Zusammenhang wird um so deutlicher, je mehr ein Endliches sich abgesondert hat, oder anders: im Maße der Absonderung wächst die Notwendigkeit des Zusammenhanges. Am meisten abgesondert ist das Bewußtsein, damit auch am tiefsten mit dem Universum verbunden. Es versteht sich, daß in dieser Konstruktion sich - Spinozanisch gesagt: das Ewige im Endlichen ausdrückt, Kantisch gesprochen, sich alles Endliche als ektypon zum Prototypon, zum Urbild, verhält. 85 Demnach ist an allem Endlichen die im Unendlichen eingezogene Unterscheidung von Realität und Idealität, die nicht erlaubt, sie radikal zu trennen. Daher kann Schelling als die „Eine Formel […] für die Erkenntniß aller 81 SW IV, 258. 82 Ebd. 83 Vgl. »Briefe Schellings an Fichte vom 15. u. 24. Mai 1801«, GA III, 5, 35 u. 39. 84 SW IV, 167. Durner verweist auf diese Stelle Anm. 41, 135 (Anm. 2). 85 »KrV«, A 578, B 606. 168 Wilhelm G. Jacobs Dinge“ formulieren, „daß jedes Ding mit dem relativen Gegensatz des Endlichen und Unendlichen sich absondere von der Allheit, in dem aber, wodurch es beide vereint, das Gepräge und gleichsam ein Abbild des Ewigen an sich trage“. 86 Wissen und Sein können daher nicht so getrennt werden, daß dem Ich das Wissen, dem Nicht-Ich das tote Sein zukommt. Vielmehr gilt: „Die Gesetze […] alles Endlichen lassen sich ganz allgemein aus jener relativen Gleichheit und Entgegensetzung des Endlichen und Unendlichen einsehen, welche zwar, wo sie lebendig ist, Wissen heißt, in ihrem Ausdruck aber an den Dingen der Art nach dieselbe ist, welche im Wissen [ist].“ 87 Schelling kritisiert Fichte, da dieser keine Indifferenz denke; daher könne er auch die Gegensätze nicht zureichend denken. Schelling selbst hat eine Konstruktion entworfen, von der Werner Beierwaltes - wie hier von anderer Seite aus versucht wurde zu zeigen - mit Recht sagen kann, daß „für ihn das Unendliche als Indifferenz alles Gegensätzlichen sich selbst durchaus gegen die Welt bewahrt, selbst wenn es nicht ohne die Welt ist und diese nicht ohne das Absolut-Unendliche sein kann.“ 88 86 SW IV, 260. 87 Ebd. 88 Beierwaltes, W., 240 (Anm. 22). Johannes Brachtendorf Schelling, Fichte und der Streit um Spinoza 1. Spinoza und der metaphysische Monismus Keine andere philosophische Bewegung hat Spinoza so viel Ehre zukommen lassen, wie der deutsche Idealismus. Schleiermacher ruft 1799 in seinen Reden über die Religion aus: „Opfert mit mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen verstoßenen Spinoza! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe […].“ 1 Jacobi schreibt in seinem Brief an Fichte (1799): „Und sei du mir gesegnet, großer, ja heiliger Benedictus.“ 2 Schelling hält Spinoza im Jahre 1802 zugute, als erster und einziger Philosoph die „Idee aller Ideen“ gefasst zu haben. 3 Fichte beruft sich 1812 für den Fundamentalsatz der »Wissenschaftslehre« auf Spinoza: „In ihm, dem Einen, ist Alles, in ihm wird Nichts. […] So Spinoza, so wir.“ 4 Schelling schreibt noch 1831/ 32 in seiner »Philosophie der Offenbarung«: „Aber wenn man fragt, warum die Philosophie des Spinoza in allen Zeitaltern wirkte, und zwar nicht oberflächliche, sondern immer die tieferen Gemüter anzog, so kann man antworten: nichts als die[se] Idee der Alleinheit war der Grund; denn der Gedanke 1 Schleiermacher, F. D. E., »Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern«, hg. v. R. Otto, Göttingen 1967, 6. Aufl., 52. 2 Jacobi, F. H., »Jacobi an Fichte«, in: ders., Werke III, Darmstadt 1980, 1-57, hier: 46. 3 Schelling, F. W. J., »Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie« (1802), Sämmtliche Werke, hg. v. K. F. A. Schelling (= SW), IV, 373. 4 Fichte, J. G., »Wissenschaftslehre 1812«, in: Gesamtausgabe d. Bay. Akademie der Wissenschaften, hg. v. R. Lauth, E. Fuchs, H. Gliwitzky (= FGA), II, 13, Stuttgart 2002, 51. 170 Johannes Brachtendorf des Alleinigen war der Urgedanke, der wesentliche Gedanke der Menschheit.“ 5 In der Tat gehört Spinoza der monistischen Metaphysik-Tradition an, die sich von Parmenides über den Neuplatonismus, Meister Eckhart und Cusanus bis in den deutschen Idealismus verfolgen lässt, und selbst in der Gegenwart noch Interesse und Sympathie findet. 6 Diese Tradition, die im Aristotelismus ihren Widerpart findet, erklärt die natürliche Erfahrung der Welt als einer Vielheit von Dingen, die wechselseitig aufeinander bezogen sind, für vordergründig und scheinhaft. Die wahre Wirklichkeit sei anders: Sie sei eines, unbeweglich, unendlich, nicht von außen bestimmbar, von nichts anderem abhängig. Dem Schein der Pluralität, so die Grundthese dieser Tradition, liege als Wahrheit die All- Einheit zugrunde. Auch in Spinozas Substanz-Begriff ist die Kritik am aristotelischen Pluralismus deutlich zu erkennen. Während Aristoteles von einer virtuell unbegrenzten Zahl von Substanzen ausgeht, die auf ihre Arten und Strukturmerkmale zu untersuchen seien, behauptet Spinoza, es gebe nur eine einzige Substanz, und dies sei Gott. „Außer Gott kann es weder eine Substanz geben, noch kann eine begriffen werden.“ 7 Ein Blick auf seine Substanzdefinition zeigt, dass Spinoza Aristoteles hier nicht einfach widerspricht, sondern einen höheren Standpunkt anstrebt. Spinoza erklärt: „Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird, d.h. das, dessen Begriff nicht den Begriff eines anderen Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden.“ 8 Die beiden Merkmale des In-sich-Seins und Durch-sich-begriffen-Werdens treffen nur auf Gott zu, denn In-sich-Sein bedeutet, in seiner Existenz von keinem anderen abzuhängen, und Durch-sich-begriffen-Werden meint, dass kein anderer Begriff vorausgesetzt werden muss, um den Begriff dieser Substanz zu bilden. Aristoteles verwendet keines dieser beiden Kriterien für sein Substanz-Konzept. Das Einzelding, die ousia, ist dem 5 Schelling, F. W. J., »Urfassung der Philosophie der Offenbarung«, hg. v. W. E. Ehrhardt, 2 Bde., Hamburg 1992, 22. Vorlesung, Bd. 1, (= UPhO), 145. 6 Vgl. etwa »All-Einheit. Wege eines Gedankens in Ost und West« (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung; Band 14), hg. v. D. Henrich, Stuttgart 1985. Zu Henrichs Neukonzeption der monistischen Tradition vgl. Brachtendorf, J., »Subjektivität, Metaphysik, Religion - Dieter Henrichs Theorie der Religionen«, in: Theologie und Philosophie 78 (2003), 1-22. 7 Spinoza, »Ethica«, pars I, prop. XIV. 8 Ebd., def. III. Schelling, Fichte und der Streit um Spinoza 171 Entstehen und Vergehen unterworfen und daher selbstverständlich in seiner Existenz von anderem abhängig, und im Wissen um es, soweit es sich in der Definition der Art ausdrückt, der das Einzelding angehört, ist natürlich weiteres Wissen vorausgesetzt, nämlich dasjenige um den Gattungsbegriff und die spezifische Differenz. Spinoza lässt die ‚ousiai‘ des Aristoteles jedoch nicht als letzte, unhintergehbare Elemente der Wirklichkeit gelten und enthält ihnen daher den Namen ‚Substanz‘ vor. Substanz dürfe nur heißen, was in der Ordnung des Seins und des Wissens ein Erstes sei. Dies sei aber allein Gott, denn nur er existiere notwendig, nur er sei unendlich, unteilbar und einzig. Auch habe er nichts außer sich, nichts sei ihm transzendent, alles sei ihm immanent: „Alles was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein noch begriffen werden.“ 9 Dem Spinoza-Enthusiasmus der Idealisten traten allerdings auch kritische Töne zur Seite. Trotz aller Begeisterung galt ‚Spinozismus‘ besonders im Verein mit ‚Dogmatismus‘ als geradezu vernichtender Vorwurf, der in der polemischen Atmosphäre der Zeit auch schnell zur Hand war. In der »Wissenschaftslehre« 1794 beschuldigt Fichte Spinoza des Dogmatismus; in seinem bekannten Brief an Hegel aus dem Jahre 1795 verdächtigt Hölderlin Fichte, seinerseits spinozistisch und dogmatistisch zu denken; ab 1801 wirft Fichte Schelling Spinozismus vor; Schelling und Hegel wenden in ihrer Spätphase gegen Spinoza ein, er habe die Funktion von Subjektivität in seinem Substanzkonzept nicht ausreichend bedacht, während Fichte 1812 meint, Spinoza habe - ebenso wie Schelling und Hegel - den Begriff des Seins nicht scharf genug gefasst. Begeisterung und Kritik erklären sich vor allem durch das Erbe der Kantischen Vernunftkritik. Kant hatte versprochen, die Philosophie mit Hilfe der Kopernikanischen Wende auf „den sicheren Gang einer Wissenschaft“ 10 zu führen und eine Metaphysik zu konzipieren, die „als Wissenschaft wird auftreten können“. Daran anknüpfend lehnt Fichte den Namen ‚Philosophie‘ für seine Bemühungen als zu weich ab, und nennt sie ‚Wissenschaftslehre‘. 11 Die Kopernikanische Wende schließt aber eine Immanenz-These ein. Ontologische Grundbegriffe lassen sich Kant zufolge in ihrer objektiven und allgemeinen Gültigkeit nur dann 9 Ebd., prop. XV. 10 Kant, I., »Kritik der reinen Vernunft«, B VII; XXIII. 11 Fichte, J. G., »Über den Begriff der Wissenschaftslehre«, FGA I, 2, 117f. 172 Johannes Brachtendorf gegen den Skeptizismus verteidigen, wenn sie auf Gegenstände möglicher Erfahrung bezogen werden, die wiederum als Konstitutionsprodukte transzendentaler Subjektivität zu deuten seien. Damit werden die Gegenstände der Erfahrung dem Bewusstsein immanent, und nur wenn sie dies sind, genügt eine Analyse der Subjektivität um herauszufinden, wie Gegenstände immer und notwendigerweise sein müssen. Ein Immanenz-Gedanke war aber auch von Spinoza bereits artikuliert worden: „Alles was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein noch begriffen werden.“ 12 Für die Idealisten ergab sich aus dieser Parallele die Möglichkeit und die Aufgabe, Kants Immanenz der Erfahrungsgegenstände im Bewusstsein zu Spinozas Immanenz aller Dinge in Gott in Beziehung zu setzen. Schon bald nach Erscheinen der »Kritik der reinen Vernunft« nahm man Anstoß an Kants Dualismen: Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität, Ding an sich und Erscheinung. Vor allem das Konzept des Dinges an sich beurteilt Fichte früh als ein undurchdachtes und leicht weg zu analysierendes Hindernis auf dem Weg zur Wissenschaft. Kants transzendentales Ich wird so auf ein absolutes Ich hin weitergedacht, dem nichts mehr gegenübersteht, sondern das alle Wirklichkeit in sich fasst und aus sich entwickelt. Nach der Überzeugung Fichtes lässt sich der von Kant erhobene Rationalitätsanspruch nur auf der Basis einer Ein-Prinzipien-Lehre, also eines Monismus, einlösen. Hier konnte Spinoza, der neuzeitliche Repräsentant der monistischen Tradition, als Vorbild dienen. Die transzendentalphilosophische Wende zum Subjekt führt über den Immanenz- und Wissenschaftsgedanken zu einem Monismus des Ich, für den Spinoza mit seiner Lehre von der absoluten Substanz bedeutende Vorarbeit geleistet zu haben schien. Einer glatten Übernahme von Spinozas Begriff des Absoluten stand allerdings Kants Metaphysik-Kritik im Wege. Bekanntlich erlaubt Kant die Annahme transempirischer Entitäten nur dann, wenn sie sich als Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung von Gegenständen ausweisen lassen, wie dies etwa beim transzendentalen Ich selbst der Fall ist. Der traditionelle Begriff Gottes als des ‚ens realissimum‘, wie auch Spinoza ihn verwendet, genügt diesem Kriterium aber nicht. Allerdings lässt Kant auch eine praktische Rechtfertigung etwa der Existenz Gottes zu, insofern sie sich als Implikat des unbedingt geltenden Sittengesetzes er- 12 Spinoza, »Ethica«, pars I, prop. XV. Schelling, Fichte und der Streit um Spinoza 173 weisen lässt. Unmittelbar scheint aber auch dies nicht auf Spinoza anwendbar. In ihrer originalen Gestalt musste Spinozas Metaphysik also als vorkritisch und naiv gelten, weil sie die konstitutive Funktion von Subjektivität für alle Erkenntnis nicht bedacht habe. Für die Idealisten ergab sich daraus die Aufgabe, Spinozas Lehre von der absoluten Substanz auf dem Boden einer Philosophie der Subjektivität neu zu bedenken. Das Verhältnis von Subjektivität und Absolutheit avancierte zum zentralen Thema der Philosophie. 2. Die Frühzeit des Idealismus (1794-1796) - Spinoza als Dogmatist In Fichtes »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre« (1794) (= GWL), der ersten ausgearbeiteten Theorie des Absoluten innerhalb des deutschen Idealismus, lassen sich Spinozas Thesen leicht wiedererkennen. Das absolute Ich ist in sich, d.h. es hängt in seiner Existenz von nichts anderem ab. Ebenso dependiert es in seinem ‚was‘ von nichts anderem, sondern wird durch sich selbst begriffen: „Ich bin schlechthin, d.i. ich bin schlechthin, weil ich bin; und ich bin schlechthin, was ich bin; […].“ 13 Das Ich ist ebenso wie Spinozas Substanz sowohl dem Sein als auch dem Erkennen nach ein Erstes. Weiterhin existiert es notwendig, es ist unendlich, d.h. nicht einschränkbar und nicht negierbar. Dem absoluten Ich kann, „insofern es an sich ist“, nichts entgegengesetzt werden. 14 Ferner ist das absolute Ich unteilbar, denn dasjenige Ich, dem ein Nicht-Ich entgegengesetzt wird und das daher teilbar, einschränkbar und negierbar ist, ist nicht das absolute Ich, sondern in diesem gesetzt. „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen.“ 15 Ebenso wie für Spinoza kann es für Fichte kein Sein und kein Denken außerhalb des einen Prinzips geben; vielmehr muss all dies als Konkretisierung des absoluten Ich in diesem zu stehen kommen. Im ersten und im dritten Paragraphen nimmt Fichte ausdrücklich Bezug auf Spinoza. Er stellt den ersten Grundsatz: „Das Ich setzt sich selbst“ als Höhepunkt einer subjektivitätstheoretischen Denklinie dar, 13 Fichte, J. G., »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre«, FGA I, 2, 260. 14 Ebd., 260f. 15 Ebd., 272. 174 Johannes Brachtendorf die von Descartes über Reinhold bis zur »Wissenschaftslehre« reiche. Doch Spinozas Begriff des Absoluten sei der »Wissenschaftslehre« am nächsten gekommen. Allerdings geht Fichte gleich zur Kritik über, indem er gegen Spinoza den Transzendenz-Vorwurf erhebt: „Über unseren Satz, in dem angezeigten Sinne, hinausgegangen ist Spinoza.“ 16 Dieses Hinausgehen über den ersten Grundsatz bestehe darin, dass Spinoza Gott statt des Ich zum Absoluten erklärt habe. Spinoza habe wohl das „empirische Bewusstsein“ anerkannt, nicht aber das „reine Bewusstsein“, d.h. näherhin er habe das „reine Bewusstsein“ vom „empirischen“ getrennt und es „in Gott“ gesetzt, […]“. Dieses Vorgehen sei jedoch unbegründet, „denn was berechtigte ihn denn über das im empirischen Bewusstseyn gegebene reine Bewusstseyn hinaus zu gehen? “ 17 ‚Empirisches Bewusstsein‘ meint für Fichte das Denken des endlichen Ich. So hatte er als Tatsachen des empirischen Bewusstseins die Sätze ‚A=A‘ und ‚Ich bin‘ eingeführt sowie das sie begleitende Gewissheitsgefühl. 18 Das ‚reine Bewusstsein‘ erreicht Fichte durch die Frage nach dem Grund dieser Gewissheit: „Es ist demnach Erklärungsgrund aller Thatsachen des empirischen Bewusstseyns, dass vor allem Setzen im Ich vorher das Ich selbst gesetzt sey.“ 19 Dies führt Fichte zu der These, das Ich müsse sich selbst setzen, wie sie im ersten Grundsatz formuliert wird. Unter ‚reines Bewusstseyn‘ versteht er demnach dieses sich selbst setzende Ich. Wie ist nun das ‚Gegebensein‘ des reinen Bewusstseins im empirischen, das Spinoza angeblich missachtete, zu verstehen? Fichte scheint hier zwei divergierende Auffassungen zu vertreten. Zunächst bietet er eine subjektivitätstheoretische Deutung an, indem er die ‚Thathandlung‘ des Sich-selbst-Setzens des Ich als Möglichkeitsbedingung des Gedankens ‚Ich bin‘ und seiner Gewissheit erschließt. Das reine Bewusstsein ist zugänglich über die Sicherheit des ‚Ich bin‘ als einer Tatsache des empirischen Bewusstseins. Damit ist der Grundregel der kritischen Philosophie Genüge getan, derzufolge als ausgewiesen gelten darf, was als Möglichkeitsbedingung des Bewusstseins aufgezeigt werden kann. Den Nachweis des absoluten Ichs als Prinzip der Einheit des empirischen 16 Ebd., 263. 17 Ebd. 18 Ebd., 258. 19 Ebd. Schelling, Fichte und der Streit um Spinoza 175 Bewusstseins charakterisiert Fichte als immanenten Aufweis des ‚reinen Bewusstseyns‘. Spinoza sei dagegen transzendent geworden, indem er das reine Bewusstsein, statt es als Identitätsprinzip vom Ich her zu fassen, in Gott gesetzt habe. Nach Fichte kann das Ich nur sein, was es für sich ist - eine externe Perspektive auf das Ich hält er für unzulässig. Mit der Lokalisierung des reinen Bewusstseins in Gott versuche Spinoza aber, das empirische Ich durch ein diesem transzendentes Prinzip zu begründen, so dass nicht gelte: das Ich ist nur, was es für sich ist, sondern: das Ich ist, was es für Gott ist. Spinoza verfehle den Begriff des Ich und lasse zugleich eine subjektivitätstheoretische Rechtfertigung der absoluten Substanz vermissen. Allerdings scheint Fichte selbst diese Art der Rechtfertigung des absoluten Ich als nicht ausreichend zu erachten, denn er entwickelt im praktischen Teil der »Gesamten Wissenschaftslehre« (angedeutet aber schon im grundsätzlichen Teil) ein zusätzliches Argument, um sich gegen einen möglichen Metaphysik-Vorwurf zu schützen. Das sich selbst setzende Ich, so erfährt der Leser nun, sei gar nicht das „im wirklichen Bewusstseyn gegebene Ich“ 20 - dieses sei nämlich immer beschränkt; vielmehr stelle es die Idee eines unbeschränkten Ich dar, ein praktisches Ideal, das angesetzt werden müsse, um die Strebenstätigkeit des endlichen Ich erklären zu können. Offensichtlich übernimmt Fichte hier Kants Strategie zur Metaphysik-Vermeidung, indem er die Rede vom absoluten Ich praxeologisch begründet. Wie diese praxeologische Begründung mit der subjekttheoretischen harmoniert, ist allerdings schwer zu sehen. Denn einerseits ist das Nicht-Ich von vornherein im Ich gesetzt und das Ich somit allumfassend; andererseits aber soll das Ich erst absolut werden, indem es in einem unvollendbaren Prozess das Nicht-Ich abarbeitet und so in die Ich-Immanenz hineinnimmt (vgl. GWL § 5). Einerseits ist dem Ich alles immanent, andererseits erfährt es einen Anstoß. Einerseits, so müsste man vielleicht fortfahren, ist das Ich wesensmäßig mit sich identisch, andererseits soll es erst noch identisch werden. Die praxeologische Denklinie dient Fichte nun als Ausgangspunkt für eine weitere Kritik an Spinoza. Eine höchste Einheit anzusetzen, sei durchaus richtig. Spinoza habe aber den Fehler begangen, „daß er etwas wirklich gegebenes aufzustellen glaubte, da er doch bloss ein vorgestecktes, aber nie zu erreichendes Ideal aufstellte“. 21 Mit Recht habe Spi- 20 Ebd., 409. 176 Johannes Brachtendorf noza nach etwas ‚absolut-erstem‘, einer ‚höchsten Einheit‘ als dem ‚Grund der Einheit des Bewusstseyns‘ gefragt, aber er hätte dabei nicht transzendent werden, sondern bei der „ihm im Bewusstseyn gegebenen Einheit [nämlich der praktischen Idee der Einheit] stehen bleiben sollen, und hätte nicht nötig gehabt, eine noch höhere zu erdichten […].“ 22 Spinoza hätte also den Begriff der Substanz praktisch rechtfertigen müssen; doch da er ihn theoretisch begründen will, erweise er sich als Dogmatist. Schellings frühe, noch in Tübingen verfasste Werke »Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt« (1794) sowie »Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen« (1795) stellen im Wesentlichen Kommentare zur »Wissenschaftslehre« dar. Schelling macht sich hier Fichtes Lehre vom Ich zu eigen und übernimmt auch dessen Bewertung Spinozas, der unter allen Philosophen herausrage, weil er den Gedanken des Unbedingten gefasst, dieses aber leider nicht in das Ich, sondern außerhalb des Ich gesetzt habe. Schelling schreibt 1795: „Der Erste, der es einsah, dass Spinozas Irrtum nicht in jener Idee [sc. der Idee der absoluten Substanz], sondern darin liege, dass er sie außerhalb alles Ichs setzte, hatte ihn verstanden und den Weg zur Wissenschaft gefunden.“ 23 Gemeint ist natürlich Fichte. 3. Schelling in Jena (1801/ 02) - Spinoza als Vollender der Transzendentalphilosophie Ab 1801 legt Schelling, inzwischen in Jena tätig, einen eigenen Entwurf vor, in dem der Ansatz der »Wissenschaftslehre« ausdrücklich kritisiert wird, vor allem in: »Darstellung meines Systems der Philosophie« sowie in »Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie«. Hegel orientiert sich übrigens in seiner Differenzschrift eng an Schelling und dessen Fichte-Kritik. Zwar sei Fichtes Grundidee richtig, derzufolge die Wissenschaft alles Wissens vom Unbedingten ausgehen müsse. Der 21 Ebd., 263. 22 Ebd., 281. 23 Vgl. Schelling, F. W. J., »Über das Ich als Princip der Philosophie«, SW I, 171f. Zur Beurteilung Spinozas durch Schelling vgl. weiterhin I, 102; 151; 155; 159; 171; 185; 193f. Schelling, Fichte und der Streit um Spinoza 177 Mangel liege aber darin, dass diese Idee im weiteren Verlauf nicht zum Durchbruch komme. Der Ausgang vom Absoluten sei die ‚unsterbliche Seite der »Wissenschaftslehre«‘. Hier denke Fichte wahrhaft ‚transzendental‘. Doch in der Durchführung nehme die »Wissenschaftslehre« eine Position der Endlichkeit ein. Sie zahle einen Tribut an Kants Kritizismus und erhalte dadurch eine ‚sterbliche Seite‘, in der sogar ‚dogmatistische‘ Elemente erkennbar seien. (Hegel meint wohl das gleiche, wenn er sagt, die »Wissenschaftslehre« gehe vom ‚Standpunkt der Spekulation‘ über zum ‚Standpunkt der Reflexion‘.) Die ‚sterbliche Seite‘ äußere sich darin, dass Fichte faktisch einen nicht überwindbaren Gegensatz von Erkennendem und Erkanntem behaupte, indem er das Nicht-Ich als einen dem Ich fremden ‚Anstoß‘ deute. Das Bewusstsein des Ich solle so aus einem außer dem Ich Vorhandenen, unabhängig von ihm Bestehenden erklärt werden. Doch damit sinke das Ich, das doch absolut sein sollte, in einen Gegensatz und gerate in die Endlichkeit. Offensichtlich kritisiert Schelling hier entscheidende Elemente der praxeologischen, Kants Kritizismus verpflichteten Denklinie. Die ‚sterbliche Seite‘ der »Wissenschaftslehre« kommt Schelling zufolge zwar in ihrem praktischen Teil voll zum Ausdruck, doch ihre Wurzel liege bereits in den Erläuterungen zum ersten Grundsatz, nämlich in Fichtes Vorwurf gegen Spinoza: „Was berechtigte ihn denn, über das im empirischen Bewußtsein gegebene reine Bewußtsein hinauszugehen? “ Fichtes These, das Absolute müsse so an das empirische Ich zurückgebunden werden, dass es in diesem nachweisbar sei, hält Schelling (ebenso wie Hegel) für das ‚proton pseudos‘ der »Wissenschaftslehre«. 24 In ihr gründe letztlich die Amphibolie, die es unklar werden lässt, ob das absolute Ich wirkliches Prinzip oder zu verwirklichendes Ideal ist, denn so stehe es nicht mehr als unendliche Einheit über allen Differenzen, sondern werde der subjektiven Seite des Gegensatzes von Ich und Nicht-Ich assimiliert und gerate in Opposition zur objektiven Seite. Durch die Subjektivierung des absoluten Ich, die zugleich dessen Verendlichung sei, werde das Nicht-Ich dem Ich gegenüber transzendent, sodass sich die »Wissenschaftslehre« in ihrer weiteren Entwicklung in Dualismus- und Realismusprobleme verwickle. Die Spinoza-Kritik verrät nach Schelling Fichtes Grundfehler, nämlich die Subjektivierung des Absoluten, die eine Preisgabe der ursprünglichen, 24 Vgl. »Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie«, SW IV, 353f. 178 Johannes Brachtendorf unsterblichen Idee der »Wissenschaftslehre«, den Anfang beim Unbedingten zu nehmen, bedeutet. Als Korrektur an der »Wissenschaftslehre« empfiehlt Schelling eine Abstraktion vom empirischen Bewusstsein. Er schreibt: „Das Denken der Vernunft ist jedem anzumuthen; um sie als absolut zu denken, um also auf den Standpunkt zu gelangen, welchen ich fordere, muß vom Denkenden abstrahirt werden. Dem, welcher diese Abstraktion macht, hört die Vernunft unmittelbar auf etwas Subjektives zu seyn, wie sie von den meisten vorgestellt wird […].“ 25 Die Notwendigkeit dieser Abstraktion vom Subjektiven, in dem die philosophische Reflexion das Absolute zunächst antrifft, habe Fichte nicht erkannt. Natürlich ergibt sich aus dieser Fichte-Kritik auch eine andere Stellungnahme zu Spinoza. Fichtes Dogmatismus-Einwand, demzufolge Spinoza das absolute Ich fälschlich als Wirkliches statt als Ideal angesetzt habe, bedarf nach Schelling gar keiner weiteren Diskussion. Zweifellos sei Spinoza hier gegenüber der »Wissenschaftslehre« im Recht, die mit dieser Kritik nur ihre eigenen Defizienzen entlarve. Doch auch Fichtes Transzendenz-Einwand ist nach Schelling unbegründet. Dass Spinoza keine Rückbindung des reinen Bewusstseins an das empirische vornehme, wie Fichte sie verlangt, verdiene nicht Tadel sondern Lob, weil er so die bei Fichte auftretende Relativierung und Subjektivierung des Absoluten vermeide. In Wahrheit gehe nicht Spinoza über das Ich hinaus, sondern die »Wissenschaftslehre« selbst, deren praxeologische Denklinie zur Ansetzung eines Nicht-Ich führe, das dem Ich tranzendent sei und von außen auf es einwirke. Die »Wissenschaftslehre« bleibe hinter dem Immanenz-Gedanken zurück, den Spinoza bereits gefasst habe. Darin sei Spinoza der »Wissenschaftslehre« überlegen. Im Jahre 1802 schreibt Schelling: „[…] so besteht also die wahre Philosophie in dem Beweis, daß die absolute Identität (das Unendliche) nicht aus sich selbst herausgetreten, und alles, was ist, insofern es ist, die Unendlich- 25 Schelling, F. W. J., »Darstellung meines Systems der Philosophie«, SW IV, 114f. Hegel erhebt die gleiche Forderung: „Um die transzendentale Anschauung in ihrer wahren Formlosigkeit zu haben, mußte von diesem Charakter eines Subjektiven abstrahiert werden; die Spekulation mußte von ihrem subjektiven Prinzip diese Form entfernen, um es zur wahren Identität des Subjekts und Objekts zu erheben.“ (Hegel, G. W. F., »Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie«, Theorie-Werkausgabe (= TWA), hg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd. II, 69). Schelling, Fichte und der Streit um Spinoza 179 keit selbst sey, ein Satz, welchen von allen bisherigen Philosophen nur Spinoza erkannt hat […].“ 26 Auch trenne Spinoza das reine und das empirische Bewusstsein in Wahrheit gar nicht: „Weit entfernt, daß Spinoza, wie von ihm behauptet wird, das reine und das empirische Bewußtseyn völlig getrennt hätte, hat er es vielmehr ungetrennt und im absoluten Bewußtseyn vereinigt gesetzt.“ 27 Spinoza habe eingesehen, dass das Bewusstsein in das Absolute hineinzunehmen sei, statt dieses wie Fichte in seiner Eingeschränktheit durch das Nicht-Ich zu nehmen und dann das Absolute nur durch dieses eingeschränkte Ich hindurch zu sehen. Diese Rückbindung muss nach Schelling aufgegeben werden; und dies sei kein Dogmatismus, sondern die wahre Art, in die Immanenz des Absoluten hineinzukommen. Spinoza habe dies gewusst und damit die Transzendentalphilosophie gleichsam vollendet, bevor sie erfunden war. Fichte selbst war übrigens bereits in der » Wissenschaftslehre nova methodo von 1797 « (= WLnm) von der These abgerückt, die Ansetzung eines Absoluten müsse praxeologisch gerechtfertigt werden, um nicht dem Metaphysik-Verdikt zu verfallen. Die subjektivitätstheoretische Begründung genügt ihm nun. Insofern trifft die Kritik Schellings von 1801 eine Position, die Fichte selbst schon verlassen hatte. Auch in der Frage nach dem Verhältnis von Absolutheit und Subjektivität dürfte Fichte wohl nur sekundär durch Schellings Kritik vorangetrieben worden sein, primär aber durch den zeitlich vorausgegangenen Vorwurf Jacobis, eine reine Subjektivitätsphilosophie sei nihilistisch. 28 Die »Wissenschaftslehre« stellt nach Jacobi ein leeres Reflektier-System dar, in dem das Ich durch seine Reflexionsmechanismen eine Welt aus sich heraus spinne, die aber letztlich nur sein eigenes Gemächte sei und somit jeglicher Realität entbehre. Diesem Vorwurf versucht Fichte ab 1801 durch eine Neubestimmung des Verhältnisses von Absolutheit und Subjektivität zu begegnen. Diese Neubestimmung fällt allerdings anders aus als Schelling gefordert hatte. In der »Wissenschaftslehre 1801/ 02« (§ 26) legt Fichte dar, dass das „Ende“ und die „absolute Grenze“ des Ich innerhalb des Fürsich fallen müsse. Die absolute Freiheit des Fürsich erfahre sich als frei entsprin- 26 Schelling, F. W. J., »Darstellung meines Systems der Philosophie«, SW IV, 120. 27 Ebd., SW IV, 354. 28 Vgl. Jacobi, F. H., »Jacobi an Fichte«, in: Werke III, 44. 180 Johannes Brachtendorf gend. Das Ich als Subjekt-Objekt erblicke seinen „absoluten Ursprung“ und damit zugleich „seine Grenze, sein Nichtseyn.“ 29 Das absolute Wissen „dringt wissend zu seinem absoluten Ursprunge (aus dem Nichtwissen) vor, und kommt so durch sich selbst (d.i. in Folge seiner absoluten Durchsichtigkeit und Selbsterkenntnis) an sein Ende.“ Wissen heiße daher „Innerlichkeit des Ursprunges“. Das „absolute Sein“ sei daher nichts anderes als „der im Wissen ergriffene absolute Ursprung desselben und daher das Nichtseyn des Wissens: Seyn - eben als im Wissen, und doch nicht Seyn des Wissens.“ Erstens ordnet Fichte dem absoluten Ich bzw. dem absoluten Wissen nun ein ‚absolutes Sein‘ über. Dieses sei zwar im Wissen, aber nicht ‚Seyn des Wissens‘, d.h. es hängt nicht vom Ich ab und stellt nicht mehr wie noch in der »Wissenschaftslehre ‚nova methodo‘« eine bloße Projektion des Seins des Ich dar. Zweitens ist Fichte offensichtlich nicht bereit, Subjektivität so in das Absolute hineinzunehmen, wie Schelling es forderte. Das absolute Wissen ist nicht das absolute Sein. Drittens wird das absolute Sein nur durch das Ich hindurch, nämlich als dessen Ursprung sichtbar. Daher lehnt Fichte die Schellingsche Abstraktionsforderung ab. Solch eine Abstraktion sei gar nicht möglich und laufe nur darauf hinaus, sich einfach keine Rechenschaft über die Tätigkeit des reflektierenden Ich bei der Aufstellung der Lehre vom Absoluten zu geben. Schellings Identitätssystem reproduziere willkürlich Spinozas subjektivitätstheoretische Naivität. 30 Man kann in Fichtes neuer Konzeption in gewisser Weise eine Nachwirkung des ersten metaphysik-kritischen Argumentes der »Gesamten Wissenschaftslehre« sehen. Nur das darf als ausgewiesen gelten, was für das Ich ist. Und dies gilt auch für den Grund des Ich. Neu an der »Wissenschaftslehre 1801/ 02« - auch gegenüber der »Wissenschaftslehre ,nova methodo‘« - ist ja, dass das absolute Sein für das Ich ist und deswegen doch nicht aufhört, absolut zu sein. 29 Fichte, J. G., »Wissenschaftslehre 1801/ 02«, FGA II, 6, 195. 30 Vgl. Fichte, J. G., »Zur Darstellung von Schellings Identitätssysteme«, FGA II, 5, 487-508. Schelling, Fichte und der Streit um Spinoza 181 4. Spinoza im Spätwerk Fichtes und Schellings - Substanz, Subjekt, Sein Das Spätwerk Fichtes (1804-1814) weist durchaus Gemeinsamkeiten mit den Schriften Schellings ab etwa 1820 auf. Dem späten Fichte zufolge, insbesondere nach der »Wissenschaftslehre 1812«, ist Subjektivität eine Erscheinung des Absoluten. Dass Gott erscheine, lasse sich jedoch philosophisch nicht deduzieren, sondern müsse auch von der Philosophie als Faktum hingenommen werden. Die »Wissenschaftslehre« könne die Realität nicht ableiten. In dieser Hinsicht verweise sie vielmehr „an das Leben“. 31 In seiner Frühschrift »Über den Begriff der Wissenschaftslehre« hatte Fichte in der Tat noch eine apriorische Wissenschaft konzipiert, die alles aus einem Prinzip heraus erklären könne. Nun meint er dagegen, dass wir keinen „realen Begriff vom Absoluten“ 32 haben, durch den wir das Erscheinen des Absoluten als notwendig begreifen könnten. Das Faktum des Erscheinens ist nur der Erfahrung zugänglich, freilich nicht einer sinnlichen, sondern einer intellektuellen Erfahrung, und nur von diesem Faktum aus kann die Philosophie rückschließen, dass das Absolute erschienen ist. Der Idealismus verwandelt sich in einen „höheren Realismus“. Der späte Schelling stellt unter dem Namen der ‚positiven Philosophie‘ oder der ‚Philosophie der Offenbarung‘ ganz ähnliche Überlegungen an. Schelling spricht von einem „höheren Empirismus“, ja er bezeichnet die Philosophie sogar als eine Wissenschaft „a posteriori“. 33 In Bezug auf die Welt sei die Philosophie zwar a priori, in Bezug auf Gott und sein Erscheinen hingegen a posteriori. Wenn es ein Sein gibt, dann muss nach seinem Grund gefragt werden; dann stellt sich also die Frage: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? 34 Doch dass es ein solches Sein gibt, lasse sich nicht logisch deduzieren, sondern müsse zunächst hingenommen werden. Damit sei „allem philosophischen Rationalismus das Fundament zerstört“. 35 Schelling kritisiert nun seine eigenen früheren Schriften und natürlich auch Hegel, indem er die Un- 31 Fichte, J. G., »Wissenschaftslehre 1812«, FGA II, 13, 63. 32 Ebd., 66. 33 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung« (= Ph. Off.), SW XIII, 130. 34 Vgl. Ph. Off., SW XIII, 7. 35 Schelling, UPhO, 71. 182 Johannes Brachtendorf ableitbarkeit des Seins betont. In diesem Sinne spricht er von Offenbarung, von Schöpfung und von Geschichte. Versteht man unter Idealismus eine Philosophie mit maximalen Rationalitätsansprüchen, die tatsächlich meint, alles über die Welt Sagbare aus einem Prinzip methodisch geregelt ableiten zu können, dann treffen sich die späten Überlegungen Fichtes und Schellings in der Kritik eines solchen Idealismus. In anderer Hinsicht gehen Fichte und Schelling in ihrer Spätzeit jedoch verschiedene, ja sogar einander entgegengesetzte Wege. Diese Gegensätzlichkeit spiegelt sich abermals in den Stellungnahmen zu Spinoza, wie sie sich in Fichtes »Wissenschaftslehre 1812« einerseits, in Schellings Freiheitsschrift, seiner Philosophiegeschichte von 1833, sowie der »Philosophie der Offenbarung« andererseits finden. In der letzten fertiggestellten Fassung der »Wissenschaftslehre« aus dem Jahre 1812 meint Fichte, eine Hinführung zum Ansatz der »Wissenschaftslehre« geschehe am besten durch einen Vergleich mit Spinoza. Den Grundcharakter des Absoluten, so führt Fichte aus, bestimme die »Wissenschaftslehre« in gleicher Weise wie Spinoza als „Sein“ im Sinne von „Selbständigkeit“, „Wandellosigkeit“ und „Einheit“ - „So Spinoza, so wir.“ 36 Nur eins ist, und außer dem Sein ist nichts. Doch lässt sich von der Feststellung über das Wesen des Absoluten aus überhaupt weiter kommen? Fichte meint, diese Frage sei bereits beantwortet, denn es sei ja ein Begriff vom Absoluten aufgestellt worden. Wer über das Sein nachdenke, denke schon den Begriff des Seins. Dass wir über das Sein sprechen können, das wir es denken können und einen Begriff von ihm besitzen, ist dasjenige Faktum, dass wir zunächst erfahren müssen, und von dem aus wir auf das Absolute zurückschließen können, um dann einzusehen, dass der Begriff vom Sein die Erscheinung des Absoluten ist. Deswegen, so könnte Fichte gegen den Jenaer Schelling einwenden, darf man im Denken des Absoluten keinesfalls von seinem Denken abstrahieren, weil man sonst den Einstiegspunkt für eine Philosophie des Absoluten verpasse. Allerdings, so erklärt Fichte 1812, führe das Faktum des Begriffes vom Sein zu einem Widerspruch: „Ausser ihm [sc. dem Absoluten] ist seinem Begriffe nach kein Sein: aber der Begriff ist, und ist ausser ihm. Protestatio facto contraria! Indem gesagt wird, es sei Nichts ausser ihm, ist Etwas, eben dieses Sagen, ausser ihm.“ 37 Durch 36 Fichte, J. G., »Wissenschaftslehre 1812«, FGA II, 13, 51. 37 Ebd., 52. Schelling, Fichte und der Streit um Spinoza 183 die Lösung dieses Widerspruches unterscheide sich die »Wissenschaftslehre« von Spinoza. Spinoza erweise sich als naiv, weil er bei der Aufstellung des Begriffes des Absoluten nicht auf seine eigene Tätigkeit des Denkens des Absoluten reflektiert und daher den Widerspruch zwischen der Einheit des Absoluten und der Realität seines Begriffs übersehen habe. Diese Naivität räche sich aber, weil Spinoza an einer anderen Stelle des Systems dann doch mit dem Widerspruch zu tun bekomme, nämlich dort, wo er das Verhältnis der Welt als eines Mannigfaltigen in Ausdehnung und Denken zum Absoluten bestimmen müsse. Die »Wissenschaftslehre« und Spinoza charakterisieren gleichermaßen das Sein als ein notwendiges, absolutes, einziges. Dennoch müssen beide ein Sein außerhalb des Absoluten ansetzen: die »Wissenschaftslehre« den Begriff des Seins, Spinoza das Mannigfaltige. Fichte stellt Spinozas Versuch im Umgang mit diesem Problem unter den Titel ‚Mitteilung‘. Spinoza teile den Grundcharakter des Seins an das bloß faktische Sein der Welt mit, indem er dieses in das Absolute hineinnehme und erkläre, das eine Absolute sei zugleich schlechthin mannigfaltig. Das Absolute sinke damit herab vom reinen ‚hen‘ zum ‚hen kai pan‘, vom Einen zum Einen und Vielen. Die ‚Mitteilung‘ bedeute nämlich eine Zerteilung dessen, was zuvor als reine Einheit beschrieben worden war. Damit werde Spinoza seinem Konzept des Absoluten untreu. Man meint, in dieser Kritik die Stimme des Parmenides zu hören, der in Platons gleichnamigem Dialog die Ideenlehre kritisiert mit dem Argument, das Konzept der Teilhabe des Vielen an der einen Idee (methexis) führe zu einer Zerteilung der Idee. 38 Die »Wissenschaftslehre« halte dagegen konsequent an ihrem Grundsatz fest: „Eins ist, außer diesem Nichts.“ Dies sei dann möglich, wenn der Begriff als Bild oder Erscheinung des Absoluten bestimmt werde. Subjektivität, so können wir für Begriff oder Bild substituieren, ist nicht das Absolute selbst, denn dieses schließe das Werden, Entstehen, also jede Genesis aus (das Absolute ‚ist‘, es wird nicht), während Subjektivität gerade dadurch charakterisiert sei, eine Genesis, einen Ursprung zu haben, nämlich den Ursprung im Absoluten. Die Existenz des Begriffes stoße den Satz ‚Nur eins ist‘ nicht um, weil der Begriff eben nicht ‚ist‘ im hier gemeinten Sinne von Ursprungslosigkeit und Einheit. Nach Fichte gilt erst vom Begriff, was Spinoza unzulässigerweise vom Absoluten sagt, nämlich dass er ‚hen kai pan‘ sei, Einheit von Einheit und Mannig- 38 Vgl. Platon, »Parmenides«, 131a-c. 184 Johannes Brachtendorf faltigkeit, Selbigkeit von Eins und Allem: „Alles in dem Einen, alles Eins.“ 39 Subjektivität, so kann man Fichtes Ausführungen zusammenfassen, ist Erscheinung des Absoluten, nicht aber das Absolute selbst. Anders könne der Grundsatz ‚Nur eins ist‘ nicht festgehalten werden. Fichte geht über seine frühen Wissenschaftslehren hinaus, indem er auf das Verhältnis des Absoluten selbst zur Subjektivität reflektiert, die sich als Wissen vom Absoluten konstituiert. Dagegen wird Schellings Denken durch ein anderes Problem vorangetrieben, nämlich dasjenige der Freiheit. In seiner »Geschichte der neueren Philosophie« (1833) hält Schelling wohl an der These fest, Spinoza habe als erster den Standpunkt des Absoluten erreicht, doch er bemängelt nun, dass Spinoza das Absolute nur als Substanz, nicht aber auch als Subjekt bestimmt habe: „Die Substanz des Spinoza ist ein Subjekt-Objekt, aber wobei das Subjekt ganz verloren geht.“ 40 Schelling nennt dies Spinozas ‚Realismus‘. Spinozas Gott sei bloße Substanz ohne inhärente Freiheit und Möglichkeit. Zwar behaupte Spinoza, Ausdehnung und insbesondere Denken gingen unmittelbar mit der Existenz der Substanz einher, doch er erkläre und begreife dies nicht. Schon in der Freiheitsschrift von 1809 lässt Schelling nur einen einzigen Vorwurf gegen Spinoza gelten, nämlich denjengen des Fatalismus bzw. Determinismus. Nicht die All-Einheitslehre als solche, also das, was die Kritiker ‚Pantheismus‘ nennen, sei fragwürdig, sondern nur die Tatsache, dass Spinoza die absolute Substanz als Ding konzipiert und ihr somit die Freiheit genommen habe. 41 Daher trenne sich seine eigene Philosophie von Spinoza dort, wo sie in Gott unterscheide zwischen der Existenz Gottes und dem Grund dieser Existenz. 42 Die »Philosophie der Offenbarung« (1831) setzt diese Denklinie fort, indem sie drei innergöttliche Potenzen unterscheidet, nämlich „das sein Könnende“ (in der älteren Terminologie hieß dies „Subjekt“), das „rein Seiende“ (früher „Objekt“) und „das als solches gesetzte sein Können“ (früher „das Ich als sich setzendes Subjekt-Objekt“). 43 Mit der dritten Potenz ist das Absolute gewonnen, und zwar das Absolute als Geist, 39 Fichte, J. G., »Wissenschaftslehre 1812«, FGA II, 13, 60. 40 Schelling, F. W. J., »Zur Geschichte der neueren Philosophie (1833/ 34)«, SW X, 38. 41 Vgl. Schelling, F. W. J., »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände«, Frankfurt a.M. 1975, 44. 42 Vgl. ebd., 52 . 43 Schelling, F. W. J., »UPhO«, 59f. Schelling, Fichte und der Streit um Spinoza 185 d.h. als ein sich selbst zum Sein bestimmt habendes Wesen, das durch seinen freien Entschluss ins Sein übergeht. Spinoza habe mit seinem Begriff der absoluten Substanz nur die erste Potenz, das „sein Könnende“ als die blinde ‚potentia pura‘ erfasst. 44 Statt zum vollständigen Konzept des Absoluten als lebendiger Geist weiterzugehen, sei er beim Grund der Existenz Gott stehen geblieben, so dass er die Freiheit Gottes in seiner Selbstsetzung nicht erkannte. Doch wenn Spinoza auch nicht angeben konnte, wie Ausdehnung und Denken aus der absoluten Substanz hervorgehen, so habe er doch immerhin noch Momente in Gott unterschieden. Deswegen richtet sich Schellings Kritik in der »Philosophie der Offenbarung« noch mehr gegen Parmenides und dessen These von der strikten Einheit des Seins. Mit seinem Freiheitsbegriff, mit seiner Potenzenlehre und mit der Forderung an Spinoza, das Absolute nicht nur als Substanz, sondern als Subjekt zu begreifen, will Schelling offensichtlich den Konsequenzen des wahren Begründers der All-Einheitslehre, eben des Parmenides entkommen. Vergleicht man Schellings Ansatz mit demjenigen des späten Fichte, so zeigen sich Unterschiede in der Bestimmung des Verhältnisses von Absolutem und Subjektivität. Nach Schelling ist das Absolute Geist, es ist Subjekt, und es ist ‚eins und alles‘ (hen kai pan). Nach Fichte gilt dies alles nicht vom Absoluten, sondern nur von seiner Erscheinung. Vom Absoluten lässt sich wohl nicht mehr sagen, als dass es Eines ist und dass es erscheint. Schellings Potenzenlehre besitzt bei Fichte kein Gegenstück. Wenn Fichte den Satz: ‚Nur Eins ist, und außer diesem ist nichts‘ zum höchsten Prinzip der »Wissenschaftslehre« erklärt und zudem verbietet, irgendeinen Satz der »Wissenschaftslehre« so auszulegen, dass er diesem Prinzip widerspräche, dann scheint er darin gerade jene eleatische Gestalt der Alleinheitslehre zu behaupten, von der Schelling loskommen möchte. Im Blick auf Spinoza lässt sich sagen, dass sowohl Fichte als auch Schelling ihm ‚Subjektvergessenheit‘ vorwerfen. Doch dieser Vorwurf zielt in jeweils entgegengesetzte Richtungen. Nach Schelling bedeutet dies, dass Spinoza das Absolute als Ding auffasst und nicht als ein in sich freies, sich selbst begreifendes Wesen. Spinoza denke zu realistisch. Nach Fichte hingegen bedeutet dies, Spinoza habe es an kritischem Bewusstsein über sein Tun im Denken des Absoluten gefehlt. Weil Spinoza sich in vorkritischer Naivität keine Rechenschaft über sein Be- 44 Ebd., 33. 186 Johannes Brachtendorf greifen gab, habe er das absolute Sein gleichsam mit Subjektivität kontaminiert und schließlich zum ‚hen kai pan‘ herabgesetzt. Hätte Spinoza auf Subjektivität reflektiert, dann hätte er sie nicht in das Absolute hineingenommen, sondern von ihm unterschieden. Für Fichte denkt Spinoza also nicht zu ‚realistisch‘, sondern eher nicht ‚realistisch‘ genug. In seinen Augen führt Spinozas Subjektvergessenheit zur Seinsvergessenheit. Das Manko in Spinozas Lehre von der absoluten Substanz sieht Fichte keineswegs darin, dass diese nicht auch als Subjekt konzipiert sei, sondern dass sie nicht strikt als Sein gedacht werde. III. GOTT UND MENSCHLICHE FREIHEIT Thomas Buchheim Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ nach Schellings »Freiheitsschrift« 1. Die Präsentationsmethode des Begriffs: Nicht Theorie, sondern Exerzitium der Freiheit Obwohl Schelling eine eigene Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit 1 geschrieben hat, ist der Begriff, den er von ihr entwickelt, so gut wie unbekannt und von der Forschung, so weit ich sehe, bisher noch nicht klar und im ganzen Umfang herausgestellt worden. Anders als im Falle Kants, Lockes, Leibniz’ und auch Fichtes gibt es keine gängige Standardbeschreibung ihrer Züge, die, etwa als ein historisches Paradigma oder auch als charakteristischer Anlaufpunkt für eigene, seien es kritische oder weiterverfolgende Argumentationen, in die gegenwärtigen Debatten über den Freiheitsbegriff eingebracht werden könnte. 2 Zwar wird oft genug an die berühmte Formel über den „reale[n] und lebendige[n] Begriff“ der Freiheit erinnert, wonach sie, wie Schelling griffig sagt, „ein Vermögen des Guten und des Bösen“ sei (25, 12ff./ SW VII, 352); aber was darunter eigentlich zu verstehen ist, und wie diese Aussage in Schellings Gesamtkonzept menschlicher 1 Schellings »Freiheitsschrift« wird zitiert nach F. W. J. Schelling, »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände«, hg. v. Th. Buchheim, Hamburg 1997, und zwar mit Angabe der Seiten und der Zeilen. Nach dem Schrägstrich wird die entsprechende Angabe der Seiten im Bd. VII der »Sämmtlichen Werke« hinzugefügt. 188 Thomas Buchheim Freiheit einzuordnen wäre, steht in seinen einigermaßen geklärten Konturen nicht für ein Weiterdenken zu Gebote. Die Schuld dafür liegt bei Schelling selbst. Denn er hat die begrifflichen Strukturen der menschlichen Freiheit, so treffsicher er sie erfasst und in den Gedankenduktus der »Freiheitsschrift« eingearbeitet hat, unter Bergen romantisch bis manchmal schwülstig wirkender Metaphorik begraben, die statt scharf geschnittener Arbeit des Begriffs eine verführerische Umgarnung des Lesers ins Werk setzen - was in der Philosophie nicht zu allen Zeiten gut ankommt. Zunächst ist hervorzuheben, dass die „Philosophische[n] Untersuchungen“, die Schelling bezüglich der menschlichen Freiheit anstrengt, nicht von einem unbeteiligten Standpunkt aus erfolgen, also keine rein theoretisch verfahrende Abhandlung bilden. Vielmehr hebt Schelling mehrfach hervor, dass es um eine Art der Selbstexplikation 3 , „gesprächsweise“ (81, 35/ SW VII, 410) Selbstbehauptung, kurz: eine dem endlichen Subjekt der Freiheit auferlegte und nie ein für allemal zu erledigende „Aufgabe“ gehe 4 . Erklärtes Ziel ist nicht, die menschliche Freiheit zum objektiv unbestreitbaren Bestandteil eines theoretisch-wissenschaftlichen Weltbilds zu machen, sondern vielmehr den in einer Ver- 2 Es liegen zwar eine ganze Reihe von guten einschlägigen Arbeiten vor, die jedoch stärker texthermeneutische als systematische Absichten verfolgen und daher zwar mehr oder weniger genau die einzelnen Züge nachzeichnen, sich aber kaum um ihre Integration zu einem Gesamtkonzept der Willensfreiheit gemäß Schellings »Untersuchungen« bemühen und dieses auch nicht ins Verhältnis zu den Standardanforderungen der heutigen Freiheitsdebatte setzen. Ich nenne insbesondere Hermanni, F., »Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie«, Wien 1994, 127-157; Jacobs, W. G., »Die Entscheidung zum Bösen oder Guten im einzelnen Menschen (382-394)«, in: F. W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Klassiker Auslegen, Bd. 3), hg. v. O. Höffe und A. Pieper, Berlin 1995, 125-148; Peetz, S., »Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität«, Frankfurt a.M. 1995, bes. 196-216; Hennigfeld, J., »Friedrich Wilhelm Joseph Schellings ‚Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände‘«, Darmstadt 2001, 88-96, 102-110; Köhler, D., »Freiheit und System im Spannungsfeld von Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ und Schellings ‚Freiheitsschrift‘, München 2006, 126-137; Florig, O., »Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung. Personale Entwicklung in Schellings mittlerer Philosophie«, Freiburg/ München 2010. 3 9, 5f./ SW VII, 336. 4 11, 4/ SW VII, 338; 29, 26f./ SW VII, 357. Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 189 nunft möglichen „Zusammenhang dieses Begriffs mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht“ darzutun 5 - dass der Mensch, jeder Mensch, wenn er das Gefühl der Freiheit in sich verspürt und mit all seinen Konsequenzen nicht abweisen möchte, nicht am Ende mit seiner eigenen Vernunft und ihren wissenschaftlichen Ansprüchen in Konflikt gerät und Schiffbruch erleidet, sondern eine insgesamt rationale Vereinbarung denkbar ist. Die »Freiheitsschrift« Schellings ist nicht die Entwicklung oder Aufsuchung eines wissenschaftlichen Systems, 6 in dem auch die menschliche Freiheit ihren Platz hat, sondern, etwas überspitzt, aber nicht falsch gesagt, ein Exerzitium der menschlichen Freiheit, für dessen Bewältigung sie die Instrumente und Angelpunkte des Denkens bereitstellt, die der Einzelne legitimerweise in Gebrauch nehmen kann, um die unvermeidlich gestellte Aufgabe zu lösen. Wer dieses Instrumentarium nicht in der von Schelling angebotenen Art, nämlich in der Weise des Gesprächs oder Zuredens ‚hominis ad hominem‘ „nehmen kann oder will“, schreibt Schelling, „der nehme überhaupt nichts von ihm: er suche andere Quellen.“ (81, 38-40/ SW VII, 410) 5 9, 7f./ SW VII, 336; vgl.11, 1-3/ SW VII, 338. 6 So wie ausdrücklich die ein Jahr späteren »Stuttgarter Privatvorlesungen« - s. SW VII, 421. Seit Heideggers zweifellos beeindruckender Auslegung von Schellings Untersuchungen (s. Heidegger, M., »Schellings Abhandlung ‚Über das Wesen der menschlichen Freiheit‘ (1809)«, Freiburger Vorlesung vom Sommersemester 1936, hg. v. H. Feick, Tübingen 1971) hat man immer wieder angenommen, Schelling habe in der »Freiheitsschrift« schon das mit der Freiheit als „Mittelpunkte des Systems“ (9, 14f./ SW VII, 336) operierende Vernunftsystem aufstellen wollen (s. Heidegger a. a. O., 25f.; 53-74; 114-120; 193f.). Aber schon Heidegger verwechselt das, was Schelling nur am Horizont als ein „System […] im göttlichen Verstande“ (9, 29f./ SW VII, 337; 10, 21f./ SW VII 337; 70, 26-30/ SW VII, 398f.; vgl. 68, 24-27/ SW VII, 396f.) aufscheinen lässt, mit der tatsächlich gegebenen Beschreibung des Weltzustands, in welchem nach den Schilderungen Schellings der Mensch sich in seiner Freiheit zu ergreifen hat. Das System in Gottes Verstand ist indessen nur möglicherweise ein System der Freiheit, welches allein durch die freiwillige Mitwirkung des Menschen verwirklicht werden würde. Der aktuell beschriebene Welt- und Naturzustand ist demgegenüber lediglich die Folie des Realen, vor deren Hintergrund sich der Mensch aus Freiheit der geforderten Mitwirkung permanent entzieht. Von daher ist der herrschende Weltzustand gerade nicht gleichzusetzen mit dem System der Freiheit in Gottes Verstand - und soll dies nach der These Schellings auch nicht sein. Vgl. dazu Vf., »Freispruch durch Geschichte. Schellings verbesserte Theodizee in Auseinandersetzung mit Leibniz in der ‚Freiheitsschrift‘«, in: Neue Ztschr. für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 51 (2009), 365-382, bes. 375-379. 190 Thomas Buchheim Ziel der hiesigen Erklärungen kann deshalb ebenfalls nicht sein, die Tatsache der Freiheit in Schellings Sicht außer Zweifel zu rücken, sondern vielmehr ihren hypothetischen Begriff deutlich zu machen und zu zeigen, inwiefern er sich zu seiner Verteidigung erfolgreich jener gedanklichen Instrumente bedient, die Schelling in der »Freiheitsschrift« entwickelt und deren Legitimität im Verhältnis zu einer im Prinzip wissenschaftlichen Weltansicht er behauptet. Gottes Freiheit, Liebe und Selbstgeburt, der Mensch als zugleich ein Natur- und Geschichtswesen, der Aktus der Freiheit nicht innerhalb der Linearität zeitlicher Sukzession, die Angst des Lebens sowie Unterschied und Einheit zweier Willen im Gefüge unseres Geistes - das sind gleichsam Gelenkstücke und Bänder vernünftigen Denkens, die wir zur Lösung der Aufgabe einsetzen dürfen, ohne irrezureden, nicht selbst eine wissenschaftlich erhärtete oder in einem absoluten System der Philosophie nachgewiesene Realität. Keiner indes kann nach Schellings These der gestellten Aufgabe (Selbstbehauptung seiner Freiheit) gewachsen sein, wenn zum Beispiel keine gedankliche Tätigkeit jenseits sukzessiv-kausal organisierter Zeitlichkeit möglich ist; wenn nicht über Naturgeschehen hinaus der Mensch in ein spezifisch geschichtliches Gewebe des Daseins und Handelns involviert wäre; wenn ‚a limine‘ ausgeschlossen werden müsste, dass die Wirklichkeit, die uns mit Haut und Haar umfängt, einen Keim göttlichen Lebens enthalten und fortentwickeln könnte; wenn für uns selbst prinzipiell unbegreiflich wäre, aus welcher Motivation heraus und mit welcher Art von Rechtfertigung wir Dinge tun, für die bestraft zu werden recht ist. 2. Die spezifische Differenz der menschlichen Freiheit nach Schelling Zunächst muss man sich klarmachen, wie komplex und elaboriert sich der Begriff der menschlichen Freiheit in Schellings Untersuchungen darstellt. Die berühmte Formel von ihrem „reale[n] Begriff“ gibt, wie Schelling sagt, nur „die spezifische Differenz“ (24, 34/ SW VII, 353) der menschlichen Freiheit an, erschöpft aber keineswegs diesen ganzen Begriff. Denn das „[A]llgemeine“ oder der „formelle […] Begriff“ der Freiheit“ überhaupt (25, 11f./ SW VII, 352) muss ja noch hinzugenommen werden, soll sich so etwas wie eine Definition ergeben; ich sage ‚so Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 191 etwas‘ - denn Schelling will ja keine Definition geben, sondern einen zwar vollständigen, aber hypothetischen Begriff. Schelling setzt jedenfalls den realen Begriff der Freiheit nicht an die Stelle des formellen oder idealistischen, sondern setzt ihn zusammen mit ihm. Dies erhellt klar aus einer eher selten zitierten Stelle inmitten der Untersuchungen: „Wir haben überhaupt bis jetzt das formelle Wesen der Freiheit weniger ins Auge gefaßt, obgleich die Einsicht in dasselbe mit nicht geringeren Schwierigkeiten verbunden scheint als die Erklärung ihres realen Begriffs.“ (54, 5-8/ SW VII, 382) Daraus folgt, zunächst ganz äußerlich betrachtet, dass nicht weniger als ein vorangehendes Viertel der gesamten Untersuchungen (34, 28-54, 4/ SW VII, 362-382) in der Hauptsache der Erklärung des realen Begriffs der menschlichen Freiheit gewidmet ist, während ein weiteres Fünftel sich auf dieser Basis dem Begriff der formellen Freiheit, soweit auf den Menschen bezogen, zuwenden wird (54, 9-66, 4/ SW VII, 382-394). Aus dieser Gliederung ist auch sehr klar zu entnehmen, was mit dem formellen oder allgemeinen Freiheitsbegriff gemeint ist: nämlich selbstbestimmtes Wollen oder, noch allgemeiner: selbstbestimmte Tätigkeit. 7 Das in der Einleitung gepriesene Verdienst des Idealismus - nach dem Vorgange Kants namentlich Fichtes und sein eigenes in früherer Zeit - sei es gewesen, so Schelling, die gesamte Wirklichkeit als erklärbar aus diesem Prinzip zur Darstellung zu bringen, darin den Keim des Alls entdecken und rational nachvollziehbar daraus herleiten zu können, 8 was allerdings die »Freiheitsschrift« nicht nochmals im Schilde führt. Vielmehr möchte sie der formellen Freiheit eine für den Menschen spezifische Basis, einen Unterbau ihres Operierens voranstellen. Das selbstbestimmte Wollen, d.i. Willensfreiheit, findet beim Menschen nach Schelling unter erschwerten Bedingungen statt. Diese Bedingungen machen gerade ihren realen und nicht nur idealistischen Begriff aus. Denn die willentliche Selbstbestimmung des Menschen steht unter der Hypothek seiner Existenz als ein Naturwesen und zugleich unter gewissen Vorgaben, die durch seine Verwobenheit in Geschichte, d.h. die prinzipiell geschichtliche Situiertheit seines Daseins, dem Aktus der Freiheit vorausgesetzt sind. Hier weicht Schelling dezidiert vom Wege Kants und Fichtes - und auch von seinen eigenen früheren Versuchen zum Thema - ab. Denn für Kant (wie auch auf andere Weise für 7 Siehe bes. 55, 27-56, 25/ SW VII, 383f. 8 Vgl. vor allem 23, 15-24, 33/ SW VII, 350-352. 192 Thomas Buchheim Fichte und den frühen Schelling) ist der Mensch, insofern wirklich frei, unmöglich an sich selbst ein Naturwesen. Und auch das Gute und Böse, die den realen Begriff der Freiheit nach Schelling regieren, sind etwa für Kant erklärtermaßen „Hervorbringungen“ der praktischen Vernunft selbst in jedem Einzelnen, 9 nicht aus dem für ein Freiheitssubjekt vorgegebenen geschichtlichen Zusammenhang erhobene Muster des Handelns. So weit kann also festgehalten werden, dass menschliche Freiheit nach Schelling die willentliche Selbstbestimmung eines geistbegabten Naturwesens ist, das zugleich gewissen geschichtlich an es herangetragenen Ansprüchen des Handelns oder Sich-Verweigerns ausgesetzt ist - Ansprüchen, die es als ein einzelnes nicht selbst gemacht und daher auch nicht selbst zu verantworten hat. Anhand dieser noch sehr vorläufigen, aber auch sehr grundsätzlichen Charakterisierung der menschlichen Freiheit nach Schelling wird m.E. sofort ersichtlich, warum die Freiheitsuntersuchung Schellings ein für die heutige Freiheitsdebatte außerordentlich interessantes und weit über Kant und Fichte hinausgehendes Exempel sein müsste. Denn das Gesagte betrifft genau die beiden Marksteine, die uns von Kants und Fichtes Deutung des freien Willens so meilenweit trennen: dass wir überzeugt sind, an uns selbst - und nicht nur in der Erscheinung - ein der Natur entstammtes Lebewesen zu sein, auch wenn sich unsere Existenz nicht im natürlichen Dasein erschöpft; und dass wir genauso sicher sind, die geschichtlichen Normen und Verhältnisse, mit denen wir uns bei unserer freien Selbstbestimmung konfrontiert sehen, nicht selbst gemacht zu haben, sondern als gewisse Vorgaben des Richtigen und Falschen unserem Freiheitsakt vorgesetzt zu bekommen. Nicht derselbe kann den Aktus der Freiheit tun, der auch in Vorschlag bringt, was gut und böse, richtig oder verfehlt sei. 10 Wenn es Schelling dennoch - trotz solcher Erschwernisse - gelungen wäre, die so natürlich und geschichtlich situierte willentliche Selbstbestimmung mit rational legitimen Mitteln denkbar und im Zusammenhang mit dem Ganzen einer im Prinzip wissenschaftlichen Weltansicht 9 Vgl. Kant, »KpV«, A 116. 10 Es versteht sich von selbst, dass den Vorschlägen guten oder bösen Handelns nicht an der Stirne geschrieben steht, sie seien das eine oder das andere, so dass sie auch niemals ungeprüft zum Bestandteil meiner freien Selbstbestimmung werden können. Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 193 haltbar zu machen, dann müsste er für unsere gegenwärtigen philosophischen Zwecke ein leuchtendes Vorbild oder zumindest ein viel gewürdigter Ausgangspunkt kritischer Weiterentwicklung des Gedankens der Freiheit sein. 3. Woher der Geist weht Bevor wir stärker in die Detailanalyse gehen, seien hier einige weniger textgedeckte Bemerkungen darüber erlaubt, was Schelling gedanklich bewältigen muss, um diesen hypothetisch wünschenswerten Freiheitsbegriff als gangbar zu erweisen. Der Mensch, wenn er zwar ein Naturwesen, aber eben nicht nur ein Naturwesen sein soll, muss durch irgendeinen Schnitt vom Naturgeschehen objektiv getrennt sein, so dass, was jenseits der menschlichen Natur ist, nicht als eine bloße Fortsetzung oder Verkomplizierung natürlichen Geschehens gedeutet werden kann. Das, was diesen Schnitt ausmacht, ist nach Schelling der menschliche Geist als ein Gefüge zweier Willen in einem individuellen Bewusstsein, des ‚Eigenwillens‘ und des ‚Universalwillen‘. Während in der Natur grundsätzlich nur eine jeweils unterschiedliche Abstimmung zwischen den eigenzentrierten Trieben und Tendenzen eines bestimmten Individuums einerseits und der viele Individuen übergreifenden Ordnung und Ausbalancierung im System andererseits besteht, ist im einzelnen menschlichen Individuum beides miteinander vereint. Das Einnehmenkönnen anderer Perspektiven und Übernehmenkönnen fremder Belange als die eigenen könnte man als den Nukleus des Geistes bezeichnen, der nicht selbst ein Naturgeschehen ist noch als solches begriffen werden kann. Auch wenn wir heute experimentieren mit einer ‚Theory of Mind‘ selbst bei anderen Primaten als dem Menschen, dann ist dies für Schelling keineswegs ein Gegenbeweis gegen seine Ansicht der Dinge. Denn Schellings These ist gerade, dass der Keim des über die Natur Hinausgehenden ursprünglich in die Natur gelegt sei und auf Gelegenheit oder Chancen harre, daraus zum Vorschein zu kommen. Warum Tiere prinzipiell keine Chance haben sollen, geistigen Ansprüchen zu genügen, ist nach Lage der Dinge einfach nicht einzusehen. Wenn es aber so wäre, wie Schelling meint, dann müsste man eben auch nicht für ausgeschlossen halten, dass nicht die Natur und das natürliche Geschehen allein die vollständige Quelle jener sich in ihr 194 Thomas Buchheim zeigenden geistigen Leistungen ist. Es ist daher wenigstens nicht irrational oder bloß kindliches Wunschdenken, Annahmen darüber zu machen, woher der Keim des Geistes - wenn nicht allein aus Natur - stammen könnte, ohne dadurch der Natur und dem natürlichen Geschehen im Geringsten seine Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit zu nehmen. Mit Schelling wiederum im Gegenteil: Der Gedanke einer Erschaffung der Welt aus Nichts gewährleistet gerade die Unabhängigkeit allen natürlichen Geschehens von den Vorgaben und Einwirkungen eines eventuell tätig gewordenen Schöpfers. Denn die Natur, so Schelling, ist ein vollständiger Erbe der göttlichen Selbständigkeit und Autarkie - 11 sehr im Unterschied zu allen antiken Konzeptionen, wo, wenn sie überhaupt angenommen wurden, die göttlichen Prinzipien einen manifesten Beitrag zum Funktionieren des natürlichen Systems leisteten. Wenn also - erst im über die Natur hinausgehenden Geist - ein Wirken Gottes offenbar und auch benötigt wird, dann bleibt alle streng naturwissenschaftliche Analyse und Untersuchung der Dinge unbelastet von solchen übernatürlichen Voraussetzungen oder Annahmen. Wissenschaftsmethodisch lässt sich gegen das Denken Schellings in diesem Punkt also nichts einwenden. Freiheitstechnisch aber ist die Annahme, nicht durch einen absurden kosmischen Zufall zur Ausübung der Freiheit berufen zu sein, m.E. völlig unverzichtbar. 4. Das Vermögen des Guten und Bösen Betrachten wir nun die ‚Einheit‘ oder das Gefüge der beiden Willen im einzelnen menschlichen Bewusstsein etwas näher, wodurch sie nämlich eins sind und überhaupt eins sein können. Diese Frage beantwortet Schelling in einer durch seine Philosophie seit langem bewährten Manier. Denn die Einheit zwischen zweien, die zugleich verwandt (als Willen) und doch gegensätzlich (als Sinne oder Orientierungen) sind, begründet Schelling regelmäßig dadurch, dass jeder von beiden wiederum beide ist, nur, wie er nicht unbedingt geschickt sagt, in einer anderen „Potenz“ oder (schon geschickter) unter einem anderen Exponenten. Der Exponent des Eigenwillens ist die Orientierung auf sich; aber zugleich ist der Eigenwille in sich ein Verhältnis dessen, was nicht 11 Vgl. 31, 13-29/ SW VII, 358f. Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 195 nur mich, sondern auch anderes und letztlich das Ganze angeht - die Belange und Interessen des Universalen - zu dem, was eben für mich wünschenswert ist und mein eigenes Interesse betrifft. D.h., auch der Eigenwille des Menschen (aber nur der des Menschen nach Schelling) ist eine Paarung von Eigen- und Universalwille unter dem Exponenten des Eigenwillens. Ähnlich wiederum der Universalwille im einzelnen Bewusstsein: Er ist der Wille unter dem Exponenten einer Berücksichtigung der Belange des mich einbindenden Ganzen. Aber in sich ist auch er mein Wille, der eigene Wille, der seine Interessen und Kräfte in ein Verhältnis zu den Belangen und Bezügen des Übergreifenden und Universalen gerückt sieht. Also ebenso wieder eine Paarung von Eigenwille und Universalwille. Die beiden Paarungen von Eigenwille und Universalwille, jeweils unter dem einen oder dem anderen Exponenten, lassen sich kurz folgendermaßen ausdrücken: Der Eigenwille des Freiheitssubjekts ist das Vermögen zur Aussetzung des mich einbegreifenden Ganzen auf meinen Willen und seine Interessen. Der Universalwille des Subjekts ist das Vermögen, mit seinem eigenen Willen einzustehen für die Belange des Ganzen. Für beide Willen gilt: Sie sind geistiger Art, d.h. involvieren die Einnahme auch anderer Perspektiven auf das eigene Willensprojekt. Als aneinandergekoppelte „Einheit“ sind sie, mit Schelling gesprochen, der Geist des Menschen als ein Vermögen des Guten und des Bösen. An dieser Stelle ist auch zu erkennen, was Schelling damit meint, dass der Geist des Menschen eine „zertrennliche“ Einheit beider Prinzipien sei, der Gottes aber (sofern wir das uns einbindende Ganze als geschaffene Welt denken) eine unzertrennliche Einheit beider sein müsse. Denn Gott ist - als absolut - zugleich Alles oder das Ganze der Wirklichkeit (wie immer man das auch spekulativ rechtfertigen mag) und der bestimmte Vollkommene, der sich als ein anderer gegenüber der geschaffenen Welt offenbart. Eigenwille und Universalwille Gottes laufen deshalb immer auf dasselbe Wollen hinaus. Nicht so beim Menschen. Der Mensch vielmehr, um zu einem handlungsmächtigen Wollen zu gelangen, muss die beiden Willenspaarungen, die verschiedene Exponenten tragen, durch gedankliches Operieren zu einer von zwei möglichen Deckungen bringen. Die eine ist, sich aus freiem Willen zum Werkzeug des Universalen zu machen, also mit dem eigenen Willen un- 196 Thomas Buchheim eingeschränkt einzustehen für die Belange des Ganzen. In diesem Fall nimmt der menschliche Geist dasjenige Gefüge an, das der ihm zugedachten Rolle innerhalb vorgegebener Gesamtordnungen entspricht. Die andere Deckungsmöglichkeit der beiden Willenspaarungen ist hingegen eine ebenso freiwillige Funktionalisierung der Belange des Ganzen für den eigenen Willen und seine partikularen Interessen. Der menschliche Geist, wie Schelling es beschreibt, ‚weicht‘ so aus dem Zentrum, in das er erschaffen worden, an die Peripherie, d.h. trennt sich von dem vorgegebenen ‚Lot‘ des Rechten, ohne deshalb bloß noch Eigenwille zu sein. 12 Das Interessante und philosophisch Intelligente daran ist, dass auch ein so sich entscheidender Geist den Universalwillen behält und gleichsam mit in das partikuläre Wollen nimmt. Denn die Funktionalisierung des Universalwillens bedeutet, dieses Wollen des Allgemeinen einzusetzen zur effektiven Verfolgung partikulärer Ziele. Entsprechend sieht sich der Geist darin gerechtfertigt, auf diese Weise das Allgemeine nutzbar zu machen für die Belange von sich: Die Zusammenhänge des Ganzen sind dazu da, um mir aufzuhelfen, meine Chancen und Kräfte zu Blüte und Einfluss zu bringen. Denn allein für sich genommen fehlt dem Universalen jegliche Wirksamkeit. Gerechtfertigt - aber nun im Sinne des universalen Willensexponenten - wäre indessen auch umgekehrt der Einsatz und die Aufwendung der eigenen Belange und Kräfte zur Förderung des Ganzen, dem schließlich auch ich angehöre und so selbst wenigstens indirekt eine Förderung beziehe. Entscheidend für die Konzeption des Geistes als komplexe Willenspaarung nach Schelling (und ich sehe keinen anderen Philosophen vor Schelling, der das so klar herausgearbeitet hat) ist die Tatsache, dass eine Willensdeckung beiderlei Art Rechtfertigung mit Beziehung auf den Universalwillen geltend machen kann. Die Entscheidung zum Bösen ist kein Scheitern vor den Ansprüchen des Allgemeinen 13 und kein bloßes Sichgehenlassen in die Heteronomie der Triebe und Begierden. Denn dies käme einem Ausstieg aus der Freiheit im Bösen gleich. Schelling legt großen Wert darauf, dass diese Selbstentlassung des Menschen aus der 12 Vgl. 37, 11-19/ SW VII, 364f.: „Dadurch aber, daß sie [sc. die Selbstheit des menschlichen Individuums] den Geist hat […] - wenn er nämlich nicht der Geist der ewigen Liebe ist - kann die Selbstheit sich trennen von dem Licht, oder der Eigenwille kann streben, das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu sein, das, was er nur ist, inwiefern er im Centro bleibt […], auch in der Peripherie oder als Geschöpf zu sein […].“ Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 197 Verantwortung und Rechenschaftspflicht freier Selbstbestimmung, die die Freiheitskonzeption Kants aus autonomer Vernunft so sehr plagt und die von Reinhold in den »Briefen« angeklagt und kritsiert wurde, 14 nicht ‚ultima irratio‘ des Bösen werde. Vielmehr ist das Böse durch und durch eine „[p]ositive“ Selbstbestimmung des freien Geistes, 15 die sich ihre eigene Rechtfertigung zurechtlegt. Der Preis, den Schelling dafür konsequent entrichtet und der für Kant allerdings unbezahlbar wäre, ist, dass der Universalwille oder das Bewusstsein des Sollens selbst in der beschriebenen Weise eine unhintergehbare Einheit mit dem Eigenwillen des natürlich entstammten Individuums bildet. Nicht reine Vernunft wohnt in uns sonst nur trieb- und neigungsgeschüttelten Wesen, sondern Vernunft gepaart mit Eigenwille - wenn auch unter dem Exponenten des Universalen. Der Mensch behält einen rechthaberischen Willen im Guten wie im Bösen. Wir können nun den hypothetischen Begriff menschlicher Freiheit nach Schelling um ein wichtiges Moment erweitern: Menschliche Freiheit ist die willentliche Selbstbestimmung eines als Natur- und zugleich geschichtliches Wesen situierten Individuums, im Zuge derer die unhintergehbare Paarung von Eigenwille und Universalwille in seinem Geist durch entsprechende gedankliche Zurechtlegungen zu einem von zwei möglichen Deckungsmodi zu entscheiden ist. Jeder der Deckungsmodi leistet, weil aus geistiger Selbstbestimmung herrührend, eine in bestimmter Weise gerechtfertigte Integration der von Haus aus divergenten Einheit der beiden Willen. 5. Die Vorhaltungen des Guten und Bösen in der menschlichen Situation Dem Einzelnen ein begrifflich durchsichtiges Vermögen zum Guten oder Bösen zuzuschreiben, reicht für die Klärung der spezifischen Differenz der menschlichen Freiheit nicht aus. Denn gerade wenn der Mensch sich gerechtfertigt sieht, auch wenn er aus Freiheit das Böse tut, 13 So wie Kant in der »Metaphysik der Sitten«, den darüber mit Reinhold und Creuzer ausgebrochenen Streit für sich abschließend, meinte: „Die Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen.“ (AA VI, 227). 198 Thomas Buchheim 14 Die Anknüpfung Schellings an Reinholds Kritik in diesem Punkt ist von Hermanni (Anm. 2), bes. 133-136, klar herausgestellt worden; vgl. dazu auch Peetz (Anm. 2), 202-210, der jedoch Schellings Versuch, die Reinholdsche Wahlfreiheit in einen transzendentalen Selbstbestimmungsakt umzuformen, mit m.E. nicht zwingender Begründung für undurchführbar hält (vgl. „logischer Fehler“, 211-217 ; „selbstwidersprüchlich“, 211; „hölzernes Eisen“, 212; „Selbstwiderspruch“, 216). Dass Schelling schon seit längerem versuchte, die Reinholdsche Kritik an Kant in seiner eigenen Freiheitskonzeption zu berücksichtigen, zeigt für die Zeit vor der »Freiheitsschrift« Andreas Schmidt, » Wille und Willkür. Zum Begriff der Willensfreiheit in der Frühphilosophie Schelling « im vorliegenden Band. Ich führe hier nur einige Stellen aus Reinholds »Briefen« an: Bd. II, 8. Brief, 297f.: „In der sittlichen Handlung ist absolute praktische Notwendigkeit und Freyheit in soferne vereinigt, als das absolut nothwendige Gesetz, die Wirkung der praktischen Vernunft, durch Willkür in einem gegebenen Falle ausgeführt, und in soferne zur Wirkung der Freyheit gemacht ist. In der unsittlichen Handlung ist die Naturnothwendigkeit und die Freyheit in soferne vereinigt, als die bloß dem Naturgesetze des Begehrens gemäße, aber dem praktischen Gesetze widersprechende Forderung des eigennützigen Triebes durch Willkühr ausgeführt, und in soferne zur Wirkung der Freyheit erhoben ist. Der Wille unterwirft sich daher entweder der moralischen oder der Naturnothwendigkeit durch sich selbst; “ siehe ebd., 307f.: „Die Person kann sich nur in soferne zur wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung der Forderung des eigennützigen Triebes durch sich selbst bestimmen, sie hat nur insofern Willen, als sie durch den uneigennützigen von den Forderungen des eigennützigen, und durch Willkür von den Forderungen beyder unabhängig ist. In dieser zweyfachen Unabhängigkeit besteht die negative, und in der Willkür, oder dem Vermögen sich für eine der beyden Forderungen selbst zu bestimmen, die positive Freyheit des Willens, die sich eben darum nie ohne die Ankündigung beyder Forderungen im Bewußtseyn, und folglich nie ohne Selbstbestimmung für oder gegen das praktische Gesetz, oder ohne Moralität denken läßt.“ Indessen ist schon aus diesen wenigen Zitaten ersichtlich, dass Schelling die Reinholdsche Kritik zwar aufnimmt (vgl. etwa Schellings »Freiheitsschrift«, z.B. 37, 2f./ SW VII, 364; 46, 3-7/ SW VII, 374), aber konzeptionell erheblich überlegen ist. Während nämlich bei Reinhold einerseits der eigennützige Naturtrieb, andererseits praktische Vernunft für sich rein voneinander geschieden sind und das Vermögen der freien Willkür zwischen ihnen wie ein Drittes, von beiden Angesprochenes aus eigener obskurer Ressource eine Wahl trifft („ein besonderes Grundvermögen der Person“, a. a. O., 526), betont Schelling in der erklärten Weise die Einheit des Geistes aus beiden Willen, so dass aus noch näher darzulegenden Gründen auch die Entscheidung des Geistes nicht aus einer neuen Quelle zwischen ihnen schöpfen muss, sondern durch nachvollziehbares Operieren den einen oder anderen Deckungsmodus herbeiführt. Eine Rechtfertigung zur unsittlichen Handlung könnte die nach Reinholdschen Prinzipien entscheidende Willkür niemals geltend machen. Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 199 braucht es eine von seiner geistigen Operation unabhängige Eichung oder Vorgabe dessen, was gut, und im Unterschied dazu, was böse ist. Diese Eichmarken des Guten und Bösen gewinnt Schelling aus der vorbeschriebenen Situiertheit des menschlichen Geistes in die Natur einerseits und in einen geschichtlich verwobenen Zusammenhang des eigenen Handelns mit dem Handeln anderer Freiheitssubjekte andererseits. Es ist nicht wahr, dass der Mensch erst durch den nach Schelling bis in die Schöpfung zurückreichenden Aktus der Freiheit zu einer Natur kommt; und auch nicht, dass er erst dadurch ein geschichtlich existierendes Wesen wäre. In der eindeutig dem Aktus vorausgehenden „Angst des Lebens“ erkennt Schelling vielmehr mit vollem Recht eine Voraussetzung seiner freien Selbstbestimmung: die natürlich-fragile und angesichts der geschichtlich an ihn herangetragenen Ansprüche sehr zum Ausweichen aufgelegte Befindlichkeit des menschlichen Individuums. „Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Centrum, in das er erschaffen worden: denn dieses als das lauterste Wesen alles Willens ist für jeden besonderen Willen verzehrendes Feuer; um in ihm leben zu können, muß der Mensch aller Eigenheit absterben, weshalb es ein fast notwendiger Versuch ist, aus diesem in die Peripherie herauszutreten, um da eine Ruhe der Selbstheit zu suchen. Daher die allgemeine Notwendigkeit der Sünde und des Todes, als des wirklichen Absterbens der Eigenheit, durch welches aller menschlicher Wille als ein Feuer hindurchgehen muß, um geläutert zu werden. Dieser allgemeinen Notwendigkeit ohnerachtet bleibt das Böse immer die eigne Wahl des Menschen.“ (53, 25-36/ SW VII, 381f.) Der Tod ist jedenfalls mit der Existenz des Menschen als Naturwesen verknüpft. Nach dem zitierten Satz gibt es allerdings zwei verschiedene Weisen, ihn zu erleiden. Die eine wäre das aus freiem Willen auf sich genommene „Absterben […] der Eigenheit“. So würde der Mensch aus freier Entscheidung in das „Centrum“ einkehren, „in das er erschaffen 15 Vgl. 41, 3-6/ SW VII, 369: „Der Grund des Bösen muß also nicht nur in etwas Positivem überhaupt [wie z.B. der Natur des Menschen], sondern eher in dem höchsten Positiven liegen, das die Natur enthält [dem Geist als Verbindung von Eigenwille und Universalwille in einem Naturwesen], wie es nach unserer Ansicht allerdings der Fall ist […].“ Vgl. ferner 43, 16-20/ SW VII, 371: „Aber eben jene falsche Einheit zu erklären, bedarf es etwas Positives, welches sonach im Bösen notwendig angenommen werden muß, aber so lange unerklärbar bleiben wird, als nicht eine Wurzel der Freiheit in dem unabhängigen Grunde der Natur erkannt ist.“ 200 Thomas Buchheim worden“, d.h. sich völlig und ausschließlich für die Belange des Universalen verwenden, was immer dies für ihn selbst auch mit sich brächte. Der andere Tod ist der, der uns allen bevorsteht, soweit wir im Gegenteil versuchen, nicht unserer Eigenheit freiwillig zu entsagen, sondern an der „Peripherie“ als selbstzentriertes Freiheitssubjekt unsere je eigenen Wege zu gehen. In jedem der beiden Fälle unserer freien Entscheidung gilt: Wir müssen sterben. 16 Dies ist das natürliche Erbe unserer endlichen Existenz. Anders als in manchen traditionellen Auffassungen zum Thema 17 ist also die generelle Todeszumutung nach Schelling nicht erst das Ergebnis der Freiheitsentscheidung des Menschen. Vielmehr ist die Todverfallenheit als ein unausweichliches Erbteil dem Bewusstsein, das zur Entscheidung erst schreitet, eingebrannt. Die Natur des Menschen ist somit präsent im transzendentalen Aktus der Freiheit. Für die allgemeine Notwendigkeit der Sünde gilt nach Schelling das Gleiche. 18 Allgemeine Notwendigkeit auf die Sünde bezogen heißt, dass 16 Der im letzten Zitat angeführte Satz Schellings: „Daher die allgemeine Notwendigkeit […] des Todes, als des wirklichen Absterbens der Eigenheit, durch das aller menschlicher Wille als ein Feuer hindurchgehen muß, […]“, spricht eine entschieden andere Sprache als die ein gutes Jahr späteren »Stuttgarter Privatvorlesungen«, nach deren Aussage der Tod erst zu einer Folge des Sündenfalls, d.h. der menschlichen Freiheitsentscheidung erklärt wird: „Auch in der Natur ist ein Böses, Gift z.B., die Krankheit, und was der höchste Beweis der Wirklichkeit eines solchen Rückfalls der ganzen Natur und insbesondere des Menschen ist - der Tod“ (SW VII, 459). Während dem Menschen hier prälapsarisch eine Natur ohne Tod zugebilligt wird, muss der »Freiheitsschrift« zufolge aller menschliche Wille durch den Tod auf eine von zwei möglichen Weisen geläutert werden. Zwischen beiden Schriften liegt bekanntlich der Tod Carolines, der Schelling durchaus so getroffen haben könnte, dass er nicht mehr bereit war, im Tod eine ganz allgemeine Bedingung der menschlichen Freiheit zu erkennen. 17 Die traditionelle Auffassung, die zurückgeht auf Paulus (Röm 5-6), lautet, dass der Mensch seit Adams Sünde ganz allgemein der Sünde verfallen und auch erst deswegen mit dem Tode belangt wurde, aus dem er wiederum nur mit und durch Christus zu ewigem Leben nach dem Tode gerettet werden kann. 18 In der Schellingschen „Angst des Lebens“ sind also die uns erst a posteriori konkret betreffenden Situationen der Natürlichkeit (Ausgesetztheit dem Tod und der Vernichtung) und der Anfälligkeit für das Böse in einer generalisierten Form rückgespiegelt in die apriorische Verfassung des endlichen Freiheitswesens Mensch und können auf diese Weise dem transzendentalen Selbstbestimmungsakt der Freiheit sehr wohl vorgeordnet sein. Dass Peetz bei aller herben Kritik an Schellings Freiheitskonzeption diese Gedankenfigur („Angst des Lebens“) nicht einmal erwähnt, geschweige denn ihre systematische Rolle berücksichtigt, macht es ihm leicht, Schellings Begriff der Selbstwidersprüchlichkeit zu überführen. Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 201 für die menschliche Freiheit keine Welt ohne die Manifestation des Bösen möglich ist. 19 Diese Manifestation muss allerdings, wie Schelling hinzufügt, nicht durch irgendeinen Menschen selbst ergriffen und so zur wirklichen, individuell zurechenbaren bösen Tat werden. Aber sie muss an ihn herangetragen werden als eine deutliche Alternative zu dem, was die gute Tat von ihm verlangt. Durch diese Enge muss der menschliche Aktus der Freiheit nach Schelling unnachlasslich hindurchgehen. Denn nur auf diese Weise ist es die eigene Leistung des menschlichen Geistes, das Gute anstatt der zugleich sich zeigenden Möglichkeit des Bösen zu tun. Die Beschreibungen, der natürlichen und geschichtlichen Vorbilder des Bösen und des Guten, die Schelling auf den Seiten 48-52 (SW VII, 376-380) der »Freiheitsschrift« gibt, dienen also zum Beleg der für die menschliche Freiheit unvermeidlich vorgeordneten Situiertheit in Natur und Geschichte. Auch wenn wir nicht wissen können, wie Natur und Geschichte aussähen, wenn der Mensch sich im Aktus der Freiheit nicht zum Bösen bestimmte, so ist doch völlig klar, dass er nach Schellings hypothetischem Begriff der menschlichen Freiheit auch so eine dem Tod ausgesetzte Natur und eine die Sünde vor Augen stellende Geschichte haben müsste. Die konkreten Beispiele, die Schelling dafür anführen kann, stammen freilich aus der durch menschliche Bosheit getrübten Natur und der gefallenen Menschheitsgeschichte. Aber das ist kein Einwand gegen das Gesagte. Wiederum lässt sich ein weiterer Stein zum hypothetischen Begriffsmosaik der menschlichen Freiheit hinzufügen: Sie ist die willentliche Selbstbestimmung eines natürlich und geschichtlich situierten Individuums, das sich eingedenk der eigenen natürlichen Fragilität und Bedrohtheit durch Tod und Vernichtung dazu aufgerufen weiß, einen den verführerischen Lösungen der Unmoral geistig widerstehenden Deckungsmodus der Paarung von Eigenwille und Universalwille zu erzielen. 19 Vgl. auch 45, 14-21/ SW VII, 373: „Und zwar ist zu erklären nicht etwa, wie das Böse nur im einzelnen Menschen wirklich werde, sondern seine universelle Wirksamkeit, oder wie es als ein unverkennbar allgemeines, mit dem Guten überall im Kampf liegendes Prinzip aus der Schöpfung habe hervorbrechen können. Da es unleugbar, wenigstens als allgemeiner Gegensatz, wirklich ist, so kann zwar zum voraus kein Zweifel sein, daß es zur Offenbarung Gottes notwendig gewesen“. 202 Thomas Buchheim 6. Der ‚formelle‘ Aktus der Freiheit 6.1. Keine freie Entscheidung ohne Grund Für die Darlegung der ‚formellen Freiheit‘ im Falle des Menschen (ab 54, 9/ SW VII, 382) greift Schelling, wie er selbst sagt, auf mehr oder weniger bekannte Lehrstücke von Kant und Fichte zurück und knüpft auch an seine eigenen von Spinoza mitgeprägten Auffassungen aus dem Identitätssystem an. Mit diesen Elementen will er den Akt der menschlichen Selbstbestimmung selbst unter den gegebenen erschwerten Bedingungen näher charakterisieren, was ihm m.E. nicht ganz ohne drohende Inkonsistenzen gelingt, die allerdings wiederum nicht unausräumbar zu sein scheinen. 20 Am klarsten werden die Dinge, wenn man die verschiedenen Ziele, die Schelling mit seiner Konzeption verfolgt und sozusagen ‚halten‘ möchte, Schritt für Schritt hervorhebt. Der erste Punkt besteht in der entschiedenen Abweisung von Freiheit im Sinne der Indifferenz. Der Aktus der Selbstbestimmung muss nach Schelling als in sich begründete Wendung des Willens zur Entschiedenheit des guten oder bösen Handelns verstanden werden. „[…] wenn Freiheit nicht anders als mit der gänzlichen Zufälligkeit der Handlungen zu retten ist, so ist sie überhaupt nicht zu retten.“ (55, 4-6/ SW VII, 383) Der verfehlten Freiheit qua grundloser Zufälligkeit setzt 20 Vor allem Peetz (Anm. 2), 211-216, macht mit einigem Recht auf solche Inkonsistenzen aufmerksam, die er jedoch, anders als ich, für unüberwindbar hält. Nach seiner Meinung möchte Schelling Wahlfreiheit, die immer so etwas wie ein Bewusstsein von Alternativen und Überlegung zwischen ihnen voraussetzt, in eine „absolute Entscheidung“, d.h. den transzendentalen Selbstsetzungsakt der Freiheit überführen. Das aber sei unmöglich, weil Überlegen ein Selbstverhältnis schon voraussetze, während Freiheit im Sinne absoluter Entscheidung dasselbe erst begründen solle. M.E. kann man Peetz nicht darin zustimmen, dass der Mensch nach Schellings Auffassung nicht, dem Aktus seiner Freiheit begrifflich vorausgehend, bereits ein bewusstes Selbstverhältnis und darin auch Voraussicht auf zu entscheidende Alternativen habe. Dies vielmehr war, wie oben gezeigt, die wichtigste Pointe seiner naturphilosophisch begründeten Konstitution als endlicher Geist, der sich im Aktus der Freiheit nur noch zu einer von zwei Deckungsgestalten der Paarung von Universal- und Eigenwille zu entscheiden hat. Ein Selbstverhältnis kann, transzendental betrachtet, mehrere einander über- oder untergeordnete Konstitutionsstufen haben, so wie es auch empirisch - etwa beim Aufwachen - durch mehrere Schichten hindurch erst zu seiner vollen Ausprägung gelangt. Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 203 Schelling als anderes, aber ebenso verfehltes Extrem die „empirische Notwendigkeit“ des entweder physischen oder psychischen „Determinismus“ (55, 7f./ SW VII, 383) entgegen und schreibt: „Beide Systeme gehören dem nämlichen Standpunkt an; nur daß, wenn es einmal keinen höheren gäbe, das letzte unleugbar den Vorzug verdiente. Beiden gleich unbekannt ist jene höhere Notwendigkeit, die gleichweit entfernt ist von Zufall, als Zwang oder äußerem Bestimmtwerden, die vielmehr eine innere, aus dem Wesen des Handelnden selbst quellende Notwendigkeit ist.“ (55, 13-18/ SW VII, 383) So wenig eine Entscheidung aus Freiheit grundlosem Zufall gleichkommen darf, so wenig darf ihr Ergebnis durch irgendwelche Faktoren erzwungen sein. Zwischen Zwang und Zufall muss ein Drittes denkbar sein, das ein freies Subjekt eindeutig zur bestimmten Handlung führt, ohne es zu überwältigen. Dieses Dritte deutet Schelling als „innere“, weil aus dem Wesen selbst stammende „Notwendigkeit“. Dass die Bestimmung von innen oder vom Wesen selbst kommt, pariert offenkundig den Zwang, welcher immer durch ein ‚Fremdes‘ oder ‚Äußeres‘ auferlegt erschiene; dass sie mit Notwendigkeit erfolgt, soll eine zureichende Verknüpfung zwischen dem Wesen und der bestimmten Handlung gewährleisten. Beides ist aber als Lösung des gestellten Problems nicht unbedingt überzeugend. Denn zum einen gibt es Formen des inneren Zwangs (wie z.B. zwanghafte Handlungen oder der Ödipuskomplex). Zum anderen bedroht eine notwendige Verbindung zwischen Wesen und bestimmter Handlung, wird sie modal konsequent gedacht, schon allein die Möglichkeit, dass jenes Wesen zu einer anderen Bestimmung gelangen könnte als dieser. Eine Bestimmung aus Freiheit sollte aber nicht so ausschlagen, dass jede andere Möglichkeit außer der ergriffenen für das sich bestimmende Wesen unmöglich heißen muss. Doch scheint mir das Konzept der inneren Notwendigkeit keineswegs die einzige und nicht einmal nächstliegende Weise zu sein, wie sich ein solches ‚Drittes‘ zwischen Zufall und Zwang begreifen ließe. Vielmehr könnte man die geforderte Brücke zur Tat als eindeutige Explikation oder selbstgetreueste Zuspitzung zur Bestimmtheit des Handelns beschreiben. Geläufig ist dafür auch der Ausdruck einer ‚Determination‘ des Handelns durch Art und Neigung des betreffenden Wesens. 21 So hätte man bei gleicher Leistungsfähigkeit in Bezug auf das gestellte Problem (hinreichende Begründung ohne entmündigenden Zwang) weder von der unklaren Unterscheidung zwischen Innerem und Äußerem 204 Thomas Buchheim Gebrauch gemacht, noch nach allgemeinen Umformungsregeln modaler Ausdrücke die Freiheit mit der direkten Verneinung von alternativer Möglichkeit belastet. Mit Schelling festzuhalten ist aber jedenfalls, dass die selbstbestimmte Freiheitstat auf keinen Fall als grundlose Zufälligkeit zu verstehen ist, sondern vielmehr eine in sich begründete, aus dem Freiheitssubjekt selbst herrührende Wendung zur so oder anders bestimmten Tat erfordert. 6.2. Die Integration des Selbst bei seiner Entscheidung Unbeschadet der Tatsache, dass jeder einzelne Mensch durch gewisse Naturzusammenhänge ins Leben tritt und an bestimmter Stelle im Gewebe der Menschheitsgeschichte existiert, 22 behauptet Schelling die Möglichkeit freier Selbstbestimmung eines jeden, der das oben beschriebene Vermögen zum Guten und zum Bösen besitzt. Da, wie schon gesagt, der Geist nicht als ein Produkt der natürlichen Prozesszusammenhänge zu begreifen ist, sondern diese nur die Gelegenheiten seines Auftretens bilden, gibt es nach Schelling keinen Grund anzunehmen, dass er in seinem Operieren denselben zeitlichen Sukzessionsgesetzen folgt wie die physikalisch beschreibbare Realität. „[…] [E]rst der Idealismus hat die Lehre von der Freiheit in dasjenige Gebiet erhoben, wo sie allein verständlich ist. Das intelligible Wesen jedes Dings, und vorzüglich des Menschen, ist diesem zufolge außer allem Kausalzusammenhang, wie außer oder über aller Zeit.“ (55, 23-27/ SW VII, 383) 21 Die Beziehung der Determination eines Bestimmungsergebnisses durch bestimmende Faktoren erfordert Eindeutigkeit und Stetigkeit, nicht aber Notwendigkeit: Nur je ein einziges Element des Zielbereiches ist mit jeder vollständigen Belegung der Ausgangsmatrix (den ‚Determinanten‘ - also hier dem Charakter des menschlichen Wesens) verknüpft, und es gibt keine Sprünge oder Brüche im Bestimmungsergebnis bei stetig variierter Belegung der Ausgangsmatrix. Von einer Notwendigkeit der Determinationsbeziehung könnte erst dort die Rede sein, wo ein anderes Bestimmungsergebnis entweder selbstwidersprüchlich wäre, oder wo trotz gewisser Variationen in der Belegung der Ausgangsmatrix immer dasselbe Bestimmungsergebnis erzielt würde. 22 Siehe 57, 27/ SW VII, 385. Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 205 Der Sinn der Herausnehmung des Freiheitsaktes aus der zeitlichkausalen Abfolge der Geschehnisse besteht nicht etwa darin, dass außerhalb der Zeitfolge alles leicht und ohne hindernde Voraussetzungen geschähe. Eher im Gegenteil: Da die freie Entscheidung selbstbestimmt sein und nicht einer momentanen Lage der Dinge entspringen soll, ist eine Verdichtung und Zusammenführung aller freiheitsrelevanten Züge des Selbst - der begünstigenden ebenso wie der hindernden - zu leisten, die innerhalb der zeitlichen Zerdehnung des Lebens und seiner Momentzustände nicht möglich wäre. Der zeitlichen Partialisierung der Kräfte und Situationen ist die „Einheit“ des Selbst als vorgeordnet zu denken, was im Zuge freier Reflexion eines denkenden Subjekts keineswegs eine überirdische Handlungsanforderung an das endliche Ich stellt. „Es kann daher nie durch irgend etwas Vorhergehendes bestimmt sein, indem es selbst vielmehr allem andern, das in ihm ist oder wird, nicht sowohl der Zeit, als dem Begriff nach als absolute Einheit vorangeht, die immer schon ganz und vollendet da sein muß, damit die einzelne Handlung oder Bestimmung in ihr möglich sei.“ (55, 27-32/ SW VII, 383) Nicht in zeitlichen Kausalzusammenhängen zu stehen, bedeutet nach Schellings Meinung selbstverständlich nicht, auch nicht in Sinn- oder geistigen Zusammenhängen zu stehen. Prämissen und Folgerung eines mathematischen Beweises oder erlittene Kränkung und beleidigte Reaktion stehen sehr wohl in Bestimmungszusammenhängen, aber nicht in denen der natürlichen Kausalität. In der Tat nehmen wir auch heute in nur wenigen, eher exotischen Segmenten der wissenschaftlich-philosophischen Theoriebildung an, dass geistige Operationen nicht nur mit natürlichen Prozessen korrelieren, sondern sogar identisch mit ihnen seien, so dass sie insgesamt auch physikalischen Gesetzmäßigkeiten des Voranschreitens unterliegen müssten. Die vollständige Naturalisierung von allem, was geschieht und gewisse Folgen in der Wirklichkeit zeitigt, machte menschliche Freiheit zu einem Ding der Unmöglichkeit. 23 Dabei liegt es keineswegs an der Determiniertheit der Naturprozesse, dass natursituierte Willensfreiheit im starken Sinn nicht gedacht werden könnte. 24 Vielmehr liegt es an der manchmal geforderten Unbeschränktheit ihrer Zuständigkeit, das, was geschieht, in letzter Analyse vollständig erklärbar zu machen. Diese Unbeschränktheit ist aber nur eine 23 Diese m.E. richtige These von der „naturalistischen Unterbestimmtheit“ unserer freien Entscheidung wird aufgestellt und verteidigt von Julian Nida- Rümelin, in: »Über menschliche Freiheit«, Stuttgart 2005, 35, 74-78. 206 Thomas Buchheim Art metaphysisches Dogma, für dessen Wahrheit wenig spricht. Wenn geistige Zusammenhänge und Operationen zu eindeutig bestimmten Folgen führen, dann sind sie mit einer kausalmechanisch prozedierenden Natur verträglich, ohne damit gleichgesetzt werden zu müssen; ja Schelling geht (wenn auch, wie dargelegt, unnötigerweise) so weit, dass beide Arten von Zusammenhängen - der der zeitlich sukzessiven Naturkausalität und der der Bestimmungszusammenhänge des Geistes - sogar notwendige Determination der Folgen durch ihre Antezedentien leisteten. Beide Determinationsformen können also durchaus in einer Welt Platz haben und auch systematisch miteinander verbunden sein, ohne die menschliche Freiheit deswegen illusionär zu machen. 24 Vgl. dazu Buchheim, Th., »Unser Verlangen nach Freiheit. Kein Traum, sondern Drama mit Zukunft«, Hamburg 2006, 74-87. Schon Leibniz und Russell wandten sich entschieden gegen die Verwechslung von gesetzmäßiger Determination eines Ereignisses durch gewisse Determinanten, welche es auch seien, und der Notwendigkeit seines Eintretens. Vgl. dazu Leibniz, G. W., »Nouveaux Essais« I, Kap. 21, §13: „Man muß aber das Notwendige von dem Kontingenten, wenn dieses auch determiniert ist, unterscheiden. Nicht allein sind die kontingenten Wahrheiten nicht notwendig, sondern es sind auch ihre Zusammenhänge [liaisons] von keiner absoluten Notwendigkeit, denn man muß zugeben, daß es einen Unterschied der Determinationsweise gibt zwischen den Folgen, die bei notwendigen und solchen, die bei kontingenten Sachverhalten statthaben. Die geometrischen und metaphysischen Folgerungen nezessitieren, die physischen und moralischen aber machen nur geneigt, ohne zu nezessitieren.“ Sowie Russell, B., »On the Notion of Cause«, in: Mysticism and logic and other essays, London zuerst 1917, ND 1989, 173-199, 197f.: „The notion of necessity, which is often associated with determinism, is a confused notion not legitimately deducible from determinism. […] A proposition is necessary with respect to a given constituent when it is the value, with that constituent as argument, of a necessary propositional function, in other words, when it remains true however that constituent may be varied. In this sense, in a deterministic system, the connection of a volition with its determininants is necessary, if the time at which the determinants occur be taken as the constituent to be varied, the time-interval between the determinants and the volition being kept constant.“ Dies aber bedeutet offensichtlich nicht mehr, als dass es, vorausgesetzt der Wille wäre eingebettet in ein deterministisches System, erstens überhaupt irgendwelche Determinanten eines bestimmten Wollens gibt und zweitens gleichgültig ist, zu welcher Zeit der betreffende Determinationszusammenhang sich etabliert. Ohne Berücksichtigung des Zeitpunktes ließe sich auch nach Meinung Russells in keinem Sinn sagen, dass ein notwendiger Zusammenhang zwischen den inhaltlich signifikanten Determinanten eines Willens und seiner Bestimmtheit bestehe. Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 207 Die Schwierigkeit, die zugegebenerweise über die bloße Verträglichkeit beider Bestimmungszusammenhänge hinaus besteht, liegt in der These, dass die Bestimmungen aus Freiheit gestaltende Kraft auch für das naturbestimmte Dasein eines Menschen haben können. Schelling löst dieses Problem der kausalen Vorordnung der freien Selbstbestimmung, wie vor ihm Kant 25 , dadurch, dass der Naturkontext insgesamt ein holistischer Ausdruck derselben Quelle des Wirklichkeitszusammenhangs ist, von der auch die Kraft des freien Geistes zur Selbstbestimmung gespeist wird. 6.3. Erhaltung der Zurechnung Der Akt der Freiheit darf nach Schelling drittens nicht so gedacht werden, dass die erzielte Bestimmtheit des Handelns - wegen der inneren Konsequenz und Folgerichtigkeit, die ihr zukommen muss - mit dem Verlust der Freiheit bezahlt wird. So als würde die Freiheitsquelle ver- 25 Vgl. Kant, »KpV«, A 175: „Aber eben dasselbe Subjekt, das sich anderseits auch seiner, als Dinges an sich selbst, bewußt ist, betrachtet auch sein Dasein, so fern es nicht unter Zeitbedingungen steht, sich selbst aber nur als bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch Vernunft selbst gibt, und in diesem seinem Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung, sondern jede Handlung, und überhaupt jede dem innern Sinne gemäß wechselnde Bestimmung seines Daseins, selbst die ganze Reihenfolge seiner Existenz, als Sinnenwesen, ist im Bewußtsein seiner intelligiblen Existenz nichts als Folge, niemals aber Bestimmungsgrund seiner Kausalität, als Noumens, anzusehen. In diesem Betracht nun kann das vernünftige Wesen, von einer jeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob sie gleich, als Erscheinung, in dem Vergangenen hinreichend bestimmt, und so fern unausbleiblich notwendig ist, mit Recht sagen, daß er sie hätte unterlassen können; denn sie, mit allem Vergangenen, das sie bestimmt, gehört zu einem einzigen Phänomen seines Charakters, den er sich selbst verschafft, und nach welchem er sich, als einer von aller Sinnlichkeit unabhängigen Ursache, die Kausalität der Erscheinungen selbst zurechnet.“ Die Änderungen, die Schelling an dieser Konzeption vornimmt, um im Prinzip an ihr festhalten zu können, sind offenkundig: Zurückgedacht in Gottes Schöpfung kann die freie menschliche Handlung auch die Abfolgeordnung einer als Realität an sich geschaffenen Natur suspendieren; zudem ist, wie oben gezeigt, der Zusammenhang der natürlichen Abläufe nicht von stärkerer Determinationskraft als die der inneren Notwendigkeit bestimmten Handelns aus dem sich selbst setzenden Wesen, das „an sich“, d.h. in der Gesamtheit seines Handelns, dennoch frei gewählt wird und also in Beziehung auf diese Gesamtheit auch anders könnte. 208 Thomas Buchheim lassen, indem sie konkret wird und zur Tat schreitet. 26 Denn so würde, wie Schelling sagt, „da die Handlung aus ihm [sc. dem Wesen] nur mit Notwendigkeit folgen kann, die Zurechnungsfähigkeit und alle Freiheit aufgehoben“ (57, 1-3/ SW VII, 385). Ausgeschlossen werden muss also ein Räsonnement folgender Art: Nachdem ich nun einmal so bin, wie ich bin (ob aus Freiheit oder nicht, sei dahingestellt), war ich in meiner aus diesem Sosein folgenden Handlung nicht mehr frei. Vielmehr kann ich niemals vor den schon immer geschehenen Urakt der überzeitlichen Wesensgründung zurück, bin so ein für allemal zum Sklaven meiner selbst geworden. Selbstbestimmung darf nicht so gedacht werden, dass zuerst ein gewisses ‚Selbst‘ zur Gegebenheit gebracht ist, das sodann charakteristische Handlungsweisen und Ausprägungen seiner Bestimmung zur unvermeidlichen Konsequenz hat. Sondern wie die Krümmung einer Kurve nicht durch den räumlichen Abstand zwischen zwei Punkten auf ihr erst gestiftet wird, so wenig wird die Wendigkeit der selbstbestimmten Freiheit durch das Aufreißen einer Kluft zwischen Freiheitsquelle und Freiheitsfolge begründet. Vielmehr muss die ‚wendige‘ Qualität der Freiheit im Ergebnis der Selbstbestimmung festgehalten und mitgenommen werden. 27 Dies scheinen auch die hier etwas beschwörend und unklar wirkenden Formulierungen Schellings zu besagen: „Aber eben jene innere Notwendigkeit ist selber die Freiheit; das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigne Tat; Notwendigkeit und Freiheit stehen in einander, als Ein Wesen, das nur von verschiedenen Seiten betrachtet als das eine oder andere erscheint; an sich Freiheit, formell Notwendigkeit ist. Das Ich, sagt Fichte, ist seine eigne Tat; Bewußtsein ist Selbstsetzen - aber das Ich ist nichts von diesem verschiedenes, sondern eben das Selbstsetzen selber.“ (57, 3-10/ SW VII, 385) Das Wesen, das sich selbst bestimmt, darf nichts anderes sein, als die Handlung zu der es sich bestimmt, um nicht über dem Bestimmtsein die Freiheit, sich zu bestimmen, einzubüßen. Deshalb muss dieses Freiheitswesen insgesamt als selbstbestimmtes Sich-Wenden zu bestimmtem Tun, 26 Dieser Punkt wird mit Recht hervorgehoben und besonders betont von Sturma, D., »Präreflexive Freiheit und menschliche Selbstbestimmung (382- 394)«, in: F. W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit (Klassiker auslegen Bd. 3), hg. v. O. Höffe und A. Pieper, Berlin 1995, 149-172, bes. 160- 171. 27 Florig, (Anm. 2), 169-173, bezeichnet dies treffend als eine „gewisse Offenheit der menschlichen Selbstformierung“. Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 209 d.h. als nichts anderes denn ‚seine eigne Tat‘ begriffen werden. Nicht ein Akteur, der aus sich tätig wird, sondern ein Tun auf der Wende zu … Schelling gebraucht hier die Fichtesche Formel vom ‚Bewußtsein‘ als ‚Selbstsetzen‘. Aber ein Selbstsetzen, das, wie er betont, nicht nur denkend oder erkennend sich als ein Schon-Gegebenes ‚erfaßt‘, sondern eines, das zugleich mit der Erfassung vor sich geht und sich in bestimmter Gestalt gibt oder ins Werk setzt. Die Wendigkeit oder Alternativität der Freiheit bleibt auf frischer Tat erhalten, solange sie bestimmend tätig ist. Die drei beschriebenen Züge formeller Freiheit, die Schelling bis hierher beschrieben hat, können nun in den hypothetischen Begriff menschlicher Freiheit eingesetzt werden. Sie erläutern, was in Schellings Sinn unter ‚Selbstbestimmung‘ näher zu verstehen ist: das aus innerem Grund vor sich gehende reale Sich-Geben der Person, welches trotz eindeutig determinierender Festlegung ihres Tätigseins im Ergebnis die Selbstzurechnung wahrt. 7. Die Wurzel freier Entscheidung Erst an diesem Punkt der Argumentation kehrt Schelling von der Erläuterung eines allgemeinen und gemeinsam mit seinen Vorgängern erarbeiteten ‚idealistischen‘ Begriffs formeller Freiheit nunmehr zur Erörterung der spezifisch menschlichen Freiheit in ihrer vorher dargestellten Problementwicklung zurück: „Aber in viel bestimmterem als diesem allgemeinen Sinne gelten jene Wahrheiten in der unmittelbaren Beziehung auf den Menschen. Der Mensch ist in der ursprünglichen Schöpfung, wie gezeigt, ein unentschiedenes Wesen […]; nur er selbst kann sich entscheiden. Aber diese Entscheidung kann nicht in die Zeit fallen; sie fällt außer aller Zeit und daher mit der ersten Schöpfung (wenn gleich als eine von ihr verschiedene Tat) zusammen.“ (57, 18-26/ SW VII, 385) Hier werden die Erfordernisse und Qualitäten des Aktus der Freiheit im Allgemeinen angewendet auf die vom menschlichen Geist in der Schilderung Schellings zu treffende Entscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen. Weil der Freiheitsaktus jedenfalls nicht innerhalb der Linearität sukzessiver Naturkausalität stattfindet, kann sich der Mensch im Ansatz seiner Freiheit legitimerweise zurückdenken in das ur- 210 Thomas Buchheim sprüngliche Verhältnis der Eigenständigkeit und zugleich Abkünftigkeit seines Handlungsvermögens von Gott. Denn die menschliche Freiheit ist auf keinen Fall bloßes Zufallsprodukt natürlicher Prozessualität, aber auch auf keinen Fall unbehelligt von den Einschränkungen der Endlichkeit. Wie deutlich geworden, ist der Ansatzpunkt meiner Freiheitsentscheidung hier und jetzt jenseits der Zeitordnung und macht es somit möglich, das Ganze meines Selbst, soweit relevant für Freiheit, zusammenzuholen zu einer selbstbestimmten Entscheidung, deren aus innerem Grund bestimmtes Ergebnis ich mir, obwohl völlig konsequent damit, dennoch selbst zurechne. Obgleich jede so entschiedene Handlung in die Zeit fällt und dort ihre Auswirkungen entfaltet, ist doch der Freiheitsansatz dieser und jeder anderen Handlung, was an mir liegt, immer gleich und konsistent bestimmt, nämlich aus jenem Wesen, das selbst immer gleich auf der Wende oder Kippe zur Tat steht und sich von dort aus bestimmt: „Der Mensch ist auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Prinzipien in ihm ist kein notwendiges, sondern ein freies. Er steht am Scheidepunkt; was er auch wähle, es wird seine Tat sein“ (46, 3-7/ SW VII, 374). Zu dieser Wende, auf der der Mensch sich befindet (das Selbstsetzen, das in sich, solange es sich macht, Einheit seines Wesens und zugleich Handlung ist), gehört „ein natürlicher Hang des Menschen zum Bösen“ (53, 5f./ SW VII, 381), die früher erläuterte Angst des Lebens, der er „fast notwendig“ erliegt. Aber es ist eben sein eigenes Freiheitswesen, das diesen natürlichen Hang steigert und komplettiert zum inneren und zureichenden Grund, 28 aufgrund dessen dann der Mensch in seinen tatsächlichen Handlungen das Böse tut und verwirklicht. Er hätte und könnte noch immer genauso den natürlichen Hang durch das gänzliche Absterben seiner Eigenheit zum Guten wenden, aber er will es und wollte es bisher nicht tun und sieht sich darin auch gerechtfertigt. Der eine überzeitlich ansetzende Aktus der Freiheit koaliert so mit den vielen Entscheidungen, die wir durchaus frei seiend und frei bleibend in der zeitlichen Abfolge unseres Lebens treffen, ohne dass wir es ablehnen, uns in der Konsequenz der äußerlich festlegenden Umstände unseres Handelns einmal nicht mehr zurechnungsfähig zu fühlen. „Diese allgemeine Beurteilung eines seinem Ursprung nach ganz be- 28 Gemeint ist ein nunmehr „sogar unwiderstehliche[r] Hang […] zum Bösen als ein […] Aktus der Freiheit“ (59, 1f./ SW VII, 387). Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 211 wußtlosen 29 und sogar unwiderstehlichen Hangs zum Bösen als eines Aktus der Freiheit weist auf eine Tat, und also auf ein Leben vor diesem Leben hin, nur daß es nicht eben der Zeit nach vorangehend gedacht werde, indem das Intelligible überhaupt außer der Zeit ist. Weil in der Schöpfung der höchste Zusammenklang und nichts so getrennt und nacheinander ist, wie wir es darstellen müssen, sondern im Früheren auch schon das Spätere mitwirkt und alles in Einem magischen Schlage zugleich geschieht: so hat der Mensch, der hier entschieden und bestimmt erscheint, in der ersten Schöpfung sich in bestimmter Gestalt ergriffen, und wird als solcher, der er von Ewigkeit ist, geboren, indem durch jene Tat sogar die Art und Beschaffenheit seiner Korporisation bestimmt ist.“ (58, 33-59, 13/ SW VII, 387) Wer sich konsequent die zeitliche Anordnung und ihre kausale Alleinzuständigkeit wegdenkt, wird keinen Anstoß mehr daran nehmen, dass wir diejenigen unserer Handlungen, für die wir Freiheit in Anspruch nehmen, ihrem Ansatz nach eben so beurteilen: ihre Konsistenz mit einem selbst zu verantwortenden Eigenwesen, das nicht erst von gestern ist und gegenüber dem wir nicht nur die situativen Umstände unseres Handelns, sondern auch bis zu gewissem Grad die Art und Beschaffenheit unserer ‚Korporisation‘ als bloßen Ausdruck oder Maske - aber nicht Grund - des Handelns empfinden. Eine Leistung der Selbstdistanzierung, die wir, um frei zu heißen, uns selbst nicht ersparen können, sondern zu der wir uns vielmehr gegenseitig erziehen und auffordern. Denn sobald wir Züge an uns selbst namhaft machen, die eine bestimmte Handlung angeblich unabwendbar nach sich ziehen, ziehen wir diesbezüglich unsere eigene Zurechnungsfähigkeit in Zweifel. Keine wesentliche Rolle spielt es dabei, ob wir von Gott und einer Schöpfung reden wollen, in deren Zentrum wir ‚geschaffen‘ wurden, oder nicht. Es genügen vielmehr die oben herausgestellten Merkmale der formellen Freiheit und ihre Bejahung: dass die Handlung nicht zufällig, sondern aus einem meinem ganzen Wesen äquivalenten Grund erfolge; dass dieser Grund selbst durch meine Freiheit gelegt und nicht von außen (wie z.B. durch natürliche Kausalzusammenhänge) auf mich gekommen sei; dass auch in der Konsequenz der Handlung und ih- 29 „[S]einem Ursprung nach […] bewußtlos“ zu sein, heißt natürlich nicht, ohne Bewusstsein vor sich zu gehen. So wie eine dem Ursprung nach durchaus unbewusste Reaktion (z.B. den eigenen Vater zu hassen) nicht selbst ohne Bewusstsein ablaufen muss (jemanden zu hassen ist bewusstes Verhalten). 212 Thomas Buchheim rer Verwachsung mit den übrigen Weltzuständen meine Zurechnungsfähigkeit nicht aufgehoben worden sei. Die begrifflichen Instrumente, die ich dafür einsetze und geltend machen kann, um die Erfordernisse der Freiheit bei guter Vernunft und trotz insgesamt ‚wissenschaftlicher Weltansicht‘ erfüllen zu können, bleiben dahingestellt. Sie sind ein durchdachtes Angebot von Schellings philosophischer Durchdringung, aber nichts, von dessen Wahrheit oder Gegebenheit der Einzelne überzeugt sein müsste, um am Anspruch auf Freiheit festhalten zu können. 8. Die Wandlungsfähigkeit der menschlichen Freiheit Schelling ist, soweit ich sehe, der erste Philosoph, der die Geschicke der menschlichen Freiheit systematisch über die Begründung und Entscheidung der freien Handlung im Einzelsubjekt hinaus verfolgt. Ebenso, wie schon im Grund der Freiheit die Tatsache der geschichtlichen Situiertheit des Menschen und die dadurch mögliche Sollizitation des Bösen eine große Rolle spielte, so ist dieselbe Tatsache für eine Art Zukunft der menschlichen Freiheit über den einzelnen Freiheitsakt hinaus von größter Bedeutung. Die Freiheit eines jeden droht wegen der erforderlichen inneren Konsistenz und der schon von Kant hervorgehobenen Selbstvoraussetzung der guten oder bösen Maxime zum ausweglosen Gefängnis seines Charakters zu werden. 30 Um dieser Gefahr zu begegnen, die letztlich zur Selbstaufhebung des Begriffs endlicher Freiheit führen müsste, nutzt Schelling erneut den Sachverhalt aus, dass der Mensch in seiner Freiheit niemals der einzige Handelnde ist. Vielmehr bilden mehrere frei Handelnde einen Kontext, in dem die Art und Weise der Selbstbestimmung anderer zur Irritation oder Stütze der Selbstbestimmung eines jeden avanciert. Der geschichtliche Kontext, in 30 Vgl. Kant, »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, BA 8, Fn.: „Daß der erste subjektive Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei, ist daraus schon vorläufig zu ersehen: daß, da diese Annehmung frei ist, der Grund derselben (warum ich z.B. eine böse und nicht vielmehr gute Maxime angenommen habe) in keiner Triebfeder der Natur, sondern immer wiederum in einer Maxime gesucht werden muß; und, da auch diese ebensowohl ihren Grund haben muß, außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjektiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurückgewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können.“ Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 213 dem allein freie Selbstbestimmung eines zum Guten oder zum Bösen fähigen Wesens stattfinden kann, ist zugleich Einfallstor für eine ‚Hilfe‘ oder Anleitung, die wir uns gegenseitig leisten, ohne dies durch unseren Freiheitsaktus direkt zu bewerkstelligen. Schelling formuliert in dieser Sache zunächst einen Einwand gegen die vorgetragene Freiheitslehre, der in der Tat seit Kant vielen auf der Seele lag, ohne systematisch ausgesprochen oder gar ausgeräumt worden zu sein: „Es scheint nur Ein Grund zu sein, der gegen diese Ansicht angeführt werden könnte: dieser, daß sie alle Umwendung des Menschen vom Bösen zum Guten, und umgekehrt, für dieses Leben wenigstens abschneide. Allein es sei nun, daß menschliche oder göttliche Hilfe - (einer Hilfe bedarf der Mensch immer) - ihn zu der Umwandlung ins Gute bestimme, so liegt doch dies, daß er dem guten Geist jene Einwirkung verstattet, sich ihm nicht positiv verschließt, ebenfalls schon in jener anfänglichen Handlung, durch welche er dieser und kein anderer ist.“ (60, 37-61, 6/ SW VII, 389) Jener Selbstbestimmungsakt, der die menschliche Freiheit ausmacht, findet von vornherein unter Einbeziehung anderer frei Handelnder statt. Erst dadurch wird ja der ‚böse‘ oder ‚gute‘ Geist gestiftet, der wiederum Art und Charakter der Vorhaltungen ausmacht, mit Beziehung auf die ich meine Selbstbestimmung zum Guten oder Bösen vollziehe. Je nachdem, welche Beschaffenheit solche Vorhaltungen aus der Selbstbestimmung anderer für mich haben, ist auch die meinige möglicherweise anders, als sie gewesen wäre, wenn jene anders ausgefallen wären. Gott oder wir selbst untereinander haben so immerhin eine, wenn auch (was uns betrifft) nicht direkt einwirkende Chance, zum mitbestimmenden Ferment der freien Selbstbestimmung eines jeden zu werden. Wir sind in unserer Freiheit auf eine unverhoffte und für uns unabsehbare Weise lenk- und wandelbar, was Schelling als „Transmutation“ oder Umwandelbarkeit ins Gute bezeichnet. 31 Auch diese Ansprechbarkeit oder Nichtansprechbarkeit durch das aus Freiheit gesetzte Beispiel anderer ist nach Schelling bei der Selbstsetzung des Einzelnen in die Konstitution seiner Freiheit aufgenommen. 32 Die spezifisch menschliche Freiheit rechnet und reagiert systematisch und von Anfang an auf die Freiheitsäußerungen anderer. 33 Daher ist sie sozusagen niemals mit sich allein überhaupt Freiheit. „Es ist im strengsten Verstande wahr, daß, wie der Mensch überhaupt beschaffen ist, nicht er selbst, sondern entweder der gute oder der böse Geist in ihm handelt; und dennoch tut dies der 31 Vgl. z.B. 60, 8/ SW VII, 388; 61, 2/ SW VII, 389; 61, 6/ SW VII, 389. 214 Thomas Buchheim Freiheit keinen Eintrag. Denn eben das in-sich-handeln-Lassen des guten oder bösen Prinzips ist die Folge der intelligibeln Tat, wodurch sein Wesen und Leben bestimmt ist.“ (61, 13-19/ SW VII, 389) Mit einem „Geist“, der in mir handelt, ist an dieser Stelle nicht ein bestimmtes Individuum, das Geist hat, gemeint, sondern erneut eine der oben beschriebenen Deckungsgestalten der vereinigten Willen, des Eigen- und des Universalwillens, insofern sie sich für jedes endliche Freiheitssubjekt als Möglichkeiten abzeichnen. Wer sich durchdringen lässt vom Universalwillen, macht ihn, wie Baader an einer Schelling vorliegenden Stelle geschrieben hatte, zur „Idea“ seines eigenen. 34 Wer umgekehrt mit dem Eigenen das Universale zu durchdringen sucht, macht seinen Willen zur Idee von allem. Wichtig ist, dass solche Durchdringungsrichtungen, vermittelt über Vorbilder, d.h. Äußerungen 32 Die These Hermannis (Anm. 2), 154f., nach der „die Selbstverbesserung“, wird sie „in die transzendentale Tat selbst zurückverlegt“, „völlig ausgeschlossen“ werden müsse, ist entschieden zurückzuweisen. Hermanni täuscht sich schon darin, dass die von Schelling gemeinte „Transmutation“ als Selbstverbesserung richtig beschrieben sei. Ist sie doch vielmehr ausdrücklich die Bereitschaft zur Annahme einer „Hilfe“, gesetzt den Fall, eine solche werde in geeigneter Form irgendeiner Seite zuteil. 33 So m.E. richtig Sturma (Anm. 26), 166: „Schellings Präreflexivitätskonzeption zufolge vollziehen sich Freiheit und Selbstbestimmung nicht in isolierten Selbstverhältnissen, sondern in personalen Einstellungen und Verhältnissen zu anderen und anderem. Diese Kontextualität wirkt auf das Freiheitsbewußtsein zurück.“ Nicht nur dort, wo ich zuvor ausdrücklich reflektiert und die betreffenden Faktoren oder Personen explizit in die Überlegung einbezogen habe, halte ich mich selbst für frei, sondern auch dort, wo ich mein Tun als Äußerung einer generell selbstgegründeten, aber nur implizit bleibenden Haltung oder Disposition betrachte, zu der eben auch schon die Art und Weise gehört, wie ich mit Freiheitsäußerungen anderer umgehe. 34 Siehe Schelling 61, 12/ SW VII, 389 und vgl. Baader, F., »Über die Analogie«, Werke Bd. 1, 42f.: „[…] was ich zu durchdringen, zu erfassen, durchschauen, zu ergründen strebe, dem strebe ich eben hiemit […] innerlich zu werden, und es also - weil überall das Centrum das Höhere, das Centrierte das Niedrigere ist - unter mich zu bringen, in meine Macht und Gewalt. […] Was ich nicht durchdringend begreife und umfasse, das begreift und umfaßt mich. Aber dieses Begriffen- und Durchdrungensein von seinem Höheren ist sofort ein Umgriffen- und Gestaltetsein von ihm, und diese Gestaltung ist eben die Urgestaltung, das Urbild (Idea) des Niedrigern - in ihm, falls das Höhere dem Niedrigeren auch wirklich inwohnt: vor und ausser ihm als blosses Gesetz, falls diese Inwohnung fehlt.“ Schelling selbst hat diesen Text Baaders 1808 in den Jahrbüchern für Medizin publiziert, kannte ihn also sicherlich gut. Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 215 anderer Freiheit, an mich herangetragen werden, dass ich sie bei der Selbstsetzung nicht aus mir selbst zu schöpfen vermag. Das ‚Handeln- Lassen‘ eines Geistes in mir kann unmöglich bloßes Selbsthandeln sein. 35 Dies genau ist die Pointe der Schellingschen Konzeption formeller Freiheit in ihrer menschlichen Version. Dadurch ist die Konstitution der eigenen Freiheit verwoben mit den Erscheinungsweisen fremder Freiheit, und dies ist der Grund, warum Schelling unmittelbar nach der Erläuterung einer möglichen „Transmutation“ menschlicher Freiheit auf ihre „Erscheinung“ oder Phänomenologie im Menschen zu sprechen kommt. Für die Umwendung der eigenen Freiheit sind Äußerungen anderer Freiheit schlicht unerlässlich. Und man muss sie als solche erkennen können. „Nachdem wir also Anfang und Entstehung des Bösen bis zur Wirklichwerdung im einzelnen Menschen dargetan haben, so scheint nichts übrig, als seine Erscheinung im Menschen zu beschreiben.“ (61, 20-23/ SW VII, 389) Die Phänomenologie des Bösen (und des Guten) muss zur formellen Freiheit im Falle des Menschen hinzutreten, da seine Selbstbestimmung ‚ab ovo‘ nicht isoliert von der anderer Freiheitssubjekte, sondern immer mit Blick auf gewisse Äußerungsgestalten jener erfolgt. 35 Mit diesem Gedanken - einer gewissen Re-Passivisierung endlicher Freiheit im Akt ihrer Selbstbestimmung - scheint Schelling ein Motiv aus Luthers »De servo arbitrio«, wenn auch in abgemilderter Weise, aufzugreifen und in die philosophische Debatte um den freien Willen des Menschen einzubringen: „At si vim liberi arbitrii eam diceremus, qua homo aptus est rapi spiritu et imbui gratia Dei, ut qui sit creatus ad vitam vel mortem aeternam, recte diceretur, hanc enim vim, hoc est, aptitudinem, seu ut Sophistae loquuntur dispositivam qualitatem et passivam aptitudinem, et nos confitemur, quam non arboribus, neque bestiis inditam esse, quis est, qui nesciat? neque enim pro anseribus (ut dicitur) coelum creavit.“ (WA 18, 636) Luther spricht allerdings im Unterschied zu Schelling von einer rein „passiven“ Eignung oder Disposition, durch den Geist ergriffen zu werden, ohne jedes aktive Zutun des Menschen. Immerhin unterscheidet ihn diese Erreichbarkeit für den Geist von den übrigen Kreaturen, für die, wie Luther sagt, der Himmel prinzipiell nicht gemacht sei. „Nennen wir jedoch die Kraft des freien Willens diese, durch die der Mensch tauglich ist, vom Geist ergriffen und von der Gnade Gottes erfüllt zu werden […], so wäre das richtig gesagt. Diese Kraft nämlich, das ist die Tauglichkeit oder, wie die Sophisten sagen, die in ihm angelegte Eigenschaft und passive Tauglichkeit, die bekennen auch wir, und wer wüßte nicht, daß sie weder den Bäumen noch den Tieren beigegeben ist. Denn nicht für die Gänse, sagt man, ist der Himmel geschaffen.“ (Übers. nach »Daß der freie Wille nichts sei«, München 1975, 47). 216 Thomas Buchheim 9. Zusammenfassung Am Schluss soll der hypothetische Begriff der menschlichen Freiheit in Schellings Sinn noch einmal zusammenfassend charakterisiert werden. Sie ist als eine Kombination aus formeller Freiheit und ihrem realen Begriff das Vermögen eines sowohl natürlich wie geschichtlich situierten Subjekts, sich angesichts von Vorhaltungen des Guten oder Bösen kraft eigener Entscheidung entweder zur Ausnutzung des Universalen für seine partikulären Interessen befugt oder zum Einsatz der eigenen Kräfte für die Belange des Allgemeinen berufen zu sehen, obwohl im selben Vermögen die umgekehrte Entscheidung möglich bleibt. Wie viel Gott, Weltschöpfung und heilsgeschichtliche Diagnostik jemand braucht, um alle dazu erforderlichen Gedankenstücke für wahr und gegeben zu halten, kann dahingestellt bleiben. Es handelt sich, wie gesagt, nur um gewisse Offerten einer durch Schellings Philosophieren gerüsteten Vernunft, die eine im Prinzip wissenschaftliche Weltansicht mit der Existenz menschlicher Freiheit zu vereinbaren dienlich sind. Wer diese Offerten nicht möchte, so Schelling, der suche sich andere Quellen. Doch nicht zu unterschreiten scheinen mir einerseits die Anforderungen, die Schelling stellt, um volle Freiheit des Menschen als eines naturentstammten und zugleich geschichtlich existierenden Wesens denkbar zu machen, andererseits die Pflicht, diesen Gedanken in ein und derselben Vernunft mit einer insgesamt (nicht etwa im Detail) affirmativen Einstellung zur modernen Wissenschaft zu versöhnen. Sowohl Abmilderungen der Freiheit als auch die prinzipielle Depotenzierung unserer wissenschaftlichen Erkenntnis und ihres Wahrheitsanspruchs sind zurückzuweisen. Die freie Entscheidung des Menschen darf weder ein naturalistisch erklärbares Ereignis noch ein glücklicher oder unglücklicher Zufall für das Subjekt sein. Sie muss ihm sowohl dem Grunde nach als auch in ihren Folgen zurechenbar sein. Sie darf nicht unabänderlich und niemals ohne Rechtfertigung erfolgen. Unsere Abstammung darf nicht nur zum Schein, sondern muss wirklich aus der Natur und ihren sonstigen Wesen und Gesetzen, die wir wissenschaftlich erkennen, herleitbar sein; unsere Geburt wirklich und nicht nur anscheinend an eine bestimmte Stelle im Kontext von Zeitlauf und Geschichte geknüpft sein, der Tod eine je individuelle und das Böse wenigstens allgemeine Notwendigkeit für uns haben. Ohne die Erfüllung dieser Erfordernisse fielen wir in Sachen Freiheit hinter Der Begriff der ‚menschlichen Freiheit‘ 217 Schelling zurück und müssten uns vorwerfen lassen, weniger zu wollen, als wir rational bewältigen könnten. Auch dieses Erlahmen unseres Freiheitsdrangs wäre am Ende eine Sache unserer freien Entscheidung - wenn auch nicht hierin auf Transmutationskurs zum Guten. Roswitha Dörendahl Der Ungrund der Freiheit Zur Bedeutung der theosophischen Einflüsse Böhmes und Oetingers auf Schellings Freiheitsphilosophie Eine Untersuchung über den Einfluss des theosophischen Erbes Jacob Böhmes und Friedrich Christoph Oetingers auf Schellings Philosophie in seiner mittleren Schaffensperiode - eben jener Phase seines Philosophierens, in der ihn eine philosophische Freundschaft mit Franz von Baader verband - muss sich heute nicht mehr damit aufhalten, den Einfluss eigens erst einmal nachzuweisen. Es reicht daher auch nicht mehr aus, die einzelnen von Schelling aus der theosophischen Tradition adaptierten Begriffe und Figuren und deren ursprünglichen Bedeutungsgehalt aufzuzeigen; längst wurde dieses aufs Ausführlichste bearbeitet. 1 Ein Blick auf die zahlreichen Anmerkungen zu Böhme, Oetinger und Baader, mit denen Thomas Buchheim 2 die von ihm edierte Ausgabe der Schellingschen »Freiheitsschrift« kommentiert, oder auf die Anmerkun- 1 Aus Platzgründen kann hier nur eine kleine Auswahl an Literatur angegeben werden: Benz, E., »Schellings theologische Geistesahnen«, in: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 3 (1955), 233-306; Brown, R. F., »The Later Philosophy of Schelling. The Influence of Boehme in the Works 1809-1815«, Lewisburg 1977; Leese, K., »Von Jacob Böhme zu Schelling. Zur Metaphysik des Gottesproblems«, Erfurt 1927; Schulze, W. A. »Oetingers Beitrag zur Schellingschen Freiheitslehre«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 54 (1957), 213- 225; Schmidt-Biggemann, W., »Schellings ‚Weltalter‘ in der Tradition abendländischer Spiritualität«, in: Schelling, F. W. J., »Weltalter-Fragmente«, hg. v. K. Grotsch, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 1-78. 2 Vgl. Schelling, F. W. J., »Philosophische Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände«, hg. v. Th. Buchheim, Hamburg 1997 (»Freiheitsschrift« [hg. v. Buchheim]). Der Ungrund der Freiheit 219 gen zu Oetinger, die Miklos Vetö 3 seiner Edition der Georgii-Nachschrift der »Stuttgarter Privatvorlesungen« beifügt, reicht aus, um zu ermessen, welch zahlreiche Verweise auf die oben genannten theosophischen Autoren eine (leider noch nicht in greifbare Nähe gerückte) kommentierte Ausgabe der »Stuttgarter Privatvorlesungen« und der »Weltalter« zu leisten hätte. Bereits ab 1804 besitzt Schelling die »Quartausgabe« 4 von Böhmes Schriften, und die Edition des Schellingschen »Jahreskalenders« 1809-1813 5 bestätigt, dass er sich auch mit den Schriften Oetingers beschäftigte. So darf zwar wohl die Rede von der „Böhme-Legende“ 6 zur Vergangenheit der Schelling-Forschung gerechnet werden, nichtsdestoweniger steht eine Untersuchung noch aus, die kritisch genug die theosophischen Einflüsse nicht marginalisiert oder gar unberücksichtigt lässt, sie aber auch nicht derart ins Zentrum rückt, dass Schellings idealistische Wurzeln völlig darin verschwinden. Die Versäumnisse liegen auf der Hand: während erstere wichtige Inspirationsquellen Schellings und damit wesentliche Interpretationsmöglichkeiten ungenutzt lassen, erscheint aus der Perspektive letzterer Schellings Philosophie jener Zeit wie ein Rückfall weit hinter die kritische Philosophie Kants. Dabei ist es doch auffällig, dass das theosophische Gedankengut just in dem Moment ins Zentrum der Aufmerksamkeit Schellings gerät - und zwar über den naturphilosophischen Kontext hinaus, in welchem sich schon früher Böhmesche Metaphern finden lassen -, in dem er die bereits in seiner frühesten Philosophie gestellte Frage nach der menschlichen Freiheit mit den »Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit« explizit zum Mittelpunkt seines Nachdenkens macht. Die Erörterung der Freiheitsproblematik führt in der 3 Schelling, F. W. J., »Stuttgarter Privatvorlesungen«, Version inédite, accompagnée du texte des Oeuvres, publiée, préfacée et annotée par Miklos Vetö, Torino 1973. 4 Böhme, J., »Theosophia Revelata. Das ist: Alle Göttlichen Schriften des Gottseligen und Hocherleuchteten Deutschen Theosophen Jacob Böhmens«, hg. v. J. O. Glüsing, Hamburg 1715 (hergestellt auf der verbesserten Grundlage und mit Marginalien der deutschen Erstausgabe von J. G. Michel, Amsterdam 1682). Vgl. »Freiheitsschrift (hg. v. Buchheim)«, »Einleitung«, XLII, Anm. 94. 5 Schelling, F. W. J., »Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809-1813. Philosophie der Freiheit und der Weltalter«, hg. v. L. Knatz, H.- J. Sandkühler und M. Schraven, Hamburg 1994. 6 Holz, H., »Spekulation und Faktizität. Zum Freiheitsbegriff des mittleren und späten Schelling«, Bonn 1970, 7f. 220 Roswitha Dörendahl »Freiheitsschrift« dazu, dass idealistisches und theosophisches Gedankengut ein merkwürdiges Amalgam bilden, welches schon darin zum Ausdruck kommt, dass sich hier scheinbar zwei miteinander konkurrierende Modelle gegenüberstehen. Einerseits nämlich verankert Schelling den Menschen und seine Freiheit schöpfungstheologisch in einem Ganzen, wobei dem Menschen als „derivirte[r] Absolutheit“ (VII, 347) 7 die Rolle eines Mittlers zwischen Natur und Gott zukommt, andererseits greift er auf die idealistischen Freiheitsbestimmungen Kants und Fichtes zurück und treibt mit der Selbstschöpfung des Ichs in der ‚intelligiblen That‘ - einer hypostasierten Mischung aus der Fichteschen Theorie der Tathandlung und Kants Lehre vom intelligiblen Charakter - den idealistischen Autonomiegedanken auf die Spitze. Wegen der Kollision dieser beiden gleichrangigen Elemente (Schöpfungstheologie und idealistische Freiheitslehre) betrachtet schon Michael Theunissen in den sechziger Jahren das Projekt der »Freiheitsschrift« als gescheitert: Theunissen liest die schöpfungstheologische Verankerung des Menschen als „anthropologischen Ansatz“ Schellings, dem jedoch die gleichrangige Konzeption der autonomen Selbstsetzung qua intelligibler Tat widerspricht. 8 Siegbert Peetz und Friedrich Hermanni konstatieren im Anschluss an Theunissen das Scheitern Schellings aufgrund der Überforderung des Erklärungsanspruchs der intelligiblen Tat, denn in deren Vollzug - als „schicksalhafte[r] Grundentscheidung“ 9 - prädestiniere sich der Mensch selbst für das Böse, so dass die Umwendung zum Guten ausgeschlossen bleibe; außerdem erkläre Schelling mit dieser Tat nicht nur das individuelle Böse, sondern betreibe darüber hinaus auch die Universalisierung des Bösen. 10 Marie-Elise Zovko, die das wirkungsgeschichtliche Verhältnis Schellings zu Franz von Baader aus der Perspektive ihrer „angemessene[n] philosophische[n] Verwertung Böhmeschen Denkens“ 11 untersucht, spitzt Theunissens These der Gleichrangigkeit von anthropologischem Ansatz und transzendentaler Selbstsetzung zu einem generellen 7 Die Angaben in Klammern verweisen auf: »Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke«, hg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart u. Augsburg 1861 (zitiert: Band, Seite). 8 „Die Transzendentalität des sich selbst erschaffenden Menschenwesens schließt das theologisch verstandene Geschaffensein aus.“ Vgl. Theunissen, M., »Schellings anthropologischer Ansatz«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 47 (1965), 174-189, hier 181 bzw. 187. 9 Peetz, S., »Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität«, Frankfurt a.M. 1995 (= Peetz), 215. Der Ungrund der Freiheit 221 methodischen Scheitern Schellings nicht nur in der »Freiheitsschrift«, sondern auch des »Weltalter«-Projekts, zu: Schellings „Versuch einer spekulativen Theologie der Schöpfung nach Maßgabe der Böhmschen Naturlehre“ sei „von Anfang an zum Scheitern verurteilt“, weil für ihn die „transzendentalphilosophische Methode der Bewusstseinsanalyse weiterhin bestimmend“ bleibe, so dass er sich nur „vorübergehend auf die analogisch-anthropologisch verfahrende Denkweise Böhmes und Baaders“ habe „einlassen“ können. 12 Dass man hingegen die idealistischen Elemente nicht derart gegen die schöpfungstheologischen (theosophischen) ausspielen muss, sondern im Gegenteil gerade die scheinbare Widersprüchlichkeit konstruktiv als „ureigenste Intention der ganzen Freiheitsschrift“ deuten kann, zeigt Lore Hühn: Gerade vor dem Hintergrund der schöpfungstheologischen Klammer - so Hühns These - erscheine die intelligible Tat „immer schon durch das [ihr] inhärierende sündentheologische Erbe gebrochen“ und als von Schelling selbst in Frage gestellt. 13 Die folgende Interpretation geht von der These aus, dass Schelling sowohl in der »Freiheitsschrift« als auch in den frühen »Weltalter«-Fragmenten mit Hilfe Böhmescher und Oetingerscher Figuren eine Universalisierung der Freiheit betreibt: Er macht eine ontologische Dimension der Freiheit geltend, die ihrerseits die Freiheit des Subjekts sowohl wie die Freiheit der Natur umfasst und in der Freiheit Gottes fundieren soll; und darüber hinaus führt Schelling noch eine Dimension der Freiheit ein, die - den ontologischen Rahmen sprengend - als höchste Freiheit gelten soll: „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes“. 14 Das bedeutet aber, dass sich Schelling - bei aller Verehrung - nicht rein affirmativ und ungebrochen auf Böhme bezieht und auch gar nicht beziehen kann, 10 Vgl. Peetz, Anm. 9 und Hermanni, F., »Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie«, Wien 1994, 155-157. Vgl. zur intelligiblen Tat Hühn, L., »Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit Schellings und Schopenhauers«, in: Selbstbesinnung der philosophischen Moderne. Beiträge zu einer kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe, hg. v. C. Iber u. R. Pocai, Cuxhaven/ Dartford, 1998, (Hühn, »Die intelligible Tat«), 55-94, bes. die kritische Anmerkung zum o.g. Sachverhalt 46, Anm. 49. 11 Zovko, M.-E., »Natur und Gott: Das wirkungsgeschichtliche Verhältnis Schellings und Baaders«, Würzburg 1996, (= Zovko), 24. 12 Ebd., 156. 13 Hühn, L., »Die intelligible Tat«, 63, Anm. 10. 222 Roswitha Dörendahl denn Böhme ist für Schelling ein Repräsentant der theosophischen Tradition, in der das Problem der Freiheit nicht hinreichend in den Blick kommt. Böhme will zwar ein „freies Verhältniß Gottes zu der Welt, eine freie Schöpfung“, „aber er kann sie nicht herausbringen“ (XIII, 125). Er, der viel vom Rad der Natur rede, sei selbst dieses Rad, „er selbst diese Wissenschaft gebären wollende, aber nicht könnende Natur“ (XIII, 123). Erst auf der Grundlage des idealistischen Freiheitsbegriffs, dessen „innerste Voraussetzung“ die oben erläuterte Freiheit ist - so Schellings Selbstverständnis -, kann die Freiheit angemessen thematisiert werden: „Der Gedanke, die Freiheit einmal zum Eins und Alles der Philosophie zu machen, hat den menschlichen Geist überhaupt, nicht bloß in Bezug auf sich selbst, in Freiheit gesetzt und der Wissenschaft in allen ihren Theilen einen kräftigern Umschwung gegeben als irgend eine frühere Revolution. Der idealistische Begriff ist die wahre Weihe für die höhere Philosophie unsrer Zeit und besonders den höheren Realismus derselben. Möchten doch die, welche diesen beurtheilen oder sich zueignen, bedenken, daß die Freiheit die innerste Voraussetzung desselben ist; in wie ganz anderm Licht würden sie ihn betrachten und auffassen! Nur wer Freiheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten.“ (VII, 351) So sehr Schelling hier auch in eigener Sache spricht, schmälert das die freiheitsphilosophischen Verdienste Kants und Fichtes nicht. Doch auch auf deren im Paradigma des Subjekts fundierte Freiheitsphilosophie kann er sich nicht mehr ungebrochen beziehen. Den transzendentalphilosophisch bestimmten und am Primat der praktischen Vernunft orientierten Freiheitsbegriff des Idealismus hat er bereits mit seiner Identitätsphilosophie hinter sich gelassen. Trotzdem dokumentiert die »Freiheitsschrift« keinen Bruch in Schellings Denken, vielmehr greift Schel- 14 Schelling, F. W. J., »Urfassung der Philosophie der Offenbarung«, hg. v. W. E. Ehrhardt, Hamburg 1992, 79. In der Forderung, dass Freiheit das Höchste sein soll, erblickt Ehrhardt das durchgängige Motiv im gesamten Werk Schellings und lehnt die Rede von Brüchen, Phasen oder gar des Scheiterns ab: „Nur die Sachgebiete wechseln, in denen er die Wirklichkeit des Höchsten, d.h. der Freiheit darstellt“. Erhardt, W. E., »„Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes“ - ein Rückweg zur Freiheitsschrift? «, in: Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. Akten der Fachtagung der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1992, hg. v. H. M. Baumgartner und W. G. Jacobs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 240-251, hier 246. Der Ungrund der Freiheit 223 ling hier die auf dem Boden seiner Identitätsphilosophie nur unbefriedigend gelöste Freiheitsproblematik wieder auf. 15 Das Defizit der identitätsphilosophischen Konzeption kommt paradigmatisch darin zum Ausdruck, dass angesichts der Freiheit Gottes die Freiheit des Menschen und insbesondere die Freiheit zum Bösen von Schelling nur als „defectio“ (VI, 552) dargestellt werden kann, die ihren Grund in der Endlichkeit hat. Unter dem Gesichtspunkt der absoluten Identität erscheint der Abfall selbst als Versöhnung: „Die Endlichkeit im eignen Seyn der Dinge ist ein Abfall von Gott, aber ein Abfall, der unmittelbar zur Versöhnung wird“ (VI, 566). Die »Freiheitsschrift« rückt nun das Problem des Bösen ins Zentrum der Untersuchung: Die Wirklichkeit der menschlichen Freiheit ist das Böse bzw. die Sünde, wie schon Schellings Realbestimmung der menschlichen Freiheit als Vermögen des Guten und des Bösen zeigt. Denn als das Vermögen des Guten und des Bösen steht die menschliche Freiheit nicht unter der Modalität einer reinen Möglichkeit, da ja der Unterschied von Gut und Böse selbst schon von der Realisierung der Freiheit zeugt. Schellings These ist radikal: Die Erfahrung des Bösen ist die Wirklichkeit der menschlichen Freiheit. I. Der Wille „In […] der Freiheit […] finde sich der letzte potenzirende Akt, wodurch sich die ganze Natur in Empfindung, in Intelligenz, endlich in Willen verkläre. - Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung.“ (VII, 350) Freiheit ist Willensfreiheit und als solche nicht nur das Letzte und Höchste, sondern - wie die Formel vom „Wollen ist Urseyn“ ausdrückt - der Wille ist auch das Erste und Ursprungsdimension: als Ursein geht das Wollen allem konkreten Sein voraus. Schelling entfaltet die Freiheit dialektisch in Form eines Willensgeschehens, in welchem sich die Freiheit mit sich selbst vermittelt. Freiheit ist nicht das Privileg des Menschen, sondern das Ganze selbst ist gleichsam organische Realisierung 15 Vgl. den Brief Eschenmayers an Schelling vom 24.7.1804, in: Schelling, F. W. J., »Briefe und Dokumente«, hg. v. H. Fuhrmans, Bonn 1975, Bd. II, 108-112. 224 Roswitha Dörendahl einer Freiheit, die darum in allem präsent ist. Die Freiheit der Natur bestimmt Schelling besonders in seinen naturphilosophischen Schriften bis 1806 als unbewusste, aber schöpferisch tätige Selbsthervorbringung. In der »Freiheitsschrift« bestimmt er den Realbegriff der menschlichen Freiheit als ein Vermögen des Guten und des Bösen, und die Freiheit Gottes als Weltschöpfer ist Wille der Liebe (VII, 351 bzw. 395f.). 1811 in den »Weltaltern« wird die „ewige“ und „höchste Freyheit“ als dasjenige bestimmt, was „über allem Seyn“ und selbst noch über Gott ist (WA, 14). 16 Die Formel „Wollen ist Urseyn“ ist die Keimzelle von Schellings Willensmetaphysik, die er unter Zuhilfenahme theosophischer Interpretamente in der »Freiheitsschrift« bis zu den »Weltaltern« entwirft. Zugleich zeigt sich an dieser Formel jedoch auch, dass der Rückgriff auf theosophische Elemente keinen Rückfall hinter die kritische Philosophie Kants und Fichtes bedeutet, sondern auf dem Boden der kritischen Philosophie erfolgt und das Resultat einer inneridealistischen Problematik ist. Mit der Bestimmung des Wollens als Ursein löst Schelling den Begriff des Willens von seiner Bedeutung als praktische Vernunft ab, mit der er bei Kant und Fichte bis zur Identität verbunden ist - „Das Wollen ist der eigentliche wesentliche Charakter der Vernunft“ 17 , so Fichte. Damit verbunden ist die Kritik an einem Autonomiebegriff, der für seine Freiheitskonzeption die ursprünglich Gott zugehörigen Prädikate usurpiert (Grundlosigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung) und damit unverhohlen die traditionell Gott zukommende Figur der ‚causa sui‘ als voraussetzungslose Selbstsetzung eines Aus-unddurch-sich-selbst-Seins zur Bedingung der Möglichkeit praktischer Subjektivität macht. 18 Die Usurpation der ‚Causa-sui‘-Struktur für die menschliche Freiheit erfolgt in Abgrenzung zu einer Natur, die begrifflich auf den mechanistischen Kausalnexus festgelegt ist, und verknüpft so bereits bei Kant die Freiheitsproblematik mit dem Problem des Anfangs. Neben dem prak- 16 Schelling, F. W. J., »Die Weltalter«, Fragmente, in den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. v. M. Schröter, München 1946 (= »Weltalter«), I, 26. 17 Fichte, J. G., »Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre«, in: ders., Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften (= GA), hg. v. R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. I, 3, 332. 18 Vgl. die Ausführungen zur Figur des Aus-und-durch-sich-selbst-Seins in: Hühn, L., »Die intelligible Tat«, 62 (Anm. 10). Der Ungrund der Freiheit 225 tischen Interesse an der Freiheit ist es vor allem das spekulative Interesse an der Totalität der Welt, welches für Kant die Vernunft in die Antinomie von Freiheit und Natur treibt: Der lückenlos bestimmte Zusammenhang der Natur, der durch den Kausalnexus garantiert wird, kann, für sich genommen, keine Totalität herstellen, sondern verliert sich im infiniten Regress vom Bedingten auf die Bedingung. Die Vernunft kann die Einheit der Welt nicht allein aus der Naturkausalität ableiten, sondern benötigt zur „Vollständigkeit ihrer Reihe“ die Idee einer transzendentalen Freiheit, die als „Kausalität durch Freiheit“ gedacht einen „ersten Anfang[s]“ bildet. 19 Anhand der dritten Antinomie entwickelt Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« die „Idee der Freiheit, als eines Vermögens absoluter Spontaneität“ 20 des Subjekts, welches sich zuschreibt, selbst die unverursachte Ursache „eine[r] Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft“, zu sein. 21 Diese Idee der transzendentalen Freiheit bildet die theoretische Grundlage für die Bestimmung der Autonomie des Subjekts, die Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« als Willensfreiheit in Form der Selbstbestimmung des Subjekts entfaltet. 22 An Kants Freiheitstheorie wird deutlich, dass sich die Autonomie aus zwei Freiheitsmomenten zusammensetzt. Das praktische Vermögen des Subjekts, sich selbst zu bestimmen, gründet in der kosmologisch-transzendentalen Idee eines Anfangen-Könnens. 23 Als bloßes Vermögen tritt die Spontaneität jedoch als solche nicht in Erscheinung: „Freiheit [ist] kein Erfahrungsbegriff“, sondern eine „Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist“. 24 Das Subjekt kann sich der Freiheit und damit auch des Vermögens absoluter Spontaneität weder unmittelbar bewusst werden, noch darauf aus der 19 Kant, I., KrV, B 473f. 20 Kant, I., KrV, A 85. 21 Kant, I., KrV, B 474. 22 Auf „diese transzendentale Idee der Freiheit“ gründet sich der praktische Begriff der Freiheit als „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (ebd., B 561f.). Die transzendentalen Ideen sind die „theoretische Stütze“ der moralischen Ideen und Grundsätze (vgl. ebd. B 496), so dass Kant dann in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« sagen kann: „Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Autonomie unzertrennlich verbunden, mit diesem aber das alleinige Prinzip der Sittlichkeit, welches in der Idee aller Handlungen vernünftiger Wesen eben so zum Grunde liegt, als Naturgesetz allen Erscheinungen.“ (Kant, I., GMS, BA 109). 23 Vgl. Kant, I., KrV, B 561. 24 Kant, I., GMS, BA 114f. 226 Roswitha Dörendahl Erfahrung schließen; unmittelbar bewusst ist es sich allein des moralischen Gesetzes. 25 Im Anschluss an Kant zieht Fichte die beiden Freiheitsmomente - Spontaneität und Selbstbestimmung - zu einer Figur, der Tathandlung, zusammen. Mit diesem Begriff bezeichnet Fichte den Akt der Selbstschöpfung eines Ich: „Das Ich sezt ursprünglich schlechthin sein eignes Seyn“ 26 . Aus der praktischen Selbstbestimmung des Subjekts bei Kant wird in Fichtes »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« von 1794 die autopoietische Selbstsetzung des Ichs. Zur Konstruktion der Tathandlung greift Fichte explizit auf Spinozas Figur der ‚causa sui‘ zurück, setzt aber an die Stelle der göttlichen Substanz das Ich. 27 Fichtes Ich tritt als absolutes die Nachfolge Gottes an, insofern es sich selbst in seine Existenz setzt und nur aus und durch sich selbst begriffen werden kann. Im Satz „Ich bin“ 28 spricht sich die Tathandlung als Seinsbzw. Existenzsetzung aus. Um das Ich, frei von allen heteronomen Bestimmungen und substanzontologischen Resten, allein aus dem Binnenraum der Subjektivität begreifen zu können, will Fichte es in seiner reinen Tätigkeitsstruktur erfassen: Das Ich existiert nicht jenseits der Tätigkeit, sondern ist die Tätigkeit. Mit der Tathandlung glaubt Fichte, die der praktischen Subjektivität zugesprochene Fähigkeit eines Anfangen-Könnens zur Darstellung zu bringen. 29 Die Tathandlung ist als ein „absolutes Anfangen“ ein „Schaffen durch sich selbst“ und „Schaffen aus nichts“. 30 Mit dem absoluten Ich verbindet Fichte den sys- 25 Vgl. Kant, I., KpV, A 53. 26 Fichte, J. G., »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre«, Werke 1793- 1795, hg. v. R. Lauth und H. Jacob, 1965 (= Fichte, »Wissenschaftslehre«) I, 2, 261. 27 Der theoretische Teil der »Wissenschaftslehre« ist „systematische[r] Spinozismus; nur daß eines Ieden Ich selbst die einzige höchste Substanz ist“ (Fichte, »Wissenschaftslehre«, I, 2, 282). Vgl. zur Nachfolge der ‚causa sui‘ bei Fichte: Hühn, L., »Fichte und Schelling. Oder: Über die Grenze des menschlichen Wissens«, Stuttgart/ Weimar 1994, (= Hühn, »Fichte und Schelling«), 46-51. 28 Fichte, GA I, 2, 258. 29 Vgl. Hühn, »Fichte und Schelling«, 50f. 30 „Das Ich geht hier absolut zu werke, - es ist ein durch sich selbst begründeter Akt der Freiheit, es ist ein absolutes Anfangen, ein Herausbringen eines Neuen Akts, ein Schaffen aus nichts. Man kann daher diese Thätigkeit Eine Reale Thätigkeit nennen, weil sie ein Hervorbringer, ein Schaffen durch sich selbst ist.“ (Fichte, J. G., »Wissenschaftslehre nova methodo«, in: Kollegnachschriften 1796-1804, hg. v. R. Lauth und H. Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, GA, IV, 2, 44). Der Ungrund der Freiheit 227 tematischen Begründungsanspruch, ein erstes und höchstes Prinzip gesetzt zu haben. Bereits 1804 und dann wiederholt 1806 wirft Schelling Fichte vor, er habe mit seiner Konzeption eines von aller Natur und von Gott befreiten transzendentalen Ichs „das eigentliche Princip der Sünde, die Ichheit, zum Princip der Philosophie“ (SW VII, 26, vgl. VI, 43) gemacht - ein Vorwurf, den, wenn auch in etwas anderer Form, bereits Jacobi im Atheismusstreit 1799 gegen Fichte erhebt: Jacobi bezeichnet in seinem berühmten Strickstrumpf-Vergleich Fichtes Transzendentalphilosophie als das „blosse[n] Weben Eines Webens“. 31 Durch den Akt der Abstraktion von allem Gegebenen löse sich die Vernunft in die pure Bewegung ihres eigenen Denkvollzugs auf - eine Auflösung, die Jacobi zugleich als Selbstschöpfung interpretiert: „Der menschliche Geist […] muß sich dem Wesen nach vernichten, um allein im Begriffe zu entstehen, sich zu haben: in dem Begriffe eines reinen absoluten Ausgehen und Eingehen, ursprünglich - aus Nichts, zu Nichts, für Nichts, in Nichts“. 32 Mit seinem ‚tertium non datur‘ verdächtigt Jacobi Fichte mit nicht zu überbietender Deutlichkeit des Nihilismus: Der Mensch verliere sich bei dem Versuch, sich in sich selbst zu begründen. „Alles löset sich ihm dann almählich auf in sein eigenes Nichts. Eine solche Wahl aber hat der Mensch; diese Einzige: das Nichts oder einen Gott. Das Nichts erwählend macht er sich zu Gott […]. Gott ist, und ist außer mir, ein lebendiges, für sich bestehendes Wesen, oder Ich bin Gott. Es giebt kein drittes“. 33 In der »Freiheitsschrift« radikalisiert Schelling diesen Vorwurf noch einmal, wenn er die intelligible Tat - eben jene Tat, mit der Schelling die Entscheidung für das Böse im einzelnen Menschen erklären will und mit der der Mensch sein Wesen bestimmt - zur hypostasierten Form der Fichteschen Tathandlung erklärt: „Das Ich, sagt Fichte, ist seine eigne That; Bewußtseyn ist Selbstsetzen - aber das Ich ist nichts von diesem Verschiedenes, sondern eben das Selbstsetzen selber. Dieses Bewußtseyn aber, inwiefern es bloß als selbst-Erfassen oder Erkennen des Ich gedacht wird, ist nicht einmal das Erste, und setzt wie alles bloße Er- 31 Jacobi, F. H., »Sendschreiben an Fichte (1799)«, in: ders., Werke, Gesamtausgabe, hg. v. K. Hammacher und W. Jaeschke (= GA), Bd. 2,1 Hamburg 2004, 206. 32 Ebd., 202. 33 Ebd., 220. 228 Roswitha Dörendahl kennen das eigentliche Seyn schon voraus. Dieses vor dem Erkennen vermuthete Seyn ist aber kein Seyn, wenn es gleich kein Erkennen ist; es ist reales Selbstsetzen, es ist ein Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu etwas macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist.“ (SW VII, 385) Erst an dieser Stelle der »Freiheitsschrift« wird deutlich, dass Schelling mit der These vom „Urseyn ist Wollen“ ein „Ur- und Grundwollen“ meint, welches allem Denken und Sein vorgängig ist. Es ist kein irgendwie im idealistischen Sinne noch zu verstehendes Wollen als Organ der praktischen Vernunft, vielmehr greift Schelling auf eine Willensbestimmung zurück, deren Linien ganz offensichtlich auf Böhme zurückgehen. Bei Böhme trägt der Wille die ganze Spannung einer doppelten Bestimmung aus: der Wille soll einerseits ein Erstes sein, welches jedoch als Nichts der Ungrund ist, aus dem sich dann der Wille zum Etwas wiederum als ein Erstes generieren soll. 34 Mit diesem Willen und der daraus entstehenden Willensdialektik versucht Böhme allerdings, den theogonischen Prozess zu beschreiben. Erst vor diesem Hintergrund wird Schellings Uminterpretation der Fichteschen Tathandlung und die Bewertung dieser Tat als Sünde verständlich. Denn es ist offensichtlich und wurde ja bereits von Jacobi bemerkt, dass Fichte mit der Tathandlung die Figur einer ‚creatio ex nihilo‘ des Ich vorführt, wenn auch im idealischen Sinne. In der »Freiheitsschrift« ist die Figur des Willens, der sich selbst zu etwas macht, noch ganz auf den Menschen bezogen, erst in den »Weltaltern« arbeitet Schelling den von Böhme herrührenden Gedan- 34 Diesen Gedanken wiederholt Böhme in den verschiedensten Schriften. Ich gebe eine Stelle aus Böhmes »Mysterium pansophicum« an, welches die wichtigsten Punkte seiner Lehre in komprimierter Form enthält, und von dem angenommen werden darf, dass Schelling es gründlich gelesen hat (vgl. »Freiheitsschrift« [hg. v. Buchheim], XLIV): „Der Ungrund ist ein ewig Nichts, und machet aber einen ewigen Anfang, als eine Sucht; dann das Nichts ist eine Sucht nach Etwas: Und da doch auch Nichts ist, das Etwas gebe; sondern die Sucht ist selber das Geben dessen, das doch auch ein Nichts ist, als blos begehrende Sucht. Und das ist der ewige Urstand der Magiae, welche in sich machet, da nichts ist; Sie machet aus Nichts Etwas, und das nur in sich selber, und da doch dieselbe Sucht auch ein Nichts ist, als nur blos ein Wille: Er hat Nichts, und ist auch nichts das ihm etwas gebe, und hat auch keine Stätte, da er sich finde oder hinlege.“ (Böhme, J., »Sämtliche Schriften«, Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden, neu hg. v. W.-E. Peukert, Stuttgart 1957, [= Böhme, »Sämtliche Schriften«], Bd. IV, 97f). Der Ungrund der Freiheit 229 ken, allerdings über dessen Vorlage hinaus, als ein sich durch Theogonie und Schöpfung vollziehendes dialektisches Freiheitsgeschehen aus. Auch Friedrich Christoph Oetinger bindet den Willen an Gott zurück. Die Kreaturen haben ihren „wahren Grund in der Freiheit“, einer Freiheit allerdings, die sie nicht aus sich selbst generieren können, sondern die sie von Gott durch den Willen als der Quelle ihrer Selbstbewegung „empfange[n]“. 35 Die verliehene Freiheit bedeutet für die Geschöpfe, dass sie die Kraft der Eigenständigkeit in sich haben und aus sich hervorbringen können, ohne heteronom bestimmt zu werden: „Durch die Selbst-Bewegung verändert ein Ding seinen Zustand aus sich selbst ohne Bewegung von einem andern, und diese thätige Kraft aus sich selbst ist in den Seelen der Wille, in den Körpern der Selbst- Trieb.“ 36 Die „Quelle der Selbstbewegung in den Geschöpfen [ist] der Grund ihrer Freiheit“, und zwar ausdrücklich einer Freiheit, die ihnen gegenüber Gott qua Natur zukommt - sie haben das „Centro der individualité“ als „innern Quell-Punct“ in sich, „daß man nicht sage, die Creatur seye aus GOtt wie ein Tropf aus dem Meer.“ 37 Dieser Gedanke Oetingers ist für Schellings Konzeption der menschlichen Freiheit zentral, denn er begründet die Möglichkeit einer Freiheit zum Bösen: Trotz der Unterordnung der Natur unter Gott behält diese aufgrund ihrer „freiwillig[en]“ Unterwerfung - so Schelling - die „Möglichkeit in sich“, „in ein eignes von Gott abgewendetes Leben zurückzugehen“; die Natur „bewahrt […] einen eignen Selbstbewegungsgrund, einen Quell der Freiheit“ (SW VIII, 266). Anders als Kant, Fichte und auch Jacobi, die darum bemüht sind, der Freiheit des Menschen gegenüber einer auf den Kausalnexus festgeschriebenen Natur Geltung zu verschaffen, geht es Oetinger wie auch Schelling vielmehr darum, die Freiheit gegenüber Gott begreiflich zu machen, und aus dieser Perspektive ist gerade die Natur der ermöglichende Grund der Freiheit: „Die Vertheidiger der Freiheit denken gewöhnlich nur daran, die Unabhängigkeit des Menschen von der Natur zu zeigen, die freilich leicht ist. Aber seine innere Unabhängigkeit von Gott, seine Freiheit auch in Bezug auf Gott lassen sie ruhen, weil dieß eben das Schwerste ist.“ (SW VII, 458) 35 Oetinger, F. C., »Biblisches und Emblematisches Wörterbuch«, hg. v. G. Schäfer, Berlin/ New York 1999, (= Oetinger), 356. 36 Ebd. 37 Ebd., 261. 230 Roswitha Dörendahl Der Mensch ist „frei von Gott dadurch, daß er eine unabhängige Wurzel in der Natur hat, frei von der Natur dadurch, daß das Göttliche in ihm geweckt ist, das mitten in der Natur über der Natur“ (ebd.). Freiheit ist zunächst eine Wirkung der Natur und nicht das Werk des Menschen, denn das Vermögen der Spontaneität, welches Kant und Fichte der Vernunft zuschreiben, ist bei Oetinger - und hier kann Schelling mit seinem naturphilosophischen Verständnis von Spontaneität anschließen 38 - viel tiefer, nämlich bereits in der Natur fundiert. Ja mehr noch, nach Oetinger offenbart sich Gott als Wollender in seiner Freiheit gerade in der Willensfreiheit, die er seinen Geschöpfen schenkt und die ihnen trotz des Sündenfalls erhalten bleibt. Ausdrücklich lehnt er nämlich Leibniz’ Lehre von der besten aller möglichen Welten ab: Gott nach dem Prinzip des zureichenden Grundes aus unendlich möglichen die beste Welt wählen zu lassen, bedeute, ihm die Freiheit abzusprechen, denn „so bleibt GOtt keine Freiheit übrig, als die beste Welt zu erwählen, aber ein solcher legt GOtt weniger Freiheit bei, als er bei sich empfindet“. 39 Nicht die Vernunft begründet nach Oetinger die Freiheit des Willens, sondern eine ursprüngliche Indifferenz der Kräfte, aus der heraus der Entschluss der Freiheit folgt. Der Wille „hat den Satz des zureichenden Grundes nicht nöthig, sondern eine Gleichgültigkeit der Kräfte, aus welcher sich die Freiheit selbst zu etwas entschließt“. 40 Auch Schelling begreift die Freiheit des Menschen als das Hineingestellt-Sein in den Indifferenzpunkt. 38 Dieses Naturverständnis bringt Schelling in der »Freiheitsschrift« noch einmal auf den Punkt, wenn er schreibt: „[I]n dem zum System gebildeten Idealismus [ist es] keineswegs hinreich[end], zu behaupten, ‚daß Thätigkeit, Leben und Freiheit allein das wahrhaft Wirkliche seyen‘, womit auch der subjektive (sich selbst mißverstehende Idealismus Fichtes bestehen kann); es wird vielmehr gefordert, auch umgekehrt zu zeigen, daß alles Wirkliche (die Natur, die Welt der Dinge) Thätigkeit, Leben und Freiheit zum Grund habe, oder im Fichteschen Ausdruck, daß nicht allein die Ichheit alles, sondern auch umgekehrt alles Ichheit sey.“ (SW VII, 351). 39 Oetinger, 261 (Anm. 35). Mit Nachdruck lehnt auch Schelling in allen seinen Schriften die Wahlfreiheit ab - und damit auch die Vorstellung von einer Wahl Gottes der besten aller möglichen Welten (vgl. SW VII, 397f.; WA, 101). „Wahl ist Qual; ist Folge des unerleuchteten, unaufgeschloßnen Willens; sie ist nicht Freyheit, sondern Mangel der Freyheit, Unentschiedenheit. Wer weiß was er will, der handelt geradezu“ (ebd.). 40 Oetinger, 261 (Anm. 35). Der Ungrund der Freiheit 231 Nach Oetinger hat der Wille als eine „in sich selbst laufende Kraft“ 41 die Doppelstruktur von Selbstbezüglichkeit und Offenbarkeit bzw. der Bezug des Willens auf sich selbst führt zuallererst zur Selbsterkenntnis: „Wenn der Wille in sich selber geht, so bringt er aus seiner Verborgenheit das Bild seiner selbst durch Vervielfältigung der in einander laufenden Kräften hervor, er wird sich selbst zu einem Spiegel, in welchem die Finsternis vergeht. Es entsteht nicht nur eine Selbst-Erkänntniß, sondern es werden aus dunklen klare Begriffe, auf diese Art entsteht die Kraft zu unterscheiden, und aus dieser die Kraft zu vergleichen, sich selbst zu verstehen, über sich selbst zu denken, kurz eine Kraft sich gegen sich und andere zu offenbaren.“ 42 Durch die Metapher des Spiegels schreibt Oetinger dem Willen die Funktion der Reflexion in Beziehung auf das Selbstbewusstsein zu. Diese über Oetinger vermittelte zentrale Spiegel-Metapher wird für Schelling zum hermeneutischen Schlüssel, um in den »Weltalter«-Entwürfen den Willen strukturanalog zum Selbstbewusstseinsmodell zu interpretieren. Die Doppelstruktur des Willens von Selbstbezüglichkeit und Offenbarkeit zeigt, dass der Wille kein einfaches Vermögen ist, sondern sich aus „zwei widrige[n] Central- Kräften“ 43 zusammensetzt, die Oetinger unter Berufung auf Newton als Attraktion und Repulsion begreift. Schelling problematisiert in der »Freiheitsschrift« die Freiheitsfrage und die Bestimmung des Bösen ebenfalls anhand der Dialektik zweier Willen, des Eigen- und des Universalwillens bzw. des Willens des Grundes und des Willens der Liebe. Auch für Schelling ist der Mensch ein Wesen mit zwei Zentren, welches gerade die Möglichkeit seiner Freiheit bestimmt: „Im Menschen ist die ganze Macht des finstern Princips und in eben demselben zugleich die ganze Kraft des Lichts. In ihm ist der tieffste Abgrund und der höchste Himmel, oder beide Centra“ (SW VII, 363). Die Möglichkeit der Freiheit des Menschen liegt nach Schelling darin, dass der Mensch in eine ursprüngliche Indifferenz der Willenskräfte hineingestellt ist, die die Möglichkeit einer Zertrennbarkeit der Einheit der Kräfte in ihm begründet. Gerade die Zertrennbarkeit dieser Kräfte bzw. Prinzipien (des Grundes der Existenz und des Existierenden bzw. des Eigenwillens und des Universalwillens), ein ebenfalls von Oetinger 44 aufgenommener, von der »Freiheitsschrift« über die ver- 41 Ebd., 356. 42 Ebd. 43 Ebd. 232 Roswitha Dörendahl schiedenen Fassungen der »Weltalter« durchgängig zentraler Gedanke Schellings, setzt nicht nur den entscheidenden Unterschied zwischen Gott und Mensch, sondern begründet zugleich den Realbegriff der menschlichen Freiheit als „Vermögen des Guten und des Bösen“ (SW VII, 352): „Diejenige Einheit, die in Gott unzertrennlich ist, muß also im Menschen zertrennlich seyn, - und dieses ist die Möglichkeit des Guten und des Bösen“ (SW VII, 364). Schelling schließt an Oetingers Bestimmungen einer Willensfreiheit, die ursprünglicher als die Vernunft ist, an und setzt sowohl in der »Freiheitsschrift« als auch in den »Stuttgarter Privatvorlesungen« und noch viel mehr in den »Weltaltern« statt der Vernunft ebenfalls eine ursprüngliche Indifferenz der Kräfte zur Bedingung der Möglichkeit der Freiheit: „Dadurch also, daß der Mensch zwischen dem Nichtseyenden der Natur und dem absolut-Seyenden = Gott in der Mitte steht, ist er von beiden frei. Er ist frei von Gott dadurch, daß er eine unabhängige Wurzel in der Natur hat, frei von der Natur dadurch, daß das Göttliche in ihm geweckt ist, das mitten in der Natur über der Natur. Jenes kann man das eigne (natürliche) Theil des Menschen nennen, wodurch er Individuum, persönliches Wesen ist; dieses sein göttliches Theil. Dadurch ist er frei - im menschlichen Sinne -, daß er in den Indifferenzpunkt gestellt ist.“ (SW VII, 458) Menschliche Freiheit ist demnach definiert als Hineingestelltsein des Menschen in den „Indifferenzpunkt“, der in der „Mitte“ lokalisiert ist. Die so bestimmte Mitte ist das Dritte in der Relation, die gegenüber den anderen beiden Relata (Natur und Gott, Nichtseiendem und absolut Seiendem) indifferent ist, d.h. für den in der Mitte stehenden Menschen sind beide gleich-gültig. Diese Indifferenz soll jedoch keineswegs eine negative, d.h. untätige und unwirksame Indifferenz sein, die als selbst indifferentes bloßes Vermögen die Bedingung der Möglichkeit einer Wahlfreiheit („aequilibrium arbitrii (die Pest aller Moral)“) (SW VII, 392) wäre. Ganz im Gegenteil will Schelling hier eine ‚positive‘ (SW VII, 354), dynamische Indifferenz wechselseitig wirkender Willenskräfte denken, durch die der Wille des Menschen seine eigentümliche Freiheit als ein „lebendiges positives Vermögen zum Guten und zum Bösen“ (ebd.) erlangt. Indifferenz bedeutet für den Menschen keine ethische Neutralität, sondern besagt, dass der Mensch gleichermaßen dem Können des Guten und dem Können des Bösen ausgesetzt ist. Gut und Böse erscheinen im 44 Ebd., 331. Der Ungrund der Freiheit 233 Indifferenzpunkt nicht als Gegensätze (und natürlich auch nicht als Identität), sondern als eine Dualität und Zweiheit, die für den Menschen eine ungeheure Zweideutigkeit und Ambivalenz seines Freiheitsvermögens bedeutet. Es bedeutet aber auch, dass die Indifferenz von Gut und Böse eine ist, die nicht sein soll, weil sonst die Schöpfung selbst diese Zweideutigkeit hätte: „Der Mensch ist auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Principien in ihm ist kein nothwendiges, sondern ein freies. Er steht am Scheidepunkt; was er auch wähle, es wird seine That seyn, aber er kann nicht in der Unentschiedenheit bleiben, weil Gott nothwendig sich offenbaren muß, und weil in der Schöpfung überhaupt nichts Zweideutiges bleiben kann“ (SW VII, 374). In Schellings Realdefinition der Freiheit erscheint die menschliche Freiheit nicht wie bei Kant und Fichte als ein Vermögen reinen Anfangenkönnens, sondern als ein Freiheitsvermögen, das von vornherein derart moralisch qualifiziert ist, dass die menschliche Freiheit immer schon in den Horizont einer ethischen Differenz von Gut und Böse gestellt ist, die als solche von Beginn an in das Selbstverhältnis des Menschen eingetragen ist. 45 Die Realbestimmung der Freiheit als Vermögen des Guten und des Bösen antizipiert bereits die „Realisierung der Freiheit im Vollzug einer Handlung“, 46 d.h. sie antizipiert die in und mit der Handlung sich erst vollziehende wirkliche Differenzierung von Gut und Böse. Schelling macht keinen Hehl daraus, dass er die Freiheit des Menschen vom Standpunkt ihres Vollzuges aus in den Blick nimmt, eines Freiheitsvollzuges, durch den sich die menschliche Freiheit immer schon verfehlt und das Böse realisiert hat (vgl. VII, 388f.). Erst aus der Perspektive eines immer schon im Handlungsvollzug realisierten Bösen erscheint die Differenz von Gut und Böse als objektive Möglichkeit. Bereits in der »Freiheitsschrift« (und dann auch in den »Weltaltern«) weist Schellings Ur- und Grundwollen, das sich qua intelligibler Tat selbst zu etwas macht, die Struktur der Vorgängigkeit auf: „In dem Bewußtseyn, sofern es bloßes Selbsterfassen und nur idealisch ist, kann jene freie That, die zur Nothwendigkeit wird, freilich nicht vorkommen, 45 Vgl. Hühn, L., »Die intelligible Tat«, 59 (Anm. 10). Hühn versteht die intelligible Tat als eine Chiffre, „deren sündentheologische Lesart hauptsächlich besagt, dass der ursprüngliche Vollzug der Freiheit mit der schuldhaften Verfehlung dieser Freiheit zusammenfällt“ (ebd.). 46 Ebd., 60. 234 Roswitha Dörendahl da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es erst macht; aber sie ist darum doch keine That, von der dem Menschen überall kein Bewußtseyn geblieben“ (SW VII, 386). Was sich im Bewusstsein des Menschen meldet und von dieser Tat zeugt, ist das Bewusstsein, schuldig zu sein; es ist dieses Schuldbewusstsein - und hier denkt Schelling wieder echt kantisch - was auf die Zurechnungsfähigkeit der Tat verweist: Dass der Mensch so ist, wie er ist, rechnet nicht nur er selbst sich schuldhaft zu, sondern es wird ihm auch als Schuld zugerechnet (ebd.). Gerade die Bewusstlosigkeit über den eigenen Selbstvollzug ist Indiz seiner Falschheit (Sündhaftigkeit) und verweist auf ein ihm zugrunde liegendes Verdrängtes. 47 Die Indifferenz als Bedingung der Möglichkeit der Freiheit des Menschen ist nach Schelling auch das Kennzeichen des Ungrundes. Die menschliche Freiheit ist eine in ihrem Vollzug ungründige, d.h. grundlose Freiheit: Ursprüngliche Freiheit ist ein „Handeln aus dem Ungrunde“ (»Weltalter«, I, 171). II. Der Ungrund Der Begriff Ungrund taucht 1809 in der »Freiheitsschrift« auf und wird von Schelling als „absolute Indifferenz“ (SW VII, 406) bestimmt. Schelling führt erst gegen Ende der Schrift den Ungrund als ein Prinzip der Einheit ein, dagegen beginnt er die Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit mit der Setzung einer Differenz zwischen dem Grund von Existenz und Existierendem, mit deren Hilfe er die Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen erklären und den realen Freiheitsbegriff des Menschen bestimmen will: „Die Naturphilosophie unsrer Zeit hat zuerst in der Wissenschaft die Unterscheidung aufgestellt zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“ (SW VII, 357). Aufgrund des Setzens dieser Differenz ist Schelling genötigt, ein Prinzip der Einheit einzuführen, das noch vor der Unterscheidung liegt, weil diese ansonsten zu einem manichäischen Dualismus von Gut und Böse führen würde, was er strikt 47 Vgl. Hühn, L., »Selbstentfremdung und Gefährdung menschlichen Selbstseins. Zu einer Schlüsselfigur bei Schelling und Kierkegaard«, in: „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, hg. v. Th. Buchheim u. F. Hermanni, Berlin 2004, 151-162, hier 155f. Der Ungrund der Freiheit 235 ablehnt (vgl. SW VII, 407). Die Einheit der Differenz darf aber auch nicht als absolute Identität gedacht werden, denn diese würde eine Identität von Gut und Böse nach sich ziehen, bei der dann das Böse selbst als Privation depotenziert und/ oder instrumentalisiert werden müsste; dagegen schreibt Schelling aber gerade an (vgl. ebd.). Die Lösung für dieses Problem entdeckt er in der Form einer indifferenten Einheit: „es muß vor allem Grund und vor allem Existirenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen seyn; wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? “ (SW VII, 406) Terminologisch übernimmt Schelling den Begriff des Ungrundes von Jacob Böhme, bei dem der Ungrund eine Figur des Ursprungs ist, die dieser ebenfalls - in Schellings Terminologie gesprochen - als eine Indifferenz begreift, aus der heraus sich die Differenz von zwei Willenskräften bzw. zwei Zentren (schon Oetinger nimmt diesen Gedanken Böhmes auf) ereignet. „Und können doch nicht sagen, daß das Jah vom Nein abgesondert, und zwei Dinge neben einander sind, sondern sie sind nur Ein Ding, scheiden sich aber selber in zwei Anfänge, und machen zwei Centra, da ein jedes in sich selber wirket und will. Gleichwie der Tag in der Nacht, und die Nacht in dem Tage zwei Centra sind, und doch ungeschieden, als nur mit Willen und Begierde sind sie geschieden.“ 48 Schelling schließt an Böhmes Gedanken an, dass der Ungrund sich in zwei Anfänge teilt (vgl. SW VII, 408) und beide Prinzipien, Grund von Existenz und Existierendes, gleichursprünglich setzt bzw. sich in zwei „Wirkungsweisen“ als Eigenwille und Universalwille scheidet, die den Realbegriff der menschlichen Freiheit als „Vermögen des Guten und des Bösen“ (ebd., 352) ermöglichen. Er bestimmt den Ungrund als „absolute“, „totale Indifferenz“ (SW VII, 407): der Ungrund ist weder „ein Produkt der Gegensätze, noch sind sie implicite in [ihm] enthalten“ (SW VII, 406), so dass die Gegensätze als solche auch nicht aus ihm prädiziert werden können, sondern er ist ein „eignes von allem Gegensatz geschiedenes Wesen“ (ebd.), dessen einziges Prädikat seine Prädikatlosigkeit ist. Der Ungrund entzieht sich der vermittelnden Reflexion qua logischer Prädikation und die beiden Prinzipien können nur als „Nichtgegensätze“ vom ihm ausgesagt werden, d.h. jedes wird „für sich von ihm prädicirt“, womit nicht die logische, vielmehr die „wirkliche 48 Böhme, J., »177 Fragen«, 3. Frage Abs. 3, in: Jacob Böhmes sämmtliche Werke, hg. v. K. W. Schiebler, Leipzig 1846, Bd. 6, 597. 236 Roswitha Dörendahl Zweiheit der Principien“ (SW VII, 407) gesetzt sein soll, denn der Ungrund ist nicht „beide zugleich“ (Identität), sondern „in jedem gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eignes Wesen“ (SW VII, 408). Daher kann es auch keinen Übergang von der „totalen Indifferenz“ des Ungrundes zur Dualität der Prinzipien geben, sondern: „Unmittelbar aus dem Weder-Noch oder der Indifferenz bricht also die Dualität hervor“ (SW VII, 407). Die Interpretation des Ungrundes als Bestimmung des Wesens der menschlichen Freiheit birgt aber zumindest für die »Freiheitsschrift« eine Reihe von Problemen, deren wichtigstes darin besteht, dass Schelling hier den Terminus Ungrund für das „schlechthin betrachtete Absolute“ (SW VII, 408) reserviert und damit das vermeintlich einzige Prinzip des Systems 49 setzt. Liest man den Ungrund derart als nachträglich von Schelling eingeführtes Absolutes, dann würde er damit den Ausgangspunkt seiner Untersuchung (die Dualität der Prinzipien) wieder aufheben und müsste erklären, wie und warum das Absolute in zwei Anfänge auseinander gehe, denn dieses Auseinander-Gehen selbst und nicht mehr die daraus folgende Dualität wäre dann sowohl die Bedingung der Verwirklichung Gottes als auch die Möglichkeit des Bösen. 50 Bezieht man dagegen den Ungrund als Absolutes auf die Formel „Wollen ist Urseyn“ (SW VII, 350), dann könnte der Ungrund als ein „reines Wollen“ 51 verstanden werden, das als Weder-noch sowohl dem Eigenwillen als auch dem Universalwillen vorausginge und das eine Wesen beider Willen wäre. 52 Das Problematische dieser Interpretation besteht darin, dass Schelling in der »Freiheitsschrift« nicht von einem „reinen Wollen“ spricht, so dass aus diesem Kontext auch nicht hervorgeht, was genau darunter zu verstehen ist. Erst in den »Weltaltern« 1811 führt Schelling die Dimension eines reinen Wollens ein, ohne diesem jedoch den Titel Ungrund beizulegen: der „Wille, der nichts will“ (»Weltalter«, I, 27), ist die höchste Freiheit. Nur im Rückblick von 1811 auf die Freiheitsschrift kann der Ungrund als Prinzip des reinen Wollens bestimmt 49 Vgl. Hennigfeld, J, » F. W. J. Schellings „Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände“«, Darmstadt 2001, (= Hennigfeld), 132. 50 Vgl. Loer, B., »Das Absolute und die Wirklichkeit in Schellings Philosophie. Mit der Erstedition einer Handschrift aus dem Berliner Schelling-Nachlaß«, Berlin/ New York 1974, (= Loer), 198f. 51 Hennigfeld, 131 (Anm. 49). 52 Vgl. ebd. Der Ungrund der Freiheit 237 werden. 53 Des Weiteren bestimmt Schelling in der »Freiheitsschrift« zwar die Indifferenz als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit, aber als solche ist sie das Nicht-Gesollte, während das Gesollte gerade die Differenz ist, da anderweitig die Schöpfung selbst zweideutig bliebe. Die Interpretation des Ungrundes als reines Wollen gemäß dem „Wollen ist Urseyn“ ist auch darum problematisch, weil sie das „Wollen ist Urseyn“ selbst zu einer Bestimmung des Absoluten macht, obgleich Schelling 1809 dieses „Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu etwas macht“ (SW VII, 385), als Grund des Bösen und Prinzip des Sündenfalls begreift. Aus dieser Perspektive scheint es naheliegender, den Ungrund als etwas zu verstehen, das nicht sein soll, wie auch das Wollen als Ursein zwar ist, aber nicht sein soll. 54 So bleibt die Bestimmung des Absoluten als indifferenter Urbzw. Ungrund in der »Freiheitsschrift« auch nicht Schellings letztes Wort, vielmehr führt er noch eine zweite Bestimmung ein, die mit der ersten nicht konvergiert, insofern jetzt der Ungrund gerade nicht mehr durch Indifferenz charakterisiert wird: Der „anfängliche Ungrund“ (SW VII, 408) ist nicht Indifferenz und nicht Identität der beiden Prinzipien, sondern Liebe. Liebe ist die „allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit“, deren „Geheimniß“ darin besteht, „daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere“ (ebd.). Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der Indifferenz in der »Freiheitsschrift« zeigen bereits das Problem an, welches Schelling in den »Stuttgarter Privatvorlesungen« und den verschiedenen »Weltalter«-Entwürfen immer wieder aufgreift, und das auch die unterschiedlichen Ansätze begründet, nämlich dass der Begriff der Indifferenz in doppelter Bedeutung auftritt: Als Charakterisierung des „Wille[ns], der nichts will“ (»Weltalter«, I, 27), bezeichnen Indifferenz und Gleichgültigkeit zwar eine in sich ruhende Fülle, die aber zugleich aufgrund ihrer Unbestimmtheit und der damit verbundenen Zweideutigkeit etwas ist, was nicht bleiben kann und soll. 53 Implizit setzt Hennigfeld dieses bei seiner Interpretation des Ungrundes auch voraus, denn er schreibt: „Der reine Wille kennt noch keine Gegensätze und will deshalb nichts“ (ebd., 141). 54 Vgl. Ehrhardt, W. E., »Das Ende der Offenbarung«, in: F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hg. v. O. Höffe u. A. Pieper, Berlin 1995, 221-234, hier 226f. 238 Roswitha Dörendahl So greift Schelling 1811 im ersten »Weltalterentwurf« das Problem wieder auf, das darin besteht, dass er in der »Freiheitsschrift« zwar das Hervorbrechen der Dualität der Prinzipien aus dem Ungrund und damit ein Sich-Teilen des Ungrundes in zwei Anfänge behauptet, aber nicht entwickelt hat, denn faktisch beginnt er ja seine »Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit« mit der Setzung einer Differenz in Gott. Da Schelling beide Prinzipien (Grund von Existenz und Existierendes) gleichursprünglich setzt, kommt beiden gleichermaßen Priorität zu, deshalb stehen sie in einem Verhältnis der gegenseitigen Voraussetzung, das nach Schelling in den „Cirkel, daraus alles wird“ (SW VII, 358), führen soll: „Es ist hier kein Erstes und kein Letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andere ist. Gott hat in sich einen innern Grund seiner Existenz, der insofern ihm als Existirendem vorangeht; aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht seyn könnte, wenn Gott nicht actu existirte.“ (SW VII, 358) Aus dem Zirkel heraus könnte es jedoch zu keinem Anfang kommen, wenn Schelling nicht schon implizit die Unterscheidung der beiden Prinzipien hinsichtlich ihrer Dignität voraussetzen würde, die er 1810 in den »Stuttgarter Privatvorlesungen« expliziert (vgl. SW VII, 427), nämlich die von Priorität und Superiorität: Der Grund von Existenz ist das erste, aber das Existierende ist das höhere Prinzip. Gemäß der Priorität, die dem Grund zukommt, ist es in der »Freiheitsschrift« dann auch der Wille des Grundes, der - als Sehnsucht bestimmt - das Erste ist und den Anfang bildet (vgl. SW VII, 359f.). In dieser Problematik spiegelt sich auch das viel grundsätzlichere Problem der »Freiheitsschrift« wider, das darin liegt, dass Schelling dem Menschen mit der intelligiblen Tat zugesteht, „außer dem Erschaffenen, frei und selbst ewiger Anfang“ (SW VII, 386) zu sein, was mit dem theologisch verstandenen Geschaffensein des Menschen nur dann nicht kollidiert, wenn der damit gemachte Anfang des Menschen als ein Nicht-sein-Sollender, mithin als Sünde verstanden wird. Anders als in der »Freiheitsschrift« macht Schelling im ersten »Weltalter«-Entwurf die „höchste Freyheit“ (»Weltalter«, I, 26), die er als „Wille, der nichts will“, bestimmt, zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Die höchste Freiheit als Wille, der nichts will, bezeichnet nicht das „Wollen ist Urseyn“, sondern „wohnt“ noch „über allem Seyn“: „Nur über dem Seyn wohnt die wahre, die ewige Freyheit. Freyheit ist Der Ungrund der Freiheit 239 der bejahende Begriff der Ewigkeit […]. Den meisten, weil sie jene höchste Freyheit nie empfanden, scheint es das Höchste, ein Seyendes oder Subjekt zu seyn; daher fragen sie: was denn über dem Seyn gedacht werden könne? und antworten sich selbst: Das Nichts, oder dem Aehnliches. Ja wohl ist es ein Nichts, aber wie die <lautre> Freyheit ein Nichts ist; wie der Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist Nichts und ist Alles. Er ist nichts, in wie fern er weder selbst wirkend zu werden begehrt, noch nach irgend einer Wirklichkeit verlangt. Er ist Alles, weil doch von ihm als der ewigen Freyheit allein alle Kraft kommt, weil er alle Dinge unter sich hat, alles beherrscht und von keinem beherrscht wird.“ (»Weltalter«, I, 26f.) Der Wille, der nichts will, ist höchste Freiheit, weil ihm alles gleichgültig ist. Er ist „Alles“, weil er die Möglichkeit zu allem ist, und er ist zugleich „Nichts“, insofern er frei von allem Begehren völlig unbeweglich in sich ruht. Das „Nichts“ dieses Willens bestimmt Schelling als „Lauterkeit“ (ebd.) und bezeichnet damit eine Erfahrung der Mangellosigkeit und Fülle, die in der Tradition der Gelassenheit steht. 55 Aufgrund Schellings Charakterisierung des Willens, der nichts will als Nichts, wird dieser z.B. von Gertrud Bruneder mit Jacob Böhmes Bestimmung des Ungrundes 56 eng geführt, und Schelling zugleich mit Böhme in die Tradition der negativen Theologie gerückt. 57 Bei Böhme jedoch ist der Ungrund als Bezeichnung für Gott noch vor aller Offenbarung auch ambivalent, weil er in sich bereits die Differenz enthält 55 Damit nimmt Schelling Schopenhauers ebenfalls in der Tradition der Gelassenheit stehenden Gedanken einer paradoxal verfassten Selbstverneinung des Willens vorweg. Vgl. Hühn, L., »Der Wille, der Nichts will. Zum Paradox negativer Freiheit bei Schelling und Schopenhauer«, in: Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/ Schelling), hg. v. L. Hühn in redaktioneller Zusammenarbeit mit Ph. Schwab, Würzburg 2006, 149-160. 56 „Denn man kann nicht von GOtt sagen, daß Er dis oder das sey, böse oder gut, daß Er in sich selber Unterschiede habe: denn Er ist in sich selber Natur-los, sowol Affect- und Creatur-los. […] Er ist in sich selber der Ungrund, ohne eigenen Willen gegen der Natur und Creatur, als ein ewig Nichts […] Er ist das Nichts und das Alles, und ist ein Einiger Wille, in deme die Welt, und die gantze Creation lieget, in Ihme ist alles gleich-ewig ohne Anfang […].“ (Böhme, »Sämtliche Schriften«, VI, 1, 3 (Anm. 34)). 57 Vgl. Bruneder, G., »Das Wesen der menschlichen Freiheit bei Schelling und sein ideengeschichtlicher Zusammenhang mit Jacob Böhmes Lehre vom Ungrund«, in: Archiv für Philosophie 8 (1958), 101-115. 240 Roswitha Dörendahl zwischen dem Willen, der über der Natur steht, und einer Urbegierde nach Sein, die sich in ihm regt. 58 Diese Ambivalenz kennzeichnet sowohl die Unauflöslichkeit von Freiheit und Notwendigkeit in Gott wie auch seine ontologische Stellung als „über“ und „vor“ dem Sein stehend. 59 In den verschiedenen »Weltalter«- Fragmenten versucht Schelling, mit Hilfe der Unterscheidung der beiden Prinzipien hinsichtlich ihrer Priorität und Superiorität, dieser Ambivalenz zu entgehen. In der Streitschrift gegen Jacobi beklagt er die „Verwechslung von Priorität und Superiorität“ (SW VIII, 61), die darin bestehe, dass das Erste (das „Vor“) auch das Höchste (das „Über“) sein solle. Schelling hält dagegen das Dasein eines lebendigen Gottes gerade deshalb für nachweisbar, weil Gott sich aus einem notwendigen Grund entwickle, der als Entwicklungsgrund „vor und unter dem lebendigen Daseyn ist“ (ebd.). Damit führt Schelling die Möglichkeit einer Entwicklung und Geschichtlichkeit ein, die Böhme so fremd ist. Meines Erachtens depotenziert er Böhmes Ungrund und stuft ihn zur ursprünglichen Natur herab. Der Nachfolgebegriff für den Böhmeschen Terminus „Ungrund“ wäre für Schelling das „Unvordenkliche[n]“ (»Weltalter«, III, 4), welches als das „Erste[n]“ (ebd.) zwar vor, aber unter und nicht über dem Folgenden sei. 60 Als Unvordenkliches ist der Ungrund weder Gott noch das Überseiende oder Wille, der nichts will, sondern ein Ursprüngliches, hinter das nicht mehr zurückgegangen werden kann und das mit einer Inferiorität behaftet ist, die es zu überwinden gilt. Nur in der Überwindung wandelt sich der unvordenkliche Ungrund zum Grund (der Freiheit und der konkreten Existenz). Der von Schelling als höchstes Prinzip gesetzte Wille, der nichts will, ist aufgrund seiner Gleichgültigkeit und Indifferenz, die die Fülle seiner Möglichkeiten bestimmt, radikal unanfänglich - aus ihm kann es keinen Anfang geben. Um zur Wirklichkeit zu gelangen, müsste es irgendeinen Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit und zur Existenz geben; diesen Übergang aber gibt es nicht, daher könnte der Anfang nur durch einen existentiellen Sprung geschehen. Dies versucht Schelling jedoch zu vermeiden, und löst stattdessen das Problem des Anfangs auf 58 Vgl. Böhme, »Sämtliche Schriften«, III, 6 (Anm. 34). 59 Vgl. Zovko, 144 (Anm. 11). 60 Vgl. Hutter, A., »Das Unvordenkliche der menschlichen Freiheit. Zur Deutung der Angst bei Schelling und Kierkegaard«, in: Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit, hg. v. J. Hennigfeld und J. Stewart, Berlin/ New York 2003, (= Hutter) 117-132, hier 118. Der Ungrund der Freiheit 241 ähnliche Weise wie Böhme, der Schelling hier nicht nur die Metaphern an die Hand gibt, sondern auch seine Zweideutigkeit. 61 Schelling führt im Willen, der nichts will, selbst schon ein intentionales selbstbezügliches Moment ein, und zwar die Lust. Aus einem „stille[n] Sinnen über sich selbst“ wird „ein In-sich-gehen, ein Sich-suchen und Sich-finden“, welches „die Lust erzeugt, sich zu haben und sich äußerlich zu erkennen, welche Lust sodann den Willen empfängt, der der Anfang zur Existenz ist“ (»Weltalter«, I, 31). Mit der Bestimmung der Lust versucht Schelling, den Übergang zu entwickeln von der Lust des Willens, der nichts will, hin zur Sehnsucht des Willens zum Etwas. Dies lässt sich jedoch mit der höchsten Freiheit nicht vereinbaren, denn da diese in den »Weltaltern« 1811 als absolut transzendent bestimmt ist, kann sie nicht der Ursprung des Willens zur Existenz sein. Der Wille zur Existenz ist als das „erste Wirkliche“ (»Weltalter«, I, 41) selbst ein absolutes Entspringen, was nichts anderes bedeutet, als dass er sich selbst generiert. Er „entsteht also zwar im Absoluten, wird aber darum nicht durch das Absolute hervorgebracht“ 62 und ist folglich selbst absoluter, ewiger, erster Wille und der Anfang zu Etwas: „<Aller Anfang ist erst von> dem andern Willen, der, weil ihm der erste nicht reell vorausgehen kann, in seiner Art eben so absolut seyn muß, als der Wille der nichts will“ (»Weltalter«, I, 31). Der erste wirkliche Wille muss sich als das tätige Prinzip von der „strukturbedingten Wirkungslosigkeit des Absoluten“ 63 als Übersein und höchste Freiheit grundsätzlich unterscheiden. Es gelingt Schelling weder den Sprung noch den Dualismus zu vermeiden: „Wird der Wille, der nichts will, als das Höchste, zugestanden, so gibt es aus ihm keinen Uebergang; das erste ihm Folgende, der Wille der Etwas will, muß sich selbst erzeugen, absolut entspringen“ (»Weltalter«, I, 140). Wie schon in der »Freiheitsschrift« so ist es auch im ersten »Weltalterentwurf« die Sehnsucht, die als Wille des Grundes bzw. zur Existenz den Anfang bildet - einen Anfang allerdings, der so nicht sein sollte. Diesen Gedanken führt Schelling besonders im dritten uns erhaltenen Entwurf der »Weltalter« von 1814/ 15 aus. Gemäß der Priorität des 61 Vgl. Ebbestad Hansen, J. E., »Über den Begriff Ungrund in Jacob Böhmes Denken«, in: Östliches-Westliches. Studien zur vergleichenden Geistes- und Religionsgeschichte, hg. v. M. Sladek, Heidelberg 1995, 37-52. 62 Loer, 202 (Anm. 50). 63 Ebd., 205. 242 Roswitha Dörendahl Grundes macht er hier nun wieder - wie schon in der »Freiheitsschrift« - die notwendige Natur Gottes zum ‚Prius‘ und zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Die höchste Freiheit eines aufgrund seiner Gleichgültigkeit in sich ruhenden Willens, der nichts will, steht hier nicht am Anfang, wie noch 1811, sondern ist das „Ziel“ (SW VIII, 235) einer Bewegung der Sehnsucht und des Suchens: „Ueberall hat sich uns das Nothwendige als das Erste (Prius), Freiheit als das Folgende bewährt“ (SW VII, 303). In diesem Fragment führt Schelling ein schon in den vorangehenden Schriften als Mitte implizit enthaltenes „Drittes“ (SW VIII, 228) in den Gegensatz der beiden Prinzipien (Grund von Existenz-Existierendes, Sein-Seiendes, Reales-Ideales) ein, mit dem die Potenz der Natur zum Abschluss kommt: Dieses „Dritte“ ist Mitte und gegen die beiden den Gegensatz bildenden Relata indifferent - Schelling nennt es das „Gleichgültige“ (ebd.). Das Gleichgültige bezeichnet jedoch nicht die in sich ruhende Gleichgültigkeit des Willens, der nichts will, sondern eine wirkende, d.h. die Gegensätze verneinende und sie daher voraussetzende Indifferenz. Die wirkende Indifferenz ist das vermittelnde Moment zwischen den Gegensätzen und der höchsten Freiheit des indifferent in sich ruhenden Willens. Mit ihr kommt der Naturprozess zu seinem vorläufigen Abschluss, denn aufgrund ihres vermittelnden Charakters bildet die wirkende Indifferenz die objektive Möglichkeit für „das Neue aller Freiheit“: „Es ist auch hier Indifferenz, Ungeschiedenheit, aber wirkende, nicht eine von aller Differenz freie, sondern eine sie verneinende. Aber verneint wird doch nur die Geschiedenheit und gegenseitige Freiheit, also werden die, deren Geschiedenheit verneint ist, als Ungeschiedene bejaht, und jene Kraft, die das Neue aller Freiheit [ist], ist das Bejahende des Ganzen in der Nichtfreiheit; da sie jedoch nur verneinen kann, was da ist, so erkennt sie durch die Verneinung die Geschiedenheit an und bejaht sie im Verneinen.“ (SW VIII, 317) Die wirkende Indifferenz ist die objektive Möglichkeit eines „neue[n] und zweite[n] Anfang[s]“ (SW VIII, 318) aus Freiheit, durch den der erste notwendige Anfang als ein nicht-sein-sollender und ewig-vergangener gesetzt wird. Das „Neue“ dieser Freiheit besteht darin, dass Schelling sie nicht wie Kant und Fichte als voraussetzungslose Freiheit bestimmt. Vielmehr bedarf die Freiheit selbst einer Voraussetzung, die jedoch als das eigentlich Nicht-Gewollte der Ungrund bzw. das Unvor- Der Ungrund der Freiheit 243 denkliche eben dieser Freiheit ist, und nur in ihrer Überwindung der Grund von Freiheit werden kann. Die wirkende Indifferenz als „thätige Mitte“ (»Weltalter«, I, 53) bezeichnet den Indifferenzpunkt, in den der Mensch gestellt ist, und der - mit Oetinger gesprochen - der „Quell-Punct“, 64 d.h. die objektive Möglichkeit der menschlichen Freiheit, ist. Es ist eben diese wirkende Indifferenz, die der menschlichen Freiheit den Schein der Absolutheit, d.h. der Voraussetzungslosigkeit, verleiht. Die Dialektik der (menschlichen) Freiheit besteht gerade darin, dass der Grund der Existenz bzw. die Natur zugleich Urgrund, Ungrund und Abgrund der Freiheit ist. Aus der wirkenden Indifferenz heraus bestimmt der Mensch sich selbst - gibt sich seinen Charakter - in einer unvordenklichen Tat. Zwar fällt der Begriff der intelligiblen Tat in den »Weltaltern« 1811 nicht, doch die Sache ist präsent und wird von Schelling als ein „Handeln aus dem Ungrund“ bezeichnet: „Vor der aus jener Tiefe kommenden Handlung ist kein Grund anzugeben; sie ist so, weil sie so ist, sie ist schlechthin und in so fern nothwendig. Vor dieser grundlosen, durch sich nothwendigen, Freyheit scheuen sich die Meisten […]. Dieses Handeln aus dem Ungrund ist der geheime Talisman, die dunkle erschreckende Gewalt, wodurch bisweilen der Wille eines einzigen Menschen die Welt vor sich zu beugen vermag.“ (»Weltalter«, I, 170f.) Diese in der »Freiheitsschrift« als Sünde bestimmte Tat wird in den »Weltaltern« zur unvordenklichen Voraussetzung der menschlichen Freiheit. Der Charakter bildet die „entschiedne Priorität in allem Handeln und Wirken“ (ebd., I, 172). Als solcher Prius ist der Charakter jedoch nur das inferiore Erste, welches als das Nicht-sein-Sollende zwar überwunden, aber in der Überwindung zugleich aufgeschlossen und gesteigert werden soll, damit er Entwicklungsgrund sein kann. 65 Der Charakter ist „der ewige Grund, den der Wille sich selber macht, damit der andre aus dem ersten gezeugte Wille einen Gegenstand habe, etwas Widerstehendes finde, das er aufschließe und zu immer höherer Gestaltung entwickele. Wir fordern von dem Menschen allerdings auch, daß er seinen Charakter überwinde, nicht aber daß er ohne Charakter sey. Eben weil er überwunden, aufgeschlossen, gesteigert werden soll, muß er eher seyn als das Ueberwindende“ (ebd.). 64 Oetinger, 261 (Anm. 35). 65 Vgl. Hutter, 120 (Anm. 60). 244 Roswitha Dörendahl Obwohl Schelling dem Kantschen Gedanken treu bleibt und die Handlung, durch die der Mensch sein Wesen bestimmt, ihm als freie zurechnet (vgl. »Weltalter«, I, 171), ist sie keine mit Bewusstsein vollzogene, eigentlich gewollte Handlung, „denn das allem Vorauszusetzende kann schon darum nicht das Gewollte seyn, weil es überhaupt nicht das Gegenständliche ist. Es ist das selbst allem Denken zuvorkommende; wäre sonst das Unvordenkliche, Erste? Es wird nicht gesetzt, sondern es setzt sich selbst, nicht eben daß dieses sich Selbstsetzen als ein besonderer Akt zu denken wäre, sondern in dem Sinn wie man auch sagt etwas mache sich selbst, wenn man nur sagen will es sey ohne unser Zuthun. Es ist das von allem Setzen schon voraus Gesetzte, das ehe wir uns bedenken oder uns dessen verstehen schon da ist u. den Ort der Unbedingtheit eingenommen hat, so früh wir auch kommen mögen“ (ebd., III, 4). Die Abhängigkeit des Menschen vom unvordenklichen Grund seiner Existenz hebt, wie gesagt, die menschliche Freiheit nicht auf, sondern macht sie erst möglich. Erst in der Überwindung seiner anfänglichen Natur durch einen „zweiten Anfang“ wird der Mensch zum Menschen - oder wie Schelling sagt: „[D]er Mensch [ist] im ersten Zustand bloß der Möglichkeit[,] nicht aber der Wirklichkeit nach Mensch“ (ebd., I, 184). III. Zusammenfassung Schelling bestimmt den Menschen als „derivierte Absolutheit“, als welche er die Mitte zwischen Natur und Gott ist. Mit dieser Bestimmung kritisiert er den Freiheitsbegriff Kants und Fichtes, die Freiheit als das voraussetzungslose Anfangen-Können eines Subjekts begreifen und den Willen mit der praktischen Vernunft identifizieren. Ein solcher Freiheitsbegriff, der als praktische Selbstbestimmung (Kant) oder gar als autopoietische Selbstsetzung eines Ichs (Fichte) verstanden wird, definiert sich in Abgrenzung zur Natur. Natur als das von der Freiheit Ausgeschlossene wird auf die unverbrüchlichen Naturgesetze festgelegt, welche die Vernunft ihr vorschreibt, oder ist gar als bloßes Nicht-Ich der Aneignung des Subjektes ausgesetzt, welches in dieser Aneignung den Spielraum der eigenen Freiheit erweitert. Bei den Theosophen Böhme und Oetinger dagegen findet Schelling nicht nur eine andere Vorstellung von Natur, die es ihm gestattet, diese nicht als Der Ungrund der Freiheit 245 „Schranke“ (Fichte), vielmehr als Ermöglichungsgrund der Freiheit zu begreifen, sondern auch einen anderen Willensbegriff. Mit Hilfe theosophischer Metaphern löst Schelling den Willen von der praktischen Vernunft ab und macht ihn zum unvordenklichen dunklen Grund der Existenz, der die Grundlage bildet, auf der überhaupt erst ein bewusster, mit Vernunft verbundener Wille möglich wird. Dabei gerät Schelling jedoch in die nicht zu übersehende Schwierigkeit, die darin besteht, das unvordenklich Erste mit dem Absoluten zu vermitteln - eine Schwierigkeit, die er trotz der verschiedenen Ansätze im besprochenen Zeitraum nicht befriedigend zu lösen vermag. Dennoch gelingt es ihm, eine ontologische Dimension der Freiheit geltend zu machen, welche die Freiheit des Subjekts wie auch die Freiheit der Natur umfasst und in Gott begründet. Damit realisiert Schelling sein gegenüber Jacobi 66 und Eschenmayer 67 stets verteidigtes Anliegen, die Physik (als Naturphilosophie) und die Ethik (verstanden als theistische Ethik) zu verbinden. 68 Erst aus dieser Perspektive ist es ihm möglich, den schon 1804 in »Philosophie und Religion« gegen Fichte erhobenen Vorwurf, mit der Konstruktion eines absoluten Ichs das Prinzip des Sündenfalls zum Prinzip der Philosophie gemacht zu haben, auch tatsächlich einzuholen und idealismuskritisch zu wenden. Es gibt für den Menschen kein voraussetzungsloses Anfangen-Können, denn: „Alles kann dem Geschöpf mitgetheilt werden, das eine nicht, den unsterblichen Lebensgrund in sich selbst zu haben, von und durch sich zu seyn“ (SW VIII, 343). 66 Schelling, F. W. J., »Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen« (1812), SW VIII, 19-136. 67 Schelling, F. W. J., »Antwort auf das voranstehende Schreiben« (April 1812), SW VIII, 161-189. 68 Der Gedanke, die Physik mit der Ethik zu verbinden, ist auch ein Grundanliegen Franz von Baaders, mit dem Schelling ab 1806 bis zumindest 1813 in freundschaftlichem Verhältnis und regem philosophischem Austausch, gerade in Bezug auf die Schriften Böhmes und Oetingers, stand. Oliver Müller Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ Schellings naturphilosophische Grundlegung der Medizin und die Erneuerung seiner Anthropologie Betrachtet man Schellings Bild vom Menschen, sieht man den Gipfelpunkt der Schöpfung - und scheint gleichzeitig in einen Abgrund zu blicken: Die „Angst des Lebens“ (SW I, 7, 381), 1 der „Schleier der Schwermuth“ (ebd., 399) und die „allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit“ (ebd.) scheinen den basso continuo des Lebens zu bilden, der „Hunger der Selbstsucht“ und die immer „giftiger“ (ebd., 390) werdende Selbstsucht, die schließlich das „Band der Creatürlichkeit“ selbst „vernichtet“ (ebd., 391), scheinen konstitutiv für das menschliche Selbstsein zu sein. 2 - Dies ist bekanntlich das bevorzugte Metaphernfeld der »Freiheitsschrift«, 3 in der Schelling betont, dass allein der Mensch 1 Zitiert werden Schellings Schriften meist aus den »Sämmtlichen Werken« (= SW); zwei Ausnahmen: der »Erste Entwurf eines Systems der Naturphilosophie« wird, aus philologischen Gründen, nach der Akademieausgabe zitiert (Werke I, 7, Stuttgart 2001, =AA) und die »Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft« (erster Band, erstes Heft) aus der Originalausgabe (Tübingen 1805 bis 1808, = JMW). 2 Die Wendung „Angst des Lebens“ verweist auf Kierkegaards Nähe zu Schelling; siehe »Der Begriff Angst«, vor allem die § 5 und 6, dort wird die Angst als specificum der conditio humana abgehandelt. Die Tragik des Menschseins liegt in der „befangenen Freiheit“: „Angst ist keine Bestimmung der Notwendigkeit, aber auch keine der Freiheit, wobei die Freiheit in sich selbst nicht frei ist, sondern gefesselt, nicht in der Notwendigkeit, sondern in sich selbst.“ (»Gesammelte Werke«, 11. und 12. Abt., Düsseldorf 1958, 48). Der Schelling- Kierkegaard-Workshop am 19. August 2000 in Kopenhagen widmete sich dem Verhältnis Kierkegaard-Schelling. Der achte Band der Kierkegaard-Studien dokumentiert die Beiträge: Hennigfeld, J. und Stewart, J. (Hgg.), »Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit«, Berlin/ New York 2003. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 247 diese Zerstörungskraft hat und sich gerade in seiner Fähigkeit zum Bösen vom Tier unterscheidet (vgl. ebd., 372f). Angesichts dieser düsteren anthropologischen Diagnose ist es wenig verwunderlich, wenn Schelling die Krankheit für das „treffendste Gleichniß“ für das Böse hält (ebd., 366). Gerade weil der Organismus in Schellings Naturphilosophie eine zentrale Stellung einnimmt, ist es bezeichnend, dass sich der Naturbegriff der »Freiheitsschrift« wesentlich am kranken Organismus und an der Sprache der Medizin orientiert. 4 In den Jahren vor dem Erscheinen der »Freiheitsschrift« hatte Schelling sich im Rahmen seiner naturphilosophischen Systementwürfe auch mit der naturphilosophisch-physiologischen Grundlegung der Medizin und insbesondere mit dem Krankheitsbegriff befasst. Die »Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft«, die Schelling mitherausgegeben und in denen er seinen letzten großen Beitrag zur Grundlegung der Medizin und zum Begriff der Krankheit geschrieben hatte, erschienen von 1805 bis 1808, endeten also ein Jahr bevor die »Freiheitsschrift« veröffentlicht wurde. Sieht man die »Jahrbücher« als Teil des reellen Teils seiner Philosophie, kann man fragen, inwieweit der Krankheitsbegriff Einfluss auf die Arbeit an der »Freiheitsschrift« als „ideelle[r] Teil“ gehabt haben kann - und inwiefern die Krankheit zu einer zentralen Kategorie innerhalb der Schellingschen Anthropologie avanciert. Da die Krankheit ein wichtiger Aspekt des menschlichen Organismus ist und der „Menschenorganismus“ für Schelling den Ausgangspunkt einer Anthropologie bilden soll, 5 bietet es sich an, den Krankheitsbegriff Schellings als Strukturmoment seiner Anthropologie zu untersuchen; schon allein deshalb, weil der Ansatz der »Freiheitsschrift«, die spezifisch menschliche Freiheit zu beschreiben - Maßstab für die Verfehlung 3 Siehe dazu Hühn, L., »Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit Schellings und Schopenhauers«, in: Selbstbesinnung in der philosophischen Moderne. Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe, hg. v. C. Iber, Cuxhaven 1998, 68; Hühn, L., »Selbstentfremdung und Gefährdung menschlichen Selbstseins. Zu einer Schlüsselfigur bei Schelling und Kierkegaard«, in: „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, hg. v. Th. Buchheim und F. Hermanni, Berlin 2004, 151. 4 Darauf hingewiesen hat Lindner, K., »Natur und Freiheit. Zum Naturbegriff in Schellings Schrift „Über das Wesen der menschlichen Freiheit“«, in: Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit. Akten der Fachtagung der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1992, hg. v. H. M. Baumgartner und W. G. Jacobs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 303f. 5 Siehe dazu SW I, 6, 487-502. 248 Oliver Müller ist der Mensch -, im Kontext der Krankheitssymptomatik eine naturphilosophisch-anthropologische Neuerung gegenüber dem transzendental- oder identitätsphilosophischen Arbeiten bieten kann. Zufall kann es nicht sein, dass die zentrale naturphilosophische Unterscheidung zwischen dem „Wesen, sofern es existirt“, und dem „Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“ (SW I, 7, 357), zur Grundunterscheidung der Freiheitsproblematik des mittleren Schelling wird. In einer Analyse der strukturellen Verbindung von Kranksein und Anthropologie kann die Konzeption des Menschseins im Verhältnis zum System und Absoluten um einen wichtigen Aspekt bereichert werden. Damit kann versucht werden, Michael Theunissens einschlägige Diagnose, dass Schelling in der »Freiheitsschrift« einen neuen, spezifisch anthropologischen Ansatz, einen schöpfungstheologisch fundierten Ansatz verfolge, der aber scheitere und zu einem Rückfall in die Transzendentalphilosophie führe, 6 um einen wesentlichen Aspekt, um eine weiterführende Perspektive zu ergänzen. Theunissen versucht zu zeigen, dass Schelling die Einsicht einer „derivirten Absolutheit“ (vgl. ebd., 347), die dieser in seinen schöpfungstheologischen Überlegungen am Anfang der »Freiheitsschrift« entwickelt, durch einen Rückfall in die Transzendentalphilosophie wieder rückgängig mache; dadurch scheitere der schöpfungstheologische Ansatz, mit dem eine Antwort auf die subjekttheoretische Selbstsetzung hätte gegeben werden sollen, in der »Freiheitsschrift« grundsätzlich. Lore Hühn hat der Diagnose Theunissens widersprochen; sie zeigt, in Auseinandersetzung mit dem Terminus der ‚derivierten Absolutheit‘, dass die von Theunissen aufgezeigte Spannung „die ureigenste Intention der Freiheitsschrift“ ist, dass also „die angeführten Selbstsetzungsfiguren immer schon durch das ihnen inhärierende sündentheologische Erbe gebrochen und damit durch Schelling selbst in Frage gestellt worden sind.“ 7 Zudem weist sie darauf hin, dass gegen die Rede von einem „Scheitern“ der »Freiheitsschrift« gewichtige Gründe angeführt werden können. 8 6 Vgl. Theunissen, M., »Schellings anthropologischer Ansatz«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 47 (1965), 174-189. 7 Hühn, L., »Die intelligible Tat«, 63, Fn. 16. 8 Ebd., 77, Fn. 49. Allgemein zur „anthropologischen Frage“ bei Schelling und zum Überblick über die Forschung: Hennigfeld, J., »Der Mensch im Absoluten System. Anthropologische Ansätze in der Philosophie Schellings«, in: Schellings philosophische Anthropologie [Schellingiana Bd. 14], hg. von J. Jantzen und P. L. Österreich, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 1-22. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 249 Schon die zentrale Rolle, die Schelling der Medizin zuschreibt, könnte für seine Anthropologie aufschlussreich sein. Die Medizin muss nicht nur Organismus-Expertise entwickeln, also „allgemeine Wissenschaft der organischen Natur“ werden (SW I, 5, 336) und Grundsätze der Philosophie zu ihrer Voraussetzung machen, sondern sie hat eine elementare Rolle für das menschliche Selbstverständnis, denn der Arzt wahrt „das heilige Feuer im Mittelpunkt und schaut den unmittelbar gegenwärtigen Gott in dem Wirken und Leben eines organischen Leibes.“ 9 Die zentrale Rolle der Medizin im Verein der Wissenschaften verdeutlicht die Bedeutung der Heilkunst - und die Bedeutung des Skandalons der Krankheit. Der Mensch bedarf der Heilung, in physiologischer wie metaphysischer Hinsicht. Krankheit und Heilung bekommen in Schellings Anthropologie eine fundamentale Relevanz. Am Begriff der Krankheit wird deutlich, wie sehr sich Schelling in seiner anthropologischen Konzeption von seinem Ausgangspunkt Kant entfernt hat. 10 Kant hatte keinen vergleichbaren Begriff von Krankheit wie Schelling, stand eher dem eklektizistischen Ansatz Hufelands nahe. 11 Die Krankheit spielt weder in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« eine fundamentale Rolle, noch in der »Kritik der Urteilskraft«. Und in der Konzeption des „radical Bösen“ in der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« bedient sich Kant nicht der Metaphorik der Krankheit. Die neostoische Haltung gegenüber der Krankheit und, was bei Kant besonders wichtig ist, gegenüber der Hypochondrie kann Schelling nicht mehr einnehmen. Vor dem Hintergrund der Krankheitsmetapher wird die conditio humana in der »Freiheitsschrift« skandalisiert, wird das Krankseinkönnen zu einer existentiellen Gefahr des Menschseins und zu einem konstituierenden Moment einer Anthropologie, einer Anthropologie, die mit dem Modell 9 Schelling, F. W. J., »Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft« (erster Band, erstes Heft), V/ VI, (= JMW). 10 Gleichwohl bleibt Kant einer der wichtigsten Einflüsse auf Schelling; darauf hat vor allem Wilhelm G. Jacobs immer wieder hingewiesen, so auch in seiner schönen Einführung: »Schelling lesen« [legenda 3], Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. 11 Siehe zu Hufeland und zu den damaligen Kontroversen Wiesing, U., »Kunst oder Wissenschaft? Konzeptionen der Medizin in der deutschen Romantik«, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 72-92 und allgemein zu den Kantianern in der Medizin nach 1800, 107-144. 250 Oliver Müller einer Anthropologie „in pragmatischer Hinsicht“ nichts mehr zu tun hat. I. Der Organismus als Selbstorganisation und ‚concentrirte Natur‘ Nur ein Organismus kann krank sein. Und der Organismus ist einer der zentralen Begriffe in Schellings Naturphilosophie; das „Centrum der Natur“ sei der menschliche Organismus, schreibt Schelling etwa in den »Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft«, und „Krone“ und „Blüthe“ der Welt (JMW, VI und XVIII). Als „dritte Potenz“ hat der Organismus seinen festen Platz im Stufengang der Natur und dementsprechend in der naturphilosophischen Grundlegung. Der Schellingsche Potenzbegriff, in der Nachfolge der platonischen ‚potentia‘, hat seine Bedeutung für das Konzept der „dynamische[n] Stufenfolge“ der Natur, also für die Reproduktion der Naturprozesse auf der jeweils höheren Ebene; so haben anorganische Prozesse ihre Wirk-Entsprechungen im Organismus. Es gibt nach Schelling drei Potenzen, die die gesamte Natur organisieren und die Produktivität der verschiedenen Stufen garantieren: Attraktiv- und Repulsivkraft sowie Schwerkraft sind Wirkraum der ersten Potenz, Magnetismus, Elektrizität und chemische Prozesse bilden die zweite Potenz, die Wirkzusammenhänge des Organismus die dritte; diese dynamische Triplizität der Potenzen bezeichnet nicht nur das „reelle“ Naturgeschehen, sondern auch das „ideelle“ des Geistes. 12 Der große Stellenwert des Organismus in Schellings System hängt erstens mit der Anknüpfung an die »Kritik der Urteilskraft« zusammen, in der Kant die Natur unter dem transzendental gewendeten Teleologiebegriff hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit untersucht. Schelling kann durchaus produktiv an Kants Organismus-Begriff anschließen, entwickelt diesen aber deutlich weiter. Zum einen wird die naturphilosophische, auch metaphysische Tragweite des Organismus-Modells ausgedehnt - Schelling gibt sich weder mit der transzendentalen Als-ob- 12 Überzeugend stellt etwa Jens Halfwassen die Dynamik der drei Potenzen mit Blick auf die schöpfungstheologische Fundierung in der Freiheitsschrift dar (vgl. »Freiheit als Transzendenz. Zur Freiheit des Absoluten bei Schelling und Plotin«, in: Pensées des l’ ‚Un‘ dans l’histoire de la philosophie. Ètudes en hommage au professeur Werner Beierwaltes, hg. v. J.-M. Narbonne und Alfons Reckermann, Paris/ Quebec 2004, 464-467). Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 251 Struktur in der Naturphilosophie noch mit dem einen Teleologiebegriff überhaupt, mag er auch transzendentalphilosophisch gewendet sein, zufrieden 13 -, zum anderen schließt er deutlich intensiver an den chemischen und physiologischen Forschungsstand seiner Zeit an und legt eine empiriebasierte Organismustheorie vor. 14 Der zweite Grund für die zentrale Stellung des Organismus-Begriffs in Schellings Philosophie hängt mit der Rehabilitierung der Natur gegenüber Fichtes subjektivitätstheoretischem Ansatz zusammen. Wenn der Mensch bei Schelling in Absetzung von Fichte die Natur nicht mehr als Schranke, sondern als „ermöglichende Voraussetzung seiner selbst“ 15 erfährt, dann gilt das in besonderem Maße vom Organismus. Der Organismus ist nicht nur das natürliche Substrat des Selbst und die Vermittlungsinstanz zwischen Selbst und Außenwelt (vgl. ebd., 332), sondern er ist das „Organ der Selbstanschauung“, wie Schelling im »System des transzendentalen Idealismus« schreibt (ebd., 498). Menschsein konstituiert sich im Organismus; der naturphilosophische Teil der Transzendentalphilosophie hat die Aufgabe, aus der „Natur eine Intelligenz“ zu machen (ebd., 342), der menschliche Organismus ist der Kulminationspunkt von Natur und Intelligenz. Im »System des transzendentalen Idealismus« versucht Schelling in einer „Deduktion der organischen Natur“ auf vier wesentliche Fragen zu antworten: warum die organische Natur überhaupt notwendig sei; warum eine Stufenfolge der or- 13 Siehe dazu etwa SW I, 3, 332; zum Verhältnis zwischen Schelling und Kant in diesem Punkt allgemein Düsing, K., »Teleologie der Natur. Eine Kant-Interpretation mit Ausblicken auf Schelling«, in: Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Referate, Voten und Protokolle der II. internationalen Schelling-Tagung Zürich 1983, hg. v. R. Heckmann, H. Krings und R. W. Meyer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, 187-210. 14 Dies am umfangreichsten im dritten Hauptabschnitt des »Ersten Entwurfs«, AA I, 7, 170-245. Siehe zur naturwissenschaftlichen Leistung Schellings vor allem Heuser-Keßler, M.-L., »Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften«, Berlin 1986. Dort wird deutlich, wie innovativ Schellings Versuche waren, das (rein) mechanistische Menschenbild zu überwinden, und wie produktiv er etwa auch an die ‚geschichtliche‘ Dimension der »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels« von Kant anschließt und dessen Prozess- Gedanken weiterentwickelt. 15 Hühn, L., »Die Idee der Neuen Mythologie. Schellings Weg einer naturphilosophischen Fundierung«, in: Evolution des Geistes. Jena um 1800, hg. v. F. Strack, Stuttgart 1994, 396. 252 Oliver Müller ganischen Natur notwendig sei; warum ein Unterschied zwischen belebten und unbelebten Organismen bestehe; und schließlich was der „Grundcharakter“ aller Organisation sei (ebd., 491). Der Grundcharakter des Organismus - oder derjenige der „Organisation“, das ist Schellings Begriff für die systemischen Wirkverhältnisse im Organismus - der Grundcharakter des Organismus also, wie Schelling ihn im »System des transzendentalen Idealismus«, aber auch in den früheren naturphilosophischen Schriften, namentlich in den »Ideen zu einer Philosophie der Natur« und im »Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie« bestimmt, schließt produktiv an Grundzüge der kantischen Erkenntnistheorie im Allgemeinen an, wenn er die „Wechselwirkung“ in der Nachfolge von Fichtes und Novalis’ Deutung als zentralen Begriff aufgreift und den Charakter des „sich selbst Tragens“ der Wechselwirkung zur Grundkategorie des Organismus macht. „Die Organisation“, schreibt Schelling, „ist also die höhere Potenz der Kategorie der Wechselwirkung […]“ (ebd., 495). Des Weiteren knüpft er aber im Besonderen auch an Kants Analyse des „organisirten Wesens“ in der »Kritik der Urteilskraft« an. 16 Die wesentlichen Charakteristika der Organisation sind folgende: (1) Die Organisation produziert sich selbst, entspringt aus sich selbst, hat den Grund des Daseins in sich selbst. 17 Die Organisation ist nach Maßgabe der sich selbst reproduzierenden ‚causa-sui‘-Konzeption des Frühidealismus gestaltet. So ist der Grundcharakter der Organisation, „daß sie aus dem Mechanismus gleichsam hinweggenommen, nicht nur als Ursache, oder Wirkung, sondern, weil sie beides zugleich von sich selbst ist, durch sich selbst besteht.“ (SW I, 3, 495) (2) Der Organismus ist durch ein besonderes Verhältnis zwischen Teilen und Ganzem charakterisiert: „Kein einzelner Theil konnte entstehen, als in diesem Ganzen, und dieses Ganze selbst besteht nur in der Wechselwirkung der Theile.“ (SW I, 2, 40) Das Ganze ist nur durch seine Teile, die Teile wiederum nur durch ihre Beziehung zum Ganzen; auch dieses Verhältnis kann nicht mechanistisch eingeholt werden, diese Zweckmäßigkeit des 16 Kant, I., »Kritik der Urteilskraft«, vor allem §§ 66 und 67: AA, V, 372ff. 17 SW I, 2, 40. Dieser Aspekt wurde von der Selbstorganisationstheorie entdeckt und fruchtbar gemacht; einschlägig ist Heuser-Keßler, »Die Produktivität der Natur«. Siehe allgemein zu Schelling im Kontext der Selbstorganisation: »Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften«, Bd. 5 [Schelling und Selbstorganisation. Neue Forschungsperspektiven], hg. v. M.-L. Heuser-Keßler und W. G. Jacobs, Berlin 1994. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 253 Organismus bedarf anderer Kategorien als Ursache und Wirkung. In der Bestimmung einzelner Organfunktionen kommt es Schelling nicht allein auf die Zweckanalyse an („Wozu dient das Organ? “), sondern auch auf das genetische Verständnis („Wie ist das Organ entstanden? “). 18 (3) Schließlich können im Organismus Freiheit und „blinde […] Gesetzmäßigkeit“ vereinigt werden, wie Schelling in seiner frühen Schrift »Von der Weltseele« schreibt - und diese widersprüchliche Konstruktion wie eine kantische Antinomie aufzulösen sucht (ebd., 527). Der Organismus-Begriff hat eine Schlüsselstellung als Schellings Antwort auf die dritte Antinomie - also die Frage, wie unbestreitbar deterministische Strukturen der Natur mit dem Begriff der menschlichen Freiheit zusammengedacht werden können. Im Zusammenspiel der einzelnen Organe selbst liegt nach Schelling schon ein Moment der Freiheit. Im gesunden Organismus ist dieses freie Zusammenspiel der Organfunktionen im Lot, doch diese Freiheit ist auch die Möglichkeit des Krankseinkönnens, wie Schelling später behauptet (vgl. SW I, 7, 346). Das Krankseinkönnen ist ein organologischer Beweis für die Wirklichkeit der Freiheit im Naturgeschehen. Schon hier wird deutlich, dass Schelling in seiner Freiheitskonzeption keinen negativen Begriff einer Freiheit von hat, sondern einen positiven Begriff von Freiheit, der organische Wurzeln hat und dem Menschsein selbst eingeschrieben ist. Dieser Grundcharakter des Organismus, der bereits über den transzendentalphilosophischen Ansatz hinausweist - und in der identitätsphilosophischen Konzeption weitgehend ignoriert wird, ist nun in anthropologischer Hinsicht in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. (1) Im »System der gesammten Philosophie« von 1804, am Ende des naturphilosophischen Teils, gewissermaßen als Überleitung zur „idealen Welt“, betont Schelling das Besondere des „Menschenorganismus“, der die Identität von tierischem und pflanzlichem Organismus bilde: „Daß nun ein solcher Organismus nur der menschliche sey, dieß müßte billig durch alle möglichen Momente hindurch bewiesen werden. Allein dieß, so wie überhaupt die ganze Construktion des Menschenorganismus (nicht als Organismus überhaupt, wie in der Physiologie geschieht, sondern als Menschenorganismus, als potenzlosen Bilds der potenzlosen Identität) wäre die Sache einer eignen Wissenschaft, die noch nicht existirt, und die eigentlich Anthroposophie heißen sollte, etwas ganz anderes als was man bisher Anthropologie genannt hat.“ (SW I, 6, 488) Auf der 18 Siehe Heuser-Keßler, »Die Produktivität der Natur«, 31-39. 254 Oliver Müller Basis des Organismus will Schelling die Wissenschaft der „Anthroposophie“ entwerfen, was sich in der folgenden Skizze als die euphorische Betonung der Zentralstellung des Menschen im Kosmos herausstellt: In seiner Vereinigung von Tier und Pflanze ist der Mensch der „vollkommenste und gelungenste Cubus der Natur“ (ebd., 489), „das Vorbild alles Lebendigen, ihm ist die Harmonie und der Einklang des Universums eingeboren.“ (ebd., 491) Bemerkenswert ist dabei, dass Schelling seine Anthroposophie auf die Besonderheit des menschlichen Organismus gründen will und sich von einer bestimmten Form von Anthropologie distanziert, womit Kants »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« gemeint ist (wenn Schelling in seinem Werk die Anthropologie als Disziplin überhaupt erwähnt, dann mit Verweis auf Kant). Diese anthropologische Neuorientierung, die als Gegenmodell zur »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« formuliert wird, markiert die naturphilosophische Wende von der Anthropologie als „Menschenkenntnis“ hin zu einer Anthropologie, die den Organismus als einen Angelpunkt des Menschseins denkt, von dem aus die Einheit von Natur und Geist gezeigt werden soll. 19 (2) Neben der zentralen Stellung des menschlichen Organismus im Aufbau der Natur ist das Verhältnis des einzelnen Organismus zum Ganzen zu beachten: Der Organismus ist die Natur im Kleinen; damit schließt Schelling an eine monadologische Intuition an, dass die Seele der „Spiegel der Welt“ ist. 20 Das monadologische Modell wird von Schelling auf den Organismusbegriff ausgedehnt: Das Verhältnis des individuellen zum „allgemeinen Organismus“ 21 ist, wie Schelling im »System des transzendentalen Idealismus« schreibt, „also nichts anderes als das verkleinerte und gleichsam zusammengezogene Bild des Universums.“ (SW I, 3, 492) Und schon im »Ersten Entwurf« zieht er diese Linie vom individuellen zum allgemeinen Organismus: „Aber was ist denn der Organismus, als die concentrierte Natur selbst, oder der allgemeine Organismus im Zustand seiner höchsten Contraction.“ (AA I, 7, 229) Das erfordert von der Medizin wiederum ein besonders interdisziplinäres Verständnis, wie Schelling seinen Studenten einschärft: 19 Die zentrale Bedeutung des Organismus in einer anthropologischen Konzeption generell hat in den letzten Jahren etwa Volker Gerhardt betont, siehe: »Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität«, Stuttgart 1999, v.a. 148-186. 20 Siehe Leibniz: »Monadologie«, etwa § 63. 21 Etwa in AA I, 7, 69. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 255 „Wie der Organismus, nach der ältesten Ansicht, nichts anderes als die Natur im Kleinen und in der vollkommensten Selbstanschauung ist, so muß auch die Wissenschaft desselben alle Strahlen der allgemeinen Erkenntniß der Natur wie in einen Brennpunkt zusammenbrechen und eins machen.“ (SW I, 5, 335) In den »Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft« unterscheidet er in dieser Hinsicht zwischen dem „natürlichen“ und dem „göttlichen […] Verhältniß“ des Organismus, wobei das „natürliche“ Verhältnis den physiologischen Horizont bezeichnet und die Wechselwirkung des Organismus mit der Umwelt, also das „vorübergehende […] Daseyn“ umreißt. Das „göttliche“ Verhältnis hingegen meint die Beziehung des Organismus zu „seine[m] ewigen Grund“ und hinsichtlich „seine[r] Wesenheit und Urbildlichkeit“ (JMW, 165f.). Bereits in seiner Vorlesung über das »Studium der Medicin und der organischen Naturlehre überhaupt« von 1803 hatte er dieses doppelte Verhältnis betont: „Es gibt ein doppeltes Verhältniß des Organismus, wovon ich das erste das natürliche nennen möchte, weil es als ein rein quantitatives der innern Faktoren des Lebens zugleich ein Verhältniß zu der Natur und den äußern Dingen ist. Das andere, welches ein Verhältniß der beiden Faktoren in Bezug auf die Dimensionen ist, und die Vollkommenheit bezeichnet, in welcher der Organismus Bild des Universum, Ausdruck des Absoluten ist, nenne ich das göttliche Verhältniß.“ (SW I, 5, 340) Der Organismus hat bei Schelling immer eine doppelte Bestimmung, er ist metaphysisches Prinzip auf der einen Seite und Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung auf der anderen Seite. Die transzendente Dimension des Organismus ist für Schelling die Grundstruktur seiner Metaphysik, die Korrespondenz zwischen individuellem und allgemeinem Organismus ist charakteristisch für seine anthropologische Konzeption. Der Mensch ist nur im Ganzen der Natur verstehbar, weil er die Natur im Kleinen repräsentiert - damit ist auch immer ein Wechselverhältnis impliziert, das durchaus prekär sein kann: Die Veränderung des einzelnen Organismus - etwa durch Krankheit - kann das Ganze verändern (vgl. SW I, 7, 262f.). 256 Oliver Müller II. Die Physiologie des Organismus und die Grundlegung der Medizin Die Medizin hat nun die „Wissenschaft des Organismus“ zu ihrem zentralen Gegenstand zu machen, und das in deutlich interdisziplinärer Hinsicht (JMW, VI). Die Grundlegung der Medizin, um die es Schelling geht, ist das naturphilosophische Verständnis der Physiologie des Organismus; die Lehre von der Krankheit ist, wie Schelling selbst betont, „ein nothwendiger Theil der allgemeinen organischen Naturlehre, und von dem, was man Physiologie genannt hat, nicht zu trennen.“ (SW I, 5, 340) Erst der am tieferen Verständnis des menschlichen Organismus geschulte Arzt kann als „gelehrt“ oder als „eigentlich erfahren“ gelten - sonst bleibt er ein „platte[r] Routinier“ (JMW, XVIII). Schellings Grundlegung der Medizin dient vor allem dazu, die richtige Diagnostik bereitzustellen, um Therapieformen geht es ihm weniger, obwohl er grundsätzlich der Pharmakologie einen hohen Stellenwert zumisst. In den »Jahrbüchern« skizziert Schelling auf der Basis seiner Erregungstheorie der Krankheit auch medikamentenbasierte Therapieformen, die „Wirkungsweise der Arzneymittel“ ist ihm der „eigentliche […] Probierstein einer wahren medicinischen Theorie“. 22 Die Ausarbeitung der konkreten Therapieformen auf der Basis seiner Erregungslehre schließlich ist die Aufgabe der »Jahrbücher« insgesamt, in denen neben Schelling meist Mediziner veröffentlichen, darunter sein Bruder Karl Eberhard Schelling. Dadurch, dass Schelling eine Grundlegung der Medizin nicht eigens systematisch geschrieben hat, ist der systematische Ort der Krankheit innerhalb der Naturphilosophie ein nicht unwichtiges Problem. Es ist kein Zufall, dass die Krankheit in den naturphilosophischen Entwürfen der Identitätsphilosophie keine nennenswerte Rolle spielt, wie im »System der gesammten Philosophie«; selbst in den »Jahrbüchern« widmet sich Schelling weit ausführlicher den metaphysischen Grundproblemen um das Absolute als einer systematischen Darstellung des Krankheitsbegriffes 23 - nur in der »Vorläufigen Bezeichnung des Standpunktes der Medicin nach Grundsätzen der Naturphilosophie« (im ersten Heft des ersten Bandes) setzt er sich ausführlich mit der Krankheit auseinander. 22 JMW, 193; siehe zu den pharmakologischen Reflexionen 191-206. 23 So in dem Auftakttext der Zeitschrift, den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie und in den Aphorismen über die Naturphilosophie (im zweiten Heft des ersten Bandes). Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 257 Zuvor jedoch - und Schelling selbst verweist auf diese Vorarbeit - wird die Krankheit als Anhang zum Organismus-Abschnitt im »Ersten Entwurf« thematisiert (vgl. AA, I, 7, 230-245); das wird Schellings ausführlichste Darstellung der Krankheitsphysiologie bleiben. Der »Erste Entwurf« ist zugleich die umfangreichste und physiologisch detailreichste Organismus-Studie Schellings; schon mit den ersten Sätzen der Abschnitte über die anorganische Natur wird der Organismus als zentrale Referenzstelle angegeben. Das ist bemerkenswert, denn der größte Teil dieser Vorlesungsskripte beschäftigt sich mit anorganischen Phänomenen und Gesetzen: Elektrizität, Magnetismus, Chemie. Doch Schelling will alle naturwissenschaftlichen Disziplinen unter dem Organismusbegriff verbinden; erstmals eine „dynamische Philosophie“ (ebd., 65) der Natur im Gegensatz zur mechanischen zu entwickeln, ist die Aufgabe, die er sich stellt. Das Wesen des Organismus - und damit kann er auch die „Wechselbeziehung“ zwischen der organischen und anorganischen Natur herstellen - ist die „Erregbarkeit“. Mit diesem Terminus schließt Schelling an einen intensiven Diskurs seiner Zeit an; in der medizinhistorischen Forschung sind verschiedene Erregbarkeitslehren und Modifikationen dieser Lehren sowie die Einflüsse auf Schelling gut belegt und herausgearbeitet worden, vor allem diejenigen von Carl Friedrich Kielmeyer, Andreas Röschlaub, John Brown, Johann Friedrich Blumenbach und - als Übervater, von dem man sich absetzen musste - Albrecht von Haller. 24 Auch wegen dieser Bemühungen um die empirischen Neuerungen in der Physiologie geht Schellings Organismus-Begriff über denjenigen Kants in der »Kritik der Urteilskraft« hinaus, aber auch, nebenbei bemerkt, was die Fragment gebliebenen Grundlegungsversuche des ‚opus postumum‘ betrifft (die Schelling natürlich nicht kennen konnte). Schellings Aufnahme der naturwissenschaftlichen Forschung seiner Zeit war durchaus originell und kreativ; Nelly Tsouyopoulos hat etwa gezeigt, dass eines der konzeptionellen Grundprobleme des »Ersten 24 Siehe dazu vor allem die einschlägigen Arbeiten von Dietrich von Engelhardt, Nelly Tsouyopoulos, Werner E. Gerabek und Marie-Luise Heuser-Keßler, sowie Jantzen, J., »Physiologische Theorien« im Ergänzungsband zu den Bänden 5-9 der Akademieausgabe der Werke Schellings: »Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797-1800«, Stuttgart 1994, 454-498. 258 Oliver Müller Entwurfes« ist, die Entwicklungstheorie Kielmeyers mit den Erregbarkeitstheorien von Röschlaub und Brown verbinden zu wollen. 25 Vor einer detaillierteren Entwicklung des Krankheitsbegriffes sind zwei wichtige Rahmenbedingungen zu klären: zum einen die Darstellung des Organismus im Rahmen der Erregbarkeitstheorie inklusive Schellings Auseinandersetzung mit dem ‚Brownianismus‘, der seinerzeit für große Kontroversen sorgte, 26 und zum anderen die Stellung der Krankheit in Schellings System - vor allem im »Ersten Entwurf« -, denn die Krankheit hat dort eine durchaus überraschende Funktion. (1) Die Erregbarkeit bezeichnet das Wesen des Organismus. Das heißt für Schelling, dass der Organismus in seiner Selbstkonstitution Subjekt und Objekt gleichermaßen sein muss, er muss von außen erregbar sein, doch diese Erregbarkeit kann ihn nicht vollständig bestimmen, das Subjektive muss „unerreichbar“ bleiben (ebd., 172). Der Organismus ist objektiv in einer Wechselbeziehung mit der Umwelt, muss aber gleichzeitig sich selbst Objekt sein können und daher eine subjektive, selbstreflexive Dimension haben. Die Erregbarkeit ist in drei organische Grundfunktionen differenziert, die sich wechselseitig aufeinander beziehen: Sensibilität, Irritabilität 27 und Reproduktion. Sensibilität ist allgemein die „organische Receptivität, insofern sie das vermittelnde der organischen Thätigkeit ist“ (ebd., 237), etwa Nervenfunktionen, gleichzeitig „Quell’ und Ursprung des Lebens“ (ebd., 181); die Irritabilität ist organische Tätigkeit, etwa Muskelkontraktion oder Herz- und Kreislaufsystem, wobei Schelling betont, dass er unter Irritabilität „nicht die bloße Fähigkeit gereizt zu werden […], sondern […] die organische Thätigkeit SELBST, insofern sie durch Receptivität vermittelt ist […]“ (ebd., 237), versteht; die Reproduktion ist Fortpflanzung und Wachstum. 28 25 Tsouyopoulos, N., »Schellings Krankheitsbegriff und die Begriffsbildung der Modernen Medizin«, in: Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Referate, Voten und Protokolle der II. internationalen Schelling-Tagung Zürich 1983, hg. v. R. Heckmann, H. Krings und R. W. Meyer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, 267-269. 26 Siehe zu der Bandbreite der medizinischen Theorien zu Irritabilität und Sensibilität im Allgemeinen: Jantzen, J., »Physiologische Theorien«. 27 Siehe zur terminologischen Schärfung Tsouyopoulos, N. »Schellings Krankheitsbegriff und die Begriffsbildung der Modernen Medizin«, 271. 28 Siehe dazu auch Engelhardt, D. v., »Schellings philosophische Grundlage der Medizin«, in: Natur und geschichtlicher Prozeß. Studien zur Naturphilosophie F. W. J. Schellings, hg. v. H.- J. Sandkühler, Frankfurt a.M. 1984, 311. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 259 Diese drei Funktionen des Organismus sind drei aufeinander bezogene Potenzen oder ‚Dimensionen‘, die wiederum ihre Entsprechung auf der anorganischen Ebene haben. Sensibilität entspricht dem Magnetismus, die Irritabilitiät der Elektrizität und die Reproduktion (die er auch „Bildungstrieb“ 29 nennt) den chemischen Prozessen. 30 Dietrich von Engelhardt hat das organische Geschehen folgendermaßen zusammengefasst: „Die organischen Funktionen stehen nicht isoliert für sich, sie sind voneinander abhängig: Sensibilität geht in Irritabilität über, Irritabilität in Reproduktion. Steigt Sensibilität, fällt Irritabilität, fällt Sensibilität, steigt Irritabilität. Diese Wechselbeziehung hat aber Grenzen; bei einem bestimmten Minimum an Sensibilität sinkt auch die Irritabilität, da Leben ohne eine gewisse Sensibilitätshöhe nicht bestehen kann. Sensibilität und Irritabilität haben ebenfalls mit der Reproduktion Wechselbeziehungen, auch hier ist ein bestimmtes Niveau der betroffenen Kräfte und vor allem der Sensibilität notwendig. Die Verbindung aller drei organischen Funktionen manifestiert sich allgemein im Leben und dann auch in spezifischen Lebensprozessen und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Abnahme der Sensibilität hat eine Zunahme der Zeugungskraft zur Folge, Reizbarkeit wird durch Verfettung gedämpft, erhöhte Irritabilität verlangt nach gesteigerter Nahrung […]“. 31 Die hier skizzierte Erregbarkeitslehre hat Schelling von Brown übernommen (bzw. von Medizin-Theoretikern wie Röschlaub, die Browns Erregungslehre weiter entwickelt haben) und überarbeitet; grundsätzlich gilt: Die Erregbarkeit ist zwar erklärbar, jedoch „ihre Ursachen entdekken hieße das Geheimniß des Lebens enthüllen und den Schleier der Natur aufheben.“ 32 Die Erregungstheorie von Brown, der ‚Brownianismus‘, spielt für die Entwicklung von Schellings Organismus-Begriff eine doppelte Rolle, zum einen wird Brown als wichtiger Anreger gefeiert („[…] ein kraftvoller Mann, der, mit Macht eine Seite des Gegenstandes ergreifend, sie 29 Siehe zum physiologiegeschichtlichen Hintergrund Jantzen, J., »Physiologische Theorien«, 517-523. 30 Siehe dazu AA I, 7, 73. 31 Engelhardt, D. v., »Die organische Natur und die Lebenswissenschaften in Schellings Naturphilosophie«, in: Natur und Subjektivität, 48f. 32 SW I, 2, 560; siehe dazu Bonsiepen, W., »Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie«, Frankfurt a.M. 1997, 232; zu Browns Erregungstheorie und deren Kritik vgl. 250-263. 260 Oliver Müller einzig hervorhebt und alle andern ihr unterordnet. Es entsteht hiedurch eine augenblickliche Klarheit […]“, JMW, 166), zum anderen intensiv kritisiert, wie im »Ersten Entwurf« (AA I, 7, 238-244) und in der »Vorläufigen Bezeichnung« (JMW, 167-186). Die Kritik an Brown ist daher von Bedeutung, weil sich mit ihr Schellings Organismus-Begriff schärfen lässt, und das in dreierlei Hinsicht: (a) Schelling kritisiert an Brown, dass dieser zwar auf empirischer Ebene den Begriff der Erregbarkeit sinnvollerweise einführt, doch ohne „diesen Begriff selbst ableiten zu können.“ (AA I, 7, 179) Schelling klagt hier eine Fundierung von apriorischer Dignität ein: Er will den Erregbarkeitsbegriff als allgemeine Naturursache verstanden wissen. Die Erregbarkeit muss wie der Organismus selbst ein apriorisches Prinzip sein. (b) Schelling kritisiert an Brown, wie schon an Haller, 33 dass die Erregbarkeit nicht auf äußere Reize reduzierbar ist, also nicht auf eine quantitativ messbare Reizdichte, sondern dass die Erregbarkeit ein immanentes Prinzip des Organismus sein muss; so könne Brown eigentlich nur die Erregung erklären, nicht aber die Erregbarkeit selbst (vgl. ebd., 179). (c) Schelling kritisiert weiterhin an Brown, dass dieser sich hauptsächlich für die „natürliche“ Dimension des Organismusbegriffes interessiere, die „göttliche“ Dimension, also die metaphysische Reflexion auf den allgemeinen Organismus, aber unberücksichtigt gelassen hätte (JMW, 167). Nur mit einer Einbeziehung des All-Organismus könne man auch den individuellen Organismus verstehen. Die Einzelwissenschaften müssen für Schelling immer in ein metaphysisches Gesamtkonzept eingebettet sein. (2) Die andere Rahmenbedingung betrifft die Stellung der Krankheit in Schellings naturphilosophischem System überhaupt. Neben der »Vorläufigen Bezeichnung« aus den »Jahrbüchern«, in der Schelling eher kursorisch über die Krankheit handelt, ist es vor allem der Anhang zum dritten Hauptabschnitt im »Ersten Entwurf« - also derjenigen über den Organismus als dritte Potenz -, in dem Schelling seinen Begriff der Krankheit entwickelt. Im »System des transzendentalen Idealismus« spielt die Krankheit eine marginale Rolle, aber die Bemerkung über die Krankheit steht an einer vergleichbaren systematischen Stelle, als eine Art Zusatzbemerkung zur Deduktion der organischen Natur, die den Übergang von der zweiten zur dritten Epoche bezeichnet (vgl. SW I, 3, 33 Siehe Gerabek, W. E., »Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Romantik. Studien zu Schellings Würzburger Periode«, Frankfurt a.M. u.a. 1995, 85f. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 261 498). Eine Arbeit, die mit wissenschaftsgeschichtlichen und medizinhistorischen Mitteln die entsprechenden Passagen detailliert interpretiert, steht noch aus. 34 Der Grund, warum Schelling im Anhang auf die Krankheit zu sprechen kommt, ist folgender: Er hat noch ein naturphilosophisches Grundproblem zu lösen, das er sich zu Beginn seiner Abhandlung gestellt hat: „Man soll eine dynamische Stuffenfolge in der Natur überhaupt a priori ableiten.“ (AA I, 7, 117) Jeder individuelle Organismus ist für Schelling „nichts anders als der sichtbare Ausdruck einer bestimmten Proportion der organischen Kräfte.“ (ebd., 231) Jeder Organismus besteht in einer solchen Proportion, einer Proportion, die eine „bestimmte“ sein soll. Das bedeutet, dass eine Abweichung von dieser Proportion prinzipiell möglich sein muss. Diese Möglichkeit der Abweichung von der Proportion führt zur Möglichkeit des Krankseinkönnens. Also: Schelling will mit der Krankheitstheorie beweisen, dass sich die Dynamik der Stufenfolge von Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion nicht nur in der Natur im Ganzen, sondern auch in jedem einzelnen Organismus findet. In einer Anmerkung schreibt er: „Diese ganze Untersuchung kommt hier nur als Mittelglied der Hauptuntersuchung vor, - um durch die Theorie der Krankheit zu beweisen, daß die Stufenfolge, die in der ganzen organischen Kette statthat, auch in jedem organischen Individuum ausgedrückt ist.“ (ebd., 349) Trotz der wichtigen Beweisfunktion, die die Krankheit im Rahmen von Schellings naturphilosophischem System hat, bedeutet dieser Befund, dass die Krankheit in der frühen Naturphilosophie Schellings systematisch marginalisiert bleibt und anthropologisch kaum fruchtbar gemacht werden kann - dazu fehlt der Neuansatz der »Freiheitsschrift«. III. Die Krankheit als Disproportion der Erregbarkeitsfaktoren Nach diesen Vorbemerkungen zum Organismus-Begriff kann nun die physiologische Krankheitstheorie Schellings dargestellt werden. Die Krankheit hat ihren „Sitz“ in der Erregbarkeit (ebd., 233); das bedeutet grundsätzlich, dass die Krankheit durch dieselben Ursachen hervor- 34 Das bemerkt schon Nelly Tsouyopoulos, »Schellings Krankheitsbegriff und die Begriffsbildung der Modernen Medizin«; die Akademieausgabe und der entsprechende Ergänzungsband stellen für eine solche Arbeit nun beste philologische und wissenschaftsgeschichtliche Voraussetzungen bereit. 262 Oliver Müller gebracht wird wie das Leben und dieselben Faktoren haben muss wie das Leben (vgl. ebd., 232). In der Anmerkung dazu betont Schelling: „Es ist also z. B. ganz widersinnig, die Krankheit einen widernatürlichen Zustand zu nennen, da sie gerade ebenso natürlich ist wie das Leben. Ist die Krankheit ein widernatürlicher Zustand, so ist es das Leben auch […]“. (ebd., 349) Und in einer weiteren Anmerkung pointiert er: „Daraus folgt, daß uns durch die bisherige Construktion der Lebenserscheinungen auch die Faktoren zur Construktion der Krankheitserscheinungen gegeben sind.“ (ebd., 350) Wenn auch der Sitz der Krankheit die Erregbarkeit ist, so muss die Ursache in dem Verhältnis der Erregbarkeit zu den erregenden Faktoren liegen. Die Krankheit manifestiert sich als das gestörte Zusammenspiel von Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion. Dies führt zu einer Proportionsabweichung. Diese Proportionsabweichung ist realtiv, wie Schelling betont: „Mit diesem Grad von Irritabilität z. B. bei welchem die Pflanze krank ist, würde der Polype vielleicht schon gesund seyn. Mit diesem Grad der Irritabilität, bei welchem du dich krank fühlst, würde sich eine tieferstehende Organisation trefflich befinden.“ (ebd., 231) Grundsätzlich sind Sensibilität und Irritabilität in einem „wechselseitige[n] Fallen und Steigen“ organisiert, der Grad der Sensibilität kann aber nicht unendlich weit sinken, denn irgendwann sinkt auch die Irritabilität (ebd., 237). Die Krankheit entsteht durch das veränderte Verhältnis von Sensibilität und Irritabilität. Das wendet Schelling auch gegen Brown, der mit seiner Theorie von Sthenie und Asthenie die Disproportion zwischen Reiz und Erregbarkeit beschreiben wollte. 35 Die reine Änderung der äußeren Einwirkungen auf den Organismus ist nicht das Entscheidende, die messbare Erregung kann hinsichtlich der Krankheit nicht normbildend wirken (vgl. JMW, 177). Entscheidend ist vielmehr die Änderung der „Dimensionen“ des Organismus selbst (vgl. ebd., 190), das heißt die strukturelle Änderung der spezifischen Erregbarkeit. Diese ist für Schelling eine „qualitative“ Änderung der Erregbarkeit durch die Disproportion seiner „Dimensionen“ oder Potenzen; die qualitative Krankheitsdiagnostik muss der quantitativen vorausgehen (vgl. ebd., 206). Für Schelling liegt die Krankheit entsprechend in der Disproportion innerhalb der Faktoren der Erregbarkeit selbst. 36 Denn: „Krankheit ist nur da, wo der Organismus als Object verändert 35 Siehe dazu etwa Gerabek, W. E., »Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Romantik«, 85. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 263 wird. Solange nicht der Organismus als Object ein andrer erscheint, ist er nicht KRANK. […] Der Organismus als Object fällt nur in jene bestimmte Proportion der Factoren der Erregbarkeit, denn durch Receptivität und Thätigkeit ist der ganze Kreis des Organismus beschlossen.“ (AA I, 7, 241) Das heißt keinesfalls, dass die Krankheit unabhängig von der Außenwelt eintritt; das ist unmöglich, denn in Schellings Organismus-Konzept ist das Wechselverhältnis zwischen Organismus und Außenwelt zentral, aber der Punkt Schellings ist, dass erst die Änderung der Erregbarkeitsdimensionen selbst die Krankheit auslöst. Daher kann Schelling alle Krankheiten folgendermaßen einteilen, und zwar „in Krankheiten der erhöhten Sensibilität (Receptivität) und herabgestimmten Irritabilität (Wirkungsvermögen) auf der Einen, und in Krankheiten der herabgestimmten Sensibilität und erhöhten Irritabilität auf der andern Seite.“ (ebd., 242) Eine dritte Krankheitsform sei die „indirecte Schwäche des Reactionsvermögens“, wenn das Steigen der Irritabilität mit dem Sinken der Sensibilität parallel gehe. Das Verhältnis der Erregungsfaktoren drückt eine bestimmte Hierarchie aus. Die Sensibilität steht an oberster Stelle, sie ist nach Schelling der eigentliche Sitz aller Krankheiten; dadurch aber, dass sie notwendigerweise im Wechselverhältnis mit der Irritabilität steht, ist die Irritabilität die erste Stufe der Erscheinung aller Krankheiten. Das Verhältnis zwischen Sensibilität und Irritabilität wirkt sich schließlich auch auf die Reproduktionskraft aus: „Erst nachdem die Krankheit von ihrem ursprünglichsten Sitz der Sensibilität durch die Irritabilität auf die Reproductionskraft sich fortgepflanzt hat, nimmt sie einen scheinbar-specifischen Charakter an […]“ (ebd., 243) - will sagen: einen sichtbaren, nosologisch erfassbaren Charakter. Zusammenfassend schreibt Schelling: „Als Princip aller Heilkunde muß der Satz aufgestellt werden, daß, auf die Reproductionskraft nur mittelst der höhern Factoren, denen sie untergeordnet ist, auf die Sensibilität aber (die letzte Lebensquelle), nur durch das Mittelglied der Irritabilität gewirkt werden kann, daß also die Irritabilität das einzige Mittelglied ist, wodurch auf den Organismus überhaupt gewirkt werden kann, daß auf sie also auch alle äußere Kräfte gerichtet werden müssen. Wie aber durch die Irritabilität auf die letzte Quelle aller Bewegungen gewirkt werden könne, ist nur durch das umgekehrte Verhältniß be- 36 AA I, 7, 241; siehe auch JMW, 190; Browns Sthenie-Asthenie-Theorie findet in Schellings Augen keine Gnade. 264 Oliver Müller greiflich, in welchem sie mit der Sensibilität steht.“ (ebd., 243) Insgesamt kann Schelling durch seine krankheitstheoretische Grundlegung sagen, dass „aus zwei ursprünglichen Grundkrankheiten die ganze Mannichfaltigkeit der Krankheitsformen“ (ebd.) entspringe. Dieser organismustheoretisch-physiologische Krankheitsbegriff muss aber bei Schelling immer im größeren Kontext gesehen werden; so wie der Organismus durch ein „göttliche[s] Verhältniß“ bestimmt ist, steht auch der kranke Organismus im Verhältnis zum Ganzen. So schreibt Schelling in den »Jahrbüchern«: „Die Krankheit als solche ist eine Veränderung der Dimensionen des Organismus, wodurch er aufhört, reiner ungetrübter Reflex des All zu seyn […]“ (ebd., 189). Die organische Struktur der gesamten Natur spiegelt sich im einzelnen Organismus wider, der Stufengang, die Dynamik der Potenzen, ist Ausdruck des Individuellen und Allgemeinen gleichermaßen. Der kranke Organismus ist eine Dissonanz, er repräsentiert nur noch in „getrübter“ oder „unvollkommener“ Form das Ganze. Was diese Änderung für das Individuum bedeutet, hat Schelling im »System des transzendentalen Idealismus« entfaltet: „Sobald z. B. der Organismus nicht mehr vollkommener Reflex unseres Universums ist, dient er auch nicht mehr als Organ der Selbstanschauung, d.h. er ist krank; wir fühlen uns selbst als krank nur wegen jener absoluten Identität des Organismus mit uns“ (ebd., 498). In Schellings „Stufenfolge der Organisationen“ muss die Intelligenz den Organismus als mit sich selbst identisch erkennen können. Die Krankheit trübt nun diese Form der Identität: „Das Krankheitsgefühl entsteht durch nichts anderes als durch die Aufhebung der Identität zwischen der Intelligenz und ihrem Organismus […].“ (SW I, 3, 498) Bei der Gesundheit, schreibt Schelling sehr anschaulich, habe man vielmehr das „Gefühl des gänzlichen Verlorenseyns der Intelligenz im Organismus“ oder den Eindruck der „Durchsichtigkeit des Organismus für den Geist“ (ebd., 498). Bei der Krankheit wird diese Identität aufgehoben, der Geist nimmt den Organismus als krank wahr, der Organismus wird zu einem störenden Moment unserer Selbstanschauung, das Gleichgewicht ist aus dem Lot. Dass dies nicht bloß subjektive Eindrücke sind, betont Schelling ebenfalls: „Aber der Organismus ist selbst nur krank nach Naturgesetzen, d.h. nach Gesetzen der Intelligenz selbst. Denn die Intelligenz ist in ihrem Produciren nicht frei, sondern durch Gesetze eingeschränkt und gezwungen. Wo also mein Organismus nach Naturgesetzen krank seyn muß, bin ich auch genöthigt ihn als solchen anzu- Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 265 schauen.“ (ebd., 498) Die Naturgesetze, die Schelling hier anspricht, sind eben diejenigen, die er im Rahmen seiner Erregungslehre der Krankheit entwickelt: die objektive Änderung der Dimensionsproportionen im Organismus. Und eben diese physiologische Änderung im Organismus hat die genannten Folgen für das Selbstbewusstsein. Aus dem bis hier entwickelten Krankheitsbegriff kann man nun einige Punkte hervorheben, die für die anthropologische Dimension des Krankheitsbegriffes von Bedeutung sein werden. (1) Die Krankheit ist durch dieselben Faktoren bestimmt wie das Leben. Krankheit ist daher nichts Lebenswidriges, sondern ein Konstitutionsproblem der Erregbarkeit selbst, und Krankheit ist auch nichts Lebensfeindliches: Äußere Erregungs-Ursachen reichen für die Erklärung der Krankheit nicht aus. (2) Die Möglichkeit der Krankheit liegt daher in der Struktur des Organismus selbst, ist konstitutiver Bestandteil des Organismus, ist gewissermaßen ein intrinsisches Problem. (3) Und weil der Organismus eine eigene Logik hat, die sich von der mechanistischen Logik unterscheidet, so ist auch die Krankheit nicht mechanistisch erklärbar, sondern bedarf entsprechend eines organologischen Erklärungsmodells. (4) Das Kranksein beruht auf einer Disproportion, auf einer Disharmonie des organischen Gefüges. Diese Disproportion hat Auswirkungen auf die Gesamtbefindlichkeit des Organismus; das Verhältnis zwischen Geist und Natur gerät im kranken Organismus aus dem Gleichgewicht. (5) Das Kranksein ist - wie das Leben - eingebettet in einen Wirkzusammenhang, der Organismus steht in einem steten Wechselverhältnis mit der Umwelt und ist sensibel für die und abhängig von den Veränderungen der Natur. (6) Krankheit ist kein isolierbares Phänomen, sie steht im Kontext des Ganzen. Krankheit ist Abweichung von der harmonischen Organisation des Ganzen, des Alls. Insofern ist jede individuelle Krankheit eine Gefahr für das Ganze, chronische Erkrankungen haben demnach Auswirkungen auf das Ganze. So weit der Krankheitsbegriff, wie ihn Schelling im Rahmen seiner Organismustheorie entwickelt und als naturphilosophische Grundlegung der Medizin verstanden haben wollte. Nun stellt sich die Frage, inwiefern dieser Krankheitsbegriff wiederum Modell für die philosophische Arbeit Schellings stehen kann, namentlich hinsichtlich der Anthropologie des Bösen in der »Freiheitsschrift« - und wie man die Krankheit zum Bösen in der »Freiheitsschrift« wiederum auf die anthropologische Tiefendimension der Krankheit rückbeziehen kann. 266 Oliver Müller IV. Die Krankheit als Metapher für das Böse in der »Freiheitsschrift« Die wichtigste Metapher 37 für das Böse, die Schelling in der »Freiheitsschrift« verwendet, ist die Krankheit; Schelling selbst führt die Krankheit als „treffendste[s] Gleichniß“ im Kontext der „Möglichkeit des Bösen“ in seiner Abhandlung ein. Zuvor hatte er die naturphilosophische Bedingung der Möglichkeit des Bösen in der Unterscheidung zwischen dem „Wesen, sofern es existirt“, und dem „Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist“, deduziert, hatte die „Natur - in Gott“ und den Begriff der Sehnsucht eingeführt, hatte weiterhin die Möglichkeit des Bösen aus Sucht und Begierden einer geistigen Selbstheit bestimmt, die sich als Partikularwille vom göttlichen Universalwillen gewaltsam emanzipieren will, und hatte gezeigt, dass die „Erhebung des Eigenwillens das Böse ist“, weil der Eigenwille aus dem „Centro“ heraustritt und die Einheit mit dem Universalwillen aufgibt (siehe dazu SW I, 7, 357-366). Dabei entstünde zwar ein „eignes, aber ein falsches Leben, ein Leben der Lüge, ein Gewächs der Unruhe und der Verderbniß“ (SW I, 7, 366). Zur Erläuterung des „Positiven“ (etwa ebd., 353) dieser „Verkehrtheit“ dient Schelling an dieser Stelle der Vergleich mit der Krankheit (der in voller Länge zitiert wird): „Das treffendste Gleichniß bietet hier die Krankheit dar, welche als die durch den Mißbrauch der Freiheit in die Natur gekommene Unordnung das wahre Gegenbild des Bösen oder der Sünde ist. Universalkrankheit ist nie, ohne daß die verborgenen Kräfte des Grundes sich aufthun: sie entsteht, wenn das irritable Princip, das in der Stille der Tiefe als das innerste Band der Kräfte walten sollte, sich selbst aktuirt, oder der aufgereizte Archäus seine ruhige Wohnung im 37 Man müsste - nicht nur, aber gerade - in der »Freiheitsschrift« den philosophischen Status der Metapher/ des Bildes und das Verhältnis zwischen Begriff und Metapher klären. Hans Blumenbergs Metaphorologie könnte dabei einen Leitfaden bieten, weil er die anthropologische Bedeutung der Metapher beschreibt und, zumindest in seinen frühen Arbeiten, die Metaphorologie als die Nachfolgedisziplin der Metaphysik begreift. Auch wenn man diese Diagnose in der ganzen Konsequenz nicht teilen muss, kann sich Blumenbergs Methodik, den Horizont und die Leistungsfähigkeit von Metaphern zu erarbeiten, als durchaus fruchtbar erweisen: siehe grundsätzlich die »Paradigmen zu einer Metaphorologie« Frankfurt a.M. 1998, erstmals 1960 im Archiv für Begriffgeschichte veröffentlicht. Ein großer Teil der nach 1960 geschriebenen Arbeiten bleiben weiterhin metaphorologische Untersuchungen; es ist bemerkenswert, dass die Krankheit keines der großen metaphorologischen Lebensthemen Blumenbergs war. In dieser Hinsicht ist es ein Desiderat, die metaphorologischphänomenologische Methodik für die „Krankheit“ fruchtbar zu machen. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 267 Centro verlässt und in den Umkreis tritt. So wie dagegen alle ursprüngliche Heilung in der Wiederherstellung des Verhältnisses der Peripherie zum Centro besteht, und der Uebergang von Krankheit zur Gesundheit eigentlich nur durch das Entgegengesetzte, nämlich Wiederaufnahme des getrennten und einzelnen Lebens in den innern Lichtblick des Wesens, geschehen kann, aus welcher die Scheidung (Krisis) wieder erfolgt. Auch die Partikularkrankheit entsteht nur dadurch, daß das, was seine Freiheit oder sein Leben nur dafür hat, daß es im Ganzen bleibe, für sich zu seyn strebt. Wie die Krankheit freilich nichts Wesenhaftes und eigentlich nur ein Scheinbild des Lebens und bloß meteorische Erscheinung desselben - ein Schwanken zwischen Seyn und Nichtseyn - ist, nichtsdestoweniger aber dem Gefühl sich als etwas sehr Reelles ankündigt, ebenso verhält es sich mit dem Bösen.“ (ebd., 366) Es gilt nun, diese Passage gründlich zu interpretieren. Was die Krankheit mit einem „Mißbrauch der Freiheit“ zu tun haben kann, hat Schelling bereits zuvor in der »Freiheitsschrift« erläutert: „Das einzelne Glied, wie das Auge, ist nur im Ganzen eines Organismus möglich; nichtsdestoweniger hat es ein Leben für sich, ja eine Art von Freiheit, die es offenbar durch die Krankheit beweist, deren es fähig ist.“ (ebd., 346) Das einzelne Organ hat gemäß der Organismustheorie seine Funktion im Ganzen, die krankhafte Eigenständigkeit des einzelnen Organs interpretiert Schelling als „eine Art von Freiheit“. Dahinter steht Schellings Freiheitsbegriff: Die Freiheit ist Selbstermächtigung, Hypostase, ein Lossagen von einer Einbindung - letzteres nicht als formaler Begriff einer Freiheit von oder als kantische Autonomie, sondern als substantieller, geradezu brutaler Begriff von Freiheit, der Freiheit eines prekären Wesens. Im physiologischen Kontext wird dementsprechend der Freiheitsbegriff an den Begriff der Krankheit angeschlossen. Die Krankheit wurde im »Ersten Entwurf« deshalb eingeführt, um die relative Eigenständigkeit der drei Erregbarkeitsfaktoren zu beweisen, zu beweisen, dass hier ein dynamisches Potential vorliegt, was die Stufenfolge der Natur im Einzelnen wie im Ganzen bestätigt. Die Krankheit musste als Disproportion des Organismus selbst gedeutet werden, nicht als Determinierungsstruktur äußerer Einflüsse; diese Möglichkeit der Disproportionierung innerhalb der Erregbarkeit blieb als freies Moment bestehen. 38 Ein Reflex auf die physiologische Grundlegung ist auch das „irritable Prinzip“; es ist die Erregbarkeit, die den Organismus in seinem Wesen 268 Oliver Müller ausmacht, im gesunden Organismus garantiert, ist auch sie die Ausgeglichenheit des „allerinnerste[n] Band[es] der Kräfte“ (ebd., 362). Doch in der Erregbarkeit selbst steckt eben die Möglichkeit zur Krankheit; so ist das „sich selbst aktuir[en]“ verwandt mit der physiologischen Disproportionierung. In diesem Sinne hat Schelling die Erregung und Erregbarkeit in der »Freiheitsschrift« an mehreren Stellen verwendet, etwa wenn er von der „Sehnsucht […], vom Verstande erregt,“ durch den Verstand spricht (ebd., 361) oder von der „Erregung des Eigenwillens“ (ebd., 401), dann ist die physiologische Terminologie kaum zu überhören. Das Moment der Disproportionierung der Erregungsstruktur selbst könnte auch für andere Stellen metaphorisch leitend gewesen sein, etwa wenn Schelling die privatio-boni-Lehre kritisiert: „Denn es ist nicht die Trennung der Kräfte an sich Disharmonie, sondern die falsche Einheit derselben“ (ebd., 371). Schelling unterscheidet zwischen Universal- und Partikularkrankheit, so wie er zwischen dem allgemeinen und dem individuellen Organismus unterschieden hat. Wie die physiologische Krankheit, so muss man auch das Böse weniger in der Hinsicht verstehen lernen, wie es im einzelnen Menschen entstehe, sondern hinsichtlich seiner „universelle[n] Wirksamkeit“ (ebd., 373). Mit der Anspielung auf das Archaeus-Modell des Paracelsus greift Schelling in der Erklärung der Universalkrankheit auf ein weiteres physiologisches Phänomen zurück. Archaeus ist ein Grundkonzept in der Organismustheorie von Paracelsus; der gesunde Organismus ist durch eine astral bedingte innere Harmonie gekennzeichnet, der (oder ein) Archaeus ist das Lebensprinzip, eine naturale Urkraft im Organismus, das auch für Individuation und Spezifizierung verantwortlich ist und in der Nähe des Magens angesiedelt sein soll. Der spezifizierend wirkende Archaeus ist es nun auch, der eine Krankheit auslösen kann. Bisweilen hatte Paracelsus sich dieses naturmagisch-astrale Prinzip auch personifiziert gedacht (als „Vulcanus“). 39 Durch diesen Verweis, in dem die Verkehrung eines eigentlich vitalen Prinzips des Lebens betont wird, ver- 38 Hans Jonas hat in seinen Aufsätzen gern das Moment der Freiheit im organischen Geschehen betont, allerdings nicht als kranke Eigenschaft des Organismus: »Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie«, Frankfurt a.M. 1997. 39 Siehe zu Pagel, P. W., »Paracelsus. An Introduction to Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance«, Basel/ New York 1958, v.a. 105-112. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 269 deutlicht Schelling die Theorie an einer traditionellen physiologischen Krankheitstheorie und macht durch die Betonung der Verkehrungsstruktur gewissermaßen auf den Ernst der Lage aufmerksam. Mit dem Bild, dass der „aufgereizte Archäeus seine ruhige Wohnung im Centro verlässt“, greift Schelling auch das Modell von ‚Zentrum‘ und Peripherie wieder auf. Wenn der Eigenwille das Zentrum verlässt, führt das zu Disharmonie oder Disproportion, wie sie Schelling in der Physiologie entwickelt. Die ‚ursprüngliche Heilung‘ entspricht auch der optimalen Therapie, wie Schelling sie in der Medizin entwirft. Denn es geht um die Wiederherstellung des Erregbarkeitsgleichgewichts selbst und nicht um eine bloße Symptombehandlung; diese Gefahr hatte er ja in der Theorie Browns gesehen. Hinsichtlich des Bösen ist es genauso: Nur durch die Wiederherstellung des universalen Gleichgewichts zwischen Partikular- und Universalwillen kann das Böse überwunden werden, eine, etwa polizeiliche, Symptombehandlung kann für Schelling nicht ausreichend sein. Wenn Schelling „Krisis“ an dieser Stelle mit „Scheidung“ übersetzt, dann klingen ebenfalls seine naturwissenschaftlichen Forschungen an, denn Scheidung ist ein Fachbegriff der Chemie. In den »Stuttgarter Privatvorlesungen« zieht Schelling selbst diese Parallele: „Diese Wiederherstellung aber ist unmöglich, bevor nicht dieselbe Scheidung in der Natur vor sich geht. Aber in dieser kommt es langsamer dazu, weil sie viel tiefere Lebenskraft hat. Der Mensch ist hierin ein Opfer für die Natur, wie sie erst für ihn ein Opfer war. Er muß mit seinem vollkommenen Daseyn auf das ihrige warten. Endlich freilich muß die Krisis der Natur kommen, wodurch sich die lange Krankheit entscheidet. Jede Krisis ist mit einer Ausstoßung begleitet. Diese Krisis ist die letzte der Natur, daher ‚das letzte Gericht‘. Jede Krisis auch im Physischen ist ein Gericht. Durch einen wahrhaft alchemischen Proceß wird das Gute vom Bösen geschieden, das Böse vom Guten ganz ausgestoßen werden, aus dieser Krisis aber eine ganz gesunde, lautere, reine und unschuldige Natur hervorgehen.“ (ebd., 482f.) Das verdeutlicht die Präsenz naturphilosophischen und physiologischen Vokabulars in der »Freiheitsschrift« über den Begriff der Krankheit im engeren Sinne hinaus. Mit der Partikularkrankheit verhält es sich nicht anders als mit der Universalkrankheit, auch sie entsteht durch die Emanzipation des einzelnen Organs vom ganzen Organismus. Dass die Krankheit nichts Wesenhaf- 270 Oliver Müller tes sein soll und bloßes Scheinbild des Lebens ist, erklärt sich ebenfalls aus der Schellingschen Krankheitsphysiologie. Die Krankheit nimmt im naturphilosophischen System eine marginale Stelle ein, sie ist eine Abweichung von der Norm des Lebendigen. Kranksein ist möglich, aber nicht notwendig; die Gesundheit des Organismus drückt sein wahres Wesen aus - das gilt nicht nur im medizinischen, sondern auch im moralphilosophischen Kontext: „Der Urgrund zur Existenz wirkt auch im Bösen fort, wie in der Krankheit die Gesundheit noch fortwirkt, und auch das zerrüttetste, verfälschteste Leben bleibt und bewegt sich noch in Gott, sofern er Grund von Existenz ist.“ (ebd., 403) Doch diese Einschätzung muss immer vor dem Hintergrund der Skandalisierung 40 des Bösen gemacht werden. Das Böse ist eben nicht die temporäre Abwesenheit des Guten in einer optimalen Gesamtordnung, sondern das Böse ist eine ernsthafte Gefährdung der ganzen Schöpfung; schon allein mit der Wendung von der „Sollicitation zum Bösen“ (ebd., 374; 399) kommt die skandalöse Dimension zum Tragen. Eine Sollizitation ist nicht nur eine Veranlassung oder Anregung (mit dieser Bedeutung wird sie auch in naturwissenschaftlichem Kontext gebraucht), sie ist auch nicht nur einfach eine Verführung, sondern sie ist im katholischen Kontext die Verführung zur Unzucht, besonders im Verhältnis von Priester und Pönitent im Bußsakrament. Diese Art von Pervertierung der Strukturen ist es, die Schelling im Blick hat. Angesichts dieser Dimension des Bösen stellt sich die Frage, ob die Bezeichnung des Bösen als „Scheinbild des Lebens“ wirklich die richtige Wendung ist, ob das Böse und die Krankheit nicht vielmehr in das Zentrum eines anthropologischen Entwurfes rücken müssen (dazu später). Schelling schreibt auch, wer ihn zum Gebrauch des Bildbereichs Krankheit inspiriert hat: Es ist Franz von Baader, der 1808 in den »Jahrbüchern« einen Beitrag über »Starres und Fließendes« veröffentlicht hatte, dessen letzte Fußnote er in voller Länge zitiert, weil Baader die Verkehrungsstruktur des Bösen nicht nur hervorgehoben, sondern „durch tiefsinnige physische Analogien, namentlich die der Krankheit, erläutert“ hätte (ebd., 366). Während Baader zur Erklärung der medizinischen Indikation die metaphysische Dimension anführt, ist es bei 40 Hannah Arendt hat das Skandalöse des Bösen anhand des Wortes „skandalon“ in Mt. 18, 6 zu umreißen versucht, um die unfassbare Gewaltigkeit zu betonen: »Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik«, München 2006, 96-102; 121-128. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 271 Schelling umgekehrt. Auch in dieser Fußnote ist die Vorstellung der Dezentrierung leitend: „So ist nun allgemein die Ichheit, Individualität freilich die Basis, das Fundament oder natürliches Centrum jedes Creaturlebens; sowie selbes aber aufhört, dienendes Centrum zu seyn und herrschend in die Peripherie tritt, brennt es als tantalischer Grimm der Selbstsucht und des Egoismus (der entzündeten Ichheit) in ihr.“ 41 Die Krankheit und das Böse als das ‚Exzentrische‘, als die fundamentale Dezentrierung wird die leitende Metapher der »Freiheitsschrift« (siehe v.a. ebd., 364-366, 376, 381, 390-392). Vielleicht hat Schelling die Fußnote dazu inspiriert, das Bild des Zentrums und des aus dem Zentrum Geratens - das zwar schon vorher in seiner Philosophie präsent ist, aber nicht in vergleichbarer Funktion als zentrale Hintergrundmetapher 42 - für den bildlichen Horizont der »Freiheitsschrift« fruchtbar zu machen; das wäre eine These zum eher indirekten Einfluss der »Jahrbücher« auf die Sprache der »Freiheitsschrift«. Schelling bedient sich wie Baader auch des Bildes der Entzündung, des Fiebers: „Denn weil Gott in seiner Existenz doch nicht gestört, noch weniger aufgehoben werden kann, so wird nach der nothwendigen Correspondenz, die zwischen Gott und seiner Basis stattfindet, eben jener in der Tiefe des Dunkels auch in jedem einzelnen Menschen leuchtende Lebensblick dem Sünder zum verzehrenden Feuer entflammt, so wie im lebendigen Organismus das einzelne Glied oder System, sobald es aus dem Ganzen gewichen ist, die Einheit und Conspiration selbst, der es sich entgegensetzt, als Feuer (= Fieber) empfindet und von innerer Gluth entzündet wird.“ (ebd., 391) Das Bild der Krankheit ist auch in vielen Momenten der Erfassung des Bösen wirksam, so als entwickelte Schelling eine Nosologie des Bösen. Dazu gehört der Begriff der „Sucht“, 43 mit dem er den philosophischen Terminus der „Begierde“ übersetzt (ebd., 363; 372). Das Gesundheit zerstörende „Gift“ (SW I, 7, 378), die „Angst des Lebens“ (SW I, 7, 381), der „Hunger der Selbstsucht“ (ebd., 390) sind weitere Momente, mit denen Schelling das Böse pathologisiert. 44 So kann man die Klimax in 41 Baader, F. v., »Über Starres und Fließendes«, in: JMW (dritter Band, zweites Heft) 1808, 204. 42 Siehe zu dem Begriff der Hintergrundmetaphorik Blumenberg, H., »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, Frankfurt a.M. 1998, 92. 43 Siehe allgemein zu dem Problem der Sucht: Jantzen, J., »Sucht und Verlangen. Über den Grund der Person«, 215-225. 272 Oliver Müller der zentralen Passage der »Freiheitsschrift«, dass die Selbstsucht immer „begieriger, hungriger, giftiger“ 45 wird, als zunehmende Pathologisierung deuten: Begieriger meint das Moment der Sucht, die im Hunger der Selbstsucht gesteigert wird, was schließlich zum zerstörerischen „Gift“ wird, zur Selbstvergiftung wie zum Gift für das Ganze. Auch der „sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch“, dass das Böse selbst „creatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Creatürlichkeit vernichtet, und aus Uebermuth, alles zu seyn, ins Nichtseyn fällt“ (ebd., 390f.), ist hier zu nennen. Auch diese Stelle hat ihre Parallele in der physiologischen Krankheitstheorie, denn es ist dort auch paradoxerweise das, was den Menschen am Leben erhält, was gleichzeitig eine zerstörerische Kraft entwickeln kann. Doch sieht man an der Skandalisierung des Bösen die deutlich weitere Entwicklung, über die physiologische Krankheitstheorie hinaus, hin zu einer moralisch-metaphysischen Krankheit zum Bösen. Wichtig ist, dass Schelling den „Anklang“ einer Krankheit zum Bösen schon in der Natur selbst sieht: „Im Thier, wie in jedem andern Naturwesen, ist zwar auch jenes dunkle Princip wirksam; aber es ist […] nicht Geist und Verstand, sondern blinde Sucht und Begierde; kurz, es ist hier noch kein Abfall möglich, keine Trennung der Principien […].“ (ebd., 372) Es ist dann erst und nur die zur Geistigkeit erhobene Selbstheit, in der das Böse virulent wird. Der Vergleich mit der Krankheit wurde in der Schelling-Forschung durchaus erwähnt, 46 eine Ausdeutung findet sich bislang nur bei Heidegger, der auch derjenige ist, der die »Freiheitsschrift« als erster als eine Metaphysik des Bösen liest: „Schelling erwähnt zur Erläuterung der Bosheit die Krankheit. Diese macht sich dem ‚Gefühl‘ als etwas sehr Reales fühlbar, nicht etwa nur als eine bloße Abwesenheit von etwas. Zwar sagen wir, wenn ein Mensch krank ist, daß ihm etwas ‚fehle‘, und wir drücken so die Krankheit nur negativ als ein Mangeln aus. Aber dieses: ‚Wo fehlt es? ‘ heißt eigentlich: ‚Wo ist etwas Eigenes los, etwas, was sich gleichsam losgebunden hat aus dem Gleichklang des Gesundseins und als Losgebundenes sich nun über das ganze Dasein legt und beherrschen 44 Siehe zu dieser Passage auch die Interpretation von Hühn, L., »Selbstentfremdung und Gefährdung menschlichen Selbstseins«, 151-162. 45 SW I, 7, 390. Siehe zur Analyse dieser Selbstgefährdungsstruktur in ihrem permanenten Verfehlensmodus Hühn, L., »Die intelligible Tat«, 67-72. 46 Vor allem von Hennigfeld, J., »Der Mensch im Absoluten System. Anthropologische Ansätze in der Philosophie Schellings«, 15f.; Hennigfeld, J., » F. W. J. Schellings ‚Über das Wesen der menschlichen Freiheit‘« Darmstadt 2001, 45, 78. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 273 will? ‘ Bei der Krankheit ist nicht nur etwas Fehlendes, sondern etwas Falsches. ‚Falsch‘ nicht im Sinne des nur Unrichtigen, sondern falsch im echten Sinne der Verfälschung, Verdrehung, Umkehrung. Diese Verfälschung ist zugleich falsch im Sinne des Verschlagenen; wir sprechen von bösartigen Krankheiten. Die Krankheit ist nicht nur eine Störung, sondern eine auf den Gesamtzustand übergreifende und ihn beherrschende Verkehrung des ganzen Daseins.“ 47 Auch wenn Heidegger an dieser Stelle nicht auf Schellings physiologischen Krankheitsbegriff rekurriert, sondern eine eigenständige phänomenologische Skizze zur Krankheit vorlegt, so wird doch deutlich, dass er die Verkehrungsstruktur nicht nur im Bösen, sondern auch in der physiologischen Krankheit festmacht. Die ‚Verkehrung des ganzen Daseins‘ durch die Krankheit unterstreicht wiederum die anthropologische Dimension des Krankseins. Die Krankheit ist nicht nur eine ephemere körperlich-physiologische Erscheinung, sondern sie ist in der Lage, das ganze Dasein, den ganzen Menschen zu verkehren. Durch die Analyse der Krankheit wird eine Entfremdungsdiagnose möglich: die Unterwanderung des Ganzen in einer falschen Einheit. V. Das anthropologische Potential des Krankheitsbegriffes Ist also die eher marginale Stellung der physiologischen Krankheit in Schellings System (etwas, was man im „Anhang“ abhandelt) durch die Aufwertung der Krankheit als Komplement zum Bösen in Frage gestellt? Wird die Krankheit zu so etwas wie der ‚conditio humana‘? Noch im »System der gesammten Philosophie« von 1804 ist die Krankheit kein zentraler Begriff; hier endet der naturphilosophische Teil der Abhandlung mit einem uneingeschränkten Lob des menschlichen Organismus. Das einzige, was Schelling lapidar zur Krankheit schreibt, ist „Krankheit ist Metamorphose, ist Wechsel der Dimensionen“ (SW I, 6, 467). Da das Böse in der »Freiheitsschrift« nicht nur eine Metamorphose ist, sondern semantisch dramatischer gefasst ist, scheint es berechtigt, die Krankheit und das Böse in der »Freiheitsschrift« als anthropologisch verschärft zu sehen, das heißt: als ein wesentliches Strukturmoment des Menschseins. 47 Heidegger, M., »Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)«, Tübingen 1995, 2. Aufl., 172f. 274 Oliver Müller Die erste Prämisse für diese These ist, dass es zwischen dem Bösen und der Krankheit eine gehaltvolle Korrespondenz gibt, dass das ‚Gleichnis‘ der Krankheit keine bloße façon de parler ist, sondern dass das Böse und die Krankheit analog zu denken sind, dass das Böse eine moralische und metaphysische Krankheit ist, so dass die systematische Aufwertung des einen zur entsprechenden Aufwertung des anderen führen muss. Die zweite Prämisse ist diejenige von der fundamentalen Bedeutung des Organismus für einen anthropologischen Neuansatz, und zwar sowohl in physiologischer als auch in metaphysischer Hinsicht, denn der Ansatz beim „Menschenorganismus“ als neue Form der Anthropologie, die „Anthroposophie“, eröffnet wiederum die Möglichkeit, von der Konstitution des menschlichen Organismus aus die prekäre anthropologische Situation neu zu denken. Mit anderen Worten: Weil das Böse pathologisiert und an das Konzept des kranken Organismus angeschlossen wird, kann es wiederum aus der (metaphysischen) Organismus-Konzeption neu gedacht und anthropologisch fundiert werden. 48 Dass die Krankheit und das Böse durchaus anthropologische Strukturmomente sein und sogar enggeführt werden können, zeigen die »Stuttgarter Privatvorlesungen«. Dort betont Schelling, dass der Geist qua seiner Konstitution nicht das Höchste im Menschen sein kann, weil er der „der Krankheit, des Irrthums, der Sünde oder des Bösen fähig ist.“ (SW I, 7, 469) Die anthropologischen Konsequenzen sollen mit einem Vergleich mit Kants »Religionsschrift« verdeutlicht werden: Wie später dann Schelling versucht Kant, das „radical Böse“ aus dem Missbrauch der Freiheit des Menschen zu begründen und gleichzeitig das Böse in der Natur des Menschen zu verorten. Das führt bei Kant zu dem anthropologischen Problem, dass er den Hang zum Bösen ausdrücklich nicht als „Naturanlage“ verstanden haben will, 49 sondern als freie, intelligible Tat, was wiederum die Konsequenz hat, dass das Böse zwar angeboren sein kann, aber als solches nicht gedacht werden darf, 50 und dass der Hang zum Bösen also quasi angeboren ist, aber die Geburt nicht die Ursache sein 48 Der anthropologische Aspekt der Krankheit spielt in dem aufschlussreichen Band 14 der Schellingiana (Jantzen, J. und Österreich, P. L., »Schellings philosophische Anthropologie«, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002) kaum eine systematische Rolle. 49 Kant, I., »Religionsschrift«, AA VI, 32. 50 Ebd., AA VI, 29. Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 275 kann, denn dann wäre das Böse ein von Gott geschaffenes anthropologisches Konstitutionsmerkmal des Menschseins. Genau auf dieses spezifische Problem der menschlichen Freiheit versucht Schelling in der »Freiheitsschrift« durch die fundamentale Unterscheidung zwischen dem „Wesen, sofern es existirt“, und dem „Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz“ ist (ebd., 357), eine naturphilosophisch-schöpfungstheologische Antwort zu finden. Die weitgreifenden metaphysischen Schwierigkeiten der Schellingschen Abhandlung müssen vernachlässigt werden; worauf es hier ankommt, ist die Anthropologisierung des Bösen durch die Metapher des Krankheitsbegriffs. Wenn das Böse als Missbrauch der Freiheit wie eine organische Krankheit behandelt ist, geht Schelling über Kant hinaus. Der Hang zum Bösen wird zur Krankheit zum Bösen und als Verkehrung des Organismus selbst verstanden. Die Möglichkeit des Bösen ist im Organismus selbst strukturell begründet - damit erweitert Schelling nicht nur die kantische Anthropologie, sondern auch die Theorie des Bösen um die naturale Grundlage; mit den Worten Odo Marquards gesagt: Nachdem sich die kantische Anthropologie durch eine „Wende zur Lebenswelt“ von der Schulphilosophie emanzipiert hatte, begründet Schelling nun die „Wende zur Natur“, wodurch erst die Anthropologie eine fundamentale Disziplin werden kann. 51 Kant hatte die „physiologische Hinsicht“ noch vernachlässigen können, Schelling rückt die Physiologie mit seiner Organismus-Theorie in das Zentrum seiner Überlegungen und schafft einen integrativen Ausgangspunkt für eine fundamental ansetzende Anthropologie und wird so „schulbildend“ für eine Reihe seiner Nachfolger werden. 52 Die Frage, die sich nun stellt ist die: Ist Schelling vor dem konsequenten Ausarbeiten einer Anthropologie, deren Modell sich in der »Freiheitsschrift« abzeichnet, zurückgeschreckt? Am Ende der »Freiheitsschrift« kündigt Schelling an, dass er dieser Abhandlung eine Reihe weiterer nachschicken wolle, um schließlich das Ganze des „ideellen Teils“ darzustellen - wäre es nun denkbar, dass angesichts der »Freiheitsschrift« auch der ‚reelle Teil‘ weiterer Schriften bedürfte? Und: Musste er nicht vor der Ausarbeitung zurückschrecken, weil er fest- 51 Siehe Marquard, O., »Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ‚Anthropologie‘ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts«, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Aufsätze, Frankfurt a.M. 1973, 122-144. 52 Ebd., 129. 276 Oliver Müller stellte, dass das Pathologische, die Gefährdung, fundamentaler zum Menschsein gehört, als er es vermutet hatte? Entscheidend für einen anthropologischen Neuansatz ist die Skandalisierung des Bösen; Schelling zeigt, wie groß die Gefahr des Bösen wirklich ist, welche schädlichen Auswirkungen es für das menschliche Selbstsein hat. Die Pathologisierung des Bösen verdeutlicht zugleich die naturphilosophische Verankerung des Bösen. Wenn nun aber das Böse eine solche Kraft hat und die Verkehrungsstruktur von solch einem universalen Ausmaß ist - ist es dann nicht inkonsequent, das Böse und das Kranksein in den anderen Schriften so marginal zu behandeln? Wäre es nicht konsequent, das philosophische System so aufzubauen, dass es die organologische Gefährdungsstruktur und Verkehrungsstruktur zum zentralen Bestandteil machte - inklusive der Wiederherstellung, der (Selbst-)Heilungsstruktur des Organismus? Dass die »Freiheitsschrift« ganz wesentlich von einem medizinischen Paradigma geleitet wird, ist bezeichnend für Schellings Anthropologie; die zentrale Rolle, die er dem Arzt zugesprochen hat, ist kein Zufall. Schelling wusste von der elementaren Gefährdungsstruktur. Eine Anthropologie müsste demnach auch dem Heil und der Heilung eine zentrale Bedeutung geben; der Mensch befindet sich in einer Dauergefährdung. Doch ist auch dies anthropologisch nicht ausbuchstabiert. In der bereits erwähnten Anmerkung im »Ersten Entwurf«, in der Schelling über die Widernatürlichkeit von Krankheit und Leben handelt, schreibt er, dass man eigentlich das Leben selbst als widernatürlichen Zustand ansehen könnte: „- und insofern ist sie es allerdings, weil das Leben wirklich ein der Natur nur abgezwungener, von der Natur nicht begünstigter, sondern wider ihren Willen fortdauernder Zustand ist, den sie eben nur dadurch erhält, daß sie dagegen ankämpft. In diesem Sinn kann man sagen: das Leben sey eine fortwährende Krankheit, und der Tod nur die Genesung davon.“ (AA I, 7, 349) In diesen Zeilen steckt Schellings Version einer ‚Krankheit zum Tode‘. Eine von Schelling ausgehende Anthropologie könnte an dieser Stelle ansetzen, könnte das Leben in dieser prekären Lage beschreiben und zeigen, wie sich der Organismus, geprägt von Gefährdung und Verkehrung selbst behaupten kann. Eine von dieser Diagnose ausgehende Anthropologie muss das Kranksein oder besser: das Krankwerdenkönnen zur Grundstruktur machen - und, von diesem Befund ausgehend, wiederum den metaphysischen Krankheitsbegriff, das Böse, entwickeln. Damit könnte das Böse Von der Krankheit des Organismus zur ‚Krankheit zum Bösen‘ 277 oder besser: die Gefährdung, die Anfälligkeit zum Bösen, in eine anthropologische Konzeption als wesentliches Moment aufgenommen werden. Dass hätte einiges Potential. Denn nicht nur in der derzeitigen Moralphilosophie scheint das Böse als zentrale Kategorie vergessen zu sein, 53 auch in anthropologischen Konzeptionen spielt das Böse keine nennenswerte Rolle. Von Schelling ausgehend, könnte man also sagen, dass das Problem vieler Konzepte der Natur des Menschen ist, dass sie weder die physiologische noch die metaphysische Krankheit angemessen berücksichtigen und vergessen, dass Gefahr und Verkehrung als anthropologische Konstanten gedacht werden müssen. Schellings Anthropologie hat nichts mit einem ‚Mängelwesen‘ zu tun, die Gefährdung betrifft im Gegenteil ein sehr reiches Wesen, die Krone der Schöpfung. 54 Auch geht es nicht darum, die ‚Monstrosität‘ des Menschen zu beschreiben, das würde bedeuten, den Menschen von dem Extrem des ‚monstrums‘ her zu deuten, doch kommt es in der Anthropologie auf das spezifisch Menschliche der Gefährdung an. Interessant wäre es zu untersuchen, ob man bei Schelling eine ganz neue Bedeutung der ‚exzentrischen Positionalität‘ entdecken kann. Während bei Plessner die Exzentrizität die nachmetaphysische Grundstruktur des Menschen ist, eines Wesens, das nicht (wie das Tier) in einem Zentrum ruht, sondern notwendigerweise aus diesem heraustritt, um durch den Blick auf sich selbst zu einem kulturellen Wesen werden zu können, 55 lauert bei Schelling in der Exzentrizität des Menschen die große Gefahr der Krankheit zum Bösen. Es geht in diesem Beitrag also um eine doppelte These: Zum einen ist die »Freiheitsschrift« - nicht nur, aber auch - ganz wesentlich vor dem Hintergrund medizinischer Terminologie und vor dem Hintergrund des physiologischen Krankheitsbegriffs zu sehen, wie ihn Schelling in den »Jahrbüchern« entwickelt. Möglicherweise hat die Beschäftigung mit der physiologischen Krankheit den Blick für die moralische Krankheit, 53 Siehe dazu Höffe, O., »Ein Thema wiedergewinnen: Kant über das Böse«, in: F. W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hg. v. O. Höffe und A. Pieper, Berlin 1995, 11-34. 54 „Der Mensch ist auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Principien in ihm ist kein nothwendiges, sondern ein freies.“ (SW I, 7, 374). 55 Siehe dazu Plessner, H., »Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie«, Berlin/ New York 3 1975, 288- 308. 278 Oliver Müller das Böse, geschärft. Zum Zweiten kann man wiederum in der »Freiheitsschrift« einen anthropologischen Neuansatz finden, der sich zunächst sicherlich vor allem schöpfungstheologisch und -anthropologisch erweist; doch haben Skandalisierung und Pathologisierung des Bösen zur Folge, dass die Krankheit im Rahmen des Gesamt-Organismus als Konstitutionsrahmen für eine integrative Anthropologie einen höheren Stellenwert haben muss. Mit Rückgriff auf das zentrale Paradigma des Organismus - daher wurde auf ihn so viel Wert gelegt - wird deutlich, dass das Modell der Krankheit zum Bösen in der »Freiheitsschrift« eine Radikalisierung der Anthropologie bedeuten muss, vor deren Ausarbeitung Schelling zurückschrecken musste. Und es wäre in der Tat eine bemerkenswerte anthropologische Pointe, dass sich der Mensch dadurch von Tier und Engel unterscheidet - dass er krank werden kann. IV. FREIHEIT, MYTHOLOGIE UND OFFENBARUNG Dietmar Koch Wer es erhalten will, der wird es verlieren und wer es aufgibt, der wird es finden Zu einem Theorem Schellings mit Blick auf Meister Eckhart und Platon Der Beitrag hat etwas Ungewöhnliches, vielleicht auch etwas zu Gewagtes vor. Er will sich mit den Bezügen und Implikationen eines Satzes von Schelling beschäftigen. Der Satz lautet: „Wer es erhalten will, der wird es verlieren und wer es aufgibt, der wird es finden“. Das Theorem ist Teil der Erlanger Vorlesung vom Wintersemester 1820/ 21 »Initia philosophiae universae« in der vierten Vorlesungsstunde 1 . Diejenigen, die in der Bibel bewandert sind, könnten in diesem Satz eine anspielende Verknüpfung gegenüber verschiedenen Stellen aus den Evangelien vermuten. Etwa an Lukas 17, 33: „Wer sein Leben zu erhalten sucht, der wird es verlieren; und wer es verlieren wird, der wird es gewinnen“ oder Matthäus 10, 39: „Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ Doch wir sollten Vorsicht walten lassen. Ähnlichkeiten sind mit Platons »Sophistes« gesprochen eine der gefährlichsten Fallgruben philosophischen Denkens. Wir könnten, so Platon, ‚leicht ins Rutschen kommen, wenn wir der Ähnlichkeit zwischen einem gefährlichen Tier, wie einem Wolf, und einem zahmen Tier, wie einem Hund, erliegen‘. 2 1 Schelling, F. W. J., »Initia philosophiae universae. Erlanger Vorlesung 1820/ 21«, hg. v. H. Fuhrmans, Bonn 1969, 18 (= »Initia philosophiae«). 280 Dietmar Koch Sehen wir uns den Kontext des Satzes an, so ist er kein biblischreligiöser, welcher zur Nachfolge Christi aufruft - auch wenn der deutsche Prediger und Mystiker Meister Eckhart - im Übrigen ohne ausdrückliche Namensnennung durch Schelling - mit zum unmittelbaren Umfeld gehört und zudem das Wort ‚Gott‘ mehrfach fällt. Die Thematik, der der Satz gilt, ist durch den direkt vorangehenden klar bestimmt: „Also selbst Gott muß der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will.“ 3 Thema ist also der Begriff der ‚wahrhaft freien Philosophie‘, genauer der ‚Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie‘. Diesem in einigen wesentlichen Zügen nachzugehen, wird Aufgabe unseres Beitrages sein. Das bedeutet für uns zugleich - auch wenn es vielleicht merkwürdig klingen mag -, nicht den Anspruch zu erheben, sämtliche Einschlüsse und Mehrfältigkeiten unseres Satzes hier ausbreiten und erörtern zu können. Schauen wir uns den Zusammenhang, in dem unser Satz steht, genauer an. Der Text fährt folgendermaßen fort: „Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst gekommen und hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles verlassen hatte, und selbst von allem verlassen war, dem alles versank, und der mit dem Unendlichen sich allein gesehen: ein großer Schritt, den Platon mit dem Tode verglichen. Was Dante an der Pforte des Infernum geschrieben seyn läßt, dieß ist in einem andern Sinn auch vor den Eingang zur Philosophie zu schreiben: ‚Laßt alle Hoffnung fahren, die ihr eingeht‘. Wer wahrhaft philosophiren will, muß aller Hoffnung, alles Verlangens, aller Sehnsucht los seyn, er muß nichts wollen, nichts wissen, sich ganz bloß und arm fühlen, alles dahingeben, um alles zu gewinnen. Schwer ist dieser Schritt, schwer, gleichsam noch vom letzten Ufer zu scheiden.“ 4 Wenden wir uns auf diesem von Schelling eröffneten Hintergrund zunächst dem ersten Teil unseres Satzes zu. „Wer es erhalten will, der wird es verlieren […]“. Was ist hier mit ‚es‘ gemeint? Was soll erhalten, bewahrt werden und geht dann doch verloren? Eine erste Antwort auf 2 Platon, »Sophistes«, gr./ dt., Einleitung, Übersetzung u. Kommentar v. H. Meinhard, Stuttgart 1990: „Theätet: Aber das hier Gesagte hat doch viel Ähnlichkeit mit einem Sophisten. Gast: Die hat auch der Wolf mit einem Hund, das gefährlichste Tier mit dem zahmsten. Wer aber sichergehen will, der muß sich besonders bei all solchen Ähnlichkeiten in acht nehmen, da kann er sehr leicht ins Rutschen kommen“ (231 ab). 3 »Initia philosophiae«, 18. 4 Ebd., 18f. Wer es erhalten will, der wird es verlieren 281 diese Frage findet sich in den vorausgehenden Passagen der Schellingschen Vorlesung: Das ‚Es‘ ist das Endliche, das Seyende - wie Schelling es hier nennt. Hören wir hierzu seine Überlegungen: „Allein mit dem Subjekt der Philosophie ist es etwas ganz anderes. Dieses ist schlechthin indefinibel. Denn 1) es ist nichts - nicht etwas, und selbst dieß wäre wenigstens eine negative Definition; allein es ist auch nichts nicht, d.h. es ist alles. Es ist nur nichts einzeln, stillstehend, insbesondere; es ist B, C, D u.s.w. nur, sofern jeder dieser Punkte zu dem Fluß der unzertrennlichen Bewegung gehört. Es ist nichts, daß es wäre, und es ist nichts, daß es nicht wäre. Es ist in einer unaufhaltsamen Bewegung, in keine Gestalt einzuschließen, das Incoercible, das Unfaßliche, das wahrhaft Unendliche. Zu diesem muß sich erheben, wer der vollkommen freien, sich selbst erzeugenden Wissenschaft mächtig werden will. Hier muß das Endliche, alles, was noch ein Seyendes ist, verlassen werden, die letzte Anhänglichkeit schwinden; hier gilt es alles zu lassen - nicht bloß, wie man zu reden pflegt, Weib und Kind, sondern was nur Ist, selbst Gott, denn auch Gott ist auf diesem Standpunkt nur ein Seyendes. Hier, wo wir diesen Begriff (Gott) zuerst nennen, mögen wir an ihm als dem höchsten Beispiel jenes Frühere nachweisen. Wir sagten: es ist nichts, das das absolute Subjekt nicht wäre, und es ist nichts, das jenes Subjekt wäre. Nämlich das absolute Subjekt ist nicht nicht Gott, und es ist doch auch nicht Gott, es ist auch das, was nicht Gott ist. Es ist also insofern über Gott, und wenn selbst einer der vorzüglichsten Mystiker früherer Zeit gewagt hat von einer Uebergottheit zu reden, so wird dieß auch uns verstattet seyn, und es wird ausdrücklich hier bemerkt, damit nicht etwa das Absolute - jenes absolute Subjekt - geradezu mit Gott verwechselt werde. Denn dieser Unterschied ist sehr wichtig. Also selbst Gott muß der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will.“ 5 Auf diese Passage folgt unmittelbar unser Satz. Im Kommenden werden wir keine eingehende Entfaltung der hier markierten Unterscheidung von Endlichem bzw. Seyendem und Unendlichem im Kontext der Schellingschen Philosophie vornehmen. Täten wir dies, müsste sich unser Thema sowohl auf das beziehen, was Schelling ‚die vollkommen freie, sich selbst erzeugende Wissenschaft‘ nennt, wie auch auf die sogenannte ‚peras - apeiron‘-Thematik, also auf das Verhältnis von Begrenztem und Unbegrenztem, wie es in der Differenz von Endlichem und Unendlichem anklingt. Dies würde unseren 5 Ebd., 17f. 282 Dietmar Koch Rahmen sprengen. Wir halten uns an den Schwerpunkt, den Schelling selbst im Umfeld unseres Satzes setzt. Er tut dies mit Bezugnahme auf die Predigten Meister Eckharts und auf Platons »Phaidon« und spielt damit auf einen philosophischen Topos an, der zwar von einer unverzichtbaren Differenz lebt - in Schellings Begriffen von ‚Endlichem und Unendlichem‘ -, die aber auch für das, worum es Schelling hier geht, in der platonischen Unterscheidung von ‚Ideenkosmos‘ und ‚leibhaftiger Erscheinungswelt‘ oder in der eckhartschen Auseinanderhaltung von Übergottheit und Gott manifest werden kann. Die zweifellos vorhandenen erheblichen Differenzen zwischen diesen Unterscheidungen der jeweiligen Denker scheinen für unseren Satz und für sein Umfeld aber augenblicklich zweitrangig. Kommen wir zur ersten Hälfte unseres Satzes zurück. Derjenige, der wahrhaft philosophieren will, wird das Endliche, die leibhaftige Erscheinungswelt, das ihm Bekannte und Gewohnte, d.h. seinen Aufenthalt im für ihn bisher Bedeutsamen, verlieren, wenn er sich auf das einlässt, um was es der Philosophie zu tun ist. Will er das Geläufige und Bekannte versuchen, in der bisherigen Gestalt zu bewahren und zugleich versuchen sich auf das Andere, das Unendliche, den Ideenkosmos, sachgemäß einzulassen, wird er scheitern. Er kann sich nicht dem Anderen aussetzen und zugleich wandlungslos am Ausgangspunkt festhalten wollen. Der erste Teil scheint so im Grunde wenig Schwierigkeiten zu bereiten. Sehen wir uns den zweiten Teil an: „[…] und wer es aufgibt, der wird es finden“. Das erste ‚es‘ im zweiten Teil ist wohl dasselbe ‚es‘ wie im ersten Teil. Wer das Endliche, das Seyende loslässt, seine bisherige unphilosophische Aufenthaltsweise bei den Dingen, der leibhaftigen Erscheinungswelt, verlässt, der wird ‚es‘ - ja was für ein ‚es‘? - finden. Zum einen: das letzte ‚es‘ ist unklar, zum anderen scheint die Struktur des zweiten Teils von Aufgabe und Findung paradox zu sein. Finden setzt in der Regel ein Suchen voraus. Etwas aufzugeben, um es dadurch zu finden, bereitet Kopfzerbrechen. Zudem: Wäre das letzte ‚es‘ dasselbe ‚es‘ wie die vorangegangenen drei Verwendungen des ‚es‘, kämen wir um die Diagnose einer Paradoxie nicht herum. Wer seinen Aufenthalt in der Erscheinungswelt, im Endlichen, aufgibt, wird seinen Aufenthalt in der Erscheinungswelt finden. Warum sollte etwas aufgegeben werden, um dasselbe wieder zu erhalten? Verhielte es sich einfach so, wäre auch die konstitutive Bedeutung der Differenz von Endlichem und Unendlichem eingestrichen. Von daher müsste das vierte ‚es‘ ein anderes ‚es‘ sein. Wer es erhalten will, der wird es verlieren 283 Wäre es jedoch einfach das Andere zum Endlichen, das Unendliche, dann hätte eine wesentliche, aber unangezeigte Bedeutungsverschiebung des bisherigen ‚es‘ zu etwas anderem statt, sodass mit dem Zuhörenden ein seltsames Spiel getrieben wird. Das Andere, das Unendliche, könnte mit dem vierten ‚es‘ nur unter dem Eingeständnis eines auf den ersten Blick nicht merklichen, aber dennoch wesentlichen Bruches identifiziert werden. Das Umfeld unseres Satzes gibt uns einen Hinweis zur Lösung des Problems. „Wer wahrhaft philosophiren will, muß aller Hoffnung, alles Verlangens, aller Sehnsucht los seyn, er muß nichts wollen, nichts wissen, sich ganz bloß und arm fühlen, alles dahingeben, um alles zu gewinnen.“ 6 Gehen wir nur auf die letzte Bemerkung ein: ‚alles gewinnen‘. ‚Alles‘ kann nicht der Ausgangspunkt sein, den wir zu erhalten suchen und doch aufzugeben haben, sondern ‚alles‘ kann nur heißen: das Endliche und das Unendliche, die Erscheinungswelt und der Ideenkosmos. In unserem Kontext herrscht demnach eine kehrige Struktur: Der Wille zu philosophieren zwingt uns dazu, uns der Sache der Philosophie, dem Unendlichen, zuzuwenden, und dazu, das Endliche zu verlassen. Das Endliche als Identisches zu bewahren und zugleich zum Quellgrund des Endlichen fortschreiten zu wollen, ist unmöglich - wie wir gesehen haben. Das Endliche, in der Weise, wie wir es kennen - also ohne Blick auf das Unendliche -, geht verloren, wenn das Unendliche als der Wesensgrund des Endlichen ins Spiel kommt. Das Endliche ist im Blick auf das Unendliche nicht dasselbe wie ohne den Blick auf das Unendliche. Im Licht des Unendlichen ist das Endliche verwandelt da - verwandelt und bereichert. Der so erfahrene Zusammenhang von Endlichem und Unendlichem stellt sich vom Endlichen aus wie folgt dar: Das Endliche erscheint als das Endliche des Unendlichen (genitivus subjectivus) und lässt sich so in der Bewegung des Verlierens und Findens zwingenderweise nur als etwas, das anders geworden ist, finden, besser: verwandelt wiederfinden. Noch genauer: Das Endliche wird allererst das Endliche aus der Entdeckung und Entfaltung des Unendlichen heraus, es kommt erst so überhaupt zu sich. Die Rede vom Endlichen und Unendlichen ist notwendigerweise schon eine Rede post festum, vom denkend erfahrenen Unendlichen her. 6 Ebd., 19. 284 Dietmar Koch Dieser kehrigen Bewegung in der Sache entspricht auch die Bewegung, die in Platons »Phaidon« statt hat. Die leibhaftige Erscheinungswelt wird verlassen und aufgrund des gewonnenen Ideenkosmos als ‚gereinigtes Bild‘ verwandelt zurückgewonnen. ‚Gereinigt‘ bedeutet: Die Erscheinungswelt zeigt sich allererst im Rückgang vom philosophisch-dialektisch erfahrenen Ideenkosmos als Bild des Ideenkosmos und kommt damit allererst zu sich selbst. ‚Gereinigtes Bild‘ in seiner höchsten Gestalt ist jetzt das dichterische Bild - dem dialektischen Logos standhaltend und sprachlich von der Idee her vermittelt. Platon stellt dieses ‚dichterische Bild‘ in seinem, wie er sich ausdrückt, ‚schönen Mythos‘ gegen Ende des »Phaidon« dar. Vergegenwärtigen wir uns die Gesamtsituation des »Phaidon« soweit es für unsere Thematik von Interesse ist. Sokrates führt in seiner Kerkerzelle wenige Stunden vor seinem Tod mit seinen Freunden ein Gespräch über das Verhältnis von Philosophie und Tod. Der Tod erweist sich hierbei als die Trennung der Seele vom Leib. Der Leib ist vergänglich, von der Seele wird in verschiedenen Anläufen versucht, sie als unsterblich zu beweisen. Mit der Trennung der Seele vom Leib geht die unsichtbare Seele über in ihre wahrhafte Heimatregion, in das reine Zusammensein mit den ‚unsichtbaren‘, aber im Grunde alles bestimmenden, weil gestaltenden Ideen. Der Leib ist auf der uns bekannten und gewohnten Erde das Hindernis der wahrhaften Erkenntnis, er ist das Zugangstor zu den vergänglichen Erscheinungen, von denen kein sicheres Wissen und schon gar kein philosophisches Ideenwissen zu erlangen ist. Die Trennung vom Leib, das Sterben und der Tod, ist also dasjenige, was der Philosophierende im Grunde schon sein ganzes Leben lang anstrebt. Wir kommen in unserem Beitrag noch einmal auf diesen Punkt zurück. Nachdem im ganzen Dialog mit unmissverständlicher Klarheit deutlich wurde, dass der Aufenthalt bei den buchstäblich leibhaften Erscheinungen nicht die Heimat der Seele ist und der wahre Ort der Seele die Region der unsichtbaren Ideen ist und die ständige Aufgabe der logos- und ideenbestimmten Seele darin besteht, sich von den Erscheinungen zu lösen, überrascht Platon am Ende des Dialogs mit einem Mythos von der ‚reinen Erde‘, dem ‚reinen Himmel‘ usw. Dieser ‚reine Himmel‘ und diese ‚reine Erde‘ sind auf der einen Seite ‚jenseits‘ unserer Erde und unseres Himmels, sie sind erst nach dem ‚Tod‘, nach der Trennung der Seele vom Leib zugänglich. Auf der anderen Seite kommen all die Dinge, die verlassen wurden und nur durch den schlechten und Verwirrung stiftenden Leib zugänglich sind, Wer es erhalten will, der wird es verlieren 285 auf wundersame Weise im ‚reinen Bild‘ wieder zurück. Nachdem also klar gemacht wurde, dass alle leibhaftige Erscheinungswelt zugunsten des Ideenkosmos für den Philosophierenden radikal zu verlassen ist, heißt es in diesem Schlussmythos von dieser ‚reinen Erde‘ und ihren ‚Erscheinungen‘, die - wie Platon ausführt - ‚eine Region höher‘ angesiedelt ist als die ‚uns bekannte Erde‘: „Auf dieser, die so beschaffen ist, wüchsen in entsprechender Weise die Gewächse: Bäume, Blumen und die Früchte. Die Berge wiederum und die Steine hätten in entsprechender Weise Glätte und Durchsichtigkeit und schönere Farben. Von denen seien auch die hiesigen Edelsteine, die so geschätzt werden, Teile, wie Karneole, Jaspis, Smaragde und alles derartige. Dort aber gebe es nichts, was nicht von dieser Art und noch schöner als diese sei. Das Verursachende dafür sei, daß jene Steine rein [H. v. m.] sind und nicht zerfressen und verwittert wie die hiesigen durch Fäulnis und Salz von dem Wasser, das hier zusammengeflossen ist und auch den Steinen, der Erde und allen Lebewesen und Gewächsen Häßlichkeit und Krankheiten bringt. Die Erde selbst aber sei geschmückt mit all diesen Dingen, und außerdem mit Gold, Silber und dem übrigen in der Art. Denn sichtbar [H.v.m.] träte es da hervor in großer Menge und gewaltig und überall auf der Erde, so daß es zu sehen ein Schauspiel für glückliche Beschauer sei. […] Sogar Haine für die Götter und Heiligtümer gäbe es bei ihnen, in denen die Bewohner wirklich Götter seien, und Göttersprüche, Weissagungen, Erscheinungen der Götter und anderen derartigen Umgang mit ihnen hätten sie. Die Sonne, der Mond und ihre Sterne würden von ihnen gesehen, wie sie wirklich sind [H. v. m.], und ihr übriges Glück sei diesem gemäß.“ 7 Erst im Rückgang vom Ideenkosmos können wir sehen, was und wie die Erscheinungswelt wirklich oder wahrhaft ist. Die angemessene Würdigung dessen geschieht in der wahren Dichtung, die durch den Logos der Ideendialektik hindurchgegangen ist bzw. ihm standzuhalten vermag. Der Dialog, der für die sogenannte Zwei-Welten-Theorie wirkungsgeschichtlich maßgebend geworden ist, zeigt gerade das nicht, wofür er vielfach gehalten wurde. Schelling und auch Hölderlin haben dies in ihrer Auseinandersetzung mit Platon - gegen gängige Auslegungen ihrer Zeit und der christlich bestimmten Wirkungsgeschichte des Neuplatonismus - gesehen. Dies ließe sich durch eine entsprechende 7 Platon, »Phaidon«, gr./ dt., übersetzt u. hg. v. B. Zehnpfennig, Hamburg 1991, 110 5bff. (= »Phaidon«). 286 Dietmar Koch Auslegung zum Beispiel der Dialoge »Phaidros«, »Kratylos« und »Timaios« auch im Einzelnen aufzeigen. Der Schwerpunkt unserer Textstelle liegt jedoch nicht auf der kehrigen Struktur der Sache der Philosophie als der Einheit von Ideenkosmos und Erscheinungswelt bzw. leibhaftiger Erscheinungswelt vom Ideenkosmos her. Die Mitte unseres Textes ruht in der rätselhaften Bewegung, die die erkennenwollende Seele durchmacht - sie liegt im Zusammenhang von Erhaltenwollen und Verlierenmüssen, im Aufgeben und im sich verwandelten Wiederfinden. Die erkennende Seele ist hier nichts in erster Linie für sich Seiendes, nichts Selbstbezügliches, sondern mit Platon gedacht je schon der logosbestimmte Bezug zu den Dingen und Sachen. Mit den auf Meister Eckhart bezogenen Textpassagen können wir das Rätselhafte, weil widersprüchlich Erscheinende, zuspitzen: das Wollen des Nichtwollens. Es heißt: Wer wahrhaft philosophieren will, der darf nichts wollen. Oder anders ausgedrückt: Wer den Quellgrund wissen will, darf nichts wissen wollen. Eine gegenläufige, sich selbst aufhebende Bewegung scheint im Spiel. Hören wir hierzu Meister Eckhart in der Predigt Nr. 52: „Solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, solange seid ihr nicht arm; denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts begehrt [555]. […] Soll der Mensch arm sein an Willen, so muß er so wenig wollen und begehren, wie er wollte und begehrte, als er [noch] nicht war. Und in dieser Weise ist der Mensch arm, der nichts will [555]. […] Ich habe gesagt, das sei ein armer Mensch, der nicht [einmal] den Willen Gottes erfüllen will, der vielmehr so lebe, daß er seines eigenen Willens und des Willens Gottes so ledig sei, wie er’s war, als er [noch] nicht war. Von dieser Armut sagen wir, daß sie die höchste Armut ist [559]. […] der Mensch solle aller Dinge und aller Werke, innerer wie äußerer, so ledig sein, daß er eine eigene Stätte Gottes sein könne, darin Gott zu wirken vermöge [559].“ 8 Der Wille zur Nähe Gottes setzt die Gegenbewegung voraus, das Armwerden. Dieses Armwerden ist das seines Eigenwillens Ledig- und Leerwerden, um so allererst die ‚gereinigte‘ Stätte für das unverfügbare Wirken Gottes sein zu können. Übersetzt in den philosophischen Kontext bedeutet dies: Im wollenden Erkennen der ‚Sache der Philosophie‘ denjenigen Raum lassen, den sie 8 Meister Eckhart, »Werke 1«, Texte u. Übersetzung von J. Quint, hg. u. komm. v. N. Largier, Frankfurt a.M. 1993, 555ff. Wer es erhalten will, der wird es verlieren 287 braucht, um sich zur ihrer Entfaltung in ihrem Eigenrhythmus bringen zu können. Dies setzt sowohl eine Reinigung von bisherigen geläufigen Vorstellungen gegenüber dem, was im Grunde ist, voraus wie auch eine Anerkenntnis gegenüber der Unverfügbarkeit hinsichtlich der Eröffnung und Versagung der ‚Sache der Philosophie‘. Das Finden verlangt die Würdigung dieses Unverfügbarkeitsmoments und damit die Rücknahme des festgelegten Eigenwillens und die hörende Offenheit auf das noch Unbestimmte. Diese Figur können wir auch im Werk Platons finden - wenn wir die unverzichtbare Rolle seines Verständnisses des Göttlichen für das Philosophieren aufnehmen. Nicht die beglückende Erkenntnis, sondern der Tod der bisherigen Seinsweise der Seele, der Verlust des bisherigen Bedeutungsraumes, in dem sie sich aufgehalten und verhalten hat - einhergehend mit einer gänzlich unbestimmten Zukunft -, stehen am Anfang des ernsthaften Philosophierens. Schellings Anspielung auf Platons Verständnis des Todes im »Phaidon« hat hier seinen Ort: „[…] ein Mensch, der sein Leben wahrhaft mit Philosophie zugebracht hat, müsse zuversichtlich sein, wenn er im Begriff zu sterben, und guter Hoffnung, dort die größten Güter zu erlangen, wenn er gestorben ist. […] Es scheinen nämlich alle, die sich auf die rechte Weise mit der Philosophie befassen, - verborgen vor den anderen - nichts anderes zu betreiben als zu sterben und tot zu sein. Wenn das nun wahr ist, wäre es doch wohl sonderbar, sich im ganzen Leben um nichts anderes zu bemühen als um dieses, wenn es nun aber selbst käme, unwillig zu sein über das, worum man sich schon so lange bemüht und was man betrieben hat“. 9 Mit den Worten Meister Eckharts gesprochen steht am Eingang zur Philosophie das Armwerden, die gewollte Armut, das Losgelassenhaben von allem unbedingten Wollen - steht die Gelassenheit in der doppelten Bedeutung von Lassen des Bisherigen, der Abschied, und dem ‚wirkenden‘ Seinlassen der noch unbekannten Sache, für die wir offen sind. Der Sachverhalt, um den es hier geht, wäre aber zu kurz erfasst, würden wir einfach sagen: Der Wille zur Erkenntnis reicht für die wahrhafte Erkenntnis nicht zu. Er ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Erkenntnis des Unendlichen, des Ideenkosmos. Das heißt: Nicht jedem der Erkennen will, gelingt auch die Erkenntnis. Diese Einsicht ist unbestritten richtig und unverzichtbar, trifft aber noch nicht den Kern. Was aber ist der Dreh- und Angelpunkt? 9 »Phaidon«, 63 e und 64 a. 288 Dietmar Koch Er liegt in der Selbstaufgabe der bisherigen Seinsweise der Seele und in der Bejahung des Wagnisses gegenüber einer unbestimmten Zukunft. ‚Wagnis‘ bedeutet hier - um im Bild Schellings zu bleiben - gar nicht am anderen Ufer ankommen zu müssen, sondern das eine Ufer zu verlassen mit dem Wissen, von der Strömung fortgerissen zu werden und untergehen zu können, also: nicht ankommen zu können. Erst wer dieses Wagnis eingeht, sich selbst von Grund auf aufzugeben und sich dem Offenen, dem Unbekannten sozusagen mit ‚Leib und Seele‘ auszusetzen, der kann - wie Schelling sagt - „alles“ gewinnen. Das Wort „alles“ hat jetzt im Vergleich zu unserer bisherigen Auslegung einen erweiterten Bezug bekommen. „Alles“ war die Einheit des Unendlichen und des Endlichen vom Unendlichen her. „Alles“ bedeutet jetzt nicht mehr nur die Sache in ihrer Ganzheit, sondern auch den geglückten Bezug des Erkennenden zur ganzen Sache. Der geglückte Bezug ist uns unverfügbar und vom Nichtgelingen ständig umspielt. Hören wir Schelling im unmittelbaren Anschluss an die bisher angeführten Stellen aus der »Erlanger Vorlesung«. Die jetzt kommende Spinoza-Passage bezieht sich noch auf die Sachstruktur, die sich anschließende Fichte-Passage auf das erkennende Ich: „Schwer ist dieser Schritt, schwer, gleichsam noch vom letzten Ufer zu scheiden. Dieß sehen wir daraus, daß so wenige von jeher dieß im Stand waren. Wie hoch erhebt sich Spinoza, wenn er lehrt, daß wir von allen einzelnen und endlichen Dingen uns scheiden und zum Unendlichen erheben sollen, und wie tief sinkt wieder eben derselbe, wenn er dieses Unendliche zur Substanz, d.h. zu etwas Todtem, Stillstehendem, macht, und wenn er diese Substanz als Einheit des ausgedehnten und des denkenden Wesens erklärt, gleichsam zwei Gewichte, wodurch er sie ganz niederzieht in die Sphäre der Endlichkeit! So zu unserer Zeit Fichte, der vor mir an dieser Stelle stand, der zuerst wieder kräftig zur Freiheit aufrief, dem wir es eigentlich verdanken, daß wir wieder frei, ganz von vorn philosophiren, wie tief sieht er unter sich alles Seyn, in welcher er nur eine Hemmung freier Thätigkeit sieht! Aber indem ihm alles äußere und objektive Seyn verschwunden ist, - im Augenblick da man erwartet, ihn über alles Seyende sich erheben zu sehen, klammert er sich wieder an das eigene Ich an. Aber nicht bloß die Objekte, auch sich selbst muß der lassen, der sich in jenen freien Aether erschwingen will [H.v.m.]. Man gesteht dem Menschen zu, sein sittliches Leben durch einen großen Entschluß mitten in der Zeit wie von vorn beginnen zu können. Sollte dieß nicht auch im Wer es erhalten will, der wird es verlieren 289 Geistigen geschehen können? Aber eben hierzu muß er schlechthin von vorn, von neuem geboren werden.“ 10 Diese neue geistige Geburt - nach der erlittenen Aufgabe der bisherigen Seinsweise des Erkennenden, also dasjenige‚ was Platon mit dem Tode verglichen hat - ereignet sich nicht ohne Schmerz, Verlust und Wagnis. Was geschieht in dieser Krisis am Eingang zur Philosophie? Wir können auch fragen: Was wird vom Erkennenden als eine Voraussetzung möglichen Ankommens verlangt? Gefordert wird im Grunde die Bejahung und Würdigung der Negativität in ihrer Mehrfältigkeit, die in dieser Bewegung des Verlierens und Aufgebens im Spiel ist - also zum Beispiel die innige Bejahung des Aufgebens als etwas Zugehöriges zum Bezug von ‚zu erkennender Sache und erkennenwollender Seele‘. Führen wir uns die Mehrfältigkeit des Nicht, der wir bisher begegnet sind, zusammenfassend vor Augen. Das Nicht zeigte sich uns im Kontext des Philosophierens in Gestalt des Anderen gegenüber dem Endlichen - als der Einbruch, der Einfall des Unendlichen in das Endliche -, sodann in der Gestalt des Aufgebenmüssens des Ausgangspunktes (der Tod), des Weiteren als das Unverfügbarkeitsmoment gegenüber dem eigenrhythmischen Kommen der Sache - dem ‚Wollen des Nichtwollens‘ -, es zeigte sich damit zugleich als ‚Offenheit für das Unbekannt-Sichergebende‘, also das Nicht in Gestalt der Freiheit im Sinne des Nichtfestgelegten, es zeigte sich so als das Wandlungsoffene aus dem Unendlichen. Diese würdigende Anerkenntnis der Negativität schließt zugleich ein, sich willentlich dem möglichen Scheitern auszusetzen. Und dies ist ein entscheidender Punkt. Unser Satz „Wer es erhalten will, der wird es verlieren, und wer es aufgibt, der wird es finden“ könnte ja auch wie eine Bewegungsgesetzlichkeit gelesen werden ‚nach dem Motto‘: wunderschön, wenn es sich so verhält, dann verhalte ich mich entsprechend: ich gebe es auf und dann werde ich es finden. Die Bezugnahme Schellings auf Meister Eckhart und auf Platons Todesverständnis im »Phaidon« lässt eine solche gleichsam ,mechanische‘ Deutung nicht zu. Die Negativität lässt sich nicht instrumentalisieren. Sie ist als eigenständige unverfügbare Macht zu würdigen. Dies dürfte nebenbei bemerkt eine der größten Differenzen Schellings zur Philosophie Hegels sein. Negativität kann nicht zur Gänze und in ihrem wesentlichsten Punkt in eine dialektisch vermittelte Fortschrittsbewegung eingespannt werden. Sie ist keine Mephisto-Gestalt, kein Geist, der stets das Böse 10 »Initia philosophiae«, 19f. 290 Dietmar Koch will und doch das Gute schafft. Negativität in ihrer Kraft und Mächtigkeit kann diese konstruktive Rolle einnehmen, geht darin jedoch nicht auf. Wie Negativität diese fruchtbare Rolle zu spielen vermag, hat Hegel in Bezug auf die negative Kraft des Verstandes im Kontext des sogenannten spekulativen Denkens unübertroffen zur Andeutung gebracht: „Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.“ 11 Im Kontext Schellings ist Negativität jedoch nie schon unselbstständiger oder bruchlos aufgehender Teil der Vermittlungsbewegung als ganzer. Negativität kann auch jederzeit die ungebändigte Seite ihrer selbst zum Vorschein bringen. Sie kann das aufgehende Zusammenspiel zur Einheit nicht nur verweigern, sondern überhaupt zur Auflösung bringen. Doch auch dies - und gerade dies - muss gewürdigt werden. Auch vor dem Tragischen gilt es, sich verehrend zu verneigen. Dies wussten vor allem einige griechische Dichter und Denker. Die ernsthafte Möglichkeit des Scheiterns - mit Schellings Ausdruck des Nichterhaltens von „allem“ - ist ein unaufhebbares Moment jedes wahrhaften Gelingens. Kein Gutes ohne dieses in jedem Augenblick alles in Frage stellende Moment. Alles was ist, ist vom Nichtsein umspielt: ‚Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts? ‘. 12 Diese von Schelling immer wieder gestellte Frage kann als Anzeige dessen dienen, dass das Dasein nie als etwas Selbstverständliches zu begreifen ist. Die Ungeheuerlichkeit dessen, dass überhaupt etwas ist, verdankt sich zugleich dem möglichen Nichtsein, das ständig unverfügbar - auch als Ruhendes - im 11 Hegel, G. W. F., »Die Phänomenologie des Geistes«, Theorie-Werkausgabe, hg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 3, 35. 12 Siehe hierzu Schelling, F. W. J., SW II, 3, 242 und II, 3, 7. Wer es erhalten will, der wird es verlieren 291 Spiel ist. Dieses Nichtsein kann jederzeit in seiner uneingebundenen Mächtigkeit eigens ins Spiel kommen. Der ‚Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie‘ - um Schellings Fokus aufzugreifen - liegt im Wagnis. Das Ganze ist so stets das freie Wagnis seiner selbst. Alles Gute lebt von diesem Wagnis. Oder mit Platons »Phaidon«: καλὸς γὰρ ὁ κίνδυνος - ‚denn schön ist das Wagnis‘. 13 13 »Phaidon«, 114 d. Jens Halfwassen Freiheit als Transzendenz Schellings Bestimmung der absoluten Freiheit in den »Weltaltern« und in der »Philosophie der Offenbarung« I. Die Frage, ob wir als denkende und handelnde Wesen frei sind und was eigentlich das Wesen der Freiheit ist, gehört zu den ewigen Fragen der Philosophie, die zu allen Zeiten und in allen Epochen aktuell sind. Die Philosophie verdankt diese Frage und wesentliche Antworten auf sie dem Denken der griechischen Antike. Grundgelegt wird das europäische Freiheitsdenken von Platon und Aristoteles. Sie lehren, dass wir selbst die letzte Ursache unserer Handlungen und Entscheidungen sind, und fragen, was in uns diese letzte Ursache ist und wie eine solche Selbstbestimmung aus eigener Ursache sich mit dem gesetzmäßigen Zusammenhang der Natur zusammendenken lässt. Freiheit, so stellt sich heraus, hängt daran, dass wir selbst das Prinzip unserer eigenen Handlungen sind und dass wir zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten frei, d.h. selbstbestimmt wählen können; nur solche freien Handlungen sind dann auch moralisch zurechenbar. Da Menschen aber auch Naturwesen sind, die häufig irrationalen Antrieben folgen, welche nicht von ihnen selbst, sondern von äußeren Faktoren bestimmt werden, sind frei und selbstbestimmt eigentlich der Geist sowie diejenigen unserer Handlungen, die von ihm ausgehen. Die höchste Freiheit besteht darum in jener Tätigkeit des Geistes, in welcher dieser unabhängig von allen äußeren Einflüssen vollständig selbstbestimmt tätig ist: in der denkenden Betrachtung des Wahren, der ‚theoria‘. Diesen von Platon entdeckten und von Aristoteles ausgearbeiteten Zusammenhang von Freiheit als Transzendenz 293 Freiheit und Selbstbestimmung mit der Tätigkeit des Geistes greift dann in der Spätantike Plotin auf und begründet ihn in jener Beziehung, in welcher der Geist zum Absoluten, dem überseienden Einen selbst steht. Um die Freiheit des Geistes in seinem Transzendenzbezug zum Absoluten zu fundieren, entwickelt Plotin als Erster in der Geschichte des Denkens einen Begriff von ‚absoluter Freiheit‘: Und zwar denkt er die absolute Freiheit, die Freiheit des Absoluten, als ‚absolute Transzendenz‘ im Sinne einer Transzendenz über das Sein. 1 Die neuzeitliche Philosophie nimmt den antiken Freiheitsgedanken wieder auf und entwickelt ihn produktiv weiter, am intensivsten im Deutschen Idealismus, dessen Zentrum die Freiheitsthematik bildet. Denn der Deutsche Idealismus ist seit Kant wesentlich ein Idealismus der Freiheit. 2 Kants praktische Philosophie war für das neuzeitliche Freiheitsverständnis darum so grundlegend, weil sie die vielfältigen und schon in der Antike behandelten Aspekte des Freiheitsbegriffs, wie Willensfreiheit, Handlungsfreiheit und Wahlfreiheit 3 , umfassend dem Grundgedanken der ‚Autonomie‘ ein- und unterordnet, Freiheit also grundlegend als Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung begreift. Freiheit ist so eigentlich die reine Spontaneität der Vernunft selbst: „[D]enn frei ist, was nur den Gesetzen seines eigenen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist“ 4 - so formuliert Schelling in seiner berühmten »Freiheitsschrift« diesen den Idealisten seit Kant gemeinsamen Grundgedanken der ‚Freiheit als Selbstbestimmung‘. Dass diese metaphysische Dimension der Freiheit, 1 Vgl. dazu Halfwassen, J., »Plotin und der Neuplatonismus«, München 2004, 135-141; zur Begründung des Geistes in seinem Transzendenzbezug zum Einen ebd, 84-97, bes. 93ff. 2 Vgl. dazu jetzt Düsing, K., »Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel«, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. - Zur mittelalterlichen Vorgeschichte des idealistischen Freiheitsdenkens ist instruktiv Kobusch, T., »Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild«, Darmstadt 1997, 2. Aufl. 3 Vgl. zu diesem antiken Hintergrund Krämer, H. J., »Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike«, in: Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, hg. v. J. Simon, Freiburg/ München 1977, 239-270. 4 Schelling, F. W. J., »Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. 1809«, (= »Freiheitsschrift«), SW VII, 384. - Vgl. zu Kants Freiheitsbegriff z.B. Düsing, K., »Spontaneität und Freiheit in Kants praktischer Philosophie«, in: ders., Subjektivität und Freiheit, 211-235. 294 Jens Halfwassen ihr intelligibler Charakter, wie Kant sie nennt, das Fundament auch der praktischen Freiheit ist, hat Kant ausgesprochen. Philosophisch eingehend analysiert wird diese metaphysische Freiheit in den idealistischen Freiheitslehren von Fichte, Hegel und Schelling. Fichte und Hegel begründen sie subjektivitätstheoretisch: nämlich in der Tathandlung des sich selbst setzenden Ich bzw. in dem reinen Beisichselbstsein des sich selbst denkenden absoluten Begriffs. 5 Auch Schelling begreift Freiheit zunächst subjektivitätstheoretisch, aber seit der »Freiheitsschrift« unterscheidet er die in der Struktur der Subjektivität verankerte endliche Freiheit des Menschen nicht bloß graduell, sondern prinzipiell von der Freiheit des Absoluten. In diesem Zusammenhang entwickelt er einen Begriff von absoluter Freiheit, der nicht mehr in der Struktur der Subjektivität, sondern in der Transzendenz des absoluten Einen, des Grundes der Subjektivität, fundiert ist. Absolute Freiheit bedeutet für Schelling Transzendenz, und zwar genauer Transzendenz über das Sein. Wie ich anderen Ortes gezeigt habe, 6 berührt sich der späte Schelling darin mit Plotin, den er seit etwa 1805 kannte. 7 Schellings Begriff von absoluter Freiheit muss also von seinem Verständnis der menschlichen Freiheit abgehoben werden, wie sie die Schrift »Über das Wesen der menschlichen Freiheit« von 1809 entfaltet, deren Freiheitsbegriff ich zunächst als Folie für Schellings Gedanken einer absoluten Freiheit skizzieren werde. In einem zweiten Schritt entfalte ich von da aus Schellings Grundlegung des Gedankens einer absoluten Freiheit im ersten Druck seiner »Weltalter« von 1811. Abschließend wende ich mich der Endgestalt dieses Gedankens in der späten »Philosophie der Offenbarung« zu. 5 Vgl. z. B. für Hegel Düsing, K., »La determinazione della volontà libera e la libertà del concetto in Hegel«, in: La libertà nella filosofia classica tedesca. Politica e filosofia tra Kant, Fichte, Schelling e Hegel, a cura di G. Duso e G. Rametta, Milano 2000, 133-146. 6 Vgl. Halfwassen, J., »Freiheit und Transzendenz bei Schelling und Plotin«, in: Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie, hg. v. B. Mojsisch und O. F. Summerell, München/ Leipzig 2003, 175-193. Die Schelling betreffenden Passagen dieser Abhandlung liegen den folgenden Ausführungen zugrunde. Freiheit als Transzendenz 295 II. Das spezifische Wesen der ‚menschlichen Freiheit‘ besteht Schelling zufolge darin, dass sie das ‚Vermögen zum Guten und zum Bösen‘ ist. 8 Genau darin unterscheidet sich menschliche Freiheit von der Freiheit Gottes, die als reine Güte die Möglichkeit einer Selbstbestimmung zum Bösen ausschließt. Für Schelling folgt daraus, dass die menschliche Freiheit einen von Gott unabhängigen Grund haben muss. Dieser Grund kann jedoch nicht im Sinne eines manichäischen Dualismus ein Gott entgegengesetztes Prinzip des Bösen sein, da Schelling an der Allbegründung Gottes unbedingt festhält. Für ihn ist die Welt in Natur und Geschichte gar nichts anderes als die Selbstoffenbarung Gottes. Doch schließt die reine und uneingeschränkte Güte Gottes es auch aus, dass Gott selber der Ursprung des Bösen ist. Dies ist das klassische Theodizee-Problem, dessen klassische Lösungen von Plotin über Augustinus bis Leibniz Schelling indes nicht befriedigen. 9 7 Vgl. den Nachweis von Beierwaltes, W., »Platonismus und Idealismus«, Frankfurt a.M. 1972 (= Beierwaltes, »Platonismus und Idealismus«), 100-110 mit 202-214. Vgl. zu Schellings Verhältnis zum Neuplatonismus ebd., 67-82, 100-144 sowie die Auswahl der von Windischmann wohl 1805 für Schelling auf dessen Bitte übersetzten »Stellen aus Plotinos« ebd., 210-214; ebenso Beierwaltes, W., »Absolute Identität. Neuplatonische Implikationen in Schellings „Bruno“«, in: ders., Identität und Differenz, Frankfurt a.M. 1980, 204-240; ders., »Plotins Gedanken in Schelling«, in: ders., Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt a.M. 2001 (= Beierwaltes, »Plotins Gedanken in Schelling«), 182-227; ferner Leinkauf, T., »Schelling als Interpret der philosophischen Tradition. Zur Rezeption und Transformation von Platon, Plotin, Aristoteles und Kant«, Münster 1998, 31-43. - In der mangelhaft nachgewiesenen Behauptung konkreter historischer Beeinflussung problematisch, aber dennoch anregend ist Holz, H., »Spekulation und Faktizität. Zum Freiheitsbegriff des mittleren und späten Schelling«, Bonn 1970. 8 Vgl. Schelling, »Freiheitsschrift«, SW VII, 352. - Vgl. dazu eingehender Halfwassen, J., »Die Bestimmung des Bösen in Schellings "Freiheitsschrift" und in der Moderne«, in: Gewalt. Strukturen - Formen - Repräsentationen, hg. v. M. Dabag, A. Kapust, B. Waldenfels, München 2000, 81-96, bes. 84-92 (dort auch weitere Literatur). Vgl. zum Freiheitsbegriff Schellings in der »Freiheitsschrift« auch Peetz, S., »Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität«, Frankfurt a.M. 1995. 9 Vgl. zur klassischen Lösung dieses Problems durch die Privationstheorie des Bösen die ertragreiche Studie von Schäfer, C., »Unde malum? Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius«, Würzburg 2002. 296 Jens Halfwassen Schelling löst das Problem dadurch, dass er als Grund der Möglichkeit des Bösen und damit zugleich der menschlichen Freiheit ein Moment in Gott ansetzt, das zwar ein konstitutives Moment Gottes, das aber gleichwohl nicht Gott selbst ist. Dieses Moment in Gott, „was in Gott selbst nicht Er Selbst ist“, 10 nennt Schelling den „Grund“ in Gott, den er von Gott als Existierendem unterscheidet, der aber zugleich als Grund der Existenz Gottes von Gott unabtrennbar ist; für diese Unterscheidung von Grund und Existenz in Gott beruft sich Schelling auf die traditionelle Bestimmung Gottes als ‚causa sui‘, die als Selbstbegründung zugleich eine Selbstunterscheidung in Gott selber impliziert. 11 Den Grund denkt Schelling als das erste Moment innerhalb der trinitarischen Selbstkonstitution Gottes und zugleich - da die Welt die Selbstexplikation Gottes ist - als das erste Prinzip der Weltbegründung, die „erste Potenz“ des weltbegründenden Absoluten. Schelling unterscheidet seit seiner Frühzeit drei derartige Potenzen, die er gleichermaßen als Wesensmomente Gottes wie als Prinzipien der Weltbegründung denkt. 12 In der »Freiheitsschrift« entwickelt er die trinitarische Selbstvermittlung des Absoluten in drei Stufen, in denen jeweils dem Geist als dem Moment der Einheit in dieser Selbstvermittlung die Schlüsselrolle zufällt. Die erste und grundlegende Stufe ist die Selbstvermittlung des vor- und überweltlichen Gottes in sich, womit Schelling die christliche Trinitätsspekulation aufnimmt, die er durch die Prinzipientriade aus Platons »Philebos« auslegt. Das erste Moment der göttlichen Selbstvermittlung ist für Schelling der Grund, der als reine Spontaneität, und d.h. als reines Aus-sich-Hervorbringen, Realität überhaupt setzt, dabei aber als solcher noch völlig unbestimmt bleibt; er entspricht damit Platons Prinzip des ‚apeiron‘. Das zweite Moment ist die Existenz in Gott, die Pla- 10 Schelling, F. W. J., »Freiheitsschrift«, SW VII, 359. 11 Vgl. Schelling, F. W. J., »Freiheitsschrift«, SW VII, 357-360. - Vgl. zur Herkunft des Gedankens Beierwaltes, W., »Causa sui. Plotins Begriff des Einen als Ursprung des Gedankens der Selbstursächlichkeit«, in: ders., Das wahre Selbst, Frankfurt a.M. 2001, 123-159. 12 Schelling gewinnt seine drei Potenzen bereits in seinem Kommentar zu Platons »Timaios« von 1794 durch eine spekulative Deutung der drei Prinzipien des ‚apeiron‘, des ‚peras‘ und des ‚nous‘ (als der Einheit von ‚apeiron‘ und ‚peras‘) aus Platons »Philebos« (15a ff., 23c-27c), vgl. Schelling, F. W. J., »Timaeus (1794)«, hg. v. H. Buchner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, 27-29, 35-37, 61-63 u.ö.; vgl. dazu Bubner, R., »Die Entdeckung Platons durch Schelling«, in: Neue Hefte für Philosophie 35 (1994), 32-55; ders., »Innovationen des Idealismus«, Göttingen 1995, 9-31. Freiheit als Transzendenz 297 tons begrenzendem Prinzip entspricht: dies ist die Idee als der Inbegriff reiner Bestimmtheit, die sich als das eigentlich oder wahrhaft Seiende zum ‚kosmos‘ der Ideen differenziert und damit im Sinne des christlichen Platonismus der die Welt bestimmende ‚logos‘ ist; der Logos setzt aber die ursprüngliche Seinssetzung durch den spontan aus sich hervorbringenden Grund immer schon voraus und ist so erst das Zweite. Gott ist ‚Er Selbst‘ aber erst als die Einheit der spontan hervorbringenden Kraft des Grundes und der reinen Seinsbestimmtheit der Idee; diese Einheit ist der ‚nous‘, der Geist als das dritte Moment der Trinität, in dem produktive Spontaneität und ideenhafte Bestimmtheit vereint sind. Als Geist kehrt Gott aus seiner Selbstunterscheidung in Grund und Existenz in die Einheit zurück und ist als erfüllte Selbstvermittlung und Selbstbeziehung zuallererst wahrhaft Gott. Die zweite Stufe der göttlichen Selbstoffenbarung ist sodann die Kosmogonie, die Schelling als das Auseinandertreten der Momente Gottes zu eigenständiger Wirksamkeit denkt. Dieses Auseinandertreten der Momente des Grundes, der Idee oder des ‚logos‘ und des Geistes zu eigenständigen weltbestimmenden Prinzipien und Mächten ergibt sich aber gerade aus ihrer vorweltlichen Einheit in Gott als Geist, da zum Geist gehört, dass er sich in einem von ihm verschiedenen Anderen manifestiert. Dieses Andere des Geistes ist die Welt, die nur als von Gott verschiedene der Schauplatz seiner Offenbarung und Selbstoffenbarung sein kann. Die Verschiedenheit der Welt von Gott entspringt dem, was in Gott nicht Gott selbst ist, also dem Grund, der als das ursprünglich Welt setzende Prinzip den Charakter des Platonischen Materialprinzips aus dem »Timaios« annimmt. 13 Dieses Materialprinzip ist als das Worin des Werdens kein bloß passiv aufnehmender Stoff, sondern das wirkende Prinzip der Veränderung und der Individuation aller Weltwesen. 13 Vgl. Schelling, F. W. J., »Freiheitsschrift«, SW VII, 360: „So also müssen wir die ursprüngliche Sehnsucht uns vorstellen, wie sie zwar zu dem Verstande sich richtet, den sie noch nicht erkennt, wie wir in der Sehnsucht nach unbekanntem namenlosem Gut verlangen, und sich ahndend bewegt, als ein wogend wallend Meer, der Materie des Platon gleich, nach dunklem ungewissem Gesetz, unvermögend etwas Dauerndes für sich zu bilden.“ Schelling bezieht sich hier auf Platon, Tim. 52d-53b. Vgl. zum Strebecharakter des platonischen Materialprinzips Krämer, H. J., »Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin«, Amsterdam 1967, 2. Aufl., 326-329; Happ, H., »Hyle. Studien zum aristotelischen Materiebegriff«, Berlin/ New York 1972, 203-208. 298 Jens Halfwassen Schelling deutet es mit Plutarch als ursprunghafte Lebendigkeit, die spontan hervorbringt, das Hervorgebrachte aber sogleich wieder in sich verschließt und damit Züge einer irrational dämonischen Macht annimmt. 14 Zur Entstehung einer gestalteten und geordneten Welt kommt es darum erst dadurch, dass der göttliche ‚logos‘ die ihm innewohnenden Ideen in die unbestimmt fluktuierende Lebendigkeit jener Urmaterie hineinbildet und dadurch ans Licht und zur Entfaltung bringt, was in ihr verborgen ist. Dieses Zusammenwirken der spontan produzierenden Kraft des Grundes und der Gestalt gebenden und entfaltend aufschließenden Kraft der Idee ist nur möglich auf Grund der Einheit dieser beiden Prinzipien im Geist; es ist darum der Geist, der die Welt als frei schaffender, allmächtiger Wille erschafft, um sich in ihr als frei über sich hinausgehende, sich mitteilende Güte oder Liebe zu offenbaren. Der Geist kann in seiner Einheit aber nur in einem Wesen offenbar werden, das selber Geist ist und das somit als die Identität der Spontaneität des Grundes mit der Bestimmungskraft der Idee wie Gott selber geisthafter Wille ist, der sich frei zu sich selbst bestimmt: Dies ist der Mensch. Die dritte Stufe der göttlichen Selbstoffenbarung ist darum die Geschichte, in der sich die Selbstbestimmung des menschlichen Geistes als Wille vollzieht und die darum anders als die von Notwendigkeit bestimmte Natur eine Geschichte der Freiheit ist. Für Schelling ist im Menschen, anders als in allen Naturwesen, der Grund mit der Idee nicht bloß in einer bestimmten Konfiguration verbunden, sondern beide Prinzipien sind in der Einheit des Geistes zu vollkommener Identität verschmolzen. 15 Wie jedes Naturwesen ist auch der Mensch kraft des Grundes ein in sich zentriertes, selbstständiges Individuum, das kraft der Idee ein sich entfaltendes, über seinen jeweiligen Zustand hinausgehendes Leben hat. Der Mensch realisiert in dieser Entfaltung aber nicht bloß einen Ausschnitt aus der Wesensfülle der Ideen, sondern den ‚logos‘ selbst als die ganze Fülle der Ideen. Darum ist das zum ‚logos‘ aufgeschlossene menschliche Selbst anders als 14 Vgl. zu Plutarchs Deutung der platonischen Materie als einer irrationalen Urseele, die für Plutarch die Grundlage der Weltschöpfung ist, Deuse, W., »Untersuchungen zur mittelplatonischen und neuplatonischen Seelenlehre«, Mainz/ Stuttgart 1983, bes. 12-27. 15 Vgl. - auch zum Folgenden - »Freiheitsschrift«, SW VII, 363f. Dazu auch Halfwassen, J., »Die Bestimmung des Menschen in Schellings „Freiheitsschrift“«, in: „Aktive Gelassenheit“. Festschrift für Heinrich Beck, hg. v. E. S. Kim, E. Schadel, U. Voigt, Frankfurt a.M./ Bern 1999, 503-515. Freiheit als Transzendenz 299 das aller Naturwesen auch nicht bloß individuell, sondern selbst logoshaft und geistig, d.h. fähig zum freien Hinausgehen über seine individuelle Besonderheit und Begrenztheit im vernünftigen Ausgriff auf das Ganze der Wirklichkeit. Auf dieser Geistigkeit beruht die Freiheit des Menschen. Sie ist aber noch nicht die spezifisch menschliche Freiheit. Das Spezifische der menschlichen Freiheit besteht vielmehr darin, dass im Menschen das Verhältnis von ‚logos‘ und Selbst selber ein frei bestimmtes ist: „das Band der Principien in ihm ist kein nothwendiges, sondern ein freies“, 16 so Schelling. An sich ist in der Einheit des Geistes der ‚logos‘ als Inbegriff der Ideen das Bestimmende und das dem Grund entsprungene Selbst das Bestimmte. Schelling nennt dieses Verhältnis der Prinzipien den Universalwillen, der sich von der Allgemeinheit des ‚logos‘ bestimmen lässt. Der Mensch ist aber frei, dieses Verhältnis der Prinzipien in sich umzukehren, also sein individuelles, begrenztes Selbst in sich bestimmend werden zu lassen und ihm den ‚logos‘ als eine bloß noch instrumentelle Vernunft unterzuordnen. Eine solche Verkehrung der Prinzipien nennt Schelling den Partikularwillen und bestimmt sie als das Wesen des Bösen. 17 In einer solchen Prinzipienverkehrung, in der Selbst und Logos die Rollen vertauschen, wendet sich der Geist gleichsam gegen sich selbst und verfehlt sein eigentliches Wesen, das gerade auf der Allgemeinheit des Logos beruht. Die Möglichkeit zu solcher Verkehrung und Selbstverfehlung liegt aber unaufhebbar in der Freiheit des Menschen. Der Mensch bleibt auch als Partikularwille Geist; er bleibt bestimmt durch das Hinausgehen der Vernunft über jede naturhafte Begrenzung im Ausgriff auf das Ganze. Aber gerade diesen vernünftigen Ausgriff auf das Ganze stellt der Partikularwille in den Dienst der Eigensucht seines begrenzten Ego. - Die spezifisch menschliche Freiheit liegt also für Schelling darin, dass der Mensch sich frei dazu bestimmen muss, entweder die Allgemeinheit der Vernunft oder den Eigenwillen seines individuellen Selbst zur Maxime seiner Handlungen und zum bestimmenden Prinzip seines Lebens zu machen; darin besteht seine Freiheit zum Guten oder zum Bösen. 16 Schelling, F. W. J., »Freiheitsschrift«, SW VII, 374. 17 Vgl. ebd., bes. 365. 300 Jens Halfwassen III. Den Gedanken einer absoluten Freiheit in Absetzung von dieser spezifisch menschlichen Freiheit entwickelt Schelling in der »Freiheitsschrift« noch nicht, sondern erst in den »Weltalter«-Fragmenten. Doch den entscheidenden Ansatz dazu enthält schon die »Freiheitsschrift«: nämlich die Transzendenz des Absoluten. Schelling deckt sie als die Voraussetzung des Potenzenverhältnisses auf und er argumentiert dabei genuin henologisch. Als Selbstbestimmung beruht Freiheit auf dem Verhältnis der Prinzipien des spontan produzierenden Grundes und der bestimmenden Idee, und zwar genauer auf der Identität dieser Prinzipien im Geist. Gerade diese Identität der an sich ja entgegengesetzten Prinzipien bedarf aber selber eines Grundes. Der Einheitsgrund, der das Verhältnis der Potenzen ursprünglich ermöglicht, kann aber nicht der Geist sein; denn die Identität von Grund und Idee setzt deren Unterschied ja schon voraus. Jede Unterscheidung aber setzt ihrerseits eine allem Unterschied ursprünglich vorgängige Einheit voraus: die reine Einheit, in der kein Unterschied mehr ist und die darum den Potenzen und ihren Verhältnissen transzendent bleibt. So schreibt Schelling: „[E]s muß vor allem Grund und vor allem Existirenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen seyn; wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen Gegensätzen vorhergeht, so können diese in ihm nicht unterscheidbar noch auf irgend eine Weise vorhanden seyn. Es kann daher nicht als die Identität, es kann nur als die absolute Indifferenz beider bezeichnet werden. […] Die Indifferenz ist nicht ein Produkt der Gegensätze, noch sind sie implicite in ihr enthalten, sondern sie ist ein eignes von allem Gegensatz geschiedenes Wesen, an dem alle Gegensätze sich brechen, das nichts anderes ist als eben das Nichtseyn derselben, und das darum auch kein Prädicat hat als eben das der Prädicatlosigkeit, ohne daß es deswegen ein Nichts oder ein Unding wäre.“ 18 Diese absolute Priorität der reinen Einheit der Indifferenz ist das henologische Fundament der Freiheit. Der Terminus ‚Ungrund‘ stammt aus der Theosophie Jacob Böhmes; Schelling setzt ihn ein, um auszudrücken, dass die reine Einheit der Indifferenz ursprünglicher ist, selbst als der Grund, die erste Potenz. Das Absolute ist somit nicht selber Moment innerhalb der Relationalität der Potenzen, auch nicht deren 18 Ebd., 406. Freiheit als Transzendenz 301 Ganzheit, sondern deren transzendenter Ursprung, dem die Potenzen ihre relationale Einheit im Geist verdanken. Mit dieser Begründung der Selbstvermittlung des Geistes in einem transzendenten Prinzip unterschiedslos einfacher Einheit nimmt Schelling, unbeschadet seiner Kritik am Emanationsgedanken, die Grundkonstellation der Metaphysik Plotins auf. 19 Schellings Anknüpfung an Plotin wird noch deutlicher, sobald er die Transzendenz des Absoluten genauer expliziert. Bereits im ersten »Weltalter«-Druck von 1811 spricht Schelling nämlich mit Berufung auf die Tradition - und zwar unverkennbar die des Platonismus - die Seinstranszendenz des Absoluten aus: „Es ist nur Ein Laut in allen höheren und besseren Lehren, daß das Seyn schon ein tieferer Zustand des Wesens, und daß sein urerster unbedingter Zustand über allem Seyn ist.“ 20 Schelling erläutert dies ganz im Sinne von Platons Gleichsetzung des Guten mit dem Einen: „Wir haben sonst das Höchste ausgesprochen als die wahre, die absolute Einheit von Subjekt und Objekt, da keins von beyden und doch die Kraft zu beyden ist. […] Ihr Wesen ist nichts als Huld, Liebe und Einfalt“ - Einfalt im Sinne von reiner, unterschiedsloser Einfachheit, Huld und Liebe aber, weil die reine Einfachheit sich allem Seienden neidlos mitteilt: „Sie ist im Menschen die wahre 19 Vgl. zu Plotin Beierwaltes, W., »Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3. Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen«, Frankfurt a.M. 1991. - Zum Verhältnis von Neuplatonismus und Idealismus speziell hinsichtlich des Verhältnisses von Geist und absolutem Einen vgl. Halfwassen, J., »Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung«, Hamburg 2005, 2. Aufl. 20 Schelling, F. W. J., »Die Weltalter. Fragmente«, hg. v. M. Schröter, München 1993 (= »Weltalter«), 4. Aufl., I, 26. - Vgl. zum Übersein des Absoluten bei Schelling Beierwaltes, W., »Platonismus und Idealismus«, 80ff., 111ff. (Anm. 7); ders., »Plotins Gedanken in Schelling«, spez. 205f. (mit zahlreichen weiteren Belegstellen), (Anm. 7). - Zu Schellings Spätphilosophie, die von dieser Konzeption eines transzendenten, überseienden Absoluten ausgeht, bleibt grundlegend Schulz, W., »Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings«, Pfullingen 1975 (= Schulz), 2. Aufl. - Zur neuplatonischen Konzeption der absoluten Transzendenz des Einen und zu ihrer Herkunft von Platon und Speusipp vgl. Halfwassen, J., »Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin«, München/ Leipzig 2006, 2. erw. Aufl. - Ausgesprochen hat die Seinstranszendenz des Absoluten als erster Platon, resp. 509b; Parm. 141e; Test. Plat. 50 Gaiser (Speusipp). Vgl. zu Platons Gleichsetzung des Guten mit dem Einen Aristoteles: Metaph. XIV 4, 1091 b 13-15; Eth. Eud. I 8, 1218 a 15-30. 302 Jens Halfwassen Menschheit, in Gott die Gottheit.“ 21 Denn jedes Seiende ist das, was es ist, nur kraft der Einheit, die es dem Übersein verdankt, das Schelling genau wie Plotin sogar „Nichts“ nennt. 22 Die Selbstmitteilung des Einen entspringt gerade seiner überseienden Nichtigkeit, die zugleich absolute Fülle ist, wie Schelling durch eine Methodenreflexion deutlich macht: „Die Bedeutung der Verneinung ist allgemein eine sehr verschiedene, je nachdem sie auf das Innere oder Aeußere bezogen wird. Denn die höchste Verneinung im letzten Sinn muß Eins seyn mit der höchsten Bejahung im ersten.“ 23 Gerade auf Grund seiner inneren Überfülle also kann das Eine keine Eigenschaften, keine ihm zukommenden Bestimmungen und Prädikate haben. Die Negation aller Prädikate meint so die reine Transzendenz dessen, dem sie abgesprochen werden; was Schelling intendiert, ist also eine transzendierende Negation im Sinne von Plotin und Proklos. 24 Ebenso wie für Plotin, Proklos und Pseudo- Dionysius Areopagita ist das überseiende Eine auch für Schelling nicht Gott, sofern Gott trinitarisch sich zu sich selbst vermittelnder Geist ist: „Daher wir <gewagt>, jene Einfalt des Wesens über Gott zu setzen, wie schon einige der Aelteren von einer Ueber-Gottheit geredet“. 25 21 Schelling, F. W. J., »Weltalter«, I, 28. 22 Ebd., I, 26f.: „Den meisten, weil sie jene höchste Freyheit nie empfanden, scheint es das Höchste, ein Seyendes oder Subjekt zu sein; daher fragen sie: was denn über dem Seyn gedacht werden könne? und antworten sich selbst: Das Nichts, oder dem Aehnliches. Ja wohl ist es ein Nichts, aber wie die <lautere> Freyheit ein Nichts ist […]“ Vgl. Plotin, Enn. III 8, 10, 28 (Creuzer hatte diese Schrift Plotins 1805 ins Deutsche übersetzt, Schelling hat sich Exzerpte aus ihr gemacht, vgl. Beierwaltes, W., »Platonismus und Idealismus«, 103f.). 23 Schelling, F. W. J., »Weltalter«, I, 27. 24 Vgl. zur Negation als Ausdruck der Transzendenz Beierwaltes, W., »Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik«, Frankfurt a.M. 1979, 2. erw. Aufl., 339- 366, bes. 348-357. - Vgl. zu Hegels Versuch einer spekulativen Aufhebung der negativen Theologie Halfwassen, J., »Hegels Auseinandersetzung mit dem Absoluten der negativen Theologie«, in: Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen „Subjektiven Logik“, hg. v. A. F. Koch, A. Oberauer, K. Utz, Paderborn 2003, 31-47. 25 Schelling, F. W. J., »Weltalter«, I, 28f. Schelling bezieht sich damit wohl auf Pseudo-Dionysius Areopagita, De div. nom. IV 1; XI 6 (diese Stelle ist zitiert bei dem von Schelling oft benutzten Gerhard, J., »Locorum Theologicorum Tomus Tertius«, Tübingen 1764, 72), XIII 3; De myst. theol. I 1. Dass das überseiende Absolute mehr als Gott ist, formuliert schon Plotin, Enn. VI 9, 6, 12-16 (Auszüge aus VI 9 fand Schelling in Windischmanns „Stellen aus Plotinos“); ebenso Proklos, in: Parm. 1108, 29-1109, 7 Cousin u.ö. Freiheit als Transzendenz 303 Inwiefern ist aber die Transzendenz des Einen die letzte Begründung der Freiheit? Und wieso kann sie selber als absolute Freiheit begriffen werden? Die Antwort auf beide Fragen ergibt sich aus Schellings eigenwilliger Argumentation für das Übersein, die nicht leicht zu durchschauen ist und nur von der Potenzenlehre der »Freiheitsschrift« her einleuchtet. Schelling sagt nämlich: „Einem jeden von uns wohnt das Gefühl bey, daß Die Nothwendigkeit dem Seyn als sein Verhängniß folgt.“ 26 Gemeint ist wohl Folgendes: das ursprünglich Sein setzende Prinzip ist der Grund, der als blind produzierende Kraft für sich das Gegenteil vernünftiger Freiheit, nämlich wie Platons Materie blinde, bewusstlose Notwendigkeit, ‚ananke‘, ist; kraft seiner Herkunft aus dem Grund folgt dem Sein darum die Notwendigkeit als ein Verhängtes, also ein der freien Wahl Entzogenes. Dass ich existiere, ist kein Akt meiner Freiheit, sondern ich muss mein Sein als ein unvorgreiflich vorgegebenes Faktum oder Fatum hinnehmen. Für den späten Schelling wird genau dies ein entscheidender Einwand gegen Hegel, dessen autonome Selbstbegründung der Vernunft, wie sie seine Logik intendiert, in Schellings Augen zum Scheitern verurteilt ist. 27 Aus dem Notwendigkeitscharakter des Seins folgt zugleich, dass allem Seienden immer nur eine eingeschränkte, aber keine absolute Freiheit möglich ist. Auch die ‚sua sponte‘ vollzogene Selbstentfaltung, durch die sich die Wesensfülle des ‚logos‘ im Seienden realisiert, ist kein reines Freiheitsgeschehen. Denn durch diese vom Logos bestimmte Entfaltung kommt Schelling zufolge nur ans Licht und zur Aktualität, was in der Unbestimmtheit des Grundes ‚implicite‘ und im Modus der Möglichkeit schon enthalten war. Der Grund ist keine leere Projektionsfläche der Ideen, sondern er enthält die Totalität aller Ideen schon in sich, nur unaufgeschlossen und verborgen. 28 Die Entfaltung des Seienden zur Aktualität seines vollen Wesens erfolgt darum zwar spontan, aber kraft einer ontologischen Intentionalität, die aller Selbstbestimmung vorausgeht und ihr gerade als ihre Ermöglichung ewig entzogen bleibt, so dass 26 Schelling, F. W. J., »Weltalter«, I, 26. 27 Vgl. dazu Schulz (Anm. 20), passim; ferner z. B. Frank, M., »Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik«, Frankfurt a.M. 1975, bes. 135-154; Theunissen, M., »Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings«, in: Philosophisches Jahrbuch 83 (1976), 1-29; ders., »Die Idealismuskritik in Schellings Theorie der negativen Philosophie«, in: Ist systematische Philosophie möglich? , hg. v. D. Henrich, Bonn 1977, 173-191. 304 Jens Halfwassen Schelling sagen kann: „Wollen ist Urseyn“. 29 Eben diese Intentionalität des Seins ist für Schelling nun aber Ausdruck eines Mangels: die unaufgeschlossene Latenz des Grundes hält es bei sich nicht aus, sie muss über sich hinaus. Das Seiende ist auf Grund des Grundes nicht frei, sich zu entfalten oder nicht zu entfalten: „[A]lles Seyende hat den Stachel des Fortschreitens, des sich Ausbreitens in sich, Unendliches ist in ihm verschlossen, das es aussprechen möchte“, 30 so Schelling. Dies ist das Wesensgesetz alles Seienden. Auch die bewusste Selbstbestimmung des Geistes vollzieht sich immer schon eingelassen in ein Entfaltungsgeschehen, über das der Geist nicht Herr ist, weil es allem bewussten Beisichsein zuvor immer schon in Gang gesetzt ist. Reflexives Zusichkommen setzt somit ein Seinsgeschehen voraus, das nicht die Reflexion, sondern die blinde, unbewusste Intentionalität des Grundes in Gang setzt und in Gang hält. Für Schelling folgt daraus: „Nur über dem Seyn wohnt die wahre, die ewige Freyheit. Freyheit ist der bejahende Begriff der Ewigkeit oder dessen, was über aller Zeit ist.“ 31 „Ewigkeit“ heißt das überseiende Eine vor dem Hintergrund des ontologischen Zeitkonzepts der »Weltalter«, das Zeit nicht als Verlaufsform von Naturprozessen oder Bewusstseinsströmen versteht, sondern als das Ganze jenes Entfaltungsgeschehens, durch das sich das Seiende aus der Verschlossenheit des Grundes zu sich und zu seiner Erfüllung im Geist vermittelt. Als Einheitsgrund der dieses Entfaltungsgeschehen konstituierenden Potenzen ist das Eine darum in keiner Zeit, sondern Ewigkeit über aller Zeit. Der positive Begriff dieses allein Überzeitlichen und Überseienden ist Schelling zufolge Freiheit, aber freilich nicht Freiheit im Sinne des sich reflexiv selbst bestimmenden Willens, des Geistes. Freiheit ist das Absolute vielmehr gerade auf Grund seiner Überseiendheit, durch die es dem Ganzen des Geschehens der Seinsentfaltung entnommen ist, das durch den blinden Grund initiiert und in Gang gehalten wird. Weil alles Sein sich zuletzt der blinden Notwendigkeit des Grundes verdankt, darum ist absolut frei allein das, was 28 Vgl. Schelling, F. W. J., »Freiheitsschrift«, SW VII, 361: „Weil nämlich dieses Wesen […] nichts anderes ist als der ewige Grund zur Existenz Gottes, so muß es in sich selbst, obwohl verschlossen, das Wesen Gottes [d.h. die Einheit aller Ideen] gleichsam als einen im Dunkel der Tiefe leuchtenden Lebensblick enthalten.“ 29 Ebd., 350. 30 Schelling, F. W. J., »Weltalter«, I, 26 - ähnlich Plotin, Enn. IV 8, 6, 6-16. 31 Schelling, F. W. J., »Weltalter«, I, 26. Freiheit als Transzendenz 305 über allem Sein ist. Absolute Freiheit meint also keine Erfüllung einer Intention, mithin kein Wollen, sondern gerade umgekehrt das Freisein von aller Intentionalität. Schelling erläutert das an der Paradoxie eines nicht-wollenden Willens: die lautere Freiheit ist ein Nichts, „wie der Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist Nichts und ist Alles. Er ist Nichts, in wie fern er weder selbst wirkend zu werden begehrt, noch nach irgend einer Wirklichkeit verlangt. Er ist Alles, weil doch von ihm als der ewigen Freyheit allein alle Kraft kommt, weil er alle Dinge unter sich hat, alles beherrscht und von keinem beherrscht wird.“ 32 Absolute Freiheit ist hier also nicht mehr als Selbstbestimmung gedacht, sondern als Freiheit von aller Bestimmtheit und eben darum auch zu aller Bestimmtheit. Diese Freiheit von aller Bestimmtheit ist aber keine Leere, sondern vielmehr die absolute Erfüllung, die gerade als absolute ohne reflexives Beisichsein und darum auch ohne Wissen von sich ist, wie Schelling deutlich macht: „Es ist die reine Frohheit in sich selber, die sich selbst nicht kennt, die gelassene Wonne, die ganz erfüllt ist von sich selber und an nichts denkt, die stille Innigkeit, die sich freut ihres nicht Seyns.“ 33 Die zuletzt zitierte Formulierung macht zugleich deutlich, dass die absolute Freiheit in sich selbst Tätigkeit ist, aber eine reine oder absolute Tätigkeit, die gerade als absolute ohne ein Tätiges, ohne ein Subjekt ist, das sich in dieser Tätigkeit bestimmt. Diese absolute Tätigkeit hat darum, wie Walter Schulz zu Recht betont hat, auch nicht mehr den Charakter der Subjektivität, sondern sie ist das, was die Subjektivität zu ihrer tätigen Selbstvermittlung zuallererst ermächtigt. 34 Die von ihr ermächtigte Selbstvermittlung aber ist gerade aufgrund ihrer reflexiven Struktur keine reine, sondern nur noch eine derivierte Freiheit. 32 Ebd., I, 27. - Vgl. zum Einen als Nichts und Allem in diesem Sinne Plotin, Enn. V 2, 1, 1-7, III 9, 4. 33 Ebd., I, 28. 34 Vgl. Schulz (Anm. 20), 52-72 und passim. 306 Jens Halfwassen IV. Ich komme damit zu der Abschlussgestalt, die Schellings Gedanke der absoluten Freiheit in seiner späten »Philosophie der Offenbarung« annimmt. Die im »Weltalter«-Fragment von 1811 vollzogene Grundlegung der absoluten Freiheit im Übersein und damit das Verständnis von absoluter Freiheit als Transzendenz bleibt dabei systematisch maßgebend. Subjektivität, Sich-Wissen, Selbstbewusstsein, das durch seine Tätigkeit zu sich kommt, bestimmt darin sich selbst und ist so zwar frei, es kommt zu sich selber aber nur durch jenes ontologische Entfaltungsgeschehen, über das das Selbstbewusstsein nicht Herr ist. Es ist darum nicht frei, sich selbst zu setzen oder nicht zu setzen, sondern es muss sich in und vor aller Selbstbestimmung immer schon als ein bereits Existierendes hinnehmen, es hat anders gesagt nur sein Was-Sein als ein selbstbestimmtes, sein Dass-Sein, das Faktum seiner Existenz, aber als ein unvordenklich vorgegebenes. Dagegen ist das absolute Eine gerade zufolge seiner Transzendenz über das Sein frei, das Sein zu setzen oder nicht zu setzen. Und in dieser Freiheit, das Sein zu setzen oder nicht zu setzen, ist es „Herr des Seyns“, 35 d.h. Herr über den theogonischen und kosmogonischen Prozess der Seinsentfaltung. Als die reflexionslos in sich wesende, seinslose reine Tätigkeit, die alle Selbstvermittlung allererst zu ihr selbst ermächtigt, ist das Eine auch über diese Ermächtigung selber noch mächtig, es ist frei, die Selbstvermittlung der Subjektivität zu ermächtigen oder nicht. Absolute Freiheit meint so ein Doppeltes: erstens das Herausgenommensein aus dem Entfaltungszusammenhang des Seins im Ganzen; zweitens die freie Macht, diesen Entfaltungszusammenhang in seiner Totalität zu setzen oder nicht zu setzen. Diese freie, weil durch nichts, auch nicht durch sich selbst, bestimmte Mächtigkeit zur Setzung des Seinszusammenhangs ist selber kein Setzen, sondern reiner Überschwang, „absolute Transscendenz“, wie Schelling immer wieder sagt. 36 Erst dies ist die absolute Freiheit. 35 Vgl. z.B. SW X, 260-263; SW XI, 564, 571; SW XII, 33; SW XIII, 160, SW XIV, 350 u.ö. - Analog dazu ist Platons Benennung des Einen als „König von Allem“ (Ep. II 312e1-2) und der mit dem Einen identischen Idee des Guten als „Herrin, die Wahrheit und Geist gewährt“ (resp. 517c4). 36 Vgl. SW XIII, 128, 132, 165, 215, 240, 256. Freiheit als Transzendenz 307 Diese absolute Freiheit der Transzendenz ist zugleich der absolute Ursprung der Freiheit der Selbstbestimmung. Denn das Übersein ermächtigt in einem Akt unvordenklicher und unvorgreiflicher Freiheit die Potenzen zu ihrer relationalen Einheit und damit zur prozessualen Entfaltung des Seins. Der letzte Grund der menschlichen Freiheit ist somit nicht der Grund, sondern jener Urgrund oder ‚Ungrund‘, dessen erste, unbestimmteste und in jedem Sinne des Wortes vorläufigste Manifestation der Grund selber ist. Als Freiheit aber manifestiert sich der überseiende Urgrund nicht im Grund und auch nicht im ‚logos‘, sondern erst in der freien Selbstbestimmung des Geistes. Der »Freiheitsschrift« zufolge ist der Geist frei, weil in ihm das dem Grund entsprungene Selbst selber zum ‚logos‘ aufgeschlossen und dadurch von der blinden Notwendigkeit des Grundes befreit ist; genau dies macht den Geist zur Person. 37 Als das ermächtigende Prinzip dieser geistigen Freiheit der Person kann Schelling das überseiende Absolute darum auch den „absolut freie[n] Geist“ und die „absolute Persönlichkeit“ nennen. 38 „Absoluter Geist“ und „absolute Persönlichkeit“ sind analoge oder metaphorische Benennungen des Absoluten, welche die Negativität und Unbestimmbarkeit seiner Transzendenz nicht aufheben. Denn die Freiheit dieses absoluten Geistes besteht für Schelling gerade in seiner Transzendenz über sein eigenes Geist-Sein: „Der absolute Geist ist der auch von sich selbst, von seinem als Geist-Sein wieder freie Geist; ihm ist auch das Geist Seyn nur wieder eine Art oder Weise des Seyns; - dies, auch an sich selbst nicht gebunden zu seyn, gibt ihm erst jene absolute, jene transscendente, überschwengliche Freiheit, deren Gedanke […] erst alle Gefässe unseres Denkens und Erkennens so ausdehnt, daß wir fühlen, wir sind nun bei dem Höchsten, wir haben dasjenige erreicht, worüber nichts Höheres gedacht werden kann. - - Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit, diese wollen wir als letzte Ursache aller Dinge.“ 39 37 Vgl. SW VII, 364: „Das aus dem Grunde der Natur emporgehobene Princip, wodurch der Mensch von Gott geschieden ist, ist die Selbstheit in ihm, die aber durch ihre Einheit mit dem idealen Princip Geist wird. Die Selbstheit als solche ist Geist, oder der Mensch ist Geist als ein selbstisches, besonderes (von Gott geschiedenes) Wesen, welche Verbindung eben die Persönlichkeit ausmacht.“ 38 Vgl. Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung 1841/ 42 (= »Paulus- Nachschrift«)«, hg. v. M. Frank, Frankfurt a.M. 1993, 2. Aufl., 174-175; ders., »Urfassung der Philosophie der Offenbarung«, hg. v. W. E. Ehrhardt, Teilband 1, Hamburg 1992, 78-79. 308 Jens Halfwassen Gerade weil es nicht auf sich selbst bezogen ist, ist das Absolute frei, alles andere zu begründen, und zwar so zu begründen, dass es dies andere zu seiner eigenen Freiheit und Selbstbestimmung ermächtigt. In seiner absoluten Freiheit ist das transzendente Absolute der Befreier des anderen. Darin liegt seine Bedeutung für unsere Freiheit. Kraft des Überseins sind wir frei und darum auch frei, nicht nur auf uns selbst bezogen, sondern auch für andere zu sein, indem wir frei über uns selbst hinausgehen. 39 SW XIII, 256. Vgl. die Formulierung in der Paulus-Nachschrift, 174: „Gott ist der absolut freie Geist, der auch über das, worin er Geist ist, sich schwingt, auch an sich als Geist nicht gebunden ist oder sich als Geist nur als eine Potenz von sich behandelt: das ist erst das Überschwengliche.“ (Bei Paulus kursiv). Damir Barbarić Schellings Potenzenlehre in seiner Philosophie der Mythologie Es scheint an diesem Ort angebracht zu sein, den Anfang der Überlegung mit einem längeren Zitat aus dem kurzen, im Jahr 1934 verfassten Text »Der Durchbruch zum antiken Mythos im XIX. Jahrhundert« des Tübinger Altphilologen Walter Friedrich Otto zu machen, wo er zunächst feststellt, „daß Schellings Philosophie der Mythologie für sie [sc. die Altertumswissenschaft] so gut wie wirkungslos geblieben ist“, um gleich fortzufahren: „Schellings nachgelassene Werke: ‚Die Weltalter‘, die schon 1812 erscheinen sollten, und die schon 1821 begonnenen Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie sind immer noch der großartigste Anlauf, dem Mythos auf seiner eigenen Höhe zu begegnen. An Schellings Gedanken, daß sich in der Geschichte der Mythenbildung die Kämpfe und Herrschaften der Weltwerdung nicht sowohl widerspiegeln, als vielmehr fortsetzen, können wir erst heute wieder anknüpfen. Als die genannten Schriften, in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, posthum erschienen, war die geistige Welt im Begriffe, den Sinn für echte Philosophie völlig zu verlieren. Die materialistische Entwicklungslehre setzte folgerichtig alles Primitive dem Unerfahrenen, Rohen und Geistlosen gleich. Ihr Fortschrittsoptimismus glaubte nicht, daß es einmal eine Menschenart mit anderen Interessen als denen des modernen Verstandesmenschen gegeben haben könne. Nur unwissender und ungeschickter als die Zeitgenossen sollte der Mensch, der Mythen und Kulte schuf, gewesen sein, aber genau so wie diese einzig darauf bedacht, die Ursachen aller Erscheinungen zu entdecken und der Verbesserung seines materiellen Lebens dienstbar zu machen. So wurde die Kulthandlung zu einem magischen Zwang, der den Lauf der Dinge zum Vorteil des Menschen meistern sollte, und für den Mythos blieb in einem 310 Damir Barbarić Zeitalter, dem die Poesie verlorenging, nur noch das Spiel dichterischer Willkür übrig. Seit dem Verblühen der Romantik, seit dem Verstummen der Philosophie Schellings und Hegels hat das 19. Jahrhundert bewunderungswürdige Einzelarbeit geleistet. Aber die Erkenntnis des Mythos hat es nicht mehr gefördert, so stolz auch seine Überzeugung war, mit diesem Probleme, wie mit vielen ähnlichen, ein für alle Male fertig geworden zu sein. Die Einordnung des Menschen in den mechanisch gedachten Entwicklungsprozeß der Natur hat zur Folge gehabt, daß der Begriff des Menschen als einer Wesensgestalt völlig verlorenging. Und damit war auch der Blickpunkt für den Mythos verloren.“ 1 Schellings Philosophie der Mythologie soll also ein bis heute nicht wirklich gehobener und kaum zur Kenntnis genommener Schatz an letzten und höchsten Wahrheiten sein. 2 Ist hier nicht wie auch sonst oft bei Otto eine zur Übertreibung neigende Neoromantik am Werk? Oder trifft seine Feststellung im Wesentlichen zu, abgesehen von der Form, in welcher sie zum Ausdruck gebracht wird? Es ist in der Tat nicht schwer, 1 Otto, W. F., »Die Gestalt und das Sein«, Darmstadt 1959, 2. Aufl., 221. 2 Vgl. die ähnliche Einschätzung bei Dekker, G., »Die Rückwendung zum Mythos. Schellings letzte Wandlung«, München und Berlin 1930, der in Schellings positiver Philosophie „eine Schatzkammer ausgereifter Weisheit“ sieht, „die im philosophischen Sinn eigentlich noch nicht genügend verwertet worden ist“ (S. 4). In der weiteren Ausführung zeigt sich aber, dass Dekker der Schellingschen Konzeption keineswegs vorbehaltlos zustimmt. Vgl. zum Beispiel den grundsätzlichen Einwand, in Bezug auf das Verhältnis zwischen Potenzenlehre und Mythos, S. 85: „Schelling tritt gar nicht voraussetzungslos an den Mythos heran, um ihn von seiner Eigengesetzlichkeit aus zu verstehen, sondern zwingt ihm sein dialektisches Schema auf, in der falschen Voraussetzung, daß ein geschichtlicher Prozeß wie der mythologische nach der Analogie eines metalogischen Prozesses wie die Potenzenlehre verstanden werden kann; sogar bei der damaligen Kenntnis des Mythos mußte sich diese Methode als ein Prokrustesbett erweisen. Zweifellos hat er sich andachtsvoll in diese jetzt im menschlichen Gemüt verschollene Welt des Mythos versenkt; daß ihm die dialektischen Lichtbündel seines Scheinwerfers von dieser Welt ein Zerrbild vorzauberten, rührt daher, daß er sich von den formalen Voraussetzungen des deutschen Idealismus nicht lossagen konnte.“ Immerhin wird am Ende der Untersuchung das Gleichgewicht wieder hergestellt, 208 f.: „Wie groß, wie wahr die Philosophie der Mythologie, bei aller Irrigkeit der Systematik, bei allen Mängeln inhaltlicher Ausführung, in ihrem Aufbau ist, das wird man erst allmählich wieder anerkennen können; denn immer deutlicher wird die große Linie vom Paradiese über die Mythologie zum heutigen Bewußtsein sichtbar werden. Die allerhellsten heutigen Mythologen stammeln erst wieder, was Schelling intellektual in voller Klarheit geschaut hat […].“ Schellings Potenzenlehre 311 sie zu bestätigen. Der Mythos blieb ja nach wie vor fast ausschließlich Gegenstand der positiven Wissenschaften, nicht mehr der Philosophie. Mit Ausnahme von Ernst Cassirer und einigen anderen wie etwa Karl Kerényi, Mircea Eliade, Jean-Piere Vernant sind fast alle Mythos-Forscher der zweiten Hälfte des 19. und des 20. Jahrhunderts in erster Linie von der Methode und Denkweise der Historie bestimmt worden. Auch Cassirer macht, trotz seiner vorbehaltlosen Anerkennung Schellings, wenig Gebrauch von den positiven Ergebnissen seiner mythologischen Überlegungen. Wo er ihn erwähnt, bezieht sich das meist auf die prinzipielle, eher formal-methodische Problematik einer Philosophie der Mythologie überhaupt. Von dem Sachlichen und Inhaltlichen bei Schelling ist Cassirers Untersuchung fast unberührt geblieben. Ähnliches passiert auch bei drei neueren Autoren, die vielleicht am meisten den heutigen philosophischen Zugang zum Mythos gefördert haben, nämlich bei Kurt Hübner, Hans Blumenberg und Georg Picht. Der erste zählt Schelling zusammen mit Hegel überraschenderweise zur transzendentalen Mythos-Deutung, von welcher er dann nur die Position Cassirers darstellt und ausdrücklich darauf verzichtet, auf die „bei Hegel und Schelling zu findende spekulative Variante“ dieser transzendentalen Deutung näher einzugehen. 3 Blumenberg erwähnt Schelling in seinem umfangreichen Buch immer nur nebenbei, so dass man fast den Eindruck hat, diese nur auf Marginales sich beziehende Rezeption sei nicht ohne Absicht. 4 Bei Picht ist dasselbe zu beobachten, obwohl seine hohe Wertschätzung Schellings durch nichts in Frage gestellt wird. Denn auch er unternimmt keinen Versuch, an Schellings Einsichten in irgendeiner Weise philosophisch anzuknüpfen. Schelling wird meistens als eine große Figur der Vergangenheit herangezogen, als Schmuck gleichsam, und immer nur zu dem Zweck, den eigenen Ansichten zusätzliche Überzeugungskraft zu verschaffen. 5 3 Hübner, K., »Die Wahrheit des Mythos«, München 1985, 86. 4 Blumenberg, H., »Arbeit am Mythos«, Frankfurt a. M. 1990, 5. Aufl.; man vgl. z. B. 650f. 5 Picht, G., »Kunst und Mythos«, Stuttgart 1986. Das fällt besonders an Stellen wie der folgenden auf: „Für jene antike Weisheit, die mit den Astralkulten des 2. Jahrtausends beginnt und erst mit dem Tod von Schelling unterging, ist die Stellung des Menschen in der Natur dadurch bestimmt, daß er das Mittelglied zwischen der übrigen Natur und den Göttern bildet. Wenn er das nicht weiß und sein Auge vor der Wahrheit der Götter verschließt, zerstört er sich selbst und alle Kreatur, die seiner unheimlichen Macht unterworfen ist.“ (518). 312 Damir Barbarić Manches spricht dafür, dass man heute, trotz aller Verlegenheit, die sich im verworrenen Ja und Nein zu den Fragen der so genannten Vernunftkritik kundgibt, immer noch weit entfernt steht vom Bedürfnis nach einem wahrhaften Wandel in der Philosophie. Dieser Wandel beträfe eine wirkliche Gedankenerweiterung und eine elementare Gerechtigkeit den Phänomenen gegenüber. Eben auf diese Grundbedingungen jeder reifen philosophischen Beschäftigung mit dem Phänomen Mythos besteht aber Schelling in den schönen Einleitungsworten zu seiner »Philosophie der Mythologie«: „Bei jeder Erklärung ist das Erste, daß sie dem zu Erklärenden Gerechtigkeit widerfahren lasse, es nicht herabdrücke, herabdeute, verkleinere oder verstümmle, damit es leichter zu begreifen sey. Hier fragt sich nicht, welche Ansicht muß von der Erscheinung gewonnen werden, damit sie irgend einer Philosophie gemäß sich bequem erklären lasse, sondern umgekehrt, welche Philosophie wird gefordert, um dem Gegenstand gewachsen, auf gleicher Höhe mit ihm zu seyn. Nicht, wie muß das Phänomen gewendet, gedreht, vereinseitigt oder verkümmert werden, um aus Grundsätzen, die wir uns einmal vorgesetzt nicht zu überschreiten, noch allenfalls erklärbar zu seyn, sondern: wohin müssen unsere Gedanken sich erweitern, um mit dem Phänomen in Verhältniß zu stehen.“ 6 Bringen wir also zunächst die Grundzüge der Schellingschen Mythosauffassung zur Darstellung und dies zum Zweck der Vorbereitung unserer zentralen Thematik. Erstens soll hervorgehoben werden, dass für Schelling die eigentliche Mythologie nichts anderes ist als Göttergeschichte. In der Mythologie hat das menschliche Bewusstsein mit den wirklichen, seienden göttlichen Gestalten zu tun. Mit dieser Ansicht setzt sich Schelling bewusst und ausdrücklich allen Versuchen entgegen, den Mythos aus der bloßen Naturvergötterung entspringen zu lassen. Diese Meinung, die unter dem Mythos in Wahrheit nur den „Fetischismus oder Schamanismus“ versteht, der sich „bei elenden Horden, entarteten Stämmen, nie bei Völkern“ 7 findet, setzt er seine grundlegende Überzeugung entgegen: „Nein, von solchem Elend ist die Menschheit nicht ausgegangen, der majestätische Gang der Geschichte hat einen ganz anderen Anfang, der Grundton im Bewußtseyn der Menschheit blieb immer jener große Eine, der noch seines Gleichen nicht kannte, der wirklich Himmel und Erde, d.h. Alles, erfüllte.“ 8 6 SW XII, 137. 7 SW XI, 178. Schellings Potenzenlehre 313 Dementsprechend kann Schelling auch die allgemeine Ansicht vom allmählichen Fortschritt der menschlichen Kultur nicht teilen, nach der Mythos ihre erste, anfängliche und primitive Stufe darstellt, die zunächst durch Religion, und dann endgültig durch Wissenschaft aufgehoben wird. Man kann zwar so etwas wie ein Fortschreiten annehmen, aber es geht „nicht, wie man meint, vom Kleinen ins Große, vielmehr umgekehrt macht überall das Große, Gigantische den Anfang“. 9 Damit im Einklang bestimmt Schelling die Absicht des ganzen Unternehmens seiner Vorlesung als einen Versuch, die Zuhörer „wieder auf jene uralten, jene Urgedanken zu leiten, die, wie die Urberge, an denen so viele Menschengeschlechter vorübergegangen sind, noch stehen werden, wenn so manche Gedanken, die nur von gestern sind, völlig verweht sein werden“. 10 Mythologie ist zweitens keine freie Erfindung des Menschen. Sie ist nichts Gemachtes, sondern etwas, was das Bewusstsein als ein Notwendiges erfährt und erlebt. Obwohl der mythologische Prozess sich nur im menschlichen Bewusstsein und in seinen Vorstellungen abspielt, ist er „nicht etwas bloß Vorgestelltes, sondern etwas, das sich wirklich ereignet“. 11 Die Götter der Mythologie sind keine frei erfundenen und erschaffenen Symbole, keine bloßen Allegorien. Sie sind wirkliche und im Bewusstsein lebendig wirkende Mächte. Diese zentrale Ansicht liegt Schellings berühmtem und immer wieder zitiertem Spruch zugrunde: „Die Mythologie ist nicht allegorisch, sie ist tautegorisch. Die Götter sind ihr wirklich existirende Wesen, die nicht etwas anderes sind, etwas anderes bedeuten, sondern nur das bedeuten, was sie sind.“ 12 8 Ebd. 9 SW XI, 239. 10 SW XII, 159. 11 SW XI, 247. 12 SW XI, 195f. Eben darin liegt der Hauptgrund für die grundsätzliche Anerkennung, die Schellings Philosophie der Mythologie bei Vollkmann-Schluck findet, trotz seiner offensichtlich vom gedanklichen Erbe Heideggers stark beeinflussten kritischen Vorbehalte. Vgl. Volkmann-Schluck, K.-H., »Mythos und Logos. Interpretationen zu Schellings Philosophie der Mythologie«, Berlin 1969, 14: „Mit der These von einer der Mythologie eigenen Wahrheit im Sinne der Notwendigkeit und Objektivität setzt Schelling sich allen bisherigen Auffassungs- und Erklärungsweisen entgegen, die sämtlich auf eine bloß subjektive Entstehungsweise hinauslaufen und die im äußersten Fall die Mythologie als eine entstellte Wahrheit nehmen.“ 314 Damir Barbarić Die Bewegung des Bewusstseins durch die aufeinander folgenden mythologischen Gestalten ist drittens eine solche, „an der Denken und Wollen, Verstand und Freiheit keinen Teil mehr haben. Das Bewußtsein ist in diese Bewegung unversehens, auf eine ihm jetzt selbst nicht mehr begreifliche Weise verwickelt. Sie verhält sich zu ihm als ein Schicksal, als ein Verhängnis, gegen das es nichts vermag.“ 13 In Bezug auf den wirklichen, notwendigen Prozess der Mythologie „befindet sich die älteste Menschheit […] in einem Zustand von Unfreiheit, von dem wir unter dem Gesetz einer ganz anderen Zeit Lebenden uns keinen unmittelbaren Begriff machen können, mit einer Art von stupor geschlagen […] und von einer fremden Gewalt ergriffen, außer sich, d.h. aus ihrer eigenen Gewalt, gesetzt“. 14 Gehalt der Mythologie, das, womit das Bewusstsein im mythologischen Prozess zu tun hat, sind also keine bloßen Vorstellungen, keine abgezogenen Begriffe, sondern etwas ganz und gar Wirkliches und Lebendiges. Um das möglichst stark hervorzuheben, spricht Schelling den mythologischen Figuren jede bestehende Substantialität, jede Dinghaftigkeit, ab: „Es sind überhaupt nicht die Dinge, mit denen der Mensch im mythologischen Prozeß verkehrt, es sind im Inneren des Bewußtseyns selbst aufstehende Mächte, von denen er bewegt ist.“ 15 Viertens ist zu erwähnen, dass der Akt, durch den der Grund zur Mythologie gelegt ist, nicht selbst in das wirkliche Bewusstsein hineinfällt, sondern außer diesem liegt. Das erste wirkliche, das heißt aufgeregte und aufgeweckte, erst selbstische, d.h. sich selber bewusst gewordene Bewusstsein, findet sich immer schon geschieden von seinem ewigen und wesentlichen Sein, wo es unmittelbar mit dem göttlichen Sein eins ist, und zwar so, dass es nicht mehr zu diesem zurückfinden kann. Sein Ursprung liegt also in einer Region, zu der es, einmal von ihr geschieden, keinen Zugang mehr hat. Schon mit seinem ersten Wirklichwerden ist das Bewusstsein aus dem Bereich des absolut vorgeschichtlichen Verwachsenseins mit Gott ausgestoßen, und zwar so radikal, dass es keine Erinnerung daran hat und haben kann. Wenn schon die Mythologie die verschiedenen Stufen der Vergangenheit enthält, welche sonst dem menschlichen Bewusstsein entschwunden sind, dann liegt ihr Ursprung selbst noch viel tiefer verborgen. Jedem bewussten Zugang un- 13 SW XI, 192. 14 S W XI, 193 . 15 SW XI, 207. Schellings Potenzenlehre 315 zugänglich, ist der Ursprung, mit einem berühmten Wort aus dem »Weltalter«-Fragment, ein wahrer Abgrund der Vergangenheit. Wollte man alle hier erwähnten Grundannahmen Schellings über die Mythologie auf einen gemeinsamen Punkt bringen, kann dieser vielleicht am ehesten in die These gefasst werden, dass der Mensch als solcher, d.h. in seinem ursprünglichen Wesen, nichts anderes ist als die Gott-setzende Natur. Es steht dem Menschen nicht frei, den Gott und die Götter zu denken oder nicht, „weil der Mensch in seinem ursprünglichen Wesen keine andere Bedeutung hat, als die, die Gott-setzende Natur zu seyn, weil er ursprünglich nur existirt, um dieses Gottsetzende Wesen zu seyn, also nicht die für sich selbst seyende, sondern die Gott zugewandte, in Gott gleichsam verzückte Natur“. 16 Um unserem eigentlichen Thema näher zu kommen, wenden wir uns nun dem zentralen Begriff nicht nur der Philosophie der Mythologie, sondern der gesamten späten Philosophie Schellings, dem Begriff der ‚Potenz‘ zu. 17 Gerade die mythologischen Erörterungen Schellings bleiben in ihrem Wesen unbegreiflich, wenn die Potenzenlehre als die ihnen zugrundeliegende metaphysische Struktur außer Acht gelassen wird, worauf neuerdings auch Xavier Tilliette mit Recht hingewiesen hat: „Zwischen den Potenzen findet ein Psychodrama oder eher noch eine große Dramaturgie statt, die in der Mythologie ihr bevorzugtes Aktionsgebiet gefunden hat, wobei nicht auszumachen ist, ob die Mythologie die Potenzen gestaltet oder ob die Potenzen die mythologischen Vorstellungen festgelegt haben.“ 18 Bekanntlich stellt eben dieser Begriff der Potenz seit langem das Kreuz aller Schelling-Interpretation dar, was nicht nur auf seiner unleugbaren Schwierigkeit beruht, sondern nicht weniger auf einer gewissen Ungenauigkeit im Gebrauch, da Schelling nicht selten statt von der ‚Potenz‘ in selbem Sinne auch vom ‚Princip‘ oder von der (zwar nur geistigen) ‚Ursache‘ 19 zu reden pflegt. Was ist also die Potenz? Auf die eingehende Erörterung dieses wohl entscheidendsten Begriffs des späten Schelling muss hier verzichtet werden. 20 Vielleicht genügt es 16 SW XI, 185. 17 Vgl. Beach, E. A., »The Potencies of God(s). Schelling’s Philosophy of Mythology«, New York 1994, 111: „The theory of Potencies (Potenzenlehre) is the most original and certainly the most conceptually difficult aspect of Schelling’s final system.“ 18 Tilliette, X., »Schelling. Biographie«, Stuttgart 2004, 358. 19 Siehe zum Beispiel SW XII, 112f. 316 Damir Barbarić in unserem Zusammenhang, die Potenz als eine innerliche, wesentliche und qualitative Änderung des Einen und Selben zu bestimmen, und zwar im Sinne einer Steigerung seines Seins oder eines Umschlags zu einer neuen, erhöhten Seinsstufe. Die Voraussetzung eines solchen Begriffs der Potenz liegt in Schellings Überzeugung, dass es in der wahren, d.h. lebendigen Philosophie nicht um das bloße Sein, sondern um das Seiende geht: „Ueber das Seyn hinaus, und selbst in freies Verhältniß zu ihm zu kommen, dieß ist das eigentliche Streben der Philosophie.“ 21 Das Seiende ist nie das, was einfach ist, sondern vielmehr das, was sein wird; es ist eine allgemeine Möglichkeit zum Sein. Schellings terminologische Bestimmung dafür lautet: das sein Könnende. In dem ‚Seinkönnenden‘ gilt es, den alles beherrschenden Mittelpunkt der gesamten späten Philosophie Schellings zu erkennen. Nur durch das Bestehen auf dem Seinkönnenden wird die Philosophie nach Schelling vor dem Verfall bewahrt, in welchem sie sich nur noch mit den formellen Abstraktionen beschäftigt und in welchem sie das tote und fertige oder, was für Schelling dasselbe heißt: das gegenständige, objektive, eigenschaftliche Sein als ihr Höchstes betrachtet. Erst als Seinkönnen wird das bloß objektive Sein in seiner innigsten Gewalt zum Existieren, in seinem Drang und seiner Macht zur Wirklichkeit gefasst: „[A]lles Seyn ist ein Hinaus-gesetzt-seyn, ein Exponirt-seyn, ein gleichsam Hinaus-stehen, wie im lateinischen Exstare ausgedrückt ist.“ 22 Mit anderen Worten: das Sein wird nur als Seinkönnen seinem Willenscharakter gemäß begriffen und d.h. als der Wille selbst. Seit seiner »Freiheitsschrift« besteht Schelling darauf, dass das Sein nichts anderes sein kann als der Wille. Das Können ist ein noch nicht wirklich wollendes, also ein ruhendes Wollen, wie auch umgekehrt ein lauterer, nicht wollender Wille nichts anderes ist als das reine Können zum Existieren, reine ‚potentia existendi‘. Um wirklich zur Existenz überzugehen, muss dieses nicht wollende Können damit aufhören, in sich ruhig zu sein, es muss „sich in sich selbst entzünden, aktiv werden“. 23 Der Begriff des Sein- 20 Vgl. die klassische Arbeit von Schwarz, J., »Die Lehre von den Potenzen in Schellings Altersphilosophie«, in: Kantstudien 40 (1935), 118-143, und die aufschlussreiche Diskussion bei M. Durner, »Wissen und Geschichte bei Schelling«, München 1979, 154-158. 21 SW XII, 33f. 22 SW XII, 56. 23 SW XII, 37. Schellings Potenzenlehre 317 könnens soll also eindeutig und ausdrücklich die Dimension des echten, lebendigen, d.h. willensmäßigen Sein zum Ausdruck bringen. In seiner Erwiderung auf Hegels Vorwurf, dass der Begriff ‚Potenz‘ nicht zur Philosophie, sondern zur Mathematik gehört, weist Schelling auf den sowohl philosophischen wie auch mathematischen Gebrauch des griechischen Ausdrucks δύναμις als seine legitime Herkunft hin 24 und erklärt seine Bedeutung als „das Seinkönnende“. Unter diesen allgemeinen Begriff fallen weiter die besonderen Arten des unmittelbar Seinkönnenden, des Seinmüssenden und des Seinsollenden. Alle drei sind wieder die verschiedenen Potenzen der Potenz in allgemeinem Sinne, nämlich des Seinkönnenden als solchen. Anders gesagt, alle drei sind nur ein und dasselbe Seinkönnende, aber in unterschiedlichen Steigerungen. Dabei ist das Seinsollende als in sich doppelt vermittelt, und daher als das Seinkönnende dritter Steigerung zu denken. Die Potenzen sind also als die jeweilig vermittelten Steigerungen, Stufen oder ‚Zuwächse‘ von Einem und Demselben zu verstehen. Um die volle Bedeutung dessen zu begreifen, was die Potenzen für Schelling eigentlich sind, tut es Not, ihre ausgezeichnete und ganz eigenartige Position ins Auge zu fassen, gleichsam in der Mitte zwischen den konkreten, einzelnen Dingen einerseits und den bloßen Abstraktionen bzw. abstrakten Begriffen andererseits zu stehen. Immer wieder hebt Schelling hervor, dass sie „reale, wirkende, insofern wirkliche Mächte“ 25 sind. Sie sollen verstanden werden als „wahre Universalia […], die doch zugleich Wirklichkeiten sind“. 26 Durch die Erwähnung des Seinkönnenden in engerem Sinne, des Seinmüssenden und des Seinsollenden sind schon drei grundlegende mythologische Potenzen benannt, die Schelling durch die Buchstaben A bzw. B, A 2 und A 3 zu bezeichnen pflegt. 27 Die erste Potenz - „als lauteres Seinkönnen“ - „ist das seiner Natur nach Unbegrenzte, τὸ ἄπειρον , quod definiri nequit, weil es das, was es ist, ist und auch nicht ist“. 28 Bei 24 SW XII, 114. Insofern fällt es schwer, sich der Behauptung von Tilliette, a. a. O., 357, anzuschließen, dass Schelling „zu Unrecht und um Hegel zu schaden“ den mathematischen Ursprung der Potenzen als Exponent verleugnet. 25 SW XII, 115. 26 Ebd. 27 Zum Problem der verschiedenen Bezeichnungsweisen für die Potenzenreihe vgl. Dekker, a. a. O., 76, und Beach, a. a. O., 122, wo auch „Schelling’s abstruse Terminology“ erwähnt wird. 28 SW XII, 377. 318 Damir Barbarić Schelling heißt dies auch ‚das Unbestimmte‘ und ‚das Unbegrenzte‘ oder ‚das der Bestimmung Bedürftige‘. Die zweite Potenz ist dementgegen „das Begrenzende oder Bestimmende, in dem nichts Unbestimmtes, d.h. keine Potenz ist, das eben, um das Bestimmende zu seyn, reiner Actus seyn muß“. 29 Die dritte Potenz wiederum ist „das sich selbst Bestimmende, das also zugleich das der Bestimmung Bedürftige in sich schließt“. 30 Ihr gegenseitiges Verhältnis bestimmt Schelling folgendermaßen: „Die Natur des Ersten, des unbestimmt Seinkönnenden, ist, vom Zweiten, aber die Natur des Dritten ist, von sich selbst enthalten zu sein.“ 31 Das Dritte ist also wie das Erste ein lauteres Seinkönnen, aber im Unterschied zum Ersten ein solches, das sich selbst bestimmt, und insofern das vollkommen Bestimmte ( τέλειος ) ist, womit auch der Begriff des Bleibenden, des Stabilen, des nicht weiter sich Verändernden ausgesprochen wird, d.h. dessen, was das wahre Ende ist. 32 Die Folge kann auch auf eine andere Weise ausgedrückt werden: Erste Potenz - reines Seinkönnen; zweite Potenz - reines Sein; dritte Potenz - als Sein gesetztes Seinkönnen. Auch aus dieser knappen Formulierung leuchtet ein, dass das Dritte zwar nicht das Erste ist, aber doch wieder das ist, was das Erste auf blinde, zufällige Weise war, und erst jetzt im Dritten als solches gesetzt wird. 33 In einer wieder anderen Wendung kann die erste Potenz als die noch unkörperliche, ideelle Materie bezeichnet werden und die zweite als der auf die Bestimmung dieser Materie gerichtete, insofern auch durch sie gewissermaßen bedingte Geist. Durch den Kampf und die Wechselwirkung der beiden ersten Potenzen entsteht daher sowohl die körperliche Materie in all ihrer Vielheit und Mannigfaltigkeit, wobei sie aber von Anfang an eine in sich doch teilweise geistig, d.h. innerlich gewordene ist, wie auch die ganze Welt der mythologischen Gottheiten. Erst auf dieser Grundlage und durch alles Vorhergehende vorbereitet soll am Ende des gesamten Prozesses auch die dritte Potenz hervortreten, und zwar als der vollkommen freie Geist, nämlich der Geist an und für sich. 29 SW XII, 577. 30 Ebd. 31 SW XII, 377. 32 Ebd. 33 SW XII, 577. Schellings Potenzenlehre 319 Versuchen wir, drei Potenzen in ihrer sukzessiven Folge etwas genauer zu betrachten. Die erste Potenz, also das reine, lautere Seinkönnen, ist erstens durch die reine Zufälligkeit und zweitens durch eine wesentliche Doppelsinnigkeit und Zweideutigkeit gekennzeichnet. Was bedeuten diese befremdlichen Merkmale? Genau besehen, müssen in dieser ersten Potenz zwei getrennte Momente oder Phasen unterschieden werden. Erstens ruht das lautere Seinkönnen, als nichtwollender Wille und als Nichtwissen von sich selbst, in der überzeitlichen Unmittelbarkeit einer seligen Unschuld. Das ist der Zustand, in dem menschliches Bewusstsein noch unmittelbar mit Gott zusammengewachsen und daher eigentlich kein nur menschliches Bewusstsein ist, sondern vielmehr ein vollständig ins Göttliche verzücktes. Hier steht und bleibt der Mensch im Zentrum der Gottheit, wo er auch anfänglich erschaffen ist, dort nämlich, wo er allein an seinem wahren Ort ist. Solange er sich ruhig in diesem Ort aufhält, „sieht er die Dinge, wie sie in Gott sind, nicht in der geist- und einheitslosen Aeußerlichkeit des gewöhnlichen Sehens, sondern wie sie stufenweise ineinander, dadurch im Menschen als ihrem Haupt, und durch ihn in Gott aufgenommen sind“. 34 Diese zentrale Stellung beruht aber nicht auf eigenem Verdienst des Menschen. Sie ist ihm von einem anderen, und daher gewissermaßen zufällig, zugeteilt worden. Um diese unverdiente und insofern zufällige Seligkeit zu einer selbstgewollten, zu einer durch eigenes Wissen und Wollen erreichten und gleichsam errungenen zu machen, muss sich der Mensch für die verhängnisvolle Möglichkeit öffnen, selbst vom Zentrum abzuweichen und sich davon zu entfernen, d.h. die Selbstheit des Eigenwillens in sich aufzuregen, damit aber auch in allem, was ist. Eben damit ist auch der erste Schritt zur Mythologie gemacht: „Sowie aber der Mensch aus dem Mittelpunkt sich bewegt hat und gewichen ist, verwirrt sich ihm die Peripherie und verrückt sich jene göttliche Einheit, denn er selbst ist nicht mehr göttlich über den Dingen, sondern selbst auf gleiche Stufe mit ihnen herabgesunken. Indem er aber seine centrale Stellung und die damit verbundene Anschauung, während er schon an einem andern Orte ist, behaupten will, entsteht aus dem Streben und Ringen, im schon Gestörten und Auseinandergegangenen die ursprüngliche göttliche Einheit festzuhalten, jene mittlere Welt, die wir eine Götterwelt nennen, und die gleichsam der Traum eines höheren Daseyns ist, 34 SW XI, 206. 320 Damir Barbarić den der Mensch eine Zeit lang fortträumt, nachdem er aus demselben herabgesunken ist […]“. 35 Betrachten wir jetzt die erste Potenz auch von der anderen Seite, nämlich ohne den Menschen und sein Verhältnis zum Gott in Betracht zu ziehen. Das erste, reine Seinkönnen ist ein in sich ruhender, nichts wollender und nichts wissender Wille. Als solcher ist es das Seinkönnen, das sich in eigener Macht hält, das seiner selbst mächtig ist. Ein jeder Bezug zur Wirklichkeit, zu allem Außer-sich-Sein scheint ihm zu fehlen oder, genauer gesagt, scheint in ihm völlig überwunden zu sein. Und trotzdem eignet ihm eine ganz grundsätzliche Doppelheit und Zweideutigkeit. Denn der Wille zur Existenz, zum Wirklich-Sein, ist nur wirklich, nur ‚actu‘, nicht da. Die Möglichkeit des Außer-sich-Seins haftet aber dem ruhigen Willen immer noch an, sie ist von ihm nicht wegzubringen - zwar nicht als eine eigentlich gesetzte, aber doch als eine nicht zu verneinende Möglichkeit. Insofern ist die uranfängliche Potenz durchgängig geprägt von einer nicht überwundenen, vielmehr unüberwindlichen Doppelheit. Dieses erste Seinkönnen hat in sich nämlich die Möglichkeit einer neuen Bewegung, es kann sich wieder umwenden, und ist daher eine zutiefst zweideutige Natur (‚natura anceps‘). Nach einem tiefsinnigen Ausdruck der alten Pythagoreer ist es die Zweiheit oder Dyas: „[D]enn δυάς oder Zweiheit ist seiner Natur nach jedes Princip, welches das, was es ist, […] ist und nicht ist; ist, jetzt nämlich und sofern es sich nicht bewegt, nicht ist, nicht so nämlich, daß es nicht das Gegenteil noch werden könnte.“ 36 Das erste, lautere Seinkönnen - bei Schelling in der Regel durch den Buchstabe A bezeichnet - ist also schon eine Potenz und ist es immer noch nicht. Als ‚actu‘, wirklich seiner selbst mächtig, in sich ruhend und von allem wirklichen Wollen frei, hält es die Möglichkeit der Umwendung in das wirkliche Wollen noch tief in sich versteckt und hat insofern noch nicht den Charakter einer wirklichen Potenz. Da ihm aber doch die Möglichkeit des Sich-Änderns, obwohl zunächst nur verborgener Weise, eigen ist, kann es schon als eine sozusagen mögliche Potenz betrachtet werden. Wenn diese Möglichkeit der Potenz sich zu verwirklichen beginnt, wenn im lauteren Seinkönnen ein Wille erhoben und aufgerichtet wird, es selbst zu sein, außer sich zu treten und zu existieren, dann schlägt A in B um, und dadurch erst kommt es zur ersten 35 Ebd. 36 SW XII, 142. Schellings Potenzenlehre 321 wirklichen Potenz überhaupt. Diese mit B bezeichnete erste wirkliche Potenz heißt bei Schelling auch der aufgeregte Wille oder das reale Prinzip des Seins oder das alles ausschließende Eine oder das Prinzip der Egoität - alles verschiedene Ausdrücke, welche je anders auf dieselbe Grundkonstellation hinweisen. Es ist von besonderer Wichtigkeit, mit Schelling diese Bestimmungen nicht als bloße Kategorien, als abstrakte Begriffe anzusehen, sondern als „wahre Realitäten“ und „wirkliche Wesenheiten“. Mit Nachdruck besteht er darauf, dass jene Urmöglichkeit des Sich-Änderns, die im allerersten zweideutigen Seinkönnen tief versteckt liegt, keine bloße Kategorie ist, sondern „ein wirkliches, wenn auch bloß mit dem Verstand zu fassendes, intelligibles Wesen, und nichts Allgemeines (nicht die Möglichkeit überhaupt), sondern die bestimmte Möglichkeit, welche die einzige in ihrer Art ist, die nur einmal existirt“. 37 In dieser Urmöglichkeit erkennt er vielmehr das wieder, was bei Hesiod als erste Lüge und erster Trug schlechthin ( Ἀπάτη ) vorkommt, in der indischen Mythologie aber unter dem Namen Maya, die er mit der vorkosmischen Magie gleichsetzt. Die erste Aufregung des bisher nichtwollenden, ruhigen Willens sieht er in der griechisch-mythologischen Gestalt der Persephone dargestellt, von der er behauptet, dass sie von Anfang an in der Mythologie ist 38 und dass in den auf sie bezogenen Mythen „der Schlüssel der ganzen Mythologie durch diese selbst gegeben“ 39 ist. In der Bemühung, die ganze Mythologie in einen möglichst engen Zusammenhang mit dem Alten Testament zu bringen, setzt er sie weiterhin auch der Schlange gleich, mit dem eindeutigen, obwohl unausdrücklichen Hinweis auf den biblischen Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies. Durch B ist das erste Seinkönnen, das an sich nur bedingt als die erste Potenz [= A] anzusehen ist, in seiner Erhebung, in seinem Andersgewordensein, in seinem blinden, ausschließlichen Sein bezeichnet. Erst jetzt gibt es die echte, wirklich gewordene Potenz. Gleich nach ihrem ersten Auftreten schließt sich aber diese erste wirkliche Potenz als der Wille zur Wirklichkeit und zur Existenz bzw. zum Außer-sich-Sein in sich ab und legt sich auf sich fest. Auf diese Weise wird sie zum Prinzip der vollständigen Ausschließung. Diese Abgeschlossenheit und dieses 37 SW XII, 156. 38 SW II/ 2, 163. 39 SW II/ 2, 161. 322 Damir Barbarić vollständige Außer-sich-Sein - welches auf eine scheinbar paradoxe Weise noch gar nicht zulässt, eine Außenwelt wahrzunehmen, da auf dieser Stufe der Unterschied zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘, zwischen ‚Innerem‘ und ‚Äußerem‘ überhaupt noch nicht vorhanden ist - macht die Urreligion der Menschheit aus, die Schelling als „astrale“ bezeichnet. Das ihr anheimgefallene, ihr gleichsam preisgegebene Bewusstsein der Menschheit bleibt „für alles andere als das Astrale verschlossen, es lebt und ist nur in dieser Region; gleichwie denn überhaupt dieses erste Moment den höchsten Grad des von- oder außer-sich-Seyns, der Ekstasis der Menschheit, darstellt. Es gab hier für das Bewußtseyn noch gar keine Außenwelt, die Natur war für den Menschen wie gar nicht vorhanden.“ 40 Auf dieser ersten Stufe, oder genauer Vorstufe der Mythologie stellt sich das Göttliche dem Bewusstsein in der kreisförmigen Bewegung der Himmelskörper dar, welche als kreisförmige eigentlich keine echte Bewegung ist, sondern eher eine eigenartige Ruhe. Was die älteste Menschheit, die durch einen inneren, wenn auch ihr unbegreiflichen Vorgang in die Sphäre des Astralen versetzt wurde, in den Sternen allein eigentlich verehrte, war in Wahrheit nicht das Bewegliche, das Materielle selbst, sondern vielmehr das Prinzip, der innere verborgene Grund aller himmlischen oder siderischen Bewegung. Alles, was bisher dargelegt wurde, sowohl die unschuldige bzw. zufällige Zweideutigkeit des ersten, lauteren Seinkönnens wie auch die erste Versuchung und der erste Betrug, in dem dieses Seinkönnen sich erhebt und zum wirklich wollenden Willen wird, genauso wie das Sich- Festlegen und -Verschließen dieser Potenz des einen, alles andere ausschließenden Seins - das alles ereignet sich in einer vorgeschichtlichen und, streng gesprochen, vorzeitlichen Zeit. Da in der vom unbewegten und unbeweglichen Himmelgott Uranos beherrschten Urreligion, die Schelling unter dem Namen ‚Zabismus‘ zur Darstellung bringt, alles andere außer dem Einen vollkommen ausgeschlossen ist, gibt es hier noch keine Sukzession, die notwendig mehr als nur Eins, also mindestens zwei Seiende sowie deren Nacheinander zur Voraussetzung hat. Die erste wirkliche Potenz B kann aber in dieser unbedingten und restlosen Ausschließung von allem nicht auf immer bleiben. Sie ist nämlich ihrer Natur nach das, was nicht sein sollte. Oder anders gesagt, sie ist ein nicht als solches (sondern als ein anderes) Seiendes und insofern ein trügerisches, falsches Wesen. Ihm wird also notwendig ein ande- 40 SW XII, 179. Schellings Potenzenlehre 323 res Wesen folgen, das sich ihm wirklich entgegensetzt. Als die alles ausschließende setzt nämlich die erste Potenz zugleich die zweite, also A 2 , in Spannung und fordert sie heraus, sich aus ihrer reinen Geistigkeit bzw. aus ihrer von allem Sein freien Seiendheit in die Spannung gegen das alles ausschließende Sein zu erheben und seine grenzenlose Unbestimmtheit der Grenze und dem Maß zu unterwerfen. Insofern diese zweite Potenz der Gegensatz des nicht-als-solches, nicht wahrhaft seienden Wesens ist, so weit ist sie zwar an sich das wahrhaft Seiende, aber weil sie im Gegensatz und in der Wirkung gegen das falsche Sein auch außer sich selbst gesetzt ist, kann sie doch nicht den Anspruch erheben, das wahrhaft seiende Wesen zu sein. Daher wird die zweite Potenz durch einen nur relativ geistigen, stets im Kommen und in der Ankunft begriffenen Gott dargestellt, durch einen solchen nämlich, der dem Bewusstsein nicht als Gott, sondern „nur als ein unbegreifliches Mittelwesen zwischen Mensch und Gott, als ein Dämon“ 41 erscheinen kann. Damit ist Dionysos als Gott der zweiten Potenz gemeint. Wie schon bei Persephone behauptet Schelling auch für die Dionysoslehre, dass in ihr der Schlüssel der ganzen griechischen Mythologie gegeben ist. Er glaubt, dass Dionysos zwar nicht dem Namen oder dem Begriff, aber doch dem Wesen nach „so alt als der Hervorgang des Menschengeschlechts aus dem Zabismus“ 42 ist. Dionysos scheint nur der jüngste der Götter zu sein, in Wahrheit sei er aber der älteste. 43 Man kann fast sagen, für Schelling steht und fällt die ganze Mythologie mit Dionysos. Auch den ägyptischen Gott Osiris setzt er dem Dionysos gleich. 44 Im Herakles sieht er nur einen Vorläufer des Dionysos, seine frühe, genauer die früheste Erscheinung. 45 Er zögert sogar nicht, auch Zeus selbst vom Dionysos abhängig zu machen. Wenn die Mythologie den Zeus als Vater von Dionysos bezeichnet, soll das nur für den vollkommen verwirklichten Dionysos gelten, nicht aber für jenen, der lange vor Zeus, obwohl immer nur im Kommen, in der Verwirklichung begriffen war. 46 Die Götterwelt des Zeus ist für Schelling eigentlich die von Dionysos hervorgebrachte Welt. Ausdrücklich behauptet er: „[D]ie 41 SW XII, 275. 42 SW XII, 279. 43 SW XII, 276ff. 44 SW XII, 375. 45 SW XII, 340. 46 SW XII, 630. 324 Damir Barbarić Welt des Zeus, d.h. der mit Zeus gesetzten Götter, ist die Welt des Dionysos“. 47 Die erste natürliche Bewegung des vom unbewegten astralen Gott beherrschten Bewusstseins, wenn es die ersten Zeichen des Herantretens des unbekannten, neuen, immer nur kommenden Gottes Dionysos zu ahnen beginnt, ist die, sich ihm entgegen zu setzen, ihm die Anerkennung als Gott zu versagen. Dionysos ist „der Gott, den das Bewußtseyn bloß leidet, zu dem es kein freies Verhältniß hat, der in die Ruhe des ersten Bewußtseyns nur wie ein Gericht, wie ein Schicksal tritt, und nicht als der befreiende, der er ist, sondern nur als der verwirrende, schonungslos aufregende, darum Wahnsinn verhängende erscheint“. 48 Der erste, ausschließliche Himmelgott, den Schelling im allgemeinen mit dem griechischen Namen Uranos bezeichnet, will sich vom neuen, relativ geistigen Gott aus dem Zentrum des Bewusstseins nicht verdrängen lassen, er widersetzt sich der Sukzession. Er ist insgesamt der seiner Natur nach völlig ungeschichtliche Gott, ein solcher Gott, der nicht in die Zeit will. Und doch muss er sich letztendlich der zweiten, höheren Potenz unterwerfen, muss sich von ihr überwinden lassen, ihr zur bloßen Materie, d.h. zum Zugrundeliegenden, werden. Der lange, schmerzvolle Prozess dieser allmählichen Überwindung verläuft im Wesentlichen in zwei Phasen, und zwar so, dass die erste Potenz zunächst nur überwindbar erscheint und dann aber doch wirklich überwunden wird. Die Aufhebung der durchgängigen Ausschließung, d.h. das Sich-Überwinden-Lassen, kommt an der ersten Potenz als ihre fortschreitende Materialisierung zum Vorschein. Dabei wird die erste Potenz unter der Einwirkung der zweiten, also des relativ geistigen Gottes, nicht etwa von ihrer anfänglich reinen, d.h. noch nicht konkreten und wirklichen Materialität zu einer schon partiell geistig affizierten und insofern bereits konkreten Materie. Denn da das erste, alles ausschließende Sein die Wirkung des neuen, kommenden Gottes nicht ganz abwehren kann, ist es stets in gewissem Maße auch geistig affiziert und ist nicht mehr die reine, sondern schon die geistig affizierte Materie. Auf diese Weise ist es ein geistig-ungeistiges Wesen, ein Wesen, worin beides untrennbar verwachsen ist. Und gerade aus dieser mit Geistigkeit verwachsenen Ungeistigkeit besteht alles Konkrete. Das, was durch die Wechselwirkung der beiden ersten Potenzen entsteht, ist also nicht mehr 47 SW XII, 642. 48 SW XII, 276, vgl. 281f. Schellings Potenzenlehre 325 reine Materie, sondern schon ein konkretes materielles Gebilde. Der hier stattfindende Übergang kann daher als Übergang ins Konkrete überhaupt bezeichnet werden, als die Stelle also, an der zum ersten Mal eine freie Vielheit und Mannigfaltigkeit entsteht. Mit der ersten wirklichen Vielheit entsteht auch die wirkliche, d.h. eigentlich geschichtliche Mythologie. Erst wenn das erste ausschließliche Prinzip B dem höheren, teilweise geistigen Prinzip überwindlich geworden ist, beginnt die wirkliche Sukzession. Erst dann kann dem ausschließlichen Gott wirklich ein anderer folgen, der gegen ihn gerichtet und relativ geistig ist. Damit wird die Mythologie als sukzessiver Polytheismus gesetzt. Die Materialisierung als das Überwindlich-Werden des ersten, ausschließlichen Gottes Uranos zeigt sich in der Mythologie vor allem daran, dass das von diesem Gott in Anspruch genommene und vollkommen beherrschte Bewusstsein nun auf einmal schwankend wird, dass der Gott in ihm allmählich milder, weicher und schwächer wird und dass das Bewusstsein sich dem geahnten neuen Gott zuzuneigen und sich für sein Kommen vorzubereiten beginnt. Das wird in der Mythologie durch das Weiblich-Werden des alten, strengen und unbezwingbaren Gottes dargestellt, wie überhaupt in der Mythologie die Materialisierung vorzüglich als das Weiblich-Werden des zunächst Männlichen zum Ausdruck gebracht wird. Der im Bewusstsein weiblich gewordene Uranos heisst Urania, entsprechend der von Schelling festgestellten Regel, nach der die weiblichen Gottheiten im Bewusstsein dieselben Momente ausdrücken, welche die männlichen im Gott selbst anzeigen. Urania ist die erste Gottheit welche dem reinen Zabismus folgt. Sie drückt den unmittelbaren Übergang zur geschichtlichen, d.h. zur eigentlichen Mythologie aus und damit den Wendepunkt zwischen der ungeschichtlichen und geschichtlichen Zeit der Mythologie. Urania ist aber nur der erste, immer noch schwankende und vorübergehende Übergang. Der alte, ausschließliche Gott findet wieder zu sich, jetzt aber als ein zum Teil schon geistig gewordener. Sein Name lautet jetzt Kronos, der also wieder Uranos ist, aber in einer anderen, schon geistigeren Gestalt: „Der Gott der ersten Zeit, des reinen Zabismus, ist der ohne Widerspruch blind seyende Gott, Kronos aber ist eben dieser Gott, schon zum Teil in sich, ins Innere zurückgewendet, der aber deßhalb um nichts weniger, sondern jetzt nur mit Willen und Besinnung im blinden Seyn sich behauptet und eifersüchtig über diesem Seyn hält.“ 49 326 Damir Barbarić Aber auch Kronos kann bei der alten Ausschließung nicht stehen bleiben. Unter der wachsenden Einwirkung der zweiten Potenz, des kommenden Dionysos, wird er immer weicher, beweglicher, hingebender; mit einem Wort wird er flüssig. Das Bewusstsein, das in Kronos schon beweglich zu werden angefangen hat, findet Schelling in der Gestalt der Urgöttin Rhea, deren Namen er etymologisch vom griechischen Verbum ῥέω herleitet, das ‚fließen‘ bedeutet. Im Allgemeinen bezeichnen besonders die weiblichen Gottheiten in der Mythologie das mythologische Bewusstsein, wie es auf den verschiedenen Stufen der kämpfenden Auseinandersetzung zwischen der ersten und zweiten Potenz dem Schmerz und Leiden ausgeliefert ist. Sie sind daher mehr als die männlichen von den sie verwirrenden und überwältigenden, meistens höchst zweideutigen Affekten in Anspruch genommen. In der „Mitte zwischen dem blinden, ganz in das ausschließliche Seyn herausgekehrten Gott und dem geistigen, dessen Anhauch es nicht widerstehen kann“, erscheint das mythologische Bewusstsein in den weiblichen Gottheiten als „das in sich selbst irre und zweifelhafte […], als in die Angst gesetzt, in der es im eigentlichen Sinne nicht aus und nicht ein weiß“. 50 Der Eintritt jedes neuen Moments der stufenmäßigen Überwindung der ersten Potenz durch die zweite wird in der Mythologie durch das abermalige Erscheinen einer neuen weiblichen Gottheit bezeichnet. Im mythologischen Gefühl der Völker zeigt sich das in den Erscheinungen wilder, sich selbst nicht fassender Begeisterung, des Orgiasmus, in dem das gleichsam wankend, taumelnd gewordene, sich selbst nicht mehr fassen könnende, seiner selbst ohnmächtig gewordene reale Prinzip zum Vorschein kommt: „Denn jede solche weibliche Gottheit deutet auf die Ueberwindung eines frühern Princips hin, von dessen erdrückender Gewalt sich das Bewußtseyn plötzlich befreit fühlt, während es dagegen einem andern Princip, das es noch nicht fassen kann, sich Preis gegeben fühlt, und so gleichsam seiner selbst ohnmächtig, taumelnd wird.“ 51 Andererseits haftet das Bewusstsein auf jeder einzelnen Stufe der Auseinandersetzung mit dem neuen, unbekannten Gott der zweiten Potenz an dem alten materiellen Gott, der ihm unterzugehen droht, als an dem Gott schlechthin, „und es befürchtet, mit dem materiellen überhaupt den Gott zu verlieren, und nicht ohne sich selbst 49 SW XII, 288. 50 SW XII, 298. 51 SW XII, 246f. Schellings Potenzenlehre 327 innerlich verwundet und zerrissen zu fühlen, ja nicht ohne selbst durch eine Art von Tod und Sterben hindurchzugehen, kann es von dem materiellen Gott befreit werden. Diese Umwandlung, welche der materielle Gott erfährt, der, selbst ins Unsichtbare zurücktretend, an seiner Statt einen immateriellen zurückläßt, dieser Untergang des materiellen Gottes wurde gleichsam als das früheste Leid empfunden. […] Durch die ganze Mythologie geht diese Wehklage um den verlorenen Gott, die Sehnsucht folgt ihm und ruft ihn zurück, der in die Ferne gezogen ist“. 52 Dieses zwischen den beiden Potenzen in der Mitte stehende Bewusstsein, „das einerseits zweifelhaft und ängstlich fürchtet, daß ihm mit dem blinden Seyn auch der Gott selbst verloren gehe, und andererseits dem Andrang der höheren, der geistigen Potenz nicht widerstehen kann“, 53 ist für Schelling Demeter, wieder eine zentrale göttliche Gestalt in seiner Philosophie der Mythologie, und sogar jene, „durch welche die hellenische Mythologie ihre ganze Eigenthümlichkeit erhält“. 54 Hestia und Persephone sollen nichts anderes sein als die verschiedenen Erscheinungsweisen oder Hinsichten von Demeter. 55 Schelling geht sogar so weit zu behaupten, dass es ohne Demeter keine griechische Götterwelt gäbe. 56 Wie Adolf Allwohn ausführlich dokumentiert hat, sieht Schelling vielmehr nicht nur in seinen späten Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie, sondern Zeit seines Lebens gerade in Ceres bzw. Demeter - „in der er die Natur in Gott, Hunger, Armut und Sucht nach Sein findet“ 57 - die zentrale Gestalt der Mythologie überhaupt. Der Grund für diese besondere Bedeutsamkeit von Demeter kann erst aus ihrer Rolle im Übergang von der Mythologie zu den Mysterien zureichend verstanden werden, mit dem unsere Überlegung schließen soll. Der wirkliche und ausdrückliche Kampf zwischen der ersten und zweiten Potenz ist zwar ein verhältnismäßig spätes Moment im gesamten Lauf der Geschichte, als solcher aber auch der erste Schauplatz der wirklichen Mythologie. Es wurde nämlich schon gesagt, dass jene anfängliche astrale Urreligion des Zabismus noch nicht zur eigentlichen, d.h. geschichtlichen Mythologie gehört. Auch das nächste, sich daran 52 SW XII, 273. 53 SW XII, 628. 54 SW XII, 631. 55 SW XII, 629. 56 SW XII, 631. 57 Allwohn, A., »Der Mythos bei Schelling«, Leipzig 1927, 53. 328 Damir Barbarić anschließende Moment, in dem sich die zweite Potenz als der kommende, befreiende, relativ geistige Gott zwar angekündigt hat, aber das blinde Prinzip des Seins noch so weit sein Übergewicht behauptet, dass es sich gegen die ihm angemutete Geistigkeit noch hart und unwillig, stark abweichend verhält, also noch nicht zur Urania übergegangen ist, kann kaum als echte Mythologie angesehen werden. Dieses im Wesentlichen immer noch vormythologische Moment findet Schelling vor allem in den Religionen der Phönikier und Kananiter. 58 Ihm folgt aber ein neuer Moment, in dem die beiden Potenzen der Geistigkeit und der Materie schon zur gleichen Macht, zur Äquipollenz gelangt sind und im offenen Kampf gegeneinander stehen. Hier werden schon „einzelne Blitze selbst jener höchsten Potenz, die der Geist selbst ist, die Nacht des Bewußtseyns leuchtend durchbrechen, aber von dieser auch beständig wieder verschlungen werden“. 59 Dieses Moment macht das Wesentliche der ägyptischen und indischen Mythologie aus. Der geschichtliche Gang der Mythologie führt aber weiter zum dritten und letzten Moment, „wo der Sieg entschieden und jenes auf der Ungeistigkeit bestehende Princip als solches eben im Zergehen, das Bewußtseyn in der völligen Wiederaufrichtung zum Geist begriffen ist.“ 60 Hier, am wahren Ende der Mythologie, setzt das Bewusstsein zwar noch nicht den Gott als höchsten, als absolut freien Geist A 3 , aber es setzt doch solche Götter, die ebenso viele Formen oder Gestalten dieses Höchsten sind. In diesem letzten Moment der Mythologie entstehen nun die rein geistigen Götter, die wir nur in der griechischen Mythologie finden. 61 Ohne auf die Einzelheiten der geschichtlichen Entfaltung der Mythologie einzugehen, sei hier nur so viel gesagt, dass sich für Schelling die ägyptische, indische und griechische Mythologie zueinander verhalten wie Leib, Seele und Geist. Die ägyptischen Götter sind leibliche, körperliche, die indischen sind geisterhafte, gespenstige Wesen, während die griechischen zwar leiblich, aber zugleich geistig verklärt, mithin geistigleibliche Wesen sind. 62 Auf die weitere Darstellung der höchst spannenden, obwohl manchmal eigenwilligen Deutung des konkreten Gehalts der Mythologie, ins- 58 SW XII, 271. 59 SW XII, 271f. 60 SW XII, 272. 61 Ebd. 62 SW XII, 575f. Schellings Potenzenlehre 329 besondere der griechischen, müssen wir hier verzichten. Lassen wir statt dessen die Untersuchung mit einer Frage schließen, die sich m. E. jedem aufdrängen muss, der mit Schelling zusammen denkend und nachfühlend das großartige, oft atemberaubend schreckliche Drama der gesamten Mythologie durchgeht. Wie steht es nämlich darin mit jener von Anfang an in Aussicht gestellten dritten Potenz, mit A 3 ? Wo ist sie unterwegs verloren gegangen? Fällt sie überhaupt noch in die Mythologie ein? Oder führt die Mythologie als solche überhaupt nicht zu diesem Letzten und Höchsten? Das Letztere ist der Fall. Wie schon gesagt ist die zweite Potenz nur relativ geistig, sie ist nicht der Geist selbst. Dionysos, der nur relativ geistige Gott, „ist […] nicht frei, zu wirken oder nicht zu wirken, sondern sowie ihm nur Raum oder Möglichkeit gegeben ist zu wirken, der notwendig, der seiner Natur nach wirkende. Seine Wirkung aber besteht bloß darin, das ihm entgegenstehende nicht seyn Sollende wieder ins nicht Seyn zu überwinden; er hat keinen anderen Willen, als dieses gegen seine Bestimmung wirkend Gewordene, in das Wesen, in das lautere Seyn-können, und dadurch in das Gottsetzende, das es ursprünglich war, wieder umzuwenden.“ 63 So bleibt Dionysos als Gott der zweiten Potenz in einem gewissen Sinne durch die eigene Tat eben der wahren Geistigkeit, d.h. der absoluten Freiheit beraubt, was besonders an seiner Erscheinung als Herakles offenkundig wird, den gerade die Mühe und das übermäßige Leid seines einsatz- und schmerzvollen Kampfes von der wahren Freiheit fern hält. Freilich besteht Schelling darauf, dass das Bewusstsein unbedingt und unausweichlich die dritte Potenz verlangt als den höchsten, den vollkommen freien Gott: „Aber eben weil diese zweite Potenz in dem Niederhalten und Bewältigen der ersten sich gleichsam erschöpft, eben darum verlangt das Bewußtseyn eine dritte Potenz, die, daß ich so sage, nichts zu thun hat, einen gleichsam unbeschäftigten, d.h. freien Gott, einen Gott, der nur da ist, um auf jenes Verhältniß der Unterwerfung das Sigel zu drücken, eben dieses Verhältnis in ein beständiges, bleibendes zu verwandeln […]. Das Bewußtseyn, sage ich, verlangt eine dritte Potenz, die nichts mehr zu thun hat, die nicht, wie die zweite, nothwendig wirkt, wirken muß, die also frei ist zu wirken, die ihres Seyns sicher, mit ihm anfangen und thun kann, was sie will.“ 64 63 SW XII, 259. 64 SW XII, 391. 330 Damir Barbarić Bis dahin führt die Mythologie freilich nicht. In ihrem höchsten Moment, in der Mythologie der Griechen, kann sie nur gleichsam die Grundlagen dazu legen, nur die notwendigen Bedingungen dafür schaffen. In ihr ist nämlich der letzte Zweck aller Mythologie erreicht, der darin liegt, dass die erste Potenz, jener blinde und ausschließliche, reale Gott wieder besiegt, zum Grunde und zum überwundenen, wieder unsichtbar gewordenen bloßen Seinkönnen zurückgebracht wird: „Die Götterwelt des Zeus ist eigentlich die von Dionysos […] hervorgebrachte Welt - alle jene Zeusgötter sind nur die den ausschließlichen, realen Gott verhüllenden, eben darum ihn als unsichtbar, als bloßen Grund setzenden Gestalten, und eben dahin, diesen ersten Gott zum bloßen Grund, zur Materie und Unterlage des mannichfaltigen, getheilten Seyns zu machen, ging ja die ganze Wirkung des Dionysos“. 65 Der Gott der ersten Potenz musste also wieder aus dem wirklichen Sein zurücktreten und zum bloß möglichen Grunde werden. Den geistigen Göttern der Griechen zur Materie, zur Grundlage geworden, verschwindet er gewissermaßen unter diesen Gestalten. Er bleibt zwar, „aber nicht in der Gegenwart, sondern nur als deren gemeinschaftliche Vergangenheit; er bleibt, aber unter ihnen verborgen, ein Geheimnis“. 66 So sieht Schelling die griechische Mythologie, dieses letzte Moment der gesamten Mythologie, gerade in ihrer höchsten Entfaltung notwendig über sich hinaus weisen, und nur bis zu der Grenze führen, an der die wahre geistige Religion erst anfangen kann. Von einer Seite das wieder zum verborgenen Grund, zum Geheimnis zurückgebrachte Seinkönnen, von der anderen die immer noch ungestillte, im Rahmen der Mythologie nie zu stillende Sehnsucht und nie zu besänftigende Trauer von Demeter, wie auch ihr nicht zu versöhnender und begütigender Groll 67 - beides drängt auf die Mysterien hin, von wo der Weg dann weiter zur Offenbarung führen soll. So bleibt Schellings letztes Wort zur Mythologie ein Wort, das zum Schritt über die Mythologie hinaus auffordert: „Das Wesen, das eigentlich Innere der Mythologie, ist von nun an in den Mysterien.“ 68 65 SW XII, 642. 66 SW XII, 633. 67 SW XII, 631. 68 SW XII, 635. Jochem Hennigfeld Sprache, Freiheit und Mythos im Denken Schellings „Die Philosophie […] ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande und damit noch mehr dem gesunden Menschenverstande […] gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt.“ Diese Feststellung findet sich in der programmatischen Einleitung zum ersten Band des von Schelling und Hegel herausgegebenen »Kritischen Journals der Philosophie«. 1 Die hier artikulierte Selbsteinschätzung kennzeichnet allerdings nicht erst den absoluten Idealismus Schellings und Hegels; sie gilt für die Philosophie seit ihrem Beginn bei den Griechen. Bereits Heraklit kritisiert die Meinungen der Vielen, die sich auf den bloßen Augenschein verlassen und in Übereinstimmung mit den üblichen Ansichten ihre Sicherheit gewinnen. 2 Auch die Folgen dieser Kritik am gesunden Menschenverstand sind seit der Antike bekannt: Entweder macht der Philosoph sich lächerlich - wie Thales, der den Spott einer thrakischen Magd auf sich zieht, weil er, die Gestirne betrachtend, in einen Brunnen fällt. 3 Oder aber der Philosoph erregt Misstrauen und wird verdächtigt, das 1 Hegel, G. W. F., »Theorie«, Werkausgabe 2, 182. Die Einleitung (»Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere«, 1802) wurde von Hegel geschrieben; Schelling hat daran mitgewirkt. In Schellings »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums« aus demselben Jahr heißt es entsprechend: „Der Verstand, den die Unphilosophie den gesunden nennt, da er nur der gemeine ist, verlangt gleichsam die baare und klingende Münze der Wahrheit und sucht sie sich ohne Rücksicht auf das Unzureichende seiner Mittel zu verschaffen.“ (V, 268) - Schellings Werke werden zitiert nach der Ausgabe von K. F. A. Schelling, Stuttgart 1856-1861. 2 Vgl. die Fragmente B 2, 17, 29 (Diels, H., »Die Fragmente der Vorsokratiker«, hg. v. W. Kranz, Zürich/ Berlin, 17. Aufl. 1974). 3 Platon, Theaitetos, 174 a 4ff. 332 Jochem Hennigfeld Bestehende umstürzen zu wollen - wie Sokrates, der sein leidenschaftliches Streben nach dem, was in Wahrheit ist, mit dem Tode bezahlt. Was in solchen Reaktionen der Vielen übersehen wird, ist nach dem Zeugnis des platonischen Sokrates dies: Dem Philosophen geht es zuerst nicht um die überhebliche Distanz zur alltäglichen Lebenswelt oder um den gewaltsamen Umsturz der politischen Verhältnisse; sondern ihm ist einzig daran gelegen, das Wesen des Menschen zu erforschen und zu ergründen, was er zu tun und zu erleiden hat. 4 Im Folgenden werde ich an drei charakteristischen Beispielen darzulegen versuchen, in welcher Weise Schelling nach der Wahrheit über den Menschen und seine Stellung im Ganzen des Seins gesucht hat. Die drei Problembereiche, um die es gehen soll, sind mit den Stichworten ‚Sprache‘, ‚Freiheit‘, ‚Mythos‘ genannt. Dazu werde ich jeweils eine These Schellings zitieren, die im Widerspruch zur Ansicht des gesunden Menschenverstandes steht. Im Anschluss an die Begründung dieser Thesen wird sich zeigen, auf welche Weise Schelling zu einer tieferen Wahrheit durchdringt. Die so gewonnene Erkenntnis soll nicht ein vielleicht vorhandenes Bedürfnis nach Spekulation befriedigen. Vielmehr kann sie unsere Erfahrungen und Erfahrungsmöglichkeiten besser erklären als unsere vordergründigen Meinungen. Die Themen ‚Sprache‘ (vor allem die poetische), ‚Freiheit‘ und ‚Mythos‘ haben Schelling von seiner Jugend an bis ins hohe Alter beschäftigt - ein deutliches Indiz für die Kontinuität seines Denkens. Dem ist hier nicht im Einzelnen nachzugehen. Ich beschränke mich auf drei markante Stationen dieses Denkweges. Im ersten Abschnitt gehe ich auf die ‚frühe‘ »Philosophie der Kunst«, im zweiten auf die ‚mittlere‘ »Freiheitsschrift«, im dritten Teil auf die ‚späte‘ »Philosophie der Mythologie« ein. 4 Vgl. ebd., 174 b 4ff. Sprache, Freiheit und Mythos im Denken Schellings 333 I. Sprache 5 : Das natürliche Kunstwerk „Die Sprache […] ist das höchste Symbol des Chaos.“ 6 Damit ist natürlich nicht gemeint, dass manche Leute chaotisch reden oder mit widersprüchlichen Aussagen ein Chaos verursachen. Aber selbst wenn man ein derart plattes Missverständnis vermeidet, wird man doch einwenden, dass Sprache - normalerweise jedenfalls - Ordnung schafft. Indem wir etwas benennen, sagen wir, was es ist und ordnen es so in eine bestimmte Welterfahrung ein. Indem wir Sätze bilden, fügen wir uns bestimmten grammatischen Strukturen, die uns die Wirklichkeit in bestimmte Kategorien einordnen. Wie soll dann Sprache Bild des Chaos sein? Wir wissen aus unserer täglichen Erfahrung, dass viele Sätze nur in einem größeren Zusammenhang verständlich werden. Das gilt auch für die zitierte These Schellings. Der Kontext, in den dieser Satz gehört, ist der Zusammenhang des Systems. Schelling hat es im »Weltalter«-Druck von 1811 pointiert so ausgedrückt: Man könne sagen, „jeder Satz sey außer dem System falsch, nur im System, im organischen Zusammenhang des lebendigen Ganzen gebe es eine Wahrheit“. 7 Es ist somit zu fragen: In welchem Zusammenhang des Systems hat diese These ihren Ort - so, dass in ihr eine Wahrheit über die Sprache gesagt wird? Wie bereits erwähnt, äußert Schelling die zitierte Sprach-These in seiner »Philosophie der Kunst«, die ein besonderer Teil der sogenannten Identitätsphilosophie ist. Deren Prinzip ist das Absolute oder Gott. Das bedeutet: Alles, was in diesem System erkannt werden soll (die Natur, der Mensch, die Kunst etc.), muss in einen lückenlosen Zusammenhang mit diesem Prinzip des Absoluten gebracht werden. Diese Art der Darstellung nennt Schelling ‚Konstruktion‘. Folglich ist auch das Wesen der Sprache zu konstruieren. Das Absolute ist höchste Einheit, absolute Identität. Diese Einheit Gottes umfasst unterschiedliche Seinsmomente. Das wird unmittelbar 5 Zur Einschätzung der Sprache im Gesamtwerk Schellings vgl. vom Verfasser: »Schellings Philosophie der Sprache«, in: Philosophisches Jahrbuch 91/ 1 (1984), 16-29. H. Rosenau versucht darzulegen, dass Schelling zunächst die Sprache dem Logos unterwirft, später aber den Logos der Sprache unterordnet: »Schellings metaphysikkritische Sprachphilosophie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44 (1990), 399-424. 6 SW V, 484. 7 Schelling, F. W. J., »Die Weltalter. Fragmente«, hg. v. M. Schröter, München 1946, 48. 334 Jochem Hennigfeld einsichtig, wenn man bedenkt, dass Gott kein starres Seiendes ist, sondern ein lebendiges ‚Produzieren‘, ein ewiges ‚Setzen‘, ein immerwährendes ‚Erkennen‘. Dann nämlich ist zu unterscheiden zwischen erstens dem Produzierten, zweitens dem Produzierenden und drittens der Einheit dieser beiden Momente im Absoluten. Das erste Moment (das Produzierte, Affirmierte, Gesetzte) kann man auch als Reales, das zweite Moment (Produzierendes etc.) als Ideales bezeichnen. Die reale Seite ist die Erscheinung des Produzierten. Sie erscheint dem endlichen Bewusstsein als bloßes Sein, als Natur, als das Gegenteil der geistigen Welt. Auf dem Standpunkt der Endlichkeit bleibt das Absolute in der Natur verhüllt. 8 In der idealen Welt des Geistes hingegen wird das Absolute zwar nicht durch ein Anderes (Natur) verstellt, aber als rein Ideales bleibt es das Subjektive, das die reale Seite (das Objektive) außer sich hat. Die reine Idealität (das reine Denken) fällt gleichsam ständig in sich selbst zurück. Da jedoch die ideale Welt (wie auch die Natur) in der absoluten Einheit Gottes gründet, strebt sie danach, objektiv zu werden. Die ideale Welt „strebt also nothwendig unmittelbar wieder nach einer Hülle, einem Leib, durch den sie ihrer Idealität unbeschadet objektiv werde; sie integrirt sich wieder durch ein Reales“. 9 Dieses Streben des Geistigen nach einer leiblichen Hülle manifestiert sich im Sprechen. Denn im sinnlich wahrnehmbaren Sprechen wird das Subjektive zu etwas Objektivem, und zwar so, dass beides - Subjektives und Objektives - eine untrennbare Einheit eingeht. Anders formuliert: Die Sprache ist die Integration des Idealen mit dem Realen. Als diese Einheit von Idealem und Realem ist die Sprache Sinnbild des Absoluten. Damit ist der systematische Ort der Sprache in der Identitätsphilosophie aufgewiesen. Genau in diesen Zusammenhang gehört auch die fragliche These: „Die Sprache als die sich lebendig aussprechende unendliche Affirmation ist das höchste Symbol des Chaos, das in dem absoluten Erkennen auf ewige Weise liegt“. 10 Diese Äußerung sollte jetzt - im Kontext des Systems - weniger anstößig sein als am Anfang. Um allerdings den ganzen Sinn dieses Satzes erschließen zu können, müssen noch zwei Begriffe geklärt werden, nämlich ‚Chaos‘ und ‚Symbol‘. 8 Dieser täuschende Schein wird in Schellings Naturphilosophie aufgehoben. 9 SW V, 483. 10 SW V, 484. Sprache, Freiheit und Mythos im Denken Schellings 335 Chaos - dieses Wort hat eine lange und verwickelte Begriffsgeschichte, die Schelling sehr genau kannte (vgl. XII, 596ff.). 11 Er kannte natürlich auch die zentrale Stellung dieses Begriffs bei Böhme und Oetinger. Dem muss hier nicht im einzelnen nachgegangen werden. Für das Verständnis der Sprach-These genügt es, das Folgende zu beachten: ‚Chaos‘ wird an dieser Stelle als philosophischer Terminus in Anspruch genommen (vgl. XII, 597) und bezeichnet das „innere Wesen des Absoluten“. 12 Das Absolute ist ‚chaotisch‘ - nicht als einfache Negation der Form, sondern als das noch ungeschiedene Beisammen aller Formen. Das Göttliche ist Chaos - nicht im Sinne eines heillosen Durcheinanders, sondern als die höchste Einheit von Allem. Wieso aber ist die Sprache Bild des so verstandenen göttlichen Chaos? Schelling nennt als Bestätigung seiner Wesensbestimmung folgende Analogien: In der Idee der Sprache liegt erstens „alles als eins“ 13 , weil sie nicht auf bestimmte Töne und Klänge festgelegt ist, sondern eine unendliche klangliche Mannigfaltigkeit ermöglicht. Zweitens zeigt die Sprache auch in ihrer Bezeichnungskraft etwas ‚Chaotisches‘, sofern sie durch die Bildung von Metaphern das Übersinnliche auf sinnliche Erfahrungen zurückführt. Auf diese Weise deutet die Sprache die ursprüngliche Einheit von Besonderem und Allgemeinem, von Konkretem und Abstraktem an. Drittens sind die einzelnen Teile der Sprache (z.B. ein bestimmtes Wort) nur zu verstehen im Zusammenhang einer ganzen Sprache. Wo aber das Einzelne durch das Ganze und das Ganze durch das Einzelne bestimmt wird, sprechen wir von ‚Organismus‘. Somit zeigt das organische Chaos der Sprache ein Bild des höchsten Lebens. Die Abkunft der Sprache aus dem Absoluten wird auch in einer vierten Hinsicht deutlich: Wie aus Gott alles hervorgeht, so entstehen aus der einen Idee der Sprache alle konkreten Sprachen, die je wieder für sich ein Universum bilden. Deshalb wird die Schöpfungstat angemessen als Sichaussprechen des Logos beschrieben (wie im Prolog des Johannes-Evangeliums). - Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich bereits die Tragweite der Schellingschen These über die Sprache absehen. Es bleibt allerdings noch zu klären, warum die Sprache als Symbol charakterisiert wird. 11 Man vgl. dazu Diersel, U., Kuhlen, R., Art. »Chaos«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 980-984. 12 SW V, 465. 13 SW V, 484. 336 Jochem Hennigfeld Symbol ist für Schelling die absolute Einheit (Indifferenz) von Besonderem und Allgemeinem, von Sinn und Bedeutung. Alle Kunst - und die Mythologie als ihr notwendiger Stoff - muss symbolisch aufgefasst werden. Das heißt: Bei der Betrachtung von Kunstwerken darf man sich weder mit der bloßen Bedeutung des Dargestellten noch mit dem bloßen Gegenstand begnügen. Vielmehr müssen wir Werke der Kunst als Synthese von Sein und Bedeutung verstehen. Ein Beispiel: Die Gestalt der Aphrodite (in der Dichtung oder als Skulptur geformt) bedeutet nicht bloß die Liebe. Dann wäre sie nur Allegorie. Sie veranschaulicht uns auch nicht nur allgemeine Verhaltensweisen der Liebenden. Dann wäre sie nur Schema. Vielmehr sollen wir sie auffassen als das, was sie ist: von göttlicher Herkunft und unbeschreiblich schön; als Geliebte und Mutter, betörend und eifersüchtig usw. Und zugleich ist sie als diese ganz konkrete Gestalt die Liebe selbst, die leibliche Schönheit selbst in einer empirisch nicht auszuschöpfenden Existenz. Dieser Symbolbegriff gilt auch für die Sprache. Mag sie vordergründig ‚schematisierend‘ verfahren, indem wir mit allgemeinen Begriffen das Einzelne bezeichnen - in ihrem Wesen ist die Sprache symbolisch, d.h. Einheit von Allgemeinem und Besonderem. Aber noch mehr: Die Sprache ist Symbol des Göttlichen in seinem absoluten Erkennen. Das muss jetzt so verstanden werden: Die Sprache bezeichnet nicht das Absolute; denn das Absolute ist in der Gegenüberstellung von Besonderem und Allgemeinem nicht zu fassen. Sondern: Die Sprache ist das Absolute, nämlich in einer besonderen Gestalt (wie auch die Natur das Absolute in einer besonderen Gestalt ist). Diese Konstruktion der Sprache erreicht eine tiefere Wahrheit als die gemeine Ansicht, nach der die Sprache nichts anderes ist als ein System willkürlicher Zeichen, mit deren Hilfe wir unsere Gedanken anderen Menschen mitteilen können. Indem die Sprache aufgewiesen wird als Symbol des göttlichen Erkennens, zeigt sich der innere Zusammenhang von Denken und Sprechen. Zwar unterscheiden wir zwischen Denken und Sprechen. Aber in ihrem Ursprung sind beide untrennbar verbunden; das eine ist auf das andere angewiesen. Was aber für den Ursprung in der Idee gilt, gilt auch für den konkreten Denk- und Sprachvollzug. Weiterhin ist zu beachten: Wenn die Sprache Symbol des ewigen ‚Produzierens‘ Gottes ist, dann ist die Sprache selbst produzierend; sie hat eine ‚poietische‘, d.h. seinlassende Potenz. Dieses Sprachwesen offenbart sich am reinsten in der Dichtung, die eigene Welten schafft. Aber auch unsere Sprache, Freiheit und Mythos im Denken Schellings 337 natürliche Sprache ist noch von dieser ursprünglich erschließenden Kraft bestimmt. Insgesamt deckt Schellings Konstruktion der Sprache im Identitätssystem nicht nur den symbolischen Zusammenhang zwischen Sprechen und göttlichem Schaffen auf; sondern sie macht vor allem auch deutlich, dass die Sprache kein beiläufiges Mittel, sondern ein Wesensmerkmal des Menschen ist. - Gehört auch die Freiheit zum Wesen der menschlichen Existenz? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst zu klären, was Freiheit überhaupt meint. II. Freiheit 14 : Die Notwendigkeit des Wesens „[…] Nothwendigkeit und Freiheit stehen ineinander, als Ein Wesen, das nur von verschiedenen Seiten betrachtet als das eine oder andere erscheint […].“ 15 Man wird sogleich einwenden, dass Freiheit und Notwendigkeit doch einander ausschließen; Notwendigkeit bedeutet Zwang, also das Gegenteil von Freiheit. Freiheit, so wird man weiter argumentieren, besteht in dem nicht determinierten Vermögen, zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen zu können, um dann eine dieser Möglichkeiten willkürlich zu realisieren. Diese Auffassung - Schelling nennt sie den ‚gewöhnlichen Begriff der Freiheit‘ (vgl. VII, 382) - führt jedoch in ein Dilemma, das in der Philosophie unter dem Stichwort ‚Buridans Esel‘ verhandelt wird. Damit ist das folgende Problem gemeint: Wenn ich gänzlich unschlüssig vor mehreren (oder auch nur zwei) Möglichkeiten stehe und schließlich eine von diesen Möglichkeiten willkürlich wähle, dann mache ich das Erwirkte zu einem Produkt des Zufalls, der von der Vernunft schlechthin nicht zu begreifen ist. Schelling drückt es so aus: „Sich ohne alle bewegende Gründe für A oder -A entscheiden zu können, wäre […] nur ein Vorrecht, ganz unvernünftig zu handeln, und würde den Menschen von dem bekannten Thier des Buridan […] eben nicht auf die vorzüglichste Weise unterscheiden“. 16 Wer auf bloßen 14 Die folgende Darstellung geht nur auf Schellings »Freiheitsschrift« von 1809 ein. Aufschlussreiche Kommentare bietet folgende Ausgabe: Schelling, F. W. J., »Über das Wesen der menschlichen Freiheit«, hg. v. Th. Buchheim, Hamburg 1997. - Eine durchgängige Interpretation versucht der Verfasser: »F. W. J. Schellings ›Über das Wesen der menschlichen Freiheit‹«, Darmstadt 2001. 15 SW VII, 385. 16 SW VII, 382. 338 Jochem Hennigfeld Zufall setzt, kann Freiheit nicht begründen. Wer auf diese Weise dem Determinismus ausweichen will, ergibt sich dem Irrationalismus. Um diesen Ungereimtheiten zu entgehen, muss Freiheit anders gefasst werden. Dies geschieht nach Schelling im Idealismus (Kant, Fichte). Danach ist Freiheit eine eigene Art von Kausalität, nämlich im Sinne der Selbstgesetzgebung. Freiheit bedeutet zuerst und vor allem Verwirklichung des eigenen Wesens. Der Mensch handelt frei, wenn er nicht äußeren Beweggründen, sondern seinem eigenen Wesensgesetz folgt. Damit wird auf eine erste Weise die in der zitierten Freiheitsthese behauptete Zusammengehörigkeit von Freiheit und Notwendigkeit greifbar. Freiheit ist „eine innere, aus dem Wesen des Handelnden selbst quellende Nothwendigkeit“. 17 Allein dieser Freiheitsbegriff entgeht der unheilvollen Alternative: entweder unsere Handlungen dem Zufall oder äußeren Zwängen preiszugeben. Der Freiheitsbegriff des Idealismus ist jedoch noch nicht hinreichend, weil er ohne sachhaltige Bestimmung bleibt. Schelling betont: „Der Idealismus gibt nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit. Der reale und lebendige Begriff aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey“. 18 Das mag prima vista einleuchtend sein. Aber diese beiden Wesensmomente der Freiheit - ‚Selbstbestimmung‘ und ‚Vermögen des Guten bzw. Bösen‘ - bergen erhebliche Probleme und stellen vor weitreichende Konsequenzen. Freiheit als Selbstbestimmung bedeutet Entscheidung zum eigenen Wesen. Dieses Wesen darf nicht von vornherein feststehen; dann wäre die Selbstbestimmung nicht mehr frei. Also muss gelten: Die Entscheidung zu seinem Wesen muss die eigene Tat des Menschen sein; der Mensch macht sich selbst zu dem, was er sein wird. Und weiter: Diese Tat fällt nicht in die Zeit; sie kann somit empirisch nicht nachgewiesen werden. Denn alle Vorgänge in der Zeit lassen sich auf vorhergehende Ursachen zurückführen und sind somit nicht frei. „In dem Bewußtseyn, sofern es bloßes Selbsterfassen […] ist, kann jene freie That, die zur Nothwendigkeit wird, freilich nicht vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es erst macht.“ 19 Eine solche Urentscheidung heißt seit Kant ‚intelligible Tat‘. Diese These von einer intelligiblen Tat, die au- 17 SW VII, 383. 18 SW VII, 352. 19 SW VII, 386. Sprache, Freiheit und Mythos im Denken Schellings 339 ßerhalb der Zeit fällt, ist für den gesunden Menschenverstand eine Provokation, die noch gesteigert wird, wenn man ihre Konsequenz betrachtet im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Ist Freiheit immer bestimmt als das Vermögen zum Guten und Bösen, dann gilt dies auch für die intelligible Tat. In welche Richtung aber fällt die Urentscheidung des Menschen? Schellings Antwort ist eindeutig: Die Urtat des Menschen ist eine Entscheidung zum Bösen. Denn man kann nicht ernsthaft bezweifeln, dass es das Böse und Böses gibt. Und wie sollte das Böse anders in die Welt kommen als durch den Menschen? Dadurch nämlich, dass der Mensch sein Selbst ergreift und den Eigenwillen zum Bestimmungsgrund seines Handelns macht, verkehrt er die natürliche, die göttliche Ordnung. Das gilt für jeden von uns. Nur auf diese Weise ist nach Schelling die theologische Lehre von der Erbsünde zu begreifen. „So ist denn der Anfang der Sünde, daß der Mensch aus dem eigentlichen Seyn in das Nichtseyn, aus der Wahrheit in die Lüge, aus dem Licht in die Finsterniß übertritt, um selbst schaffender Grund zu werden, und […] über alle Dinge zu herrschen.“ 20 Die These über das ‚Ineinanderstehen‘ von Freiheit und Notwendigkeit ist jetzt verständlich. Freiheit bedeutet nach Schelling eben, „daß die einzelne Handlung aus innerer Nothwendigkeit des freien Wesens, und demnach selbst mit Nothwendigkeit erfolgt“. 21 Damit sind die Einwände unserer alltäglichen Einstellung jedoch nicht verstummt. Man wird vielleicht zugestehen, dass es dieser Freiheitstheorie zwar gelingt, unsere Handlungen vor der Annahme blinder Zufälligkeit oder vor fatalistischer Determination zu bewahren. Aber statt dessen stellt sie uns vor das Rätsel einer intelligiblen Tat, in der unsere verantwortliche Entscheidung zum Bösen fällt. Indessen: Schellings Freiheitslehre hat nicht nur den Vorteil schlüssiger Argumentation auf ihrer Seite, sondern sie kann sich auch darauf berufen, dass sie mit unseren Erfahrungen und Verhaltensweisen übereinstimmt. Schelling verweist auf Folgendes: Die Urtat bleibt der ‚gemeinen Denkweise‘ unfasslich, aber unser Fühlen hat sie bewahrt. Dem Menschen drängt sich nämlich das Gefühl auf, „als sey er, was er ist, vor aller Ewigkeit schon gewesen und keineswegs in der Zeit erst geworden“. 22 Wir empfinden „Zwang nur im Werden, nicht im Seyn“. 23 20 SW VII, 390. 21 SW VII, 384. 22 SW VII, 386. 340 Jochem Hennigfeld Derjenige, der Unrecht begangen hat und sich entschuldigen will, sagt dann: „So bin ich nun einmal.“ Darin dokumentiert sich zweierlei: Zum einen wird dadurch die Notwendigkeit der Handlung ausgedrückt; zum anderen gesteht der so Redende, dass die Handlung nicht auf äußere Ursachen zurückgeführt werden kann, sondern im eigenen Wesen gründet. Dann aber war die Handlung frei, und der Handelnde ist für sie verantwortlich. Diese Einschätzung ist für unsere Rechtspraxis von grundlegender Bedeutung, wie Schelling an folgendem Beispiel darlegt: Ein Kind zeigt früh einen Hang zum Bösen, so dass man ihn nicht auf einen zeitlich fixierbaren Entschluss zurückführen kann. Spätere Taten bezeugen die ungebrochene Wirkung dieses Hanges. Dennoch wird ein solcher Mensch zur Rechenschaft gezogen. Das lässt sich nur rechtfertigen, wenn es eine unvordenkliche Entscheidung zum eigenen Wesen gegeben hat. - Schellings Beispiele lassen sich noch durch folgendes ‚Reflexionsexperiment’ ergänzen, das jeder für sich selbst durchführen mag: Gesetzt, ich erkenne an, dass es Schuld (und Böses) gibt und dass ich gelegentlich schuldig geworden bin. Versuche ich nun, in meinem Bewusstsein den Zeitpunkt zu finden, an dem ich mich zum ersten Mal gegen das Gute entschieden habe, dann scheitert dieser Versuch. Derart über mich nachdenkend, finde ich mich schon vor als den, der ich immer schon war und bin. Trotz dieser Hinweise auf eigene Erfahrungsmöglichkeiten wird man sich vielleicht weiterhin gegen die Konsequenzen der Schellingschen Freiheitslehre sträuben. Sollte das daran liegen, dass unser Selbst keine höhere Instanz als den eigenen Willen akzeptieren möchte? Könnte in diesem Verkennen des Selbst auch unsere Fehleinschätzung des Mythos gründen? III. Mythos: Der Logos des Polytheismus „Es ist Wahrheit in der Mythologie als solcher.“ 24 Wohlgemerkt: Diese These meint nicht - womit der gesunde Menschenverstand sich noch anfreunden könnte -, dass bestimmte Wahrheiten (z.B. physikalische Gesetze) im mythologischen Gewand erscheinen, weil sie nur so den früheren Menschen verständlich gewesen seien. Vielmehr behauptet 23 Ebd. 24 SW XI, 214. Sprache, Freiheit und Mythos im Denken Schellings 341 Schelling, dass die mythologischen Vorstellungen notwendig und damit unabdingbare Momente der Wahrheit selbst sind. Um zu zeigen, wie sich diese These begründen lässt, werde ich den Weg skizzieren, den Schelling in der sogenannten »Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie« gegangen ist. 25 Dabei handelt es sich insofern um eine via negationis, als die möglichen Mythosdeutungen kritisch abwägend geprüft werden, um das Falsche auszuscheiden. In diesem Dialog wird zugleich die Wahrheit erzeugt (vgl. SW XI, 330). Man behauptet erstens: Die Mythologie ist Dichtung, der keine Wahrheit entspricht. Diese Auskunft legt sich deshalb nahe, weil viele Mythologien in poetischer Form überliefert sind. Die Schwäche dieses Erklärungsversuchs liegt auf der Hand, zum einen sind nicht alle Mythologien als Dichtungen überliefert, zum anderen bekundet der gedichtete Mythos schon bestehende Göttererzählungen. Vor allem aber: Wie soll man erklären, dass die frühe Menschheit (ohne Ausnahme) zu einer poetischen Erzeugung von Mythologien getrieben wurde? Es mag zwar sein, dass Dichter den ursprünglichen Stoff weiter umgestaltet haben, den Ursprung der mythologischen Vorstellungen kann man auf diese Weise jedoch nicht ergründen. Deshalb versucht man es mit einer anderen Deutung. Zweitens erklärt man jetzt: Zwar liege Wahrheit in der Mythologie, aber diese Wahrheit sei allegorisch verhüllt. Die allegorische Einkleidung hat man sich etwa so vorzustellen: Es gab einmal weise Männer (oder Frauen), die intelligenter waren als die vielen anderen. Diese Weisen stellten Theorien über die Natur (oder auch über ein moralisches Leben oder über historische Zusammenhänge) auf. Diese Erkenntnisse wurden personifiziert, um sie dem Volk verständlich zu machen und es behutsam aufzuklären. Das Volk jedoch hielt die neuen Theorien für bare Münze und verfiel einem Irrglauben. So einleuchtend das auf den ersten Blick zu sein scheint - auch dieser Interpretationsversuch scheitert. Schelling wendet ein: Es wäre ja noch zu begreifen, dass viele die neue 25 Als erschließende Interpretation ist nach wie vor empfehlenswert: Volkmann-Schluck, K.-H., »Mythos und Logos. Interpretationen zu Schellings Philosophie der Mythologie«, Berlin 1969. - Die Bedeutung Schellings für gegenwärtige Problemstellungen betont Knatz, L., »Geschichte - Kunst - Mythos. Schellings Philosophie und die Perspektive einer philosophischen Mythostheorie«, Würzburg 1999. 342 Jochem Hennigfeld Lehre missverstehen, aber dass ein Volk diese missverstandene Lehre freiwillig annimmt und zur Norm der Lebensgestaltung erhebt, übersteigt jegliche Glaubwürdigkeit. Vielleicht kann diese Unglaubwürdigkeit überwunden werden, wenn man die ersten beiden Erklärungsversuche zusammennimmt. Die so entstandene dritte Deutung argumentiert folgendermaßen: Nicht die Dichtung und auch nicht eine wissenschaftliche Theorie (bzw. die Philosophie) stehen am Anfang; denn beide - Poesie und Philosophie - sind im Mythos untrennbar verbunden. Poetische Form und wissenschaftlicher Inhalt bilden in der Mythologie eine organische Einheit. Diese Auffassung kommt dem Phänomen des Mythischen erheblich näher als die ersten beiden Versuche. Denn es ist durchaus einleuchtend, z.B. in den homerischen Epen die gemeinsame Wurzel von Kunst und Wissenschaft zu sehen. Aber leider gelangt auch diese ‚organische‘ Interpretation nicht auf einen tragfähigen Grund. Sie kann nämlich die Frage nicht beantworten, welches denn das Prinzip ist, das die Mythologie als Einheit von Poesie und Philosophie erzeugt. Soll der Mythos von uns verstanden werden, dann müsste man erklären, warum zu einer ganz bestimmten Zeit das menschliche Bewusstsein von mythologischen Vorstellungen beherrscht wurde. Das aber heißt: Die Mythologie ist als geschichtliches Phänomen in den Blick zu nehmen. Die bisherigen Theorien bleiben in dieser Hinsicht zu abstrakt. Die vierte (historische) Erklärung des Mythos steht zunächst vor der folgenden Alternative: Entweder ist der Mythos von Einzelnen oder vom Volk selbst erfunden worden. Beide Seiten dieser Alternative sind jedoch nicht plausibel. Denn wenn die Mythologie von Einzelnen erfunden worden wäre, wie sollte sie dann zur gemeinsamen Sache des gesamten Volkes werden. Und wie soll man die Übereinstimmungen der verschiedenen Mythologien erklären? Also legt es sich nahe zu behaupten, die Mythologie sei vom Volk selbst erfunden worden. Diese These setzt allerdings voraus, dass es vor der Erfindung der Mythologien bereits Völker 26 gab. Das erweist sich jedoch als unhaltbare Hypothese, wenn man Folgendes bedenkt: Ein Volk wird zu einem Volk nicht durch räumliche Koexistenz oder durch andere äußere Umstände, sondern durch ein gemeinsames Bewusstsein, durch eine gemeinsame Welt- 26 Schelling versteht Völker als Träger von Hochkulturen; gemeint sind nicht Stammeseinheiten oder Rassenunterschiede. Völker werden wesentlich bestimmt durch eine gemeinsame Sprache (vgl. SW XI, 64). Sprache, Freiheit und Mythos im Denken Schellings 343 ansicht. Und worin soll die einigende Weltansicht gründen, wenn nicht in der Mythologie? Das gesamte Leben eines Volkes - seine Sitten und Gebräuche, seine Gesetzgebung etc. - ist doch aufs Engste mit den mythologischen Vorstellungen verbunden. Die Mythologie bestimmt die Geschichte eines Volkes; sie ist „sein ihm gleich anfangs gefallenes Loos“. 27 Mit dieser Einsicht ist allen bisherigen Deutungen der Boden entzogen, weil sie in der Mythologie eine Erfindung sehen. Wenn die Mythologie und das jeweilige Volk zugleich entstehen, dann gibt es gleichsam keine Zeit für die Erfindung, für das Missverstehen einer Lehre, für die poetische Einkleidung einer Theorie. Das aber bedeutet: Die Mythologie ist ursprünglich als Wahrheit - d.h. als wahre Göttergeschichte - gemeint. In ihrem Ursprung hat die Mythologie religiöse Bedeutung. ‚Ursprünglich als Wahrheit gemeint sein‘ heißt (negativ formuliert), die Mythologie ist kein Aberglaube. Fünftens: Eine Deutung des Mythos, welche die religiöse Wahrheit ernst nimmt, hätte folgende, scheinbar widersinnige Frage zu beantworten: Wie sollen mythologische Vorstellungen mit dem wahren (für Schelling: christlichen) Glauben zusammenstimmen? Oder wie kann der strikte Monotheismus Grundlage für die polytheistische Vielgötterei sein? - Dem gesamten Denkweg, auf dem Schelling diese Frage beantwortet, ist hier nicht nachzugehen. Aber die Problemlösung sei thesenhaft verkürzt angezeigt: Basis der Schellingschen Deutung ist die Einsicht, dass die Mythologie nicht erfunden worden ist. Vielmehr muss sie begriffen werden als notwendiger Prozess des Bewusstseins. Dann aber ist die Frage zu beantworten: Was ist Bewusstsein? Das reine Wesen des Bewusstseins (d.h. vor aller konkreten Wirklichkeit) ist Bewusstsein dessen, was überhaupt in einfacher Einheit ist. Diese Fülle des ungeschiedenen Seins aber ist nichts anderes als das Göttliche. Also ist das ursprüngliche Bewusstsein das Gott in seiner Wahrheit Setzende. Mit dem reinen Bewusstseinswesen ist die letzte Ursache für den Mythos gefunden, nämlich in folgendem Sinne: Das reine Wesen des Bewusstseins ist nicht das wirklich existierende Bewusstsein. Folglich ist in diesem selbst noch nicht wirklichen Bewusstsein auch noch nicht der wirkliche Gott gesetzt. Wirklich wird das Bewusstsein erst durch den Akt des Sich-bewusst-Werdens. Dem ersten wirklichen Bewusstsein ist nun auch Gott als der Wirkliche anwesend. 27 SW XI, 65. 344 Jochem Hennigfeld Aber dieser erste wirkliche Gott des Bewusstseins ist nicht Gott in seiner Wahrheit, d.h. als der absolut Eine. Der erste wirkliche Gott ist nur der relativ Eine; er ist derjenige, dem andere folgen werden. Mit dem ersten wirklichen Bewusstsein beginnt der mythologische Prozess. Dieser Prozess ist die sich wiederherstellende und so sich verwirklichende Wahrheit. Mythologie muss somit verstanden werden als theogonischer Prozess. Das heißt, das Bewusstsein hat diesen Gang zu vollbringen und zu erleben, weil der Mensch in einem wesentlichen Verhältnis zu Gott steht. Dieser Prozess ist wirkliche Göttergeschichte, sofern sie das Werden des wahren Gottes im Bewusstsein verwirklicht. Die Wahrheit der Mythologie liegt somit im Ganzen des theogonischen Prozesses. Dann kann man auch sagen: Der Polytheismus ist wahre Religion - nämlich unter der Voraussetzung, dass das menschliche Bewusstsein den wahren Gott in seiner wesensgemäßen Wirklichkeit nicht schon am Anfang, sondern erst als Resultat fassen kann. In den Worten Schellings: Der mythische Polytheismus „im Ganzen seiner successiven Momente betrachtet, ist der Weg zur Wahrheit“. 28 Macht man sich die Mühe, auf die angezeigte Weise Schellings Deutung des Mythos nachzuvollziehen, dann ist ihre Überlegenheit gegenüber unserer natürlichen Einstellung offenkundig. Der gesunde Menschenverstand geht davon aus, dass die Mythologie erfunden worden ist. Schellings Philosophie der Mythologie hingegen weist auf, dass eine solche Annahme eigentlich nichts erklären kann. Sie steht ratlos vor dem Zusammenhang zwischen Polytheismus und Völkerentstehung; sie versagt vor der Erklärung der ungeheuren religiösen Scheu und Opferbereitschaft der Menschen unter der Herrschaft des polytheistischen Weltbildes; sie muss Zuflucht nehmen zu einer intellektuellen Abschätzung der damaligen Völker, was den von ihnen hervorgebrachten immensen kulturellen Leistungen widerspricht; sie scheitert vor der Tatsache erstaunlicher Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Mythologien. Demgegenüber kann sich Schellings Philosophie am Phänomen der mythologischen Vorstellungen messen lassen. Insofern weist sie nicht nur die Wahrheit des mythologischen Prozesses, sondern ihre eigene Wahrheit auf. Damit endet mein Versuch, mich anhand dreier Thesen der Philosophie Schellings zu nähern. Wie bereits erwähnt, ist Schelling diesen 28 SW XI, 212. Sprache, Freiheit und Mythos im Denken Schellings 345 Themen während seines gesamten Denkweges immer wieder nachgegangen. Die Sprache etwa wird nicht nur in der frühen »Philosophie der Kunst« (1802/ 03) thematisiert, sondern Schelling hält noch 1850 vor der Berliner Akademie der Wissenschaften einen Vortrag mit dem Titel »Vorbemerkungen zu der Frage über den Ursprung der Sprache«. - Der Begriff der Freiheit trifft vielleicht am besten das Besondere des Schellingschen Denkens. Bereits der Zwanzigjährige betont in »Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen«: „Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist - Freiheit! “ 29 Daran hält Schelling bis zu seiner Spätphilosophie fest. - Dass schließlich der Mythos Schelling bereits in seinen philosophischen Anfängen interessiert hat, lässt sich schon am Titel einer 1793 erschienenen Schrift ablesen: »Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt«. Und am Ende seiner Vorlesungstätigkeit in Berlin liest Schelling sechsmal über Philosophie der Mythologie (zweimal über Philosophie der Offenbarung). All dies belegt: Schelling gibt sich im Blick auf die zentralen Problembereiche seiner Philosophie nicht mit einmal gegebenen Antworten zufrieden, sondern er bleibt auf der Suche und gewinnt so erhellende Einsichten in das Wesen von Sprache, Freiheit und Mythos. Darin liegt aber auch eine Aufforderung an uns: Wir sollten mit Schelling die großen Fragen der Philosophie stellen; und wir sollten mit Schelling nach eigenen Antworten suchen. 29 SW I, 177. V. NEGATIVE UND POSITIVE PHILOSOPHIE Gerard Bensussan Schelling und die Frage der Geschichte Ich möchte den Versuch unternehmen, die unterschiedlichen Formen des Gebrauchs der Begriffe ‚Geschichte‘, ‚geschichtlich‘, ‚Geschichtlichkeit‘ in Schellings Philosophie zu erhellen, nicht indem ich darin die Veränderungen und den verschlungenen Fortgang seit den ersten Texten oder zumindest seit dem »System des transzendentalen Idealismus« bis zu seiner Spätphilosophie zurückverfolge, sondern indem ich mich unmittelbar auf diese letzte beziehe, d.h. ausgehend von einer Philosophie, die der Autor selbst als ‚historisch‘ bezeichnet hat. Man muss daran erinnern, dass die Spätphilosophie sich darum bemüht, ihre Positivität mit diesem historischen Charakter koinzidieren oder übereinstimmen zu lassen, so wie Schelling dies in seinen Münchener Lehrjahren definiert hatte. Mit anderen Worten: Die positive Philosophie ist historisch (ihr Gegensatz lässt sich in der Beziehung zur negativen Philosophie als logische oder rein rationale und somit ‚unhistorische‘ aufzeigen). Aber was ist nun in der positiven Philosophie historisch? Darin findet sich die Schwierigkeit, ob sie nun wirklich, real, oder nur scheinbar ist. Die »Einleitung in die Philosophie« aus dem Jahr 1830 umkreist ausdrücklich diese Schwierigkeit: „Ich bezeichnete“, so schreibt Schelling am Anfang der vierten Vorlesung, „jene positive Philosophie auch mit dem Namen der historischen, und [weil] ich wegen dieser Benennung leicht mißverstanden werde, so halte ich es für notwendig […] die möglichen Mißverständnisse zuvor noch zu entfernen“. 1 1 Schelling, F. W. J., »Einleitung in die Philosophie«, hg. v. W. E. Ehrhardt, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1989, 8. Schelling und die Frage der Geschichte 347 Schelling bemüht sich also, eventuelle Missverständnisse in Bezug auf die Benennung des Historischen auszuschließen. Die Klarstellung greift die Frage bzw. den Widerspruch eines Zuhörers auf, den dieser zwischen den Vorlesungen IV und V, das heißt von einem Vorlesungsteil zum nächsten, erhoben hatte. Schelling empfiehlt, dass er vielleicht letztlich auf den Begriff der ‚historischen Philosophie‘ verzichten müsste, um diesen durch den einer ‚positiven Philosophie‘ zu ersetzen. Tatsächlich neigt er aber dazu, beide Begriffe weiterhin zu benutzen (siehe die Häufigkeit des Auftauchens beider), denn, so müssen wir feststellen, der Begriff einer ‚historischen Philosophie‘ verschwindet nie. So verzichtet Schelling niemals vollständig darauf. 2 Das Argument der »Einleitung« aus dem Jahr 1830 wird erneut aufgegriffen und in einer ausführlichen Anmerkung der »Berliner Einleitung« von 1841 in gestraffter Form zusammengefasst. Ausgehend von einer negativen Eingrenzung versuchen wir, die Ausdrucksformen und Bedeutungsmöglichkeiten dieser Argumentation, so wie sie sich aus den beiden genannten Texten ergeben, zu rekapitulieren. Zunächst gilt es genau zu verstehen, was für Schelling ‚historisch‘ im Begriff ‚historische Philosophie‘ als solchem nicht bedeutet bzw. bedeuten kann. Das heißt Folgendes: Positive Philosophie, Philosophie der Mythologie und der Offenbarung, unterscheidet sich von allem Wissen über die inneren Notwendigkeiten der einzigen Denksphäre. Deshalb kann die historische Philosophie keine ‚Geschichte der Philosophie‘ sein, die dem zufälligen chronologischen Ablauf der Systeme folgt 3 , und sich damit begnügt, (über) das Denken zu denken, und es dabei innerhalb eines Prozesses ergreift, der ihr den Anschein einer Notwendigkeit verleiht, damit aber selbst aufhört zu denken. 4 Darüber hinaus darf man die ‚historische Philosophie‘, sagt Schelling in der erwähnten Anmerkung von 1841, nicht für eine ‚Philosophie der Geschichte‘ halten, was sich, so wie er in München lapidar hinzufügt, von selbst versteht. Überdies ist sie auch kein Wissen, das aus einer Offenbarung hervorgeht und auf die Instrumente der Vernunft verzichtet. Sie ist weder ‚Geschichte der Philosophie‘ noch ‚Philosophie der Geschichte‘ noch ‚subjektive Philosophie‘. Also was dann? Das, was die positive Philosophie 2 Ebd.: „[J]ene Philosophie, die wir […] noch immer die historische nennen wollen“, siehe auch 13. 3 Ebd., 11. 4 Ebd., 14. 348 Gerard Bensussan zu einer historischen macht, ist nicht die Vorgehensweise, sondern ihr Objekt selbst. Es ist nicht das Wie des Wissens, sondern sein Inhalt, wie es Schelling in seiner Berliner Anmerkung schreibt. Eine Philosophie ist nicht ‚historisch‘, weil sie ein Objekt (sich selbst oder die Universalgeschichte) in der genetischen Modalität seiner fortschreitenden Darstellung behandelt oder weil sie sich in ihrem ‚unmittelbar historischen‘ Stoff aufhebt. Es gibt historische oder geschichtliche Philosophie bzw. ‚historische‘ Erklärung, seitdem die Welt oder die Einzeldinge, ausgehend von einer Freiheit ‚in actu‘, nicht in deduktiver Weise, ausgehend von einer überzeitlichen und ewigen Wesenheit (Spinoza wird hier als Beispiel genannt), ins Auge gefasst werden. Dies ist eine Philosophie, die „bei der Erklärung der Welt etwas Positives, Willen, Freiheit, Tat“ 5 annimmt, denn wahres Denken „ist ja ein auf etwas außer sich gehendes Denken“. 6 Das entspräche einer Philosophie, die den ‚historischen Weg‘ beschreitet. Es ist offensichtlich, dass Schelling hier rückblickend den Umschwung ins Auge fasst, der sich in seinem eigenen philosophischen Werdegang abgespielt hat, und zwar in seiner mittleren Philosophie, der Übergang vom Primat des Ontologischen zu einer Unterordnung unter das Historische, von der Ungeschichtlichkeit der Wesenheit zur Erklärung durch den Akt. Diese Grenzbestimmung (die drei „Mißverständnisse“, die in der Berliner Anmerkung erläutert werden) und ihre Beschreibungen (Exteriorität als Richtung des Willens) bleiben in der Einleitung von 1830 ziemlich verschwommen. Im Gegensatz dazu werden sie 1841 als deutlich dargestellt betrachtet. Um ein genaueres Wissen darüber zu erhalten, muss man sich die zehnte Vorlesung der »Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie« anschauen, höchst wahrscheinlich nach 1830 geschrieben, da die uns bekannte Version Thema seiner Berliner Lehrveranstaltung von 1845-46 ist. Was hat es nun zunächst mit der ‚Philosophie der Geschichte‘ auf sich, über die die »Einführung« von 1830 sehr schnell hinweggeht und sich damit begnügt festzustellen, dass es selbstverständlich sei, dass die historische Philosophie keine Philosophie der Geschichte sei? In seiner »Historisch-kritischen Einleitung« gesteht Schelling, nachdem er daran erinnert hatte, dass es die Franzosen und dann Herder gewesen seien, die das Schicksal des Begriffs gesichert hätten, eine gewisse Verwirrung bezüg- 5 Ebd., 13. 6 Ebd., 14. Schelling und die Frage der Geschichte 349 lich seiner Voraussetzungen ein. Von der Philosophie der Geschichte zu sprechen, heißt, „die Geschichte als ein Ganzes“ zu definieren. 7 So wendet er zu Beginn ein, dass dies ein Ganzes ist, das nicht alles ist, weil einerseits die Zukunft darin keinen Teil darstellt und weil andererseits das Ganze die größten Schwierigkeiten hat, selbst zu wissen, wo es seinen Anfang hat. Die Geschichte, so wie sie die Philosophie der Geschichte ins Auge fasst, ist also ein Ganzes, das nirgendwo beginnt und nirgendwo endet, ohne Anfang, ohne Zukunft, „ein Ganzes und Abgeschlossenes […] eine gleichmäßig ins Unendliche fortgehende, durch nichts in sich selbst unterschiedene und begrenzte Zeit“. 8 Dieser Vorstellung fehlt essentiell ein wirklicher Zusammenhang der Zeiten und genau in diese Richtung geht die Schellingsche Reflexion. Ist die Geschichte nun zumindest in ihren Inhalten und Objekten das ‚Ganze‘ des Vergangenen, sowohl eine geschlossene Formation als auch empirisch beobachtbar? Oder (und dies ist der Verdacht, den Schelling seit dem Fehlen eines ‚Systems‘ der Zeiten hegt) ist sie nicht sogar gezwungen, das Vergangene selbst in dieser undefinierten Progression zu betrachten, ohne Halt oder Pause? Wie verhält es sich dabei zum Beispiel mit der gebräuchlichen Unterscheidung zwischen historischer und prähistorischer (Schelling sagt hier eher: geschichtlicher/ vorgeschichtlicher) Zeit? Bringt sie den Historikern, die sie benutzen, eine Wesensdifferenz, die so erlaubt, zeitliche Begrenzungen zu produzieren, d.h. effektive Definitionen einer eigentlich historischen Zeit und einer anderen Zeit, einer Zeit, die anders als historisch ist? Kann man also eine wirkliche Grenze zwischen den beiden Zeiten ziehen? Schelling, dem gewöhnlichen Gebrauch der Historiographen und Geschichtsschreiber gegenüber sehr aufmerksam, konstatiert, dass es damit nichts auf sich hat. Die Unterscheidung zwischen Historischem und Prähistorischem etabliert sich vollkommen trivial, nämlich ausgehend von einer externen und zufälligen Differenz. Die historische Zeit, von der die Historiker sprechen, ist ganz einfach die, von der wir etwas wissen können; die vorgeschichtliche diejenige, von der wir nichts wissen. Schelling macht sich nebenbei darüber lustig, in welche Verlegenheiten die Autoren der großen enzyklopädischen Universalgeschichten geraten, die nie wissen, wo und von wo aus zu beginnen ist und sich so nie 7 Schelling, F. W. J., »Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie« (= Historisch-kritische Einleitung), SW XI, 230. 8 Ebd. 350 Gerard Bensussan über einen Ausgangspunkt einigen können. Erforderlich ist an dieser Stelle also eine essentielle Richtigstellung, die zu einer strikten Unterscheidung führt zwischen „alles was geschah (zu wissen)“ und „etwas von der eigentlichen Geschichte zu verstehen“ 9 , an der Schelling immer festzuhalten suchte. Die prähistorische Zeit muss eigentlich ‚vorhistorisch‘ und nicht ‚vorgeschichtlich‘ benannt werden, weil sie im engen Sinne nichts Nicht-Historisches ist. Tatsächlich handelt es sich um ein und dieselbe Zeit, wenn die Historiker von Prähistorie und Historie sprechen. Es gibt keinerlei interne, inhaltliche Differenz zwischen den sogenannten beiden Zeiten, einer Zeit voller Ereignisse (‚geschichtlich‘), einer anderen Zeit, in der niemals etwas passiert wäre, einer Zeit vor jedem Ereignis (‚vorgeschichtlich‘). Das Ungesicherte der Dokumente, der Archive, die radikale Zufälligkeit ihrer Beweisfähigkeit, ihre mehr oder weniger erwiesene Glaubwürdigkeit - die historiale (d.h. streng genommen historisch und nicht geschichtlich - ich beziehe mich hier auf die französische Übersetzung der »Historisch-kritischen Einleitung« 10 ) Zeit mit eingeschlossen - regeln allein die Willkür einer falschen Differenz. Kann man aber diese Differenz als Symptom begreifen, ganz anders also als die Differenz zwischen Selbstanwesenheit der Geschichte, ihrem Geschehen im Hegelschen Sinne („Geschichte ist, was geschieht“), und ihrem Vorher, dem Vorangehen jeglicher Selbstanwesenheit vor dem geschichtlichen Geschehen der Geschichte? Schelling vermutet so etwas, eine mehr oder weniger gewusste, bewusste Differenz, ein Vorurteil, das im Unbewussten der Historiker still arbeitete, das Vorurteil also, das er so beschreibt: „Aber ist nach den gewöhnlichen Begriffen in der vorgeschichtlichen Zeit wirklich etwas anderes als in der geschichtlichen? Keineswegs; der ganze Unterschied ist bloß der äußere und zufällige, dass wir von der geschichtlichen etwas wissen, von der vorgeschichtlichen nichts wissen“. 11 Nach Schelling ginge es genau umgekehrt: was die bedeutendsten Vorgänge verbirgt, sei „jenes unbekannte Land, jenes der Historie unzulängliche Gebiet, in dem sich die letzten Quellen aller Geschichte verlieren“ und das wie die 9 Schelling, F. W. J., »Die Weltalter, Fragmente, in den Urfassungen von 1811 und 1813«, hg. v. M. Schröter, München 1946 (= »Die Weltalter«), I, 6. 10 Schelling, F. W. J., »Introduction à la philosophie de la mythologie«, Paris 1998. 11 Schelling, F. W. J., »Historisch-kritische Einleitung«, SW XI, 231. Schelling und die Frage der Geschichte 351 „Kindheit eines historischen Individuums“sei. 12 Und wenn man unbedingt und um jeden Preis auf den „großen und gleichsam für heilig gehaltenen Grundsatz von dem steten Fortschreiten des Menschengeschlechts“ besteht, wenn man ihn nicht „antasten“ möchte, wenn man also ein „Wohin“ sucht, einen Sinn, einen Fortschritt, gehen die Geschichtsphilosophen (bei denen Wohin, Von-wo, Sinn und Fortschritt zusammenhalten) „vom Kleinen ins Große“, anstatt anzuerkennen, dass „vielmehr umgekehrt das Große, Gigantische überall den Anfang [macht]“. 13 Hier erweist sich schon ein erster und bemerkenswerter Zug des Schellingschen Denkens der Geschichte und der Geschichtlichkeit: Es kommt darauf an, das „Geschichtliche als Geschichtliches zu begreifen“. 14 Es geht hier um etwas, woran Schelling oft mit einer bestimmten Ernsthaftigkeit erinnert. Und diese Frage des Geschichtlichen als Geschichtliches ist sehr oft um den Status des Anfangs philosophisch artikuliert, gegliedert, d.h. um die Beziehung zwischen Geschichte und Zeit, zwischen Geschichtlichkeit und System der Zeiten, und auch um das Thema des Geschehnisses, des Ereignisses als „Wirklichkeit vor aller Möglichkeit - Wirklichkeit, der keine Möglichkeit vorhergeht“, bezogen auf sein „unvordenkliches Existieren“. 15 Architektonisch wird dieselbe Frage um den Platz einer Philosophie der Mythologie gegliedert als „der erste, also nothwendigste und unumgänglichste Theil einer Philosophie der Geschichte“ 16 , eines Denkens der Geschichte und deren Geschichtlichkeit, die zu konstruieren wäre, ausgehend von dem ‚unvordenklichen Existieren‘, dem ‚Gigantischen‘, das den signifikanten Zugang zur Geschichte befiehlt. Ich gehe hier nicht auf die Schellingsche Philosophie der Mythologie ein. Nur einen Punkt möchte ich betonen: Mythos ist für Schelling nichts Mythisches. Mythos ist geradezu geschichtlich, nicht weil er empirische und feststellbare Fakten enthielte, sondern weil er eine Wirklichkeit war, weil er wirklich gewesen ist. Als solcher ist er Inhalt der Geschichte. Geschichte beinhaltet Mythen und dadurch wird die Frage, die dunkle Frage ihres Anfangs gestellt. Obwohl Schelling diese 12 Ebd., 231f. 13 Ebd., 239. 14 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung«, SW XIV, 33. 15 Ebd., SW XIII, 262. 16 Schelling, F. W. J., »Historisch-kritische Einleitung«, SW XI, 237. 352 Gerard Bensussan Trennung, diese Unterscheidung nicht immer sehr klar macht, scheint es mir, dass für ihn Anfang nicht mit Ursprung gleichzusetzen ist. Wie die deutschen Wörter zeigen, bedeutet Anfang den Augenblick eines Ergreifens, eines Fanges 17 und so eines Bruchs, eines Moments, der eine „seichte und schlechte Philosophie der Geschichte“ 18 nicht als ernste Frage begreifen kann. Ursprung dagegen lässt sich nicht in der Philosophie der Mythologie als Anfang konstruieren. Er ist eben ein erster Sprung, aus dem der Mythos entspringt. Ursprung ist eigentlich unvordenklich und geht jedem Anfang voraus. Kommen wir jetzt zu den positiven Schlüssen der Schellingschen Symptomatologie der Historie, der Historie der Historiker. Wenn der Unterschied zwischen ‚historischer‘ und ‚vorhistorischer‘ Zeit (geschichtlich/ vorgeschichtlich) sich nicht anhand einer rein äußerlichen Differenz verstehen lässt, die in ein und demselben Zeitkontinuum Platz hätte, wenn also die Homogenität der Zeit, welche das gründliche Vorurteil aller Philosophien der Geschichte wäre, nicht gestattet, dass diese Differenz ausgedacht wird, und wenn, was Schelling behauptet, eine wirkliche Differenz doch durch die Zeit und durch die Geschichte läuft, worin besteht sie? Schelling erklärt, man habe mit zwei wesentlich verschiedenen, d.h. diskontinuierlichen Zeiten zu tun. Der Inhalt der vorgeschichtlichen Zeit ist die Krisis, der Übergang, die unterscheidende Trennung, d.h. die Erscheinung des theogonischen Bewusstseins („Entstehung der formell und materiell verschiedenen Götterlehren“) und des ethnogonischen („Völkerscheidung“) Bewusstseins. 19 Diese vorgeschichtliche Zeit ist also voller Ereignisse, sie ist also geschichtlich oder ‚signifikant‘, genauso bedeutend wie die geschichtliche Zeit im strengen Sinne des Wortes. Da liegt also nicht der Unterschied. Wobei sich die historische Zeit wesentlich von der prähistorischen unterscheidet (aber die Grenzen verstellen sich schon, Schelling setzt sie, setzt die üblichen Trennungen in eine außerordentliche Bewegung). Das bedeutet Folgendes: Die Erzeugung, die Produktion, die Prozesse (Geschichte) werden bestimmt als erzeugte Produkte, daseiende Objekte, sie werden als von etwas Vorhergehendem bestimmt. Man hat also nicht mit einer unbegrenzten Zeit zu tun, die die Geschichtsschreibung nach Belieben scheidet, abschneidet, unterscheiden könnte 20 , mokiert sich Schelling. 17 Schelling selbst betont es in den »Weltaltern«, SW VIII, 216. 18 Schelling, F. W. J., »Historisch-kritische Einleitung«, SW XI, 238. 19 Ebd., 233. Schelling und die Frage der Geschichte 353 „[D]ie geschichtliche und die vorgeschichtliche Zeit [sind] nicht mehr bloß relative Unterschiede einer und derselben Zeit, sie sind zwei wesentlich verschiedene und voneinander abgesetzte, sich gegenseitig ausschliessende, aber eben darum auch begrenzende Zeiten“. 21 Die sogenannte geschichtliche Zeit bekommt also eine Bestimmung (d. h., wie Schelling sagt, einen Typus und ein Gesetz), die ganz verschieden ist von der sogenannten vorgeschichtlichen Zeit. Und diese letzte vorgeschichtliche Zeit stützt sich selbst auf eine Art Zeit, die eine Zeit/ Nicht-Zeit wäre, wie Franz Rosenzweig in einem anderen, aber doch verwandten Zusammenhang schreibt. Deswegen nennt sie Schelling eine ‚relativ-vorgeschichtliche‘, gestützt auf eine ‚absolutvorgeschichtliche‘, eine ‚zeitlose Zeit‘, eine Zeit der Unbeweglichkeit, ohne wirkliche Sukzession‚ eine Art Ewigkeit. 22 Aufgrund dieser beiden eng verknüpften Elemente gilt: Erstens ist Geschichte umfassender als Historie: „Man kann Geschichte und Historie unterscheiden, jene ist die Folge der Ereignisse und Begebenheiten selbst, diese die Kunde derselben. Hieraus folgt, daß der Begriff der Geschichte weiter ist, als der Begriff der Historie“. 23 Zweitens ist also die Geschichte, das Geschehen, nicht ganz in der Historie, weshalb man drei Zeiten unterscheiden kann: erstens die absolut vorgeschichtliche Zeit vor der Geschichte und vor der Historie natürlich; zweitens die relativ-vorgeschichtliche (vorhistorisch nennt sie auch Schelling) Zeit der Entstehungen der unterschiedlichen „-gonien“ (Theogonien, Ethnogonie, usw.) und drittens die eigentlich historische Zeit. Es gibt m. E. in dieser strukturalen Beschneidung der geschichtlichen Zeit etwas sehr Fruchtbares, wenn man auch viele Aspekte davon bestreiten kann. Und man kann Habermas in seiner Dissertation über das Absolute und die Geschichte bei Schelling zustimmen, wenn er schreibt 24 , dass in mancher Hinsicht Schelling ein viel feineres und wesentlicheres Verständnis oder Gefühl der Geschichte hätte als Hegel. 20 „Die Zeiten unterscheiden sich voneinander nicht durch bloßes Mehr oder Weniger sogenannter Kultur, ihre Unterschiede sind innere, sind Unterschiede wesentlich oder qualitativ verschiedener Principien.“ Ebd., 239. 21 Ebd., 233. 22 Ebd., 235. 23 Ebd. 24 Habermas, J., »Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken«, Bonn 1954, 12. 354 Gerard Bensussan Es scheint sogar, dass Schelling der Erfinder oder der Miterfinder des Terminus ‚Geschichtlichkeit‘ gewesen ist, oder zumindest, dass er zur Zirkulation des Terminus wesentlich beigetragen hat. Man kann auch in dieser Beziehung bemerken, dass das »System des transzendentalen Idealismus« eigentlich der erste Text des deutschen Idealismus ist, in dem Geschichte in der transzendentalen Philosophie als solche eingeführt und thematisiert wird. Es gibt bei Schelling „eine Tendenz zum Geschichtlichen“, die er selbst und retrospektiv in seiner ganz originellen Art des Philosophierens, in seiner philosophischen Produktion, nachträglich durchschaut. 25 Indem das Schellingsche Denken der Geschichte gemäß der zeitlichen Qualitäten operiert und nach diesen Zeiteigenarten unterscheidet, erweist es sich wiederum in seiner Tendenz zum Geschichtlichen. Darin besteht sein eigentlicher, sein besonderer Geschichtlichkeitsbezug, der es zu einem Bruch bringt, zum Bruch mit den Vorstellungen einer linearen und homogenen Zeit, die die undifferenzierte Zeit der Geschichte wäre, eine unbegrenzte Zeit für eine zeitlich unbestimmte Geschichte. Was heißt das? Das heißt zuerst einmal, dass die historische oder geschichtliche Zeit in einem ‚Organismus‘ oder in einem ‚System‘ der Zeiten nach der Terminologie der »Weltalter« eingefügt sein soll, um richtig gedacht zu werden. Genauer gesagt: Jede Zeit, jede in Betracht kommende Zeit, wird von einer Zeit bestimmt, die nicht nur kumulativ vor oder nach ihr kommt, sondern die sie kontrahiert, widerruft, belastet oder entlastet usw. In diesem zeitlichen Kräftespiel erscheinen die Zeiten, die geschichtlichen Zeiten, als eigentlich unterschiedene, differenzierte Zeiten, Zeiten die historisch untereinander verschieden sind. Es sind differentielle Zeitlichkeiten, Geschichtszeiten, die sich auf eine ‚zeitlose Zeit‘ stützen, auf eine Art Unbeweglichkeit, auf eine mythologische Vorgeschichte. Erstens aufgrund des Unterschieds zwischen Geschichte und Historie und zweitens aufgrund der qualitativen, wesentlichen Differenz zwischen eigentlicher Geschichte und kritischer Vorgeschichte (Zeit der Krisis, der Trennung, der Bewegung) schlägt Schelling vor, die Geschichte insgesamt differenziert und nach Schichten, ‚lato et stricto sensu‘, zu lesen und zu deuten. Die ‚gemeine‘ Geschichte, wie Schelling sich in den »Weltaltern« ausdrückt, d.h. die phänomenale, äußerliche 25 „So verrieth sich schon durch meine ersten Schritte in der Philosophie die Tendenz zum Geschichtlichen.“ SW X, 94. Schelling und die Frage der Geschichte 355 Geschichte, sei in ihrem tiefen Herzen von und durch eine ‚eigentliche‘ Geschichte, d.h. „ein höheres Geschichtliches“ 26 , ein inneres Geschichtliches, eine „übergeschichtliche Geschichte“ - nach dem außerordentlichen Ausdruck Schellings 27 - bestimmt. In mancher Hinsicht erinnert diese provozierende Deutung der Geschichte an einige Thematisierungen des »Systems des transzendentalen Idealismus«, insbesondere an jene bemerkenswerte Idee eines ‚antihistorischen Fortschritts‘. Es gibt natürlich zwischen den beiden Perioden des Schellingschen Philosophierens wichtige Unterschiede. 1800 geht es darum, zwei Elemente produktiv, kreativ zusammenzubinden: Erstens schließt der Begriff der Geschichte den Begriff eines unendlichen Fortschreitens ein, denn es kann menschliche Geschichte lediglich unter der Bedingung geben, dass ein Ideal überliefert wird: „Geschichte [besteht] weder mit absoluter Gesetzmäßigkeit noch auch mit absoluter Freiheit, sondern [ist] nur da, wo ein Ideal unter unendlich vielen Abweichungen realisirt wird“. 28 Zweitens erlaubt diese Progressivität gemäß ihres Wesens (unendlich de jure) und gemäß der Natur der Überlieferung (Unendlichkeit de facto der ‚Abweichungen‘) aber keineswegs, dass daraus „unmittelbar auf die unendliche Perfektibilität der Menschengattung ein Schluß gezogen“ wird. 29 In diesen manchmal insinuösen Formulierungen des »Systems des transzendentalen Idealismus« möchte ich den originellen Versuch sehen, die Geschichte ganz anders zu denken als unter der matriziellen Schablone der Geschichtsphilosophien, was die späteren Theoretisierungen bestätigen werden. Eine vorläufige Rekapitulation: Wenn die ‚äußere‘ Geschichte ohne jeglichen Bezug zur ‚inneren‘ Geschichte bliebe, würde sie immerwährend in einem blinden Prozess stagnieren, in einer Art Scheinhandlung, unwissend über die Bedeutung der zu Tage tretenden Erscheinungen und Bewegungen. Die Ereignisse, die die äußere, gemeine Geschichte gestalten, würden sich, wenn sie von einem Verhältnis zum ‚Übergeschichtlichen‘, zu einer geschichtlichen Außergeschichtlichkeit, abgeschnitten wären, endlos und ewig wiederholen, miteinander kausal verketten ohne Möglichkeit einer Befreiung, einer Lösung aus diesen 26 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung«, SW XIII, 195. 27 Ebd., SW XIV, 35. 28 Schelling, F. W. J., »System des transzendentalen Idealismus«, SW III, 588. 29 Ebd., 592. 356 Gerard Bensussan Ketten der Kausalität. Im Grunde (und das hatte sicherlich Habermas bei Schelling bemerkt) sind die feinsten geschichtlichen Gefühle, die Empfindungen für Geschichte, diejenigen, die fähig wären, der Illusion einer reinen Selbstimmanenz der Geschichte zu entkommen. Etwas Historisches auch als etwas, das jenseits der Historie steht, zu denken - darum geht es bei Schelling - um die Betonung der strengen Unmöglichkeit einer absoluten Immanenz, sowohl gnoseologisch als ontologisch. Die Geschichte, als in einer konstitutiven Beziehung zu einer Äußerlichkeit bestimmt, ist nicht Historie, d.h. nicht angehäufte Masse von vergangenen und so kristallisierten Ereignissen. Die Schellingsche Geschichtlichkeit wird von der Idee einer höheren Geschichtlichkeit überdeterminiert. Es gibt daher in dieser Überdeterminierung eine Erneuerung, die Möglichkeit einer Erneuerung der Wortkonstellation historisch, geschichtlich usw. Etwas gibt sich den Menschen, etwas, das sie zu erfahren, zu erproben haben. Deswegen bleibt der Geschichte die Dimension des a priori fremd, deswegen ist eine Philosophie der Geschichte unmöglich, da keine Lehre, keine Philosophie in der Lage ist, die Taten der Menschen im Voraus zu sehen. Und das hat Schelling von Anfang an betont: Die Menschen haben eine Geschichte, insofern sie nicht a priori bestimmt ist, eine Geschichte a priori ist ein Widerspruch. Eine Wissenschaft der Geschichte a priori ist also unmöglich. 30 Jetzt haben wir zu fragen, worin die Inhalte von Schellings höherer Geschichtlichkeit bestehen. Was bedeuten dieser neue Begriff und diejenigen, die sich mit ihm zusammenfügen: Anfang der Geschichte, Unterschiedlichkeit, Beziehung Geschichte/ Historie, Äußerlichkeit usw.? Für Schelling ist es das Christentum, das die gegenseitige Bindung der beiden ‚Geschichten‘, der inneren und der äußeren, repräsentiert, genauer gesagt, inkarniert. Warum? Zuerst, weil die Philosophie der Offenbarung insgesamt auf eine Zukunft zielt, in der Ereignisse auftauchen (Schöpfung, Verfall, Offenbarung, Verkörperung, Erlösung), die Gott selbst inszeniert, Gott und seine Geschichte, die Schelling mindestens seit den »Weltaltern« erzählen will. Ich erinnere daran, dass diese Philosophie der Offenbarung keinesfalls eine ‚christliche Philosophie‘ ist, wie Schelling in der Berliner Einleitung sehr ausführlich erklärt und darlegt, 30 Vgl. Schelling, F. W. J., »Aus der Allgemeinen Uebersicht der neuesten philosophischen Literatur«, SW I (= Aus der Allgemeinen Übersicht), 473. Schelling und die Frage der Geschichte 357 und diese Erklärungen müssen wir sehr ernst nehmen und philosophisch begreifen. Durch sie, durch diese Ausführungen und Erklärungen 31 , zeichnet sich ein zweifaches Ins-Werk-Setzen der Historisierung ab. Einerseits bezeichnet die Offenbarung, dass es ein „alles Denken Übertreffende[s] und gleichsam Überflügelnde[s]“ 32 gibt, d.h., sie enthält etwas, „was über die Vernunft hinausgeht, was mehr ist, als was die Vernunft enthält.“ 33 Auf der anderen Seite muss der Begriff der Offenbarung (dies fordert dessen Schellingscher Gebrauch) ausgeweitet werden: „[S]ie wird, wenn überhaupt zu begründen, nur in einem höheren geschichtlichen Zusammenhange zu begründen sein, in einem höheren, d.h. in einem der über sie selbst und das Christentum als spezielle Erscheinung hinausgeht, einem anderen, als den man gewöhnlich vor Augen hat.“ Und diese Erweiterung der gewöhnlichen Offenbarung vollzieht sich durch eine „geschichtliche Vermittlung der Thatsache“. 34 Also der Über-Begriff einerseits, die Erweiterung durch die Faktizität der Tatsache andererseits erbringen eine Erweiterung der Philosophie über ihre bisherigen Schranken hinaus. Diese beiden Züge zusammen bilden das, was Schelling historisch oder geschichtlich nennt. In genau diesem Sinne ist die Philosophie der Offenbarung eine historische Philosophie. Die Offenbarung, das ist die Geschichtlichkeit schlechthin. Sie geht über den Begriff hinaus und zwingt das Denken, sich über sich selbst zu erheben. Und das Christentum bewirkt sozusagen diese Geschichtlichkeit: „Das wäre also eine schlechte, das Eigenthümliche desselben völlig aufhebende Erklärung, welche etwa das Doktrinelle und das Geschichtliche unterscheiden und bloß jenes als das Wesentliche, als den eigentlichen Inhalt, das Geschichtliche aber als bloß Form oder Einkleidung betrachten wollte. Das Geschichtliche ist nicht etwas der Lehre Zufälliges, sondern die Lehre selbst.“ 35 Das Geschichtliche als ‚Lehre selbst‘ verweist also auf etwas ganz Anderes, auf etwas vom Zufälligen Unterschiedenes. In diesem Maße bezeichnet es auch eine Art des Philosophierens, eine Weise des Denkens, ein ‚positives‘ Ausüben der 31 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung«, SW XIII, 133-135. 32 Ebd., 161, Anm. 1. 33 Ebd., 143. 34 Ebd., 143f. 35 Ebd., 195. 358 Gerard Bensussan Philosophie, das sich radikal von einer rein logischen oder rationalen Art, die Welt anzuschauen, unterscheidet. Der Hauptzug der negativen Philosophie besteht in der Tat darin, dass sie jegliches geschichtliche Element aus der Anschauung oder Erklärung der Welt verbannt, sodass sie die Existenz der Welt auf ihre Möglichkeitsbedingungen bezieht und die Welt selber (also die umgekehrte Welt der A-priori-Philosophien) aus diesen Bedingungen ableitet und schließt. Rationalisierung heißt Ausschließung des geschichtlichen Inhalts. 36 Wenn die positive Philosophie zu Recht eine geschichtliche genannt werden darf, wenn sie also das Geschichtliche nicht als etwas Zufälliges betrachtet, dann aus diesem Grund, dass sie sich auf das Faktische, die Tat, das Praktische und das Ereignis orientiert - alles, was sich nicht im Element eines Denkens a priori begreifen lässt. Die Welt existiert gemäß eines unmittelbaren und empirischen Erweises, einer Feststellung, als Wirklichkeit, die wirklich und geschichtlich jeder logischen Möglichkeit vorangeht. Das ganze Projekt der positiven Philosophie stammt aus dieser affirmierten Empirizität, aus dieser positiven Feststellung. 37 Die Philosophie der Mythologie sei also der Grund, aus dem sich die Identität des Doktrinellen und des Geschichtlichen in ihrer eigenen Offensichtlichkeit bildet, und die Philosophie der Offenbarung habe diese Identität auf sich zu nehmen, sie in Bewegung zu bringen in dem Sinn, in dem sie „eine neue Welt der Bewegung“ 38 darstellt, Durchbrechen einer Bewegung auf Grund eines Unvordenklichen, ohne das es nicht einmal Geschichte geben würde. Zum Schluss möchte ich die Schellingschen Grundthesen über die Geschichte so zusammenfassen: Geschichte ordnet sich ihrer eigenen Gliederung nach spezifischen und unterschiedlichen Zeitlichkeiten unter und sie stützt sich dabei selbst auf eine Unzeit, eine Ungeschichte. Deswegen wird jegliche Art von Philosophie der Geschichte unmöglich, die als Teleologie die Subjektivität unter eine Notwendigkeit subsumieren 36 Ebd., 194. 37 Dies lässt sich vielleicht mit dem, was Schelling über die Arbeit des Künstlers schreibt, in Beziehung setzen: Der Künstler (Schelling nimmt das Beispiel des Malers) hat immer zu erfassen, „was herauskommt“, er hat irgendwelche Momente der immer schon daseienden Welt zu ergreifen (eine Kirche, eine Küche oder eine große heroische Handlung). Die (negative) Philosophie dagegen hat ihren Gegenstand immer im Nachhinein „herauszubringen“ (SW XIII, 199), post festum sozusagen. 38 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung«, SW XIII, 385. Schelling und die Frage der Geschichte 359 würde - wohl aber ein wirkliches Denken der Geschichte, d.h. ein Denken, das keineswegs die objektive Gesetzmäßigkeit der Geschichte begreifen möchte, sondern das die Geschichtlichkeit empfangen will als das, wodurch oder wobei der Erfahrung ein Unvordenkliches, ein Unvorhersehbares, eine Faktizität erscheint, die jedesmal die geschichtliche Vernunft überflügelt. Das Schellingsche Denken der Geschichte entflieht so, glaube ich, der schlechten Alternative zwischen einerseits einer selbstbewussten menschlichen Geschichte, einer menschlichen Geschichte als Selbstbefreiung durch Reflexion, und andererseits einer Geschichte als bloßes und wildes Feld von blinden Kräften, Lärm und Furie (Shakespeare). Da die Bewegung, die die Geschichte eröffnet, ein theogonischer Prozess ist, können die Menschen in der Geschichte nicht etwas, das sie gemacht hätten, erkennen - es ist aber ihr Los, sich in der Geschichte zu bewegen. Geschichtlichkeit heißt also Faktizität dieses Ereignisses. Sie bezeichnet nach Schelling nicht den historischen Charakter einer Tat, einer Gegebenheit, sondern eine konstitutive Dimension der Wirklichkeit als solche, der Wirklichkeit, indem sie wirkt oder sich bewirkt. Geschichtlichkeit ist sozusagen ein Verhältnis zwischen einem Grund, einem Absoluten, und dessen Folgen. Das Suffix ‚-gonie‘ bezeichnet so etwas; Mythologie ist also keine Götterlehre, sondern eine Göttergeschichte, eine Theogonie. Geschichte gibt es, sobald sich ein Raum für eine ‚explicatio‘ des Seins, eine Ausfaltung ihrer zeitlichen Konsequenzen, eröffnet. Der Grund begründet zugleich die Möglichkeit einer Geschichte und auch das zeitliche Prinzip, das diese Möglichkeit erlaubt. Der Grund gewährleistet eine Vergangenheit, da er vor dem Begründeten, das er gründet oder begründet, ist. Die Unterscheidung zwischen ‚gemeiner‘ Geschichte und ‚übergeschichtlicher‘ Geschichte besteht also auch in einer Beziehung: in einer Ausfaltung ausgehend von einem Grund, auf Grund des Grundes möchte ich sagen, in einer Entfaltung einer Freiheit ausgehend von einem Absoluten, in einer Tat ausgehend von einem Mangel an Sein usw. So betrachtet, erlaubt sie sicherlich eine besondere Öffnung auf die Erscheinungen der empirischen Geschichte hin. Ein solches Denken der Geschichte kann vielleicht erlauben, dass zugleich die bewusste und projektive Handlung der Menschen und die Undurchsichtigkeit, die Dunkelheit ihrer Auswirkungen zusammen gedacht werden. So wie Schelling es beispielsweise von der Kunst behauptet, könnte man sich vorstellen, dass es in den historischen Subjek- 360 Gerard Bensussan ten ein Ich gäbe, das seiner Produktion nach bewusst wäre, unbewusst aber vom Standpunkt dessen, was es produziert. Die Geschichte der Geschichtsphilosophien dagegen erscheint als diese ‚zweite Welt‘, die Schelling melancholisch in den ersten Seiten der Berliner Einleitung von 1841 hervorruft, diese zweite Welt, „die sich über der ersten erhebt“, über der Natur, diese zweite Welt, deren Initiatoren und Urheber die Menschen sind. Man könnte erwarten, da die Menschen in dieser zweiten Welt durch die Freiheit des Willens wohnen, dass sie in der Lage wären, „eine neue Reihe von Ereignissen für sich anzufangen“. Aber sie gehen unbewusst und sich selbst entfremdet durch diese Welt, denn für sie ist sie wie eine „ungeheure[n], nie ruhende[n] Bewegung, die wir Geschichte nennen“. 39 39 Ebd., 6f. Friedrich Hermanni Gott und Notwendigkeit Kants Metaphysikkritik und Schellings Spätphilosophie Der späte Schelling nimmt an, dass Kants Kritik nicht jede mögliche, sondern nur bestimmte Versionen der Metaphysik betrifft. 1 In seinen Vorlesungen »Zur Geschichte der neueren Philosophie« schreibt er: „Während er [sc. Kant] durch seine Kritik aller Erkenntniß des Uebersinnlichen für immer ein Ende gemacht zu haben glaubte, hat er eigentlich nur bewirkt, daß Negatives und Positives in der Philosophie sich scheiden mußten, aber eben damit das Positive, nun in seiner ganzen Selbständigkeit hervortretend, sich der bloß negativen Philosophie als die zweite Seite der Philosophie überhaupt, als positive, entgegensetzen konnte.“ 2 Durch die Unterscheidung und Zuordnung von negativer und positiver Philosophie versucht der späte Schelling eine Metaphysik zu entwickeln, die nicht hinter das von Kant erreichte Problemniveau zurückfällt. Diesen Versuch und damit die Struktur der Schellingschen Spätphilosophie vorzuführen, ist das Ziel der folgenden Überlegungen. Im ersten Teil werde ich darlegen, warum die theoretische Philosophie nach Kant nicht in der Lage ist, die Existenz Gottes zu beweisen. Der Grund ist der folgende: Erstens misslingt der ontologische Gottesbeweis, der aus dem Begriff Gottes schließt, dass Gott notwendigerweise existiert. Zweitens scheitert der kosmologische Gottesbeweis, der umgekehrt zeigen will, 1 Kant und Schelling werden zitiert nach Kant, I., »Werke in zehn Bänden«, hg. v. W. Weischedel, Sonderausgabe Darmstadt 1981 (= Werke); Schelling, F. W. J., »Sämmtliche Werke«, hg. v. K. F. A. Schelling, 1. Abteilung: 10 Bde. (= SW I- X), 2. Abteilung: 4 Bde. (= SW XI-XIV), Stuttgart/ Augsburg 1856-1861. 2 Schelling, F. W. J., »Zur Geschichte der neueren Philosophie«, SW X, 74f. 362 Friedrich Hermanni dass das notwendig Existierende, das man als zureichenden Grund des Kontingenten annehmen muss, Gott ist. Schelling teilt die Kantsche Kritik der beiden Gottesbeweise. Dennoch glaubt er - und das ist das Thema des zweiten Teils -, die Existenz Gottes erweisen zu können, ohne den Kantschen Einwänden ausgesetzt zu sein. Denn der Gottesbegriff und die Vorstellung des notwendig Existierenden, dessen Existenz nicht sinnvollerweise bestritten werden kann, können nach Schelling in einer anderen Weise verknüpft werden als in den von Kant kritisierten Gottesbeweisen. In gewissem Sinne hat die Schellingsche Spätphilosophie kein anderes Ziel, als diese neuartige Verknüpfung durchzuführen. I. Kants Metaphysikkritik 1. Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises Der ontologische Gottesbeweis, der vom Begriff Gottes auf seine Existenz schließt, lautet in seiner von Descartes vertretenen Version wie folgt: Gott ist das Ens summe perfectum, dasjenige, dem alle Vollkommenheiten oder sachhaltigen Prädikate zukommen. Nun ist Existenz eine Vollkommenheit. Also existiert Gott. 3 Für Descartes ist Existenz eine Bestimmung, durch die dasjenige, dem sie zukommt, vollkommener wird und die deshalb dem höchst vollkommenen Wesen nicht fehlen kann. Diese Deutung von Existenz als Sachgehalt, die den Untersatz des ontologischen Beweises bildet, wird von Kant bestritten. Denn sie verwechselt grammatische Prädikate mit semantischen oder, wie Kant sich ausdrückt, „logische“ Prädikate, die einen Gegenstand nicht näher bestimmen, mit „realen“ Prädikaten, durch die das geschieht. Das berühmte Diktum der »Kritik der reinen Vernunft«, in dem Kant sein Existenzverständnis zusammenfasst, lautet: „Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könnte. Es ist bloß die Position eines Dinges, 3 Vgl. Descartes, R., »Meditationes de prima philosophia«, V, 7-11, in: Œuvres de Descartes, publiées par Ch. Adam et P. Tannery, Bd. VII, Neuauflage Paris 1996 (= AT VII), 65-68. Vgl. zum ontologischen Gottesbeweis Hermanni, F., »Der ontologische Gottesbeweis«, Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 44 (2002), 245-267. Gott und Notwendigkeit 363 oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.“ 4 Damit wird zweierlei gesagt. Erstens ist das Wort „existieren“ kein Prädikat im Sinne eines begrifflichen Gehalts, durch den ein Gegenstand charakterisiert wird. Zwar wird es, wie in dem Satz „Gott existiert“, als grammatisches Prädikat verwendet, aber es spielt eine andere Rolle als das Prädikat „allmächtig sein“ in „Gott ist allmächtig“. Denn während im zweiten Satz bestimmt wird, was Gott ist, gibt der erste Satz keine Auskunft darüber, mit was für einem Subjekt man es zu tun hat. Die Aussage „Gott existiert“ besagt nicht, dass Gott neben anderen Eigenschaften wie Allmacht, Allgüte usw. auch noch die Eigenschaft besitzt, zu existieren. Was aber besagt sie dann? Dem zweiten Teil des Kantschen Diktums zufolge wird in einer Existenzaussage nicht der Subjektbegriff näher bestimmt, sondern der diesem Subjekt entsprechende Gegenstand gesetzt. „Gott existiert“ bedeutet, dass es ein Wesen gibt, auf das der Gottesbegriff mit allen darin enthaltenen Prädikaten zutrifft. Dass das Wort „existieren“ grammatisch als Prädikat verwendet wird, obgleich es, semantisch betrachtet, keines ist, gehört nach Kants 1763 erschienener Schrift »Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes« zu den „Unrichtigkeiten“, die „jede menschliche Sprache“ aufgrund der „Zufälligkeiten ihres Ursprungs“ 5 hat. Existenzsätze der Form „A existiert“ erwecken den falschen Anschein, als würde irgendeinem A die Eigenschaft der Existenz zugesprochen. Dieser Anschein wird vermieden, wenn „A existiert“ in den Satz umformuliert wird „Es gibt etwas, auf das der Begriff von A zutrifft“. Dass Existenzsätze diese und keine andere Bedeutung haben, zeigt sich nach Kant an der Art und Weise, wie ihre Wahrheit überprüft wird. Wer den Satz „See-Einhörner existieren“ prüfen will, untersucht nicht mögliche See-Einhörner daraufhin, ob einigen von ihnen die Eigenschaft der Existenz zukommt, sondern ob es unter den existierenden Tieren solche gibt, auf die der Begriff „See-Einhorn“ zutrifft. Diese Kantsche Existenzauffassung, die auch in der Philosophie des 20. Jahrhunderts üblicherweise vertreten wird, scheint mir im Wesentlichen korrekt zu sein. Wenn das aber der Fall ist, dann ist das von Descartes vertretene ontologische Argument widerlegt. 4 Kant, I., »Kritik der reinen Vernunft«, A 598, B 626 (Werke 4, 533). 5 Kant, I., »Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes«, A 7 (Werke 2, 632). 364 Friedrich Hermanni 2. Kants Kritik des kosmologischen Gottesbeweises Der ontologische Gottesbeweis versucht zu zeigen, dass dasjenige Wesen, dem alle Realitäten oder Vollkommenheiten zukommen, notwendigerweise existiert, dass es sich bei dem Ens realissimum also um ein Ens necessarium handelt. Diese Verknüpfung zwischen dem Gottesgedanken und der Notwendigkeit der Existenz soll auch im kosmologischen Gottesbeweis hergestellt werden, allerdings in umgekehrter Richtung. Der kosmologische Beweis bemüht sich um den Nachweis, dass dasjenige Wesen, das notwendigerweise existiert, nur das allerrealste Wesen, also Gott, sein kann. Der Beweis umfasst zwei Schritte, dessen erster die Aufgabe hat, die Existenz eines notwendigen Wesens darzulegen, und dessen zweiter Schritt das notwendig existierende Wesen als Gott identifiziert. Dem ersten Beweisschritt zufolge muss, wenn überhaupt etwas existiert, auch ein schlechthin notwendiges Wesen existieren. Denn für alles Zufällige gibt es einen zureichenden Grund, dass es existiert und nicht vielmehr nicht existiert. Nun mag die Existenz eines Zufälligen in einem anderen Zufälligen gründen, das aber wiederum einen Grund für seine Existenz haben muss. Daher muss ein notwendiges Wesen existieren, ohne das die ganze Reihe des Zufälligen keinen zureichenden Grund hätte. 6 Dieses Argument ist natürlich noch kein Gottesbeweis. Deshalb ist ein zweiter Beweisschritt nötig, der zeigen soll, dass es sich bei dem notwendigen Wesen nur um Gott, also um das allerrealste Wesen, handeln kann. Das bei Kant leider nur angedeutete Argument für diese begriffliche Identifizierung des Ens necessarium lautet wie folgt: 7 Alles, was existiert, ist durchgängig bestimmt, d.h. allem Existierenden kommt von jedem Paar einander kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate entweder das eine oder das andere zu. Daher muss auch das, was notwendigerweise existiert, durchgängig bestimmt sein. Beim notwendig Existierenden kommt allerdings etwas hinzu, das bei zufällig Existierendem nicht der Fall ist: Es muss alle seine Bestimmungen notwendigerweise, d.h. aufgrund seines Begriffs besitzen. Denn ande- 6 Vgl. Hermanni, F., »Der letzte Grund. Überlegungen zum kosmologischen Gottesbeweis«, Philosophisches Jahrbuch 112 (2005), 411-429, wo die Leibnizsche Version dieses Argumentes verteidigt wird. 7 Vgl. Kant, I., »Kritik der reinen Vernunft«, A 605f., B 633f. (Werke 4, 538). Gott und Notwendigkeit 365 renfalls läge der Grund dafür, dass ihm diese oder jene Eigenschaft zukommt, in etwas anderem als ihm selbst. Dann aber wäre es nicht mehr der letzte zureichende Grund alles anderen. Kurzum: Das notwendig existierende Wesen ist erstens wie jedes andere Existierende durchgängig bestimmt, und zweitens besitzt es alle seine Bestimmungen aufgrund seines Begriffs. Wenn das aber richtig ist, dann muss es sich bei ihm um das allerrealste Wesen oder Gott handeln, und zwar aus folgendem Grund: Das allerrealste Wesen ist definitionsgemäß dasjenige, dem von allen kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikaten jeweils das reale, sachhaltige Prädikat zukommt und dem das Gegenteil nicht zukommt. Während alle anderen Dinge Eigenschaften besitzen, die sich nicht aus dem Begriff entnehmen lassen, unter den sie fallen, sind alle Bestimmungen des Ens realissimum aus seinem Begriff ableitbar. Der Begriff des Ens realissimum ist also der einzige Individualbegriff. Folglich kann es sich bei dem notwendigen Wesen, das durch seinen Begriff durchgängig bestimmt sein muss, einzig und allein um das allerrealste Wesen oder Gott handeln. So weit der kosmologische Beweis, nun zu Kants Kritik. Kants zentraler Einwand bezieht sich auf den zweiten Teil des kosmologischen Beweises, in dem das notwendig existierende Wesen mit Gott identifiziert wird. Wenn dieser zweite Beweisschritt richtig wäre, dann müsste auch der ontologische Beweis richtig sein, was aber aus den genannten Gründen nicht der Fall ist. Dass sich der kosmologische Beweis auf den ontologischen reduzieren lässt, ist leicht einzusehen, wenn man Folgendes bedenkt: Dem Beweis zufolge kann es sich beim notwendig existierenden Wesen um kein anderes als um das allerrealste Wesen handeln. Mengentheoretisch ausgedrückt: Das absolut notwendige Wesen gehört zur Menge der allerrealsten Wesen. Nun unterscheiden sich allerrealste Wesen aber nicht voneinander; was für eines gilt, gilt auch für jedes andere. Daher muss sich die Schlussfolgerung des kosmologischen Beweises auch umkehren lassen: Wenn das notwendig existierende Wesen einzig und allein ein allerrealstes Wesen sein kann und wenn sich allerrealste Wesen nicht voneinander unterscheiden, dann muss sich aus dem Begriff des Ens realissimum auch schließen lassen, dass es notwendigerweise existiert. Eben dieser Schluss aber, der im ontologischen Beweis gezogen wird, misslingt, weil Existenz kein reales Prädikat ist. Mithin scheitert nach Kant auch das kosmologische Argument, um die Existenz Gottes zu beweisen. 366 Friedrich Hermanni 3. Das Dilemma der Vernunft Durch die vorgeführte Kritik des ontologischen und kosmologischen Gottesbeweises gerät die Vernunft freilich in ein Dilemma. Einerseits nämlich besteht ein „Bedürfnis unserer Vernunft, zur Existenz überhaupt irgend etwas Notwendiges (bei dem man im Aufsteigen stehen bleiben könne) anzunehmen […].“ 8 Denn ohne ein notwendig existierendes Wesen gäbe es für das Zufällige keinen zureichenden Grund seiner Existenz. Andererseits ist die Vernunft nach Kants Ansicht nicht in der Lage zu verstehen, worum es sich beim Ens necessarium eigentlich handelt. Die berühmte Stelle in der »Kritik der reinen Vernunft« lautet: „Die unbedingte Notwendigkeit, die wir, als den letzten Träger aller Dinge, so unentbehrlich bedürfen, ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft. Selbst die Ewigkeit, so schauderhaft erhaben sie auch ein Haller schildern mag, macht lange den schwindelichten Eindruck nicht auf das Gemüt; denn sie mißt nur die Dauer der Dinge, aber trägt sie nicht. Man kann sich des Gedanken nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen: daß ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die kleinste, schwebt ohne Haltung bloß vor der spekulativen Vernunft, der es nichts kostet, die eine so wie die andere ohne die mindeste Hindernis verschwinden zu lassen.“ 9 Jedes Wesen, wie vollkommen es auch gedacht sein mag, lässt sich nach Kant ohne Widerspruch als nichtexistierend denken. Selbst das Vollkommenste würde, wenn es existiert, nur zufälligerweise existieren. Deshalb könnte selbst ein existierender Gott über sich selbst hinaus fragen und sich nach dem Grund seiner Existenz erkundigen. Wenn man sich alles Existierende aber auch als nichtexistierend vorstellen kann, dann scheint man eine Konsequenz ziehen zu müssen, die David Hume in der Tat gezogen hat. Im neunten Teil seiner »Dialoge über natürliche Religion« stellt Philo, dem Hume seine Ansichten zumeist in den Mund legt, fest: „Die Worte notwendige Existenz haben daher keinen Sinn, oder, was dasselbe ist, keinen in sich widerspruchsfreien 8 Ebd., A 603, B 631 (Werke 4, 536). 9 Ebd., A 613, B 641 (Werke 4, 543). Gott und Notwendigkeit 367 Sinn.“ 10 Aus verständlichen Gründen ist Kant vorsichtiger als Hume. Denn nur in einem notwendigerweise Existierenden könnte das Zufällige seinen zureichenden Grund haben, und nur durch den zureichenden Grund ist jene durchgängige Erkennbarkeit des Seins gewährleistet, die in den menschlichen Erkenntnisbemühungen unterstellt wird. Der Preis für diese Vorsicht scheint freilich ein unvermeidliches Dilemma zu sein. „Es findet sich hier nun das Befremdliche und Widersinnische, daß der Schluß von einem gegebenen Dasein überhaupt, auf irgend ein schlechthinnotwendiges Dasein, dringend und richtig zu sein scheint, und wir gleichwohl alle Bedingungen des Verstandes, sich einen Begriff von einer solchen Notwendigkeit zu machen, gänzlich wider uns haben.“ 11 Weil man das notwendig Existierende als letzten Träger der Dinge braucht, schließt Kant aus der Unmöglichkeit, es begrifflich zu bestimmen, nicht wie Hume auf die Sinnlosigkeit des Ausdrucks ‚notwendige Existenz‘. Gleichwohl gerät der ‚Begriff‘ des notwendig Existierenden auch bei ihm in Verdacht, widersprüchlich zu sein. Ist dieser Verdacht berechtigt, oder entsteht er vielleicht nur deshalb, weil an das notwendig Existierende Sinnanforderungen gestellt werden, die ihm nicht angemessen sind? Nach Kant wäre die Sinnhaftigkeit des Ausdrucks ‚notwendige Existenz‘ nur dann sichergestellt, wenn der ontologische Beweis gelingen würde, wenn sich also ein Wesen denken ließe, dessen Existenz sich aus seinem Begriff ergibt. Wie hat man dieses Sinnkriterium zu beurteilen? Ein notwendig Existierendes ist offenbar etwas, das in seiner Existenz nicht von etwas anderem bedingt ist. Was aber heißt es, von nichts anderem in seiner Existenz bedingt zu sein? Es bedeutet zunächst, dass ein notwendig Existierendes keinem anderen außer ihm Existierenden seine Existenz verdankt. Streng genommen aber bedeutet es nach Schelling noch etwas Weiteres, das in unserem Kontext entscheidend ist. Etwas scheint nur dann unbedingt zu existieren, wenn es in seiner Existenz nicht nur nicht durch anderes Existierendes, sondern ebenso wenig durch seinen eigenen Begriff bedingt ist. Die Existenzunabhängigkeit des notwendig Existierenden scheint sich sowohl auf andere existierende Dinge als auch auf sein eigenes Wassein beziehen zu müssen. Würde et- 10 Hume, D., »Dialoge über natürliche Religion«, hg. v. G. Gawlick, 5. Aufl., Hamburg 1980, 75. 11 Kant, I., »Kritik der reinen Vernunft«, A 592, B 620 (Werke 4, 529). 368 Friedrich Hermanni was aufgrund seines Begriffs oder Wesens existieren, dann wäre seine Existenz nur in bedingter, hypothetischer Weise, nicht aber schlechthin notwendig. Wenn der ontologische Beweis ein korrekter Schluss wäre, dann wäre die Existenz Gottes durch seinen Begriff bedingt. Sollte sich nun herausstellen, dass der Begriff des Ens realissimum widersprüchlich ist, zum Beispiel deshalb, weil nicht jede Vollkommenheit mit jeder anderen vereinbar ist, dann müsste man auch die Existenz Gottes bestreiten. Die Vorstellung von einer notwendigen Existenz, die sich unter gar keinen Umständen bestreiten ließe, scheint sich demnach auf eine Existenz zu beziehen, die nicht unter der Ägide des Begriffs steht. Mithin lassen sich die begrifflichen Bedingungen, die es möglich machen sollen, dass etwas unbedingt existiert, nicht nennen, weil es solche Bedingungen nicht geben kann. War das nicht auch das Ergebnis Kants? Keineswegs! Bei Kant gerät die Vorstellung des absolut Notwendigen unter Sinnlosigkeitsverdacht, weil Kant für deren Sinnhaftigkeit einen Begriff fordert, aus dem die Existenz des Begriffenen folgt. Als „schlechthinnotwendig erkennt die Vernunft nur dasjenige“, schreibt Kant, „was aus seinem Begriffe notwendig ist.“ 12 Dieses Kantsche Sinnkriterium scheint aber der Vorstellung des absolut Notwendigen unangemessen zu sein, weil sich die Existenz dessen, was schlechthin notwendigerweise existiert, nicht seinem Begriff verdanken kann. Diese Überlegung hat natürlich auch Konsequenzen für die Einschätzung des ontologischen Gottesbeweises. Es scheint undenkbar zu sein, dass von irgendeinem Begriff - und sei es der des vollkommensten Wesens - ein Übergang zum schlechthin notwendig Existierenden möglich ist. Der Vorrang des notwendig Existierenden vor seinem Begriff scheint dergleichen Versuche von vornherein zu verbieten. Trotzdem bleibt ein grundlegendes Problem. Zwar ist es dem notwendig Existierenden angemessen, es nicht als ein begrifflich Bedingtes zu denken, aber gleichwohl stellt sich erneut die Frage nach seinem Begriff. Um welches Wesen könnte es sich bei dem unvordenklich Existierenden handeln? Könnte es sich dabei um Gott handeln? Bei einer Beantwortung dieser Frage, die die Fehler des ontologischen und kosmologischen Beweises nicht erneuern soll, müsste zweierlei bedacht sein. Zum einen müsste der Vorrang der Existenz vor dem Begriff gewährleistet sein, das heißt, ein möglicher Übergang könnte nur vom schlechthin notwendig 12 Ebd., A 612, B 640 (Werke 4, 543). Gott und Notwendigkeit 369 Existierenden zu seinem Begriff erfolgen und nicht wie im ontologischen Beweis umgekehrt. Zum anderen müsste der Übergang vom notwendig Existierenden zu seinem Begriff von anderer Art sein als im kosmologischen Beweis. Der kosmologische Beweis hatte mit rein begrifflichen Mitteln zu zeigen versucht, dass es sich beim notwendig Existierenden um das allerrealste Wesen oder Gott handelt. Aus diesem Grund ließ er sich, wie wir sahen, auf den ontologischen Beweis reduzieren. Um nicht auf den Fehler des ontologischen Beweises reduziert werden zu können, dürfte deshalb der Übergang vom unvordenklich Existierenden zu seinem Begriff kein a priori notwendiger sein. Die begriffliche Identifizierung des schlechthin Notwendigen müsste demnach in irgendeiner Weise auf Erfahrung Bezug nehmen. Worauf diese schon im Vorgriff auf Schelling angestellten Überlegungen genau zielen, möchte ich nun im Einzelnen erläutern, indem ich mich der Schellingschen Spätphilosophie zuwende. II. Die Struktur der Schellingschen Spätphilosophie Schellings Spätphilosophie versucht die letzten Fragen der menschlichen Vernunft, insbesondere die nach der Wirklichkeit Gottes, in einer Weise zu beantworten, die nicht in die von Kant kritisierte ehemalige Metaphysik zurückfällt. Das Ergebnis der Metaphysikkritik Kants war das folgende: Die menschliche Vernunft kann es bei der Frage nach dem Grund der Dinge nicht vermeiden, zwei Ideen zu bilden, nämlich die Idee des Ens realissimum und die des Ens necessarium. Wenn sie nach dem Grund der Möglichkeit der Dinge fragt und bedenkt, dass Existierendes unter dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung steht, gelangt sie zur Idee von einem Inbegriff aller Sachhaltigkeit oder Realität, zur Idee eines Ens realissimum, als dessen Einschränkung sie die Sachhaltigkeit der existierenden Einzeldinge denkt. Wenn sie nach dem Grund der Wirklichkeit der wirklichen Dinge fragt und bedenkt, dass diese zwar sind, aber auch nicht sein können, dann gelangt sie zur Vorstellung eines notwendig Existierenden, dem die kontingenten Dinge letztlich ihre Existenz verdanken. Nun ist die Vernunft nach Kant aber nicht in der Lage, diese beiden Ideen, die Idee des Ens realissimum und die Idee des Ens necessarium, miteinander zu verknüpfen, sie kann also die Existenz Gottes nicht beweisen. Denn zum einen misslingt der onto- 370 Friedrich Hermanni logische Beweis, wonach das Ens realissimum bzw. Gott notwendig existiert, und zum anderen scheitert der kosmologische Beweis, wonach das notwendig existierende Wesen, das man als Träger des Kontingenten denken muss, kein anderes als das Ens realissimum sein kann. Kant schreibt: „Die ganze Aufgabe des transzendentalen Ideals kommt darauf an: entweder zu der absoluten Notwendigkeit einen Begriff, oder zu dem Begriffe von irgendeinem Dinge die absolute Notwendigkeit desselben zu finden. Kann man das eine, so muß man auch das andere können; denn als schlechthinnotwendig erkennt die Vernunft nur dasjenige, was aus seinem Begriffe notwendig ist. Aber beides übersteigt gänzlich alle äußersten Bestrebungen, unseren Verstand über diesen Punkt zu befriedigen, aber auch alle Versuche, ihn wegen dieses seines Unvermögens zu beruhigen.“ 13 Die Schellingsche Spätphilosophie beansprucht nicht weniger, als die menschliche Vernunft aus eben dieser Zwangslage zu befreien. Das kann ihr nur dann gelingen, wenn sie ohne Unterschreitung des Kantschen Problemniveaus zwei Fragen in überzeugender Weise beantwortet. Erstens: Wie lässt sich der bei Kant aufkeimende Verdacht beseitigen, bei der Idee von einem schlechthin notwendig Existierenden, auf die die Vernunft unvermeidlich gerät, handele es sich um einen sinnlosen Begriff? Zweitens: Wie lassen sich die Ideen des vollkommensten Wesens und des notwendig Existierenden verknüpfen, ohne die von Kant diagnostizierten Irrtümer des ontologischen und kosmologischen Gottesbeweises zu wiederholen? Schellings Spätphilosophie lässt sich ihrer Struktur nach als eine Sequenz von vier Gedankenschritten verstehen, durch die diese beiden Fragen beantwortet werden sollen. Die beiden ersten Schritte fallen in das Gebiet der negativen Philosophie, die sich nicht mit dem Existierenden selbst, sondern mit dem Existieren-Könnenden befasst. Dort wird erstens gezeigt, dass die reine Vernunft, die alle Gegenstände, die möglich sind, aus einem Prinzip ableitet, am Ende ihrer Ableitungen den Gottesgedanken bildet. Nun vermag die reine Vernunft aber nicht nachzuweisen, dass dieser Gott, zu dessen Begriff sie schließlich gelangt, auch existiert. Sie kann aber immerhin zeigen - und darin besteht der zweite, ebenfalls in das Gebiet der negativen Philosophie fallende Gedankenschritt -, auf welche Weise Gott existiert, wenn er existiert. Er muss nämlich, sollte er existieren, notwendigerweise existieren. Der 13 Ebd., A 612f., B 640f. (Werke 4, 543). Gott und Notwendigkeit 371 dritte und vierte Gedankenschritt fallen in das Gebiet der positiven Philosophie, die sich nicht um die Möglichkeit, sondern um die Wirklichkeit des Wirklichen kümmert. Wie in der negativen Philosophie werden auch in der positiven die beiden Ideen des vollkommensten Wesens und des notwendig Existierenden miteinander verknüpft, allerdings in umgekehrter Richtung. Die positive Philosophie beginnt mit dem Begriff des notwendig Existierenden und zeigt, dass dieses notwendig Existierende unzweifelhaft existiert. Im Zusammenhang dieses dritten Gedankenschrittes wird zugleich der Begriff des notwendig Existierenden vor dem Kantschen Verdacht geschützt, ein sinnloser Begriff zu sein. Der vierte und letzte Schritt der Gedankensequenz besteht darin, mit Rückgriff auf Erfahrung zu zeigen, dass es sich bei dem notwendig Existierenden um das vollkommenste Wesen oder Gott handelt. Die Durchführung der positiven Philosophie hat primär die Aufgabe, mit empirischen Mitteln die Gottheit des notwendig Existierenden nachzuweisen. A priori ist dieser Erweis nämlich, wie Kants Kritik des kosmologischen Argumentes deutlich gemacht hat, nicht zu erbringen. Im Folgenden werde ich diese vier Gedankenschritte und damit die Architektonik der Schellingschen Spätphilosophie etwas genauer darlegen. 1. Die Genese des Gottesgedankens in der negativen Philosophie Beim ersten Schritt der Gedankensequenz beschränke ich mich auf wenige Bemerkungen. Die negative Philosophie ist eine Theorie, die beansprucht, alles Seinkönnende a priori aus einem Prinzip ableiten zu können. Ihr Prinzip ist das unendliche Subjekt, das erstens etwas Ungegenständliches, Nichtobjektives ist und das sich zweitens aufgrund seiner Subjektivität notwendigerweise auch als solches erfassen will. Nun ist das aber nicht unmittelbar möglich. Um seiner selbst habhaft zu werden, muss das unendliche Subjekt sich deshalb zum Objekt machen, dem es sich dann als das Nichtobjektive entgegensetzen kann. Um sich als unendliches Subjekt zu setzen, muss es sich von der Möglichkeit, ein Objekt zu sein, „reinigen“. Diese Selbstreinigung des unendlichen Subjekts vollzieht sich in einem mehrstufigen Prozess, in dem das unendliche Subjekt Zug um Zug alle möglichen Objekte, vom niedrigsten bis zum höchsten Objekt, produziert. Wenn das geschehen ist, kann es sich 372 Friedrich Hermanni als solches setzen, nämlich als jenes unendliche Subjekt, das nicht mehr zum Objekt werden kann, weil alle Formen der Objektivität erschöpft sind. Dieses am Ende der negativen Philosophie als unendlich gesetzte Subjekt ist aber nichts anderes als Gott, freilich nicht der wirkliche Gott, sondern der Gott des reinen Gedankens. Denn ich kann mir, schreibt Schelling, „Gott wohl als das Ende und das bloße Resultat meines Denkens […], aber ich kann ihn nicht als Resultat eines objektiven Processes denken […].“ 14 Kurzum: Die negative Philosophie, die die Gedanken aller Gegenstände aus einem Prinzip ableitet, kommt am Ende ihrer gedanklichen Bewegung zum Gottesgedanken. 2. Der Schluss vom Gedanken Gottes auf seine notwendige Existenzweise Schellings negative Philosophie befasst sich, wie gesagt, nicht mit dem „wirklich Existirenden“, sondern „mit dem existiren Könnenden“ 15 und findet im Gottesbegriff, Kantisch gesprochen: im Begriff des allerrealsten Wesens, ihren Abschluss. Als negative Philosophie ist sie nicht in der Lage, aus diesem Begriff Gottes auf seine Existenz zu schließen. Denn wie Kant ist Schelling der Meinung, dass der ontologisches Beweis für die Existenz Gottes misslingt, weil Sein kein reales Prädikat ist. Im Unterschied zu Kant aber verwirft Schelling das ontologische Argument nicht gänzlich, vielmehr spielt es in einer eingeschränkten Form eine wichtige Rolle innerhalb seiner Spätphilosophie. Es hat die Aufgabe, den Schlussgedanken der negativen Philosophie, den Gottesgedanken, mit dem Anfang der positiven Philosophie, der Vorstellung des notwendig Existierenden, zu verknüpfen. Schellings Überlegung ist die folgende: Zwar misslingt es dem ontologischen Beweis, aus dem Begriff Gottes auf seine Existenz zu schließen, aber er kann zeigen, auf welche Art und Weise Gott existiert, falls er existiert. Im Falle seiner Existenz müsste Gott nämlich das notwendig Existierende sein. Der ontologische Beweis ist zwar nicht in der Lage, in apodiktischer Weise zu zeigen, dass Gott notwendig existiert, wohl aber kann er dies in hypothetischer Weise leisten. „[…] aus dem Wesen, aus der Natur, aus dem Begriffe Gottes (dieß sind nur gleichbedeutende 14 Schelling, F. W. J., »Zur Geschichte der neueren Philosophie«, SW X, 124. 15 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung«, SW XIII, 155. Gott und Notwendigkeit 373 Ausdrücke) folgt in Ewigkeit nicht mehr als dieses: daß Gott, wenn er existirt, das a priori, Existirende seyn muß, anders kann er nicht existiren; aber daß er existirt, folgt daraus nicht.“ 16 In dieser eingeschränkten Form, verstanden als Schluss vom Begriff des Ens realissimum auf seinen Existenzmodus, ist der ontologische Beweis nach Schelling nicht nur korrekt, sondern auch notwendig, um von der negativen Philosophie zur positiven Philosophie überzugehen. Diese eingeschränkte Leistungsfähigkeit sei Kant deshalb entgangen, weil er den ontologischen Beweis falsch interpretiert habe. 17 Kant zufolge schließt Descartes aus der Bestimmung Gottes als des vollkommensten Wesens, das alle Vollkommenheiten besitzt, sowie aus der Annahme „Existenz ist eine dieser Vollkommenheiten“ auf die Existenz Gottes. In Wahrheit aber habe Descartes, meint Schelling, so nicht schließen wollen; denn für Descartes sei Existenz ebenso wenig eine Vollkommenheit oder ein reales Prädikat wie für Kant. Dass sich Schelling hier irrt, ist meines Erachtens offenkundig. Aber dadurch wird sein sachliches Anliegen keineswegs tangiert. In seiner Antwort auf Petrus Gassendi, der ebenso wie später Kant bestreitet, dass Existenz eine Vollkommenheit ist, 18 beschwert sich Descartes nämlich nicht etwa über eine Fehlinterpretation seines Beweises durch Gassendi. Vielmehr bekräftigt er erneut seine These, Dasein sei wie Allmacht ein reales Prädikat, weil es Dingen zugesprochen werde und in Sätzen an der gleichen Stelle stehe wie Eigenschaften. 19 Aber dies nur nebenbei. Sachlich entscheidend ist etwas anderes. Nach Schelling ist der ontologische Beweis korrekt, wenn er nicht beansprucht, die Existenz Gottes zu beweisen, sondern lediglich die Art und Weise seiner Existenz. In seiner gültigen Form schließt das ontologische Argument nach Schelling wie folgt: Gott ist dasjenige Wesen, das alle Vollkommenheiten besitzt. Nun ist zwar nicht die Existenz, wohl aber die notwendige Existenz eine Vollkommenheit, d.h. der Begriff einer bestimmten Existenzweise gehört zum Begriff Gottes. Folglich „existirt Gott nothwendiger Weise, 16 Ebd., SW XIII, 156. 17 Vgl. Schelling, F. W. J., »Zur Geschichte der neueren Philosophie«, SW X, 14f. 18 Vgl. Gassendi, P., »Objectiones Quintae«, AT VII (siehe oben Anm. 3), 323. 19 Vgl. Descartes, R., »Responsio Authoris ad quintas Objectiones«, AT VII (siehe oben Anm. 3), 382f. 374 Friedrich Hermanni nämlich wenn er existirt, was also immer noch unentschieden läßt, ob er oder ob er nicht existirt“. 20 Dieser Schlusssatz mag Befremden hervorrufen. Ist es nicht unsinnig, weil widersprüchlich, zu sagen, etwas existiere notwendigerweise, wenn es denn existiert? Denn mit dieser Einschränkung wird doch unterstellt, möglicherweise existiere das notwendig Existierende nicht. Wie würde Schelling auf diesen Vorbehalt reagieren? Vermutlich so: In der Tat ist es unsinnig, von dem notwendig Existierenden anzunehmen, möglicherweise existiere es nicht. Aber notwendig zu existieren ist eben nur eine von den vielen Vollkommenheiten, die das vollkommenste Wesen oder Gott definitionsgemäß besitzt. Aus dem Gedanken des notwendig Existierenden folgt deshalb zwar, dass es unzweifelhaft existiert, aber es folgt nicht, dass diese vollkommene Existenzweise mit den anderen Vollkommenheiten verknüpft ist. Das heißt: Es folgt nicht, dass es sich bei dem Ens necessarium, was unzweifelhaft existiert, um das Ens realissimum oder Gott handelt. So verstanden, verliert der Satz „Gott existiert notwendigerweise, wenn er existiert“ seine Befremdlichkeit. 3. Der ontologische Beweis der Existenz des notwendig Existierenden Wir hatten gesehen, dass die negative Philosophie die Aufgabe hat, sich aller Gegenstände, die möglich sind, zu versichern, und dass sie am Schluss ihrer Überlegungen auf Gott als einen möglichen Gegenstand kommt. Als negative Philosophie ist sie zwar nicht in der Lage zu erkennen, ob Gott existiert, sie kann aber zeigen, auf welche Weise er existieren muss, wenn er existiert. Im Falle seiner Existenz muss er nämlich das notwendig Existierende sein. Der dritte Schritt von Schellings Gedankensequenz knüpft an diesen Begriff des notwendig Existierenden an und isoliert ihn vom Gottesgedanken. Schelling behauptet, die Existenz des notwendig Existierenden könne nicht sinnvollerweise bezweifelt werden. Denn aus dem Gedanken des notwendig Existierenden folgt zwingend, dass ihm eine Wirklichkeit entspricht. Um dies einzusehen, darf man allerdings nicht wie der ontologische Beweis Anselms und Descartes’ vom Gottesgedanken ausgehen, sondern muss den Gottesbegriff gänzlich fallen lassen. In seinem Tagebuch berichtet 20 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung«, SW XIII, 158; vgl. auch »Zur Geschichte der neueren Philosophie«, SW X, 15-17. Gott und Notwendigkeit 375 August von Platen von Schellings erster Vorlesung in Erlangen, die auf die Zuhörer offenbar großen Eindruck gemacht hat: „Er sprach […] von der Auffindung des ersten Prinzips, die nur erreicht werden könne durch eine Zurückführung seiner selbst zum vollkommenen Nichtwissen […]. Nicht etwa, setzte er hinzu, muss man Weib und Kind verlassen, wie man zu sagen pflegt, um zur Wissenschaft zu gelangen, man muß schlechthin alles Seiende, ja - ich scheue mich nicht, es auszusprechen, man muss Gott selbst verlassen. Als er dies gesagt hatte, erfolgte eine Totenstille, als hätte die ganze Versammlung den Atem an sich gehalten, bis Schelling sein Wort wieder aufnahm, und sich darüber verbreitete, um nicht missverstanden zu werden, wobei er sich wieder des bildlichen Ausdrucks der Schrift bediente: ‚die alles behalten, werden alles verlieren, die alles dahingeben, werden alles gewonnen haben‘.“ 21 Bei dem notwendig Existierenden, von dem die positive Philosophie ausgeht, ist nicht an ein so und so bestimmtes Seiendes zu denken, nicht an Gott als den Inbegriff aller Vollkommenheiten, sondern an gar nichts anderes als das bloße Existieren. Das notwendig Existierende ist kein Wesen, dem diese und jene Prädikate zukommen und das zudem auch noch existiert, vielmehr besteht sein Wesen ausschließlich darin, zu existieren. Schelling schreibt: Was „sonst das Prädicat ist, ist hier das Subjekt, ist selbst an der Stelle des Subjekts. Die Existenz, die bei allem anderen als accidentell erscheint, ist hier das Wesen. Das quod ist hier an der Stelle des quid.“ 22 Wenn aber der Begriff des notwendig Existierenden gar nichts anderes besagt, als dass es existiert, dann ist es das unzweifelhaft Existierende. An der Existenz von etwas lässt sich sinnvollerweise nur dann zweifeln, wenn es in seinem Wesen liegt, sowohl existieren als auch nicht existieren zu können. Eben dies ist aber beim notwendig Existierenden nicht der Fall. Weil es dasjenige ist, was nur existieren und was nicht nicht existieren kann, ist es absurd, seine Existenz zu bezweifeln. „Zweifelhaft, precär ist […] das Seyn aller Dinge, die aus der Potenz hervorgegangen sind, und die zwar nun sind, wie wir sagen, aber bloß zufällig; also nicht aufhören auch nicht seyn zu können, und in der beständigen Gefahr schweben nicht zu seyn. Von dem Seyenden aber, von welchem alle Potenz ausgeschlossen ist, die der alleinige Grund alles Zweifels ist, 21 Tilliette, X. (Hg.), »Schelling im Spiegel seiner Zeitgenossen«, Torino 1974, 261. 22 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung«, SW XIII, 162. 376 Friedrich Hermanni ist eben darum auch aller Zweifel ausgeschlossen, es ist das unzweifelhaft Existirende […].“ 23 Beim notwendig Existierenden folgt die Existenz nicht etwa aus einem von dieser Existenz zu unterscheidenden Wesen oder Begriff, wie der ontologische Beweis behauptete; zu existieren ist hier vielmehr selbst das Wesen oder der Begriff. Während die negative Philosophie nur von dem handelt, was existieren kann, beginnt die positive Philosophie mit dem, was unzweifelhaft existiert, weil sein Begriff in nichts anderem besteht, als zu existieren. Insofern entspricht der Anfang der positiven Philosophie dem Anfang von Spinozas Ethik. Spinozas Irrtum liegt nur darin, das notwendig und deshalb unzweifelhaft Existierende sogleich mit Gott zu identifizieren; denn gemessen am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik, die Gott als den Inbegriff aller Vollkommenheiten verstand, ist es nicht Gott. 24 Genauer gesagt: Nach Schelling lässt sich aus dem Begriff des notwendig Existierenden nicht a priori schließen, dass es sich dabei um Gott handelt. Das unzweifelhaft Existierende ist nicht notwendigerweise, sondern nur möglicherweise Gott. Wenn es Gott sein sollte, dann ist dies, um den Leibnizschen Ausdruck zu gebrauchen, keine ewige Vernunftwahrheit, sondern nur eine Tatsachenwahrheit. Die gesamte positive Philosophie Schellings hat keine andere Aufgabe, als diese Tatsachenwahrheit durch Erfahrung zu begründen; ob sie besteht, ist daher am Beginn der positiven Philosophie noch völlig offen. Die positive Philosophie beginnt nicht mit einem erfahrungsunabhängigen Beweis der Existenz Gottes wie die rationalistischen Systeme der frühen Neuzeit, sondern mit der unmittelbaren Gewissheit, dass dasjenige unzweifelhaft existiert, dessen Begriff in nichts anderem besteht, als zu existieren. Auch dabei handelt es sich natürlich um ein ontologisches Argument, um einen Übergang von einem Gedanken zur Wirklichkeit des Gedachten, wenn auch nicht um einen ontologischen Gottesbeweis. Nun lässt sich gegen dieses ontologische Argument, das den Anfang von Schellings positiver Philosophie bildet, ein Einwand vorbringen, den ich auf dem Hintergrund der Theoriegeschichte erläutern möchte. In der neuzeitlichen Ontotheologie werden, wie Dieter Henrich gezeigt hat, zwei Formen des ontologischen Beweises vertreten. 25 Die 23 Ebd., SW XIII, 158f. 24 Vgl. ebd., SW XIII, 156f. Gott und Notwendigkeit 377 erste, von Descartes entwickelte Form beruht auf dem Begriff von Gott als höchst vollkommenem Wesen sowie auf der Voraussetzung, dass Existenz eine Vollkommenheit ist. Die zweite Form dagegen, von der beispielsweise Spinozas »Ethik« ausgeht, bestimmt Gott nicht als Ens summe perfectum, sondern als Ens necessarium und schließt wie folgt: Gott ist das absolut notwendige Wesen, also dasjenige, das nicht nicht existieren kann. Nun existiert aber das, dessen Nicht-Existenz unmöglich ist. Also existiert Gott. Diese zweite Form des ontologischen Arguments bildet auch den Ausgangspunkt von Schellings positiver Philosophie, mit dem gewichtigen Unterschied allerdings, dass das notwendig Existierende bei Schelling von Gott unterschieden wird. Nach der überzeugenden theoriegeschichtlichen Kernthese Henrichs betrachtete die neuzeitliche Ontotheologie die zweite Form des ontologischen Arguments zunächst als Alternative zur ersten Form, gelangte aber schließlich zu der Überzeugung, dass sie von der ersten abhängig ist. Der Grund ist dieser: Die zweite Form geht von dem Begriff des absolut notwendigen Wesens aus und scheint vor dem Problem zu stehen, ob ein absolut notwendiges Wesen überhaupt möglich ist, das heißt, ob sich überhaupt etwas denken lässt, dessen Nicht-Existenz undenkbar ist. Um das Problem zu lösen, scheint dargelegt werden zu müssen, welchem Wesen aus welchem Grunde eine notwendige Existenz zukommt. Nun waren eine Reihe von Autoren und insbesondere Kant der Ansicht, dass nur eine einzige Überlegung zur Verfügung steht, die dies darlegen könnte, nämlich die erste Form des ontologischen Beweises. Die skeptische Frage, ob ein absolut notwendiges Wesen denkbar ist, beantwortet die erste Form mit dem Hinweis auf jenes höchst vollkommene Wesen, das notwendigerweise existiert, weil Existenz ein Element seines Begriffs ist. Die Problemlage, in der sich die Ontotheologie angesichts der Kantschen Kritik befindet, scheint demnach folgende zu sein: Die Möglichkeit eines absolut notwendigen Wesens, die in der zweiten Form des ontologischen Gottesbeweises vorausgesetzt wird, ist nur dann gewährleistet, wenn die erste Form des Beweises gelingt. Die erste Form misslingt aber aufgrund der irrigen Annahme, Dasein sei eine Vollkommenheit. Folglich ist ein absolut notwendiges Wesen, also ein solches, dessen Nicht-Existenz undenkbar wäre, nicht einmal denkbar. 26 Dies aber 25 Vgl. Henrich, D., »Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit«, 2. Aufl., Tübingen 1967. 378 Friedrich Hermanni scheint zu bedeuten, dass die Rede von einem notwendig Existierenden sinnlos ist und dass deshalb auch die zweite Form des ontologischen Arguments, dessen explizite Kritik sich Kant erspart, misslingt. Ist sich Schelling über diesen Zusammenhang nicht im Klaren? Unterschreitet er das erreichte Problemniveau, wenn er zwar mit Kant annimmt, das erste ontologische Argument beweise nicht die Existenz Gottes, aber dennoch das zweite ontologische Argument zum Ausgangspunkt seiner positiven Philosophie macht? Keineswegs! Zunächst ist festzuhalten, dass Schelling die These von der Unbegreiflichkeit des schlechthin notwendig Existierenden nicht bestreitet, sondern ausdrücklich teilt. Er schreibt: „Man könnte [gegen den Anfang der positiven Philosophie] einwenden: eine aller Möglichkeit vorausgehende Wirklichkeit sey nicht zu denken. Dieß kann man im gewissen Sinn zugeben und sagen: eben darum sey sie der Anfang alles reellen Denkens - denn der Anfang des Denkens ist noch nicht selbst Denken.“ 27 Wie Hume und Kant geht auch Schelling von der Unvordenklichkeit des notwendig Existierenden aus und zitiert deshalb zustimmend Kants Wort vom Abgrund der Vernunft. 28 Aus dieser Unbegreiflichkeit folgt nach Schelling allerdings nicht - und darin besteht der Unterschied zu Hume und Kant -, dass die Rede von einem notwendig Existierenden definitiv sinnlos ist oder zumindest im Verdacht steht, sinnlos zu sein. Diese Schlussfolgerung setzt nämlich voraus, ein schlechthin notwendig Existierendes müsse etwas sein, das seine Existenz seinem Begriff verdankt. Das anzunehmen ist aber nach Schelling widersinnig. Denn etwas, das aufgrund eines von seiner Existenz unterschiedenen Begriffs existieren würde, würde nicht schlechthin notwendig, sondern nur bedingterweise existieren. Schelling schreibt: „Es ist ungereimt so zu fragen: was für ein Wesen nothwendig existiren könne; denn damit nehme ich an, daß dem nothwendig Existirenden ein Wesen, ein Was, eine Möglichkeit, vorausgehe, da ich es vielmehr als das bloß Existirende setzen muß, in dem noch nichts von einem Wesen, einem Was, zu begreifen ist.“ 29 26 Vgl. Kant, I., »Kritik der reinen Vernunft«, A 592-596, B 620-624 (Werke 4, 529-531); Ders., »Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik«, A 132 (Werke 5, 643f.). 27 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung«, SW XIII, 162. 28 Vgl. ebd., 163. 29 Ebd., 166f. Gott und Notwendigkeit 379 Schellings Ansicht, er befinde sich auch hierin in Übereinstimmung mit Kant, 30 wird man widersprechen müssen. Kant verstand, wie gesagt, den ersten ontologischen Beweis als Garanten für die Denkbarkeit des absolut Notwendigen, „denn als schlechthinnotwendig erkennt die Vernunft nur dasjenige, was aus seinem Begriffe notwendig ist.“ 31 Durch das Misslingen des ersten ontologischen Beweises wird das absolut Notwendige nach Kant nun nicht nur undenkbar, sondern die Rede vom absolut Notwendigen gerät zugleich in Verdacht, selbstwidersprüchlich zu sein. Letzteres ist nach Schelling nicht der Fall. Da Schelling es für widersinnig hält, das unbedingt notwendig Existierende als etwas zu verstehen, dessen Existenz durch sein Wesen bedingt ist, folgt aus der Undenkbarkeit des absolut Notwendigen nicht, dass die Rede davon widersprüchlich und deshalb unsinnig ist. Im Gegenteil: Das schlechthin notwendig Existierende, das zwar unvordenklich ist, dessen Existenz aber nicht sinnvollerweise bezweifelt werden kann, wird zum Ausgangspunkt der Metaphysik. Übrigens scheint Schelling während seiner Vorlesungstätigkeit, die schriftliche Zwischenfragen zuließ, zuweilen der Einwand gemacht worden zu sein, die Undenkbarkeit des notwendig Existierenden schließe die Sinnlosigkeit dieser Setzung ein. Seine Antwort lautet: „Sollte aber jene Einwendung so viel bedeuten: man könne sich eine solche aller Möglichkeit zuvorkommende Wirklichkeit auch nicht einmal vorstellen, so ist auch dieß nicht der Fall.“ 32 Auch bei bestimmten Handlungen sei erst nach der Realisierung ihre innere Möglichkeit feststellbar und begreiflich. Schelling spricht deshalb vom absolut Notwendigen als einem „absolut Vorgestellte[n].“ 33 Die Frage, welchen Begriff dies absolut Vorgestellte habe, ist damit noch offen, sie stellt sich freilich unvermeidlich, sobald die positive Philosophie über ihren Anfang hinausgeht. 4. Der Erweis des notwendig Existierenden als Gott Schelling beginnt seine positive Philosophie mit dem notwendig Existierenden, dessen Begriff in nichts anderem besteht, als zu existieren, und 30 Vgl. ebd., 163f. 31 Kant, I., »Kritik der reinen Vernunft«, A 612, B 640 (Werke 4, 543). 32 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung«, SW XIV, 341. 33 Ebd., SW XIII, 173. 380 Friedrich Hermanni dessen Existenz deshalb über jeden Zweifel erhaben ist. Der vierte Schritt von Schellings Gedankensequenz besteht nun darin, dieses notwendig Existierende als Gott, als das vollkommenste Wesen, zu erweisen. Innerhalb der klassischen Metaphysik wurde diese Aufgabe, dem notwendig Existierenden einen Begriff zuzuordnen und es als Gott begreiflich zu machen, vom zweiten Teil des kosmologischen Gottesbeweises übernommen. Dieser Teil des kosmologischen Beweises misslingt allerdings, weil der Übergang vom notwendig Existierenden zum Gottesgedanken mit rein begrifflichen Mitteln, also a priori nicht vollzogen werden kann. Denn wenn durch den kosmologischen Beweis gezeigt werden könnte, dass es sich bei dem notwendig existierenden Wesen um das vollkommenste Wesen oder Gott handeln muss, dann müsste sich mittels des ersten ontologischen Argumentes auch umgekehrt beweisen lassen, dass das vollkommenste Wesen notwendigerweise existiert. Nun ist dieser ontologische Beweis aber zum Scheitern verurteilt, weil Sein kein reales Prädikat ist. Folglich misslingt auch der kosmologische Gottesbeweis. Wie aber lässt sich das notwendig Existierende in einer vom kosmologischen Beweis unterschiedenen Weise als Gott begreifen? Die Antwort auf diese Frage folgt aus dem zweiten Schritt des Schellingschen Gedankenganges. Dort wurde gezeigt, dass das erste ontologische Argument zwar nicht zeigen kann, dass Gott existiert, wohl aber auf welche Art er existieren muss, falls er existiert. Wenn er nämlich existiert, muss er das notwendig Existierende sein. Daraus folgt umgekehrt, dass das notwendig Existierende zwar nicht das höchste Wesen oder Gott sein muss, es aber sein könnte. Ein näher liegendes Beispiel mag das illustrieren: Daraus, dass ein Junggeselle notwendigerweise unverheiratet ist, folgt, dass jemand, der ledig ist, ein Junggeselle sein könnte. Um eine ledige Person als Junggesellen zu identifizieren, muss man freilich mehr von ihr wissen, als dass sie nicht verheiratet ist. Ebenso verhält es sich in dem Fall, der hier zur Debatte steht. Wenn Gott im Falle seiner Existenz notwendigerweise existiert, dann kann das notwendig Existierende, dessen Existenz unzweifelhaft ist, Gott sein. Um es aber eindeutig als Gott zu identifizieren, braucht man zusätzliche Kenntnisse, auf die der kosmologische Beweis glaubte verzichten zu können. Worin die besagten Zusatzkenntnisse bestehen müssten, kann man sich wiederum an einem näher liegenden Beispiel klarmachen. An- Gott und Notwendigkeit 381 genommen, ein Mord ist passiert, für den es keine Augenzeugen gibt, und wir wollen wissen, ob jemand aus unserem engeren Umfeld, den wir in Verdacht haben, nennen wir ihn Kowalski, wirklich der Mörder ist. Wie müssten wir vorgehen? Völlig aussichtslos wäre es, den Begriff ‚Mörder‘ zu analysieren, um Kowalski dingfest zu machen. Vielmehr müssten wir die genaueren Umstände des Mordes recherchieren und prüfen, ob diese Umstände zu erwarten sind, wenn Kowalski der Mörder wäre. Auf ähnliche Weise versucht Schellings positive Philosophie das notwendig Existierende als Gott zu identifizieren. Dieser Beweis hat folgende formale Struktur. Der Obersatz ist hypothetischer Art und lautet: Wenn es sich beim notwendig Existierenden um Gott handelt, dann und nur dann ist eine so und so verfasste Welt möglich. Nun existiert aber diese so und so verfasste Welt, wie wir aus Erfahrung wissen. Folglich handelt es sich bei dem notwendig Existierenden wirklich um Gott und nicht um etwas anderes. 34 Kurzum: Wenn A=B, dann und nur dann ist C möglich. Nun ist aber C wirklich. Also ist A=B. Dieser Schluss gleicht, wie gesagt, in gewisser Hinsicht dem Versuch, Kowalski den Mord nachzuweisen. Allerdings bestehen mindestens zwei wichtige Unterschiede. Unter den geschilderten Umständen kann man Kowalski nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit als Mörder identifizieren. Denn aufgrund der Hypothese, er sei der Mörder, lassen sich zwar begründete Vermutungen über die Art und die Umstände eines Mordes anstellen, den er begehen würde; aber Art und Umstände sind aus der Hypothese nicht zwingend ableitbar. Selbst wenn sie mit der Art und den Umständen des wirklichen Mordes übereinstimmten, muss Kowalski deshalb nicht notwendigerweise der Mörder sein. Schellings Nachweis des notwendig Existierenden als Gott dagegen beansprucht, ein deduktiver Beweis zu sein, bei dem sich der Schlusssatz auf einen logisch notwendigen Obersatz stützt. Der Obersatz behauptet nämlich, eine bestimmte Verfassung der Welt sei dann und nur dann möglich, wenn das notwendig Existierende das höchste Wesen oder Gott ist. Aus der Wirklichkeit einer so und so verfassten Welt lässt sich deshalb nicht nur mit Wahrscheinlichkeit, sondern mit Sicherheit auf die Gottheit des notwendig Existierenden schließen. Dieser Schellingsche Gottesbeweis nimmt offenkundig in Anspruch, 34 Schelling bietet drei sachlich übereinstimmende Darstellungen dieser Schlussfolgerung, vgl. »Philosophie der Offenbarung«, SW XIII, 129, 169, und XIV, 346. 382 Friedrich Hermanni dass sich die wirkliche Welt allein aus der Gottheit des notwendig Existierenden und auf keine andere Weise erklären lässt. Wie Schelling gedenkt, diesen äußerst ambitionierten Anspruch einzulösen, muss im Rahmen dieser Skizze offen bleiben. Der zweite Unterschied zwischen Schellings Gottesbeweis und der geschilderten Morduntersuchung ist folgender: Unter günstigen Voraussetzungen lässt sich der Mordfall aufklären, und zwar trivialerweise deshalb, weil der Mord ein vergangenes Ereignis ist. Der von Schelling beabsichtigte Erweis der Gottheit des notwendig Existierenden ist dagegen auf unabsehbare Zeit nicht abzuschließen. Denn er stützt sich unter anderem auf solche Tatsachen, die noch gar nicht eingetreten sind. Der in der positiven Philosophie anvisierte Gottesbeweis ist deshalb „nicht bloß der Anfang oder ein Theil der Wissenschaft (am wenigsten irgend ein an die Spitze der Philosophie gestellter syllogistischer Beweis), er ist die ganze Wissenschaft, nämlich die ganze positive Philosophie, - diese ist nichts anderes als der fortgehende, immer wachsende, mit jedem Schritt sich verstärkende Erweis des wirklich existirenden Gottes, und weil das Reich der Wirklichkeit, in welchem er sich bewegt, kein vollendetes und abgeschlossenes ist […], so ist auch der Beweis nie abgeschlossen, und darum auch diese Wissenschaft nur Philo-sophie.“ 35 35 Ebd., SW XIII, 131. Friedrike Schick Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung Schellings Hegel-Kritik Die folgende Darstellung der Hegel-Kritik des späten Schelling ist in zweifacher Weise beschränkt: Sie verzichtet auf den diachronen Vergleich zwischen verschiedenen Fassungen dieser Kritik - in der Hauptsache bleibt sie orientiert an deren ausführlichster Fassung im Rahmen der »Geschichte der neueren Philosophie« - und sie beschränkt sich auf die elementaren und allgemeinen Thesen und Argumente, die auf die entsprechend elementaren und allgemeinen Züge der Hegelschen Konzeption von Philosophie und Logik bezogen sind. Ausgeklammert bleiben damit die spezifischen Kritiken, die Schelling an Schlüsselpassagen der Hegelschen Logik, namentlich ihrem Anfang beim Sein, Nichts und Werden und ihrem Ende, dem Übergang in die Realphilosophie, übt. 1 Mit Blick auf die allgemeinen Züge von Schellings Kritik gehe ich in drei größeren Schritten vor: Der erste, vorbereitende Teil skizziert Schellings Kennzeichnung der reinen Vernunftwissenschaft als negative Philosophie. Im zweiten Teil wird die Kritik selbst vorgestellt, unterschieden in Schellings Diagnose des Grundfehlers der Hegelschen 1 Aufschluss zu beiden Unterpunkten bietet die umfassende Studie von Brinkmann, K., »Schellings Hegel-Kritik«, in: Die ontologische Option. Studien zu Hegels Propädeutik, Schellings Hegel-Kritik und Hegels Phänomenologie des Geistes, hg. v. K. Hartmann, Berlin/ New York 1976, 117-120; zu Schellings Kritik des Anfangs der Logik vgl. ebd., 143-151, zur Kritik des Übergangs von der Logik in die Naturphilosophie vgl. ebd., 176-187. Eine Behandlung der letzteren Kritik, die diese in den Kontext der Entwicklung von Schellings eigenen Systemkonzeptionen einbettet, ist zu finden in: Frank, M., »Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik«, München 1992, 2. stark erweiterte und überarbeitete Aufl., 227-232. 384 Friedrike Schick Philosophie - der insinuierten Verwechslung des rein Logischen mit einem wirklichkeitsgenerierenden Prinzip, damit der Fehlidentifikation einer Schwundform negativer mit der positiven Philosophie - (2.1) und in die Folgen dieses Grundfehlers für die Art und Weise - in diesem Sinn: die Methode - des Fortgangs in der Hegelschen Logik (2.2). Der dritte Teil schließlich fragt nach der Triftigkeit der vorgestellten Kritik. Den Boden für die hier vorgeschlagene Antwort bereiten Überlegungen zu Hegels eigenen Auskünften zur Sache der Logik (3.1), deren Ambivalenz die Antwort entsprechend zweigleisig ausfallen lässt: Insofern die Logik beansprucht, mit dem Begriff des Begriffs ein oder das wirklichkeitsgenerierende(s) Prinzip gefunden zu haben, unterliegt sie Schellings Kritik; insofern sie den Begriff des Begriffs selbst entwickelt, verfällt sie jedoch nicht dem Schellingschen Verdikt, um des mangelnden Wirklichkeitsbezugs willen keine Erkenntnis zu sein. 1. Der Hintergrund: Die reine Vernunftwissenschaft als negative Philosophie Einen guten Ausgangspunkt für die Aneignung von Schellings Hegel- Kritik bilden seine Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie und die Klassifikation seines eigenen früher entwickelten Systems, der „Naturphilosophie“ oder des „Identitätssystems“, als negative Philosophie. Schellings Hegel-Kritik gerade vor diesem Hintergrund zu entwickeln, bietet sich deshalb an, weil Schelling selbst Hegels System gleichsam als einen, wenn auch aus der Art schlagenden Zwilling seines eigenen Identitätssystems betrachtet - er habe „doch im Ganzen und in der Hauptsache dasselbe System aufstellen“ 2 wollen - und den entscheidenden Fehler Hegels in einer Verkennung der Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie sieht. „Er hat die Identitätsphilosophie selbst zur positiven Philosophie gemacht, und damit überhaupt zur absoluten, nichts außer sich lassenden Philosophie erhoben.“ 3 2 So Schelling im Hegel-Kapitel seiner »Geschichte der neueren Philosophie (= Geschichte)«, SW I Bd. 10, 131. 3 Schelling, F. W. J., »Philosophie der Offenbarung 1841/ 42«, hg. u. eingel. v. M. Frank, Frankfurt a.M. 1977, 122. Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung 385 Bevor wir uns Schellings kritischer Diagnose zuwenden, soll daher in Umrissen der Begriff der negativen Philosophie in seinem Kontrast zur positiven vorgestellt werden. 4 Beginnen wir damit, was nach Schelling das Anliegen der Philosophie überhaupt ausmacht: Die Philosophie fragt, „was das Seyende sey“. 5 Was heißt das? Ist es der Philosophie nach Schelling um die Klärung des Begriffs ‚Sein‘ zu tun oder um eine ontologische Inventarliste, also um die Frage, was es ist, zu sein, oder um die Frage, wovon Sein auszusagen ist? Schellings Erläuterungen an gleicher Stelle lassen erkennen, dass seine Frage mit keiner der beiden genannten zusammenfällt: Die Philosophie fragt nicht nach dem Sinn des „Attributs“, sondern nach dem „Subjekt (der Usia)“ des Seins. 6 Die Philosophie fragt damit aber auch nicht, was es denn alles so gibt, sondern zuerst einmal fragt sie nach dem Grund oder der Ursache oder dem Prinzip des Seins des Seienden. 7 Dieser ersten Bestimmung lässt sich schon zweierlei über die Philosophie entnehmen: Sie geht mit dieser Frage erstens hinter alles, was es gibt, zurück. Was sie sucht, fällt mit keinem schon gegebenen Gegenstand zusammen, da ja wohl alles, was es gibt, unter dasjenige fällt, für das der Grund gesucht wird, nicht unter den Begriff dieses Grundes selbst. Anders als andere Wissenschaften wird die Philosophie dann nicht Gegenstände aus der Erfahrung aufnehmen, um sie einer begrifflichen oder kausalen Erklärung zuzuführen; mit solchen Ausgangspunkten in der Erfahrung findet sie sich nicht ab und soll sie sich nicht abfinden - 4 Zu Schellings Konzeption negativer Philosophie und ihren Binnendifferenzierungen vgl. Kap. 7. II, in: Iber, C., »Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos«, Berlin/ New York 1994, 280-298. 5 Schelling, F. W. J., »Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie«, SW II, Bd. 1, 362. 6 Ebd. 7 Vgl. ebd. 386 Friedrike Schick sie soll „nichts als vorhanden annehmen“ 8 , von nichts als einem Gegebenen ausgehen, an dem dann erst Reflexionen anzustellen wären. Zweitens wird sie mit derselben Frage das, was es gibt, auch nicht einfach aus den Augen verlieren: Als aus dem zuvor ausgemachten Grund Hervorgegangenes ist es in der Ausgangsfrage wiederum als Thema der Philosophie vorgesehen. Die wirklichen Gegenstände kommen damit ins Blickfeld der Philosophie sub specie des Gesichtspunkts ihrer absoluten Existenznotwendigkeit. In einem ersten Sinn ist die Philosophie damit zunächst als negativ charakterisiert: Ihre Frage nach dem absoluten Grund bestimmt sie selbst zur absolut anfangenden Wissenschaft, und es ist dieser Zug, die Voraussetzungslosigkeit der reinen Vernunftwissenschaft, die mit dem Attribut des Negativen ausgesprochen ist. Wie wir gleich sehen werden, wird die so bestimmte Philosophie aber noch in einer zweiten Hinsicht negativ zu nennen sein, und dieses Mal konnotiert der Terminus ‚Negativität‘ einen Mangel, der der negativen Philosophie notwendig einbeschrieben ist und nach Schelling erst mit einer anders verfassten, der positiven Philosophie, überwunden werden kann: Die Philosophie als reine Vernunftwissenschaft kommt nicht zu ihrem intendierten Abschluss: Sie kann das Prinzip des Seins nicht setzen, sie kann nicht sagen, dass es ist. Näher besehen kann sie auch nicht einmal sagen, was es ist. Beides hat zur Folge, dass sie auch für das aus dem Prinzip hervorgehende Seiende nicht beweisen kann, wie es aus diesem hervorgeht. Die Deutung alles dessen, was es gibt, im Licht einer absoluten Existenznotwendigkeit kommt nicht zur angestrebten Objektivität. Die Schwierigkeiten, die sich auf diesem Weg einstellen, zeigen sich schon, wenn wir der reinen Vernunftwissenschaft, geführt von Schellings retrospektiver Darstellung in der »Geschichte der neueren Philosophie«, in ihren allerersten Zügen folgen: Gemäß ihrer Aufgabenstellung stellt sich ihr das Prinzip des Seins zuerst als etwas dar, was dem Sein des Seienden vorausgesetzt ist. Aber bloß als das allem Sein Vorausgesetzte wäre es selbst - nicht. Und das ist ein Befund, der es als Prinzip 8 »Geschichte, Nachtrag aus einem älteren (Erlanger) Manuscript«, SW I, Bd. 10, 161. In diesem Punkt deckt sich offenbar Hegels Meinung mit der Schellings; so lesen wir zu Beginn der »Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse«: „Aber bei dem denkenden Betrachten gibt’s sich bald kund, daß dasselbe die Forderung in sich schließt, die Notwendigkeit seines Inhalts zu zeigen, sowohl das Sein schon als die Bestimmungen seiner Gegenstände zu beweisen.“ (Hegel, G. W. F., »Encyclopädie«, 1830, § 1). Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung 387 des Seins unmittelbar desavouiert. Wenn das, was dafür verantwortlich ist, dass überhaupt etwas ist, selbst nicht ist - wie soll aus ihm noch etwas hervorgehen können? Es geht nicht an, ausgerechnet das Prinzip des Seins des Seienden vom Sein auszuschließen. Dem Denken verwandelt sich damit sogleich das dem Sein Vorausgesetzte, also von ihm Geschiedene, dem Sein also nicht zukommen sollte, in dasjenige, von dem, wenn überhaupt von etwas, Sein jedenfalls ausgesagt werden muss: in das notwendig Seiende. Diesen Voraussetzungscharakter des gesuchten Prinzips und seinen Umschlag ins Gegenteil fasst Schelling in mehreren Varianten. In der »Geschichte der neueren Philosophie« begegnet er uns so: „Inwiefern ich nun das, was Ist, rein denke, so ist also hier nichts über den bloßen Begriff Hinausgehendes, mein Denken ist noch in den reinen Begriff eingeschlossen, ich kann dem, was Ist, noch kein Seyn beilegen oder attribuiren, ich kann nicht sagen, daß es ein Seyn hat […]. In dieser Bloßheit muß ich es wenigstens einen Augenblick denken. Aber ich kann es in dieser Abstraktion nicht erhalten; es ist nämlich unmöglich, daß das, was Ist, von dem ich nun weiter noch nichts weiß, als daß es der Anfang, der Titel zu allem Folgenden ist, aber noch nichts selbst ist - es ist unmöglich, daß das, was der Titel, die Voraussetzung, der Anfang zu allem Seyn ist, daß dieses nicht auch sey - dieß ‚sey’ im Sinn von Existenz genommen, d.h. vom Seyn auch außer dem Begriff.“ 9 Nimmt man beide Seiten zusammen, ergibt sich ein Widerspruch: „Das, was Ist“ muss zugleich nicht sein - das verlangt der implementierte Gedanke der Voraussetzung für das Sein von allem - und sein - das verlangt derselbe Gedanke. Derselbe Widerspruch lässt sich auch so ausdrücken: Was ist und nicht ist - das ist eigentlich als das zweiseitig Mögliche charakterisiert, als etwas, was sein kann, aber auch nicht sein kann; und das widerspricht der Eingangscharakterisierung des Gesuchten als Grund absoluter Existenznotwendigkeiten. In seiner »Geschichte« entwickelt Schelling zunächst die eine Seite dieses Widerspruchs weiter: Das, was ist, das als Prinzip verstandene Subjekt des Seins, ist mit dem ersten Schritt als das notwendig Seiende bestimmt, als das, was nicht als nicht seiend gedacht werden kann. Aber damit - so nimmt Schelling in modifizierter Weise die erste Seite wieder auf - hat man noch nicht ein Subjekt des Seins im eigentlichen Sinn: freilich ein logisches Subjekt, nicht aber ein Subjekt, das buchstäblich 9 SW I, Bd. 10, 18. 388 Friedrike Schick Sein setzen könnte. Was dazu fehlt, ist nach seinen Worten die Freiheit gegenüber allem bestimmten Sein. Ja, es wäre noch zu schwach zu sagen, dass es an diesem Moment fehle und es darum einfach ergänzt gehöre. Die beiden Desiderate - Notwendigkeit des Seins und Freiheit gegenüber allem Sein - sind einander ja entgegengesetzt. Es ist nun Schellings auch im Spätwerk nicht aufgegebene Idee, dass dieser Widerspruch nicht gegen die Suche nach dem Prinzip des Seins spricht, sondern zunächst einmal produktiv wird: Er sieht nicht nur die gesamte neuzeitliche Philosophie als Entwicklung dieses Widerspruchs an, sondern ist auch der Meinung, dass diese in ihrer letzten Gestalt, seinem eigenen Identitätssystem, 10 tatsächlich zu einem System der Vernunft gelangt sei - und zwar im Sinn einer hypothetischen Ableitung aller wesentlichen Elemente zuerst des natürlichen, dann des menschlichen geistigen Seins und schließlich der negativen Umrisse des eigentlich Gesuchten: des göttlichen Seins. Diese Produktivität soll der Ausgangswiderspruch entfalten, indem er zur Methode wird: zu der Methode, „welche auf der Voraussetzung ruhte, daß immer das, was auf einer vorhergehenden Stufe noch subjektiv gesetzt ist, in einer folgenden selbst objektiv werde - zum Objekt hinzutrete, damit auf diese Weise zuletzt das vollkommenste Objekt entstehe, endlich aber das letzte, allein stehen bleibende Subjekt, das nicht mehr objektiv werden könnende (weil alle Formen da sind), also wirklich das höchste, als solches gesetzte Subjekt sey, denn was im Lauf der Entwicklung als Subjekt erscheint, ist gleichsam nur für einen Moment Subjekt, aber in einem folgenden Moment schon finden wir es als mit zum Objekt gehörig, selbst wieder objektiv gesetzt.“ 11 Doch ungeachtet ihrer unbestrittenen Leistung in der Ausbildung eines umfassenden Systems des Seienden bleibt diese reine Vernunftwissenschaft, auf ihren höheren Zweck bezogen, negative Philosophie im zweiten, privativen Sinn. Dieser Mangel wird nicht zuletzt an der Stellung kenntlich, die das absolute Subjekt oder das Prinzip des Seins als Prinzip innerhalb dieses Systems hat. Es hat nämlich die Stellung des Endresultats. Daran allein, so Schelling, hätte man bemerken können, dass das System der reinen Vernunft in seiner Konstruktion nicht als die Rekonstruktion eines wirklichen Prozesses verstanden werden durfte. 10 In der »Geschichte« bezieht sich Schelling dabei vor allem auf sein »System des transzendentalen Idealismus« von 1800. 11 Ebd., 108. Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung 389 Das nämlich hieße, den Grund oder das Prinzip des Seins des Seienden als das durch das Seiende seinerseits erst Begründete zu verstehen, und das geht dem Begriff eines universalen Grundes des Seins zuwider. Nur eine Variante, nicht die Lösung dieses Widerspruches, sieht Schelling auch in dem Gedanken, das sich durch den ganzen Prozess hindurch kontinuierende Subjekt sei immer schon das gewesen, als was es am Ende resultiert: Gott. Denn dieser Gedanke enthält immer noch den Widersinn eines in ein notwendiges Werden eingelassenen Gottes: um als das zu sein, was er ist, muss er sich als das Andere seiner, als außer seiner Göttlichkeit seiend, setzen. Also nimmt man entweder eine Zeit an, in der Gott nicht als Gott war - im Widerspruch zum religiösen Bewusstsein -, oder man leugnet die zeitliche Selbstständigkeit dieses Standes und setzt an diese Stelle die Rede von einem „ewigen Geschehen“: „Ein ewiges Geschehen ist aber kein Geschehen. Mithin ist die ganze Vorstellung jenes Processes und jener Bewegung eine selbst illusorische, es ist eigentlich nichts geschehen, alles ist nur in Gedanken vorgegangen, und diese ganze Bewegung war eigentlich nur eine Bewegung des Denkens.“ 12 Mit dieser Statuszuweisung ist der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Philosophie als reiner Vernunftwissenschaft nach Schelling tatsächlich vermieden - freilich um den Preis, dass diese Philosophie sich als negative Philosophie einbekennt: „[…] sie mußte sich als Wissenschaft bekennen, in der von Existenz, von dem, was wirklich existirt, und also auch von Erkenntnis in diesem Sinn gar nicht die Rede ist, sondern nur von den Verhältnissen, welche die Gegenstände im bloßen Denken annehmen, und da Existenz überall das Positive ist, nämlich das, was gesetzt, was versichert, was behauptet wird, so mußte sie sich als rein negative Philosophie bekennen, aber eben damit den Raum für die Philosophie, welche sich auf die Existenz bezieht, d.h. für die positive Philosophie, außer sich frei lassen, sich nicht für die absolute Philosophie ausgeben, für die Philosophie, die nichts außer sich zurückläßt.“ 13 Folgt man der »Geschichte der neueren Philosophie«, so ist diese Einsicht und ihre Umsetzung in die Ausbildung einer positiven Philosophie nach dem Auftritt des Identitätssystems allerdings verzögert worden, und zwar verzögert durch eine gewisse „Episode“ 14 , ein Zwischenspiel, 12 Ebd., 124f. 13 Ebd., 125. 14 Ebd. 390 Friedrike Schick das die Negativität der Philosophie aus reiner Vernunft noch einmal kräftig dementierte. Diese Episode war - Hegels Philosophie. 2. Schellings Kritik an Hegel in Grundzügen 2.1 Der Grundfehler Hegels Dementi des negativen Status reiner Vernunftwissenschaft nimmt Schelling zufolge eine durchaus vertrackte Form an. Das System Hegels (wie es in den drei Ausgaben der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse« veröffentlicht vorlag) gliedert sich bekanntlich in die »Logik« als den ersten, den grundlegenden Teil und die beiden realphilosophischen Teile, die »Philosophie der Natur« und die »Philosophie des Geistes«. Dass die Philosophie nun gerade als Logik beginnt, könnte man leicht als Ausdruck der Einsicht in den nur negativen, bloß logischen Charakter des Vernunftsystems ansehen, welches das frühere, gemeinsame Projekt des jüngeren Schelling und Hegel gewesen war. Wenn Hegel „eben dieß als die erste Forderung an die Philosophie aufstellte, daß sie sich in das reine Denken zurückziehe, und daß sie zum einzigen unmittelbaren Gegenstand den reinen Begriff habe“, 15 dann nimmt sich das vor dem eben angelegten Hintergrund auf den ersten Blick wie die Selbstbegrenzung oder Selbstbescheidung aus, die der negativen Philosophie nach Schellings Meinung tatsächlich gebührt. Tatsächlich aber konnte von Selbstbescheidung nicht die Rede sein: Das reine Denken und der reine Begriff nämlich bezeichneten bei Hegel nicht ein Denken, das der Existenzsetzung nicht fähig wäre, und einen Begriff, der die Frage seiner Erfüllung offenließe. Im Gegenteil: Von ihrem Anfang an verknüpft Hegels Logik den Rückzug auf das reine Denken mit dem Anspruch, „daß der Begriff alles sey und nichts außer sich zurücklasse.“ 16 Schelling expliziert: „Der Begriff hat hier nicht die Bedeutung des bloßen Begriffs (dagegen protestirt Hegel aufs eifrigste), sondern die Bedeutung der Sache selbst, und wie es in den Zendschriften heißt: der wahre Schöpfer ist die Zeit, so kann man Hegeln allerdings nicht vorwerfen, nach seiner Meinung sey Gott ein bloßer Begriff, seine Meinung ist vielmehr: der wahre Schöpfer ist der 15 Ebd., 126. 16 Ebd., 126f. Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung 391 Begriff; mit dem Begriff hat man den Schöpfer und braucht keinen andern außer diesem. […] Seine Meinung ist: Gott ist nichts anderes, als der Begriff, der stufenweise zur selbstbewußten Idee wird, als selbstbewußte Idee sich zur Natur entläßt, aus dieser in sich selbst zurückkehrend zum absoluten Geist wird“. 17 In diesen Charakterisierungen, mit denen Schelling das Hegel-Kapitel seiner »Geschichte der neueren Philosophie« beginnt, zeichnen sich zwei Befunde ab, die in ihrem Zusammenhang bereits den Grundzug von Schellings Hegel-Kritik konstituieren: Erstens nämlich zeichnet sich für die erste Philosophie gegenüber dem Vorgängersystem eine Themenverschiebung ab: Der reine Begriff, der Begriff als solcher, ist nun das Thema der ersten Philosophie. Aus Schellings Warte zieht sich die erste Philosophie damit der Sache nach einen entscheidenden Schritt weiter von der Wirklichkeit zurück als das Vorgängersystem. War dessen Leitfrage, welches Subjekt eigentlich dem Sein dessen, was es gibt, zugrunde liegt, so befasst sich die erste Philosophie als Logik nur noch mit der Frage danach, was für ein beliebiges Seiendes gilt, insofern es überhaupt Gegenstand, Gegenstand eines Begriffs ist. Es sind die formalen Bedingungen von Gegenständlichkeit, die eine Logik eruiert. 18 Natürlich kann man dann sagen, die Logik versammle und untersuche dasjenige, ohne welches nichts sein kann - aber damit untersucht sie weder Realbedingungen noch gar die hinreichende Bedingung, den Grund, für die Existenz von etwas, geschweige denn von allem. Mit diesem Themenwechsel, dem Rückzug in das reine Denken, also das Denken des Denkens, ist für Schelling auch schon entschieden, dass das Resultat nicht eigentlich Erkenntnis sein wird: „Sich ins Denken zurückziehen, heißt ihm nur, sich entschließen, über das Denken zu denken. Das kann man aber wenigstens nicht wirkliches Denken nennen. Wirkliches Denken ist, wodurch ein dem Denken Entgegenstehendes überwunden wird. Wo man nur wieder das Denken und zwar das abstrakte Denken zum Inhalt hat, hat das Denken nichts zu überwinden.“ 19 Zweitens aber identifiziert Hegel den reinen Begriff, also die formalen Bedingungen von Gegenständlichkeit, mit dem Subjekt, dessen Begriff und dessen Sein die Philosophie überhaupt gewidmet war: Der Begriff gilt ihm als 17 Ebd., 127. 18 Was ihr Thema angeht, gehört die Hegelsche Logik für Schelling damit in die Sparte der allgemeinen Ontologie im Wolff’schen Sinn; vgl. ebd., 138f. 19 Ebd., 141. 392 Friedrike Schick Grund des Seins des Seienden, oder einfach: als Gott, als göttliches Subjekt. Das aber ist nach Schelling eine glatte Fehlidentifikation. Das entscheidende Argument dafür ist auch schon genannt: Der reine Begriff, die allgemeinen Formalien des Seins, können nicht die Rolle eines Existenzgrundes dessen besetzen, dessen Formalia sie sind, weil sie als die Formalia Abstraktionen von dem sind, was ist, und Abstraktionen jedenfalls nicht früher sind als das, wovon sie abstrahiert sind. Darin diagnostiziert Schelling das ‚proton pseudos‘ der Hegelschen Logik und in eins damit der Hegelschen Systemkonzeption: „daß an sich wahre, nämlich bloß logisch genommen wahre Verhältnisse in wirkliche umgesetzt wurden, womit aus ihnen alle Nothwendigkeit gewichen ist.“ 20 2.2 Die Folgen für die Methode der Logik Im letzten Halbsatz des Zitats kündigt sich auch schon an, dass Schelling keineswegs der Meinung gewesen ist, Hegels entscheidender „Missgriff“ beschränke sich auf falsche externe Statuszuweisungen, die den internen Gang der Logik selbst nicht tangierten. Hegel hat nach Schellings Meinung nicht eine gute Formalontologie geschrieben in der Fehlmeinung, etwas anderes, nämlich einen Beweis der Existenz Gottes, vorgelegt zu haben. Vielmehr macht sich seine Grundverwechslung des Logischen und des Wirklichen im Gang der Logik selbst darin geltend, dass der Anspruch eines immanent notwendigen Fortgangs nur noch prätendiert wird. In der Annahme, im reinen Begriff das wirkliche Subjekt alles Wirklichen vor sich zu haben, und damit in der irrigen Annahme einer fortlaufenden Kontinuität zu Schellings Identitätssystem importiert Hegel nach Schellings Befund dessen Methode: „Wie dort das absolute Subjekt jede Stufe seines Seyns überbietet, daß es sich in einer noch höheren Potenz der Subjektivität, der Geistigkeit oder Innerlichkeit setzt, bis es zuletzt als reines, d.h. nicht mehr objektiv werden könnendes, also ganz bei sich bleibendes stehen bleibt, so soll hier der durch verschiedene Momente oder Bestimmungen hindurchgehende Begriff, indem er zuletzt alle unter sich aufnimmt, der sich selbst begreifende Begriff seyn. Hegel nennt auch diese Fortbewegung des Begriffs einen Proceß.“ 21 20 Ebd., 161. Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung 393 Tatsächlich aber ist der Begriff überhaupt kein geeigneter Kandidat für Prozesse, die Anwendbarkeitsbedingung der importierten Methode ist in einer Logik gar nicht gegeben. Dass etwas sich von dem, was es ist - seiner Objektivität - noch einmal unterscheidet als darin nicht bestimmter Grund derselben (in Schellings Terminologie: als Subjekt), setzt dieses Etwas als wirkliches Subjekt voraus. Das methodische ‚movens‘ des Identitätssystems, das prozedierende Ungenügen, die Ungleichheit des angenommenen Subjekts mit sich selbst, verbürgt nur unter dieser Voraussetzung die immanente Notwendigkeit der Theorie. Anders gesagt: Das Erschließen von Typen des Seienden im Ausgang vom Begriff des absoluten Subjekts kann sich nur dann zu einer relevanten systematischen Theorie dieser Typen des Seienden entfalten, wenn diesen Seienden der Begriff, an den sie da gehalten werden, nicht äußerlich ist, wenn sie also selbst etwas von einem absoluten Subjekt an sich haben. Sonst gerät die Theorie zu einer Ansammlung nicht-bestimmender, negativ unendlicher Urteile. Wenn die Typen des Seienden nur die negative Gemeinsamkeit aufweisen, kein absolutes Subjekt, kein Prinzip des Seins zu sein, so ist damit über ihren positiven Begriff und ihren systematischen Zusammenhang untereinander nichts bestimmt. Man kann in dieser Forderung leicht einen Fall des methodischen Desiderats erkennen, das Hegel in seiner Logik eindeutig bekräftigt: Die Methode der Theorie muss dem Begriff der Sache folgen, von der die Theorie handelt. Nun sind, wenn wir Schellings grundlegender Kritik der Verwechslung des Logischen und des Wirklichen folgen, Begriffe konsequenterweise weder wirkliche noch absolute Subjekte. Sie sind die logischen Subjekte einer Theorie des Begriffs, aber nicht praktische Subjekte. Wenn ihnen dann in der Tat eine wirkliche Bewegung nach Art fortschreitender Subjektivierung zugeschrieben wird, dann kann eine Theorie, die diese Bewegung verfolgt, tatsächlich nicht mehr der Sache gefolgt sein, von der sie handelt. Wenn der Fehlimport vorliegt, ergeben sich auch unmittelbar zwei Folgeerscheinungen, die Schelling in Hegels Logik diagnostiziert: Es bewegen sich dann erstens nicht die Begriffe oder Denkbestimmungen selber, sondern nur die Gedanken des Autors, der das, was er am jeweiligen Begriff vor sich hat, vergleicht mit dem, was ihm als terminus ad quem vorschwebt, und aus dem bemerkten negativen Verhältnis, der Nicht-Identität von vorgesetztem Begriff und vorausgesetztem theoretischem Bedürfnis, die Notwendigkeit eines 21 Ebd., 137. 394 Friedrike Schick Fortgangs in die gewünschte Richtung schmiedet. Das ist dann die unmittelbare Folge der Äußerlichkeit zwischen dem vom Autor zugrunde gelegten Maßstab und der Sache, an die er ihn anlegt. Zweitens fällt die Richtung, in die der negative Vergleich dann jeweils führt, variabel aus: Welcher Maßstab geltend gemacht wird, ist, wenn nicht der Sache geschuldet, eine Sache des Zufalls - und wird davon abhängen, womit der Autor bekannt und was ihm aus welchen Gründen auch immer wichtig war. Schelling konkretisiert die hier nur im Allgemeinen vorgestellte Diagnose des Ausfalls von Notwendigkeit im Gang der Logik an den beiden bekanntesten Passagen der »Wissenschaft der Logik«: an ihrem Anfang, der Trias von Sein, Nichts und Werden, und an ihrem Ende, der Überleitung von der absoluten Idee im Medium des Logischen zur Realphilosophie im Allgemeinen und der Philosophie der Natur im Besonderen. Wie angekündigt, klammere ich diese beiden - für ein Gesamtbild von Schellings Hegelkritik freilich triftigen - näheren kritischen Argumentationsgänge von meiner Betrachtung aus 22 und wende mich im letzten Teil meines Beitrags der Frage zu, wie sich Hegels Logik selbst zu Schellings allgemeiner Diagnose verhält. Entsprechend der Aussparung von Schellings Kritik an einzelnen Passagen innerhalb der Logik halte ich mich dabei vorzugsweise an selbst allgemeine und programmatische Thesen und Argumente Hegels aus seiner Einleitung in die »Wissenschaft der Logik«. 3. Vertauschung von Begriff und Wirklichkeit? 3.1 Die Konzeption der Hegelschen Logik und ihre Zweideutigkeit In Schellings Hegel-Kritik ließen sich zwei Gründe unterscheiden, aus denen Hegels Logik vom Status der Erkenntnis ausgeschlossen sein sollte. Der eine, spezifisch an Hegels Logik adressierte Grund bestand im Vorwurf der Verwechslung des Begriffs des Begriffs mit einem praktischen Subjekt. Der zweite richtete sich allgemein an die Logik als Formalontologie: Auch ohne Hegels Verwechslung werde aus Logik nicht Erkenntnis; es fehle ihr der Widerstand des wirklichen Objekts. Um diesen zwei Gründen zu entsprechen, lege ich für die Gegenprüfung Überlegungen Hegels zugrunde, in denen er sich erstens gegen die Ansicht 22 Vgl. ebd., 129-137,151-154. Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung 395 wehrt, Logik sei nicht Erkenntnis, und die zweitens triftig für den Verwechslungsvorwurf sind. In der Einleitung zur »Wissenschaft der Logik« wendet sich Hegel gegen eine gängige formalistische Auffassung sowohl der Logik als auch des Denkens und setzt ihr seine eigene Auffassung entgegen. Der Gegensatz beider Auffassungen kommt im folgenden Zitatenpaar gut zum Ausdruck: „Wenn die Logik als die Wissenschaft des Denkens im Allgemeinen angenommen wird, so wird dabey verstanden, daß diß Denken die bloße Form einer Erkenntniß ausmache, daß die Logik von allem Inhalte abstrahire und das sogenannte zweyte Bestandstück, das zu einer Erkenntniß gehöre, die Materie, anderswoher gegeben werden müsse, daß somit die Logik, als von welcher diese Materie ganz und gar unabhängig sey, nur die formalen Bedingungen wahrhafter Erkenntniß angeben, nicht aber reale Wahrheit selbst enthalten, noch auch nur der Weg zu realer Wahrheit seyn könne, weil gerade das Wesentliche der Wahrheit, der Inhalt, ausser ihr liege.“ 23 In Opposition dazu setzt Hegel den - für ihn in der »Phänomenologie des Geistes« schon ausgewiesenen - Standpunkt, „daß das an und für sich Seyende gewußter Begriff, der Begriff als solcher aber das an und für sich Seyende ist. Dieses objective Denken ist denn der Inhalt der reinen Wissenschaft. Sie ist daher so wenig formell, sie entbehrt so wenig der Materie zu einer wirklichen und wahren Erkenntniß, daß ihr Inhalt vielmehr allein das absolute Wahre, oder wenn man sich noch des Worts Materie bedienen wollte, die wahrhafte Materie ist, - eine Materie aber, der die Form nicht ein äusserliches ist, da diese Materie vielmehr der reine Gedanke, somit die absolute Form selbst ist. Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deßwegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“ 24 23 GW 21, 28. Hegels Schriften werden, sofern nicht anders angegeben, zitiert nach: Hegel, G. W. F., »Wissenschaft der Logik«, 1. Teil: »Die Objektive Logik«, 1. Bd.: »Die Lehre vom Sein« (1832), hg. v. F. Hogemann und W. Jaeschke, in: »Gesammelte Werke« (= GW), hg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Hamburg 1985. 24 GW 21, 33f. 396 Friedrike Schick Im Ausgang von diesen Zitaten möchte ich zweierlei zeigen. Erstens: Die bestimmte formalistische Auffassung der Logik und des Denkens verfällt wirklich der (hier nicht mitzitierten) Kritik, die Hegel an ihr übt; und diese Kritik tangiert ihrerseits Schellings Kritik an Hegel. Zweitens: Die positive Gegenposition, die das zweite Zitat artikuliert, enthält mehr als die Konsequenz dieser Kritik - und genau in ihrem Überschuss wird sie ihrerseits wirklich von Schellings Verwechslungskritik getroffen. Zum ersten Punkt: Die kritisierte gängige Auffassung vom formalen Charakter der Logik enthält zunächst ein ganz plausibles Moment: Wenn die Logik das Denken im Allgemeinen zu ihrem Thema hat, dann kann es in ihr nicht darum gehen, die Wahrheit von Gedanken über besondere Gegenstände zu beweisen. Wenn wir fragen, was eine bestimmte Kategorie ist - was es ist, ein Quale oder eine Größe oder eine Substanz oder eine Ursache zu sein oder auch einfach: zu sein -, dann fragen wir darin nicht auch noch danach, wie beschaffen oder wie groß ein bestimmter Gegenstand ist oder wovon er Substanz oder Ursache ist oder ob er ist. Von Fragen der letzteren Art ist die Logik einfach durch das Allgemeinheitsniveau ihrer Frage dispensiert, entfernt. Nur erschöpft sich die im ersten Zitat skizzierte formalistische Auffassung nicht in diesem Gedanken. Sie bietet darüber hinausgehend eine Erklärung für diesen Sachverhalt an, und es ist diese Erklärung, die Gegenstand von Hegels Kritik wird: Man stellt sich vor, aller Inhalt, der über die Formen des Denkens oder Kategorien hinaus in bestimmten Gedanken zu finden ist, sei erstens unabhängig vom Denken gegeben und zweitens in diesem unabhängigen Gegebensein der Repräsentant der Wirklichkeit. So setzte sich jeder Gedanke über einen wirklichen Gegenstand aus zwei Bestandstücken zusammen: der für sich leeren Form des Denkens, die als Bedingung der Denkbarkeit eben nur die negative Wahrheitsbedingung wäre, und dem Wirklichkeit repräsentierenden Inhalt, der dann einer anderen Quelle als dem Denken entspringt und allein dasjenige sein kann, kraft dessen der ganze Gedanke positiv wahr sein - d.h. mit seinem Gegenstand übereinstimmen - kann. Gegen diese Auffassung - die sich etwa in der nach wie vor gängigen Unterscheidung zwischen logischer und realer Wahrheit spiegelt - lässt sich mit Hegel in zwei Schritten argumentieren. Erstens ist die Annahme eines jeder logischen Form baren Inhalts falsch. Das wäre ein Inhalt, der sich nicht unterscheiden, nicht identifizieren, nicht als etwas und einer Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung 397 festhalten ließe - denn Unterschied, Identität, Qualität und Quantität sind Formen des Denkens, deren der Inhalt dann nach Voraussetzung zu entkleiden wäre, um ihn rein zu bekommen. Die Sachen, denen wir so vermeintlich auf die Spur kommen, entpuppen sich so als „Gedankendinge, und als ganz unbestimmte, nur Ein Gedankending, (- das sogenannte Ding-an-sich) der leeren Abstraction“. 25 Wenn wir nun zweitens per impossibile diesen gegen Formen des Denkens selbstständigen Inhalt als gegeben annehmen, so ist die Anwendung der Formen des Denkens auf ihn als Entfernung von der Wahrheit, als das Gegenteil von Erkenntnis bestimmt. Denn wenn die Formen dem allein wirklichkeitsgesättigten Inhalt, dessen Formen sie gar nicht sind, auferlegt werden - so nämlich stellt sich Denken unter der angenommenen Voraussetzung dar -, dann entstellt oder verfremdet das Denken seinen Gegenstand, indem es ihn sich gemäß macht: „[E]s kommt also auch in seiner Beziehung auf den Gegenstand nicht aus sich heraus zu dem Gegenstande, dieser bleibt als ein Ding an sich, schlechthin ein Jenseits des Denkens.“ 26 Was ergibt sich nun aus der Kritik der formalistischen oder formationstheoretischen Auffassung für die Bestimmung des Gegenstands und der Aufgabe der Logik? Eines ergibt sich unmittelbar: Sich mit dem Denken im Allgemeinen zu befassen, heißt nicht, sich mit jenen aparten Teilen („Bestandstücken“) bestimmter Gedanken zu befassen, die das Denken im Gegensatz zu andersartigen Teilen aus andersartigen Quellen zur Konstitution bestimmter Gedanken beigesteuert hätte. Das Allgemeine bestimmter Gedanken verhält sich zu ihrer besonderen Bestimmtheit nicht wie ein selbstständiger Teil zu einem anderen selbstständigen Teil. Infolgedessen gibt es auch keine Aufgabenteilung zwischen solchen Gedankenteilen derart, dass erst der nicht dem Denken geschuldete Teil den Wirklichkeitsbezug leisten und so den Gedanken zu etwas machen würde, was realer - statt nur logischer - Wahrheit fähig ist. Dass Gedanken auf Wahrheit - Wahrheit ohne Einschränkungsklausel - gerichtet sind, ist kein Zuschuss von jenseits des Denkens: Es gehört zum Denken selbst und damit auch zum Thema der Wissenschaft, die das Denken im Allgemeinen zu ihrem Gegenstand hat. In diesem Sinn kann man dann auch sagen, dass die Logik nichts weniger als formell und der Inhalt der Logik das objektive Denken und damit das 25 Aus der »Zweyte[n] Vorrede«, GW 21, 14. 26 Ebd., 29. 398 Friedrike Schick absolute Wahre sei, wie es im zweiten Zitat heißt. Das besagt dann: Die Logik untersucht, was es für einen Gedanken heißt, wahr zu sein, oder umgekehrt, was es für einen Gegenstand heißt, erkannter Gegenstand zu sein. Eine solche Wissenschaft untersucht dann Definitionen gelungener Einheit von Denken und Gegenstand, Definitionen, die zum einen unseren denkenden Untersuchungen implizit einbeschrieben sind, zum anderen auch schon in Kategorien- und Logiklehren explizit geworden sind. Von diesen schon vorliegenden expliziten Thematisierungen unterscheidet sich eine Wissenschaft der Logik dann wie das Erkennen von der Kenntnis. Zum zweiten Punkt: Hält man nun diese Konzeption der Logik noch einmal vergleichend an das zweite Zitat, gewinnt man aber auch den Eindruck, dass Hegels Konzeption der Logik mit der eben andeutungsweise skizzierten nicht einfach zusammenfällt. Zunächst einmal ist die Identifikation des Begriffs als solchem mit dem an und für sich Seienden doppeldeutig. Man kann sie - im Licht der Kritik der formationstheoretischen Gegenposition - einerseits so lesen: Wer nach dem Begriff eines Gegenstandes fragt, der fragt danach, was dieser an und für sich ist; und wer wissen will, was ein Gegenstand an und für sich ist, der sucht dessen Begriff zu bestimmen. So verstanden, haben wir daran eine begriffliche Identifikation vor uns. Man kann diese Identifikation andererseits aber auch als Antwort auf die Frage lesen, was unter allen Dingen dasjenige ist, das an und für sich ist; und die Antwort würde lauten: Unter allen Dingen ist es der Begriff als solcher. So verstanden hätten wir keine begriffliche Identifikation, sondern das Identifizieren des - exklusiven, einzigen - Kandidaten vor uns, der den Begriff des An-und-für-sich- Seins erfüllt. Stellt man sich jetzt die Frage, welche der beiden Lesarten dem entspricht, was Hegel gemeint hat, wird man wiederum in beide Richtungen gewiesen: Insofern seine Positionierung im Diskurs um Gegenstand und Aufgabe der Logik von ihm selbst als Konsequenz der oben wiedergegebenen Kritik vorgestellt wird, liegt die erste Lesart nahe, die zweite fern; zugleich enthält wenigstens der zweite Teil des Zitats Hinweise auf die zweite: Vom Inhalt der Logik als der „wahrhaften Materie“ zu sprechen, ist nicht dasselbe wie zu sagen, dass Wahrheit ihre Materie sei. Eher klingt darin der Gedanke einer Rangfolge, einer Hierarchie von Materien, möglichen Stoffen des Nachdenkens, an, von denen genau eine (der Gegenstand der Logik) diejenige wäre, in der alle anderen Ma- Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung 399 terien (die Gegenstände anderer Wissenschaften) auf ihren Begriff gebracht wären. Und das entspricht der zweiten Lesart der voranstehenden Identifikation. In dieselbe Richtung weist die Einkleidung des Gemeinten in den theologischen Terminus des ewigen Wesens Gottes vor der Schöpfung: Denn dieses Wesen besteht nach allgemeiner Auffassung nicht darin, vorgefundene Gegenstände zu erkennen, sondern besetzt die Position des Grundes, aus dem Gegenstände dann allererst hervorgehen, die Position des Schellingschen Prinzips des Seins. 3.2 Wird Hegels Konzeption von Schellings Kritik getroffen? Wie verhält sich nun Schellings Kritik zu dem im Vorigen als ambivalent charakterisierten Projekt der »Wissenschaft der Logik«? Wie verhält sie sich insbesondere zu dieser Ambivalenz selbst? Erinnern wir uns an Schellings Diagnose eines Quidproquo von Begriff und praktischem Subjekt, so zeigt sich, dass Schelling die Hegelsche Logik eindeutig im Sinn der zweiten der eben unterschiedenen Lesarten versteht. Der Begriff tritt auf als der alternativlose Kandidat für den Posten dessen, was dafür verantwortlich ist, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Die Logik versucht diese Kandidatur zu begründen, also zu beweisen, dass der Begriff und nichts sonst diese ontologische Stelle innehat, und überantwortet dann der Realphilosophie die Aufgabe, den Begriff in seiner Außenwirkung zu zeigen. Schelling hat Recht, wenn er diese Stellenzuweisung an den Begriff des Begriffs zurückweist. Anders sieht es für die erste Lesart der Konzeption einer Wissenschaft der Logik aus. Deren Grundfrage lautet nicht: Wovon kann man letztlich sagen, dass es sei - was ist der Grund des Seins alles Seienden? Ihre Fragen lauten vielmehr: Was heißt es, zu sein? Was heißt es, etwas, ein beliebiges Subjekt, wahrhaft zu erfassen? Für sich genommen ist mit einem Projekt dieser Art weder eine negative Philosophie in Schellings Sinn angestrebt noch eine positive. Die Logik fällt dann in keines der beiden Lager, weil ihre Grundfrage einfach nicht lautet: Welche von dem, was es gibt, unterscheidbare Instanz ist der letzte Grund dafür, dass es überhaupt etwas gibt? Sie sucht nicht nach dem Kandidaten für die Rolle des letzten Grundes, sondern (unter anderem) nach dem 400 Friedrike Schick Begriff des Grundes. Ihr Anliegen ist nicht der Existenznachweis für ein Subjekt, das alles Sein erst hervorbrächte. Existenzbeweise oder -aufweise sind diesem Projekt eher fremd; sie würden es gar nicht voranbringen. Wie nämlich könnten Existenzbeweise darin vorkommen? Zum einen könnte man an empirische Belege dafür denken, dass die in der Logik untersuchten Formen des Denkens im tatsächlichen Gebrauch auch wirklich vorkommen. Die Tatsächlichkeit des Gebrauchs liefert aber selbst noch kein Urteil darüber, inwiefern diese Form Form von Erkenntnis ist; sie ersetzt nicht die begriffliche Diagnose und Kritik der jeweiligen Denkform; und um sie geht es in der »Wissenschaft der Logik«. Zum anderen könnte man an Existenzbeweise der folgenden Art denken: Zusätzlich zu der Analyse und der internen Kritik der Denkformen wäre zu beweisen, dass es tatsächlich etwas gibt, das sich zu diesen Formen auch konform verhält, dass es einen Stoff gibt, der sich in diese Form fügt. Auch in diesem zweiten Sinn kann die Wissenschaft der Logik nicht eines Existenzbeweises bedürfen. Die Forderung nach einem solchen Existenzbeweis fällt zusammen mit der Fehl-Identifizierung des Projekts der Wissenschaft der Logik mit dem formationstheoretischen Modell, dessen Kritik der Ausgangspunkt und ein Movens für die Entwicklung der wissenschaftlichen Logik durch Hegel war. Beschränkt man die von Schelling zum Unterscheidungsgrund zwischen negativer und positiver Philosophie gemachte Möglichkeit begründeter Seinssetzung auf die Form des Existenzbeweises, so zeigt sich eine Wissenschaft der Logik im Sinn der ersten Lesart sowohl vom Faktum als auch vom Desiderat oder Maßstab der Seinssetzung frei. Damit liegt freilich die Vermutung nahe, eine solche Wissenschaft der Logik falle gerade deswegen unter Schellings allgemeine Diagnose, ein Denken des Denkens könne jedenfalls nicht Erkenntnis sein. Wie steht es damit? Eine Wissenschaft der Logik im Sinne der ersten Lesart ist kein groß angelegter Existenzbeweis; aber sie ist in zweierlei Hinsicht wesentlich auf Wahrheit bezogen: Wahrheit - und zwar nicht bloß logische-statt-reale Wahrheit - ist erstens konstitutiv für ihr Thema. Ihr Untersuchungsfeld sind ja die allgemeinen Unterscheidungen und Verhältnisse, die das Denken trifft, insofern es auf Wahrheit gerichtet ist. Zweitens misst sich eine solche Wissenschaft der Logik dann auch selbst an Wahrheit. Das heißt in ihrem Fall: Sie ist immanent daran zu messen, ob sie die jeweilige Eigenart, Logik, Wirklichkeit und ihre Verwechslung 401 gegebenenfalls den Mangel und die logischen Verhältnisse zwischen solchen Definitionsangeboten ihrerseits auch wahrhaft bestimmt. Die Logik hat so verstanden genauso eine Sache vor sich, die sie wahr oder falsch analysieren kann, wie jede andere Wissenschaft die ihre. Damit entfällt der allgemeine Grund, mit dem Schelling nicht nur die Hegelsche, sondern jede Wissenschaft der Logik vom Status des Erkennens ausschloss. Die allgemeine Selbstthematisierung des Denkens führt nicht zu einem Verlust an Objektivität, eines Widerstands. Sie hat ihren Widerstand, wie andere Wissenschaften auch, im Gefälle zwischen dem Kennen und dem Erkennen ihrer Sache. Bis dahin haben wir den folgenden Stand erreicht: Die Frage, wie triftig Schellings Kritik für Hegels Logik ist, verdient eine zweifach geteilte Antwort. Sofern der Begriff des Begriffs in der Tat für die Besetzung der Rolle des letzten (Existenz-)Grundes vorgesehen ist, wird Hegels Logik von Schellings Verwechslungskritik getroffen. Sie wird nicht davon getroffen, sofern sie ist, was sie jedenfalls auch sein will: Wissenschaft der Denkformen. Was Schellings allgemeinere Diagnose zu einer Wissenschaft der Denkformen angeht, so zeichnet sich ab, dass jene den besonderen internen Bezug, den diese zu Objektivität und Wahrheit hat, verkennt. Damit entfällt auch die Annahme, die implizit Schellings allgemeine Diagnose mit der spezifischen Verwechslungskritik miteinander verbindet: die Annahme, die Umdeutung des Begriffs des Begriffs zum praktischen Subjekt sei die einzig mögliche Weise, in der eine Wissenschaft der Logik zu dem Anspruch kommen könne, im Vollsinn Erkenntnis zu sein. Nichts anderes als die einfache Umkehrung dieser Annahme konstituiert jene Verwechslung von Begriff und Existenzgrund, die Schelling an Hegel kritisiert. BEIGABE Stefan Gerlach Wunderkind in Bebenhausen Ein Beitrag zur frühen intellektuellen Entwicklung Schellings Schelling hat bemerkenswerte Kindheits- und Jugendjahre im Umfeld der evangelischen Klosterschule Bebenhausen verbracht. Von hoher Begabung wurde er schon früh durch den Kontakt mit wesentlich älteren Seminaristen und deren Unterrichtsinhalten gefördert, worin sowohl thematisch als auch entwicklungsgeschichtlich der Grundstein gelegt wurde für seine ganz außerordentliche Frühreife, ja Frühvollendung als philosophischer Autor. Allerdings stehen diese Kindheitsjahre gewöhnlich im Schlagschatten der hell glänzenden anschließenden Epoche Schellings am Tübinger Stift, wo er mit den Stubenkameraden Hegel und Hölderlin zu erster, enorm fruchtbarer philosophischer Produktion und der Deutsche Idealismus zu hoher Blüte geführt wurde. 1 1775 in Leonberg geboren, kam Schelling bereits im Alter von zwei Jahren nach Bebenhausen, da sein Vater, Joseph Friedrich Schelling, der zuvor Diakon in Leonberg gewesen war, am dortigen Höheren Seminar 1 Der Sammelband »Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen« beginnt erst mit der Tübinger Zeit, (Frank, M., Kurz, G. [Hg.], »Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen«, Frankfurt a.M. 1975). In Tilliettes 500- seitiger Biographie finden sich für die Jahre in Bebenhausen gerade zwei Seiten Bericht (Tilliette, X., »Schelling Biographie«, Stuttgart 2004). Desgleichen in A. Gulygas Biographie »Schelling. Leben und Werk«, aus dem Russ. übertr. von E. Kirsten, Stuttgart 1989, während zuletzt S. Dietzsches Biographie »Friedrich Wilhelm Joseph Schelling«, Köln 1978, Bebenhausen mit keinem Wort erwähnt. Wunderkind in Bebenhausen 403 eine Stelle als zweiter Professor erhalten hatte. 2 Schelling verbrachte demnach im abgelegenen Bebenhausen fast seine gesamte Kindheit und war nicht bloß für die zwei Abschlussjahre der Schulausbildung dort Seminarist, wie es der üblichen Karriere begabter württembergischer Eleven entsprochen hatte. Diese Bebenhäuser Zeit lohnt also näherer Betrachtung. In ihr ist bei Schelling mehr zu finden als die oft bloß äußere biographische Vervollständigung einer außerordentlichen Vita durch die Beleuchtung der Kindheit. Bei Schelling waren bereits Kindheit und frühe Jugend außerordentlich. Demnach soll Schellings Werdegang bis zum Eintritt ins Tübinger Stift nachfolgend dargestellt und in Hinsicht auf seine weitere Entwicklung gewürdigt werden. Die Arbeit versteht sich somit zugleich als Beitrag zur Biographie und intellektuellen Entwicklungsgeschichte Schellings - und als Baustein zur Geschichte des Höheren Seminars in Bebenhausen. I. Klosterschulen und der Bildungsweg des 18. Jahrhunderts Der übliche Ablauf schulischer Ausbildung zur Zeit Schellings war in Württemberg folgender: nach Besuch der elementaren Deutschen Schule, die deswegen so hieß, weil in den vier Jahren Grundausbildung bis zum zehnten Lebensjahr in der Landessprache unterrichtet wurde, gingen diejenigen, welche weiterführende Bildung anstrebten, auf die Lateinschule, um dort in den Alten Sprachen unterrichtet zu werden. Kinder vermögender Eltern konnten anschließend das Gymnasium Illustre in Stuttgart besuchen und von dort auf die Universität gehen, während Kinder, deren Eltern das Gymnasium nicht bezahlen konnten, die Möglichkeit hatten, über eine zentrale Prüfung, das sogenannte Landexamen, das zu Schellings Zeit vier Jahre hintereinander bestanden werden musste, den durch ein Stipendium des Herzogs finanzierten Eintritt in eine Klosterschule zu erwerben und anschließend (verpflichtend! ) evangelische Theologie am Tübinger Stift zu studieren. 3 2 Zum weiteren biographischen Rahmen: Tilliette (Anm. 1), 14f. 3 Vgl. Fuhrmans, H. (Hg.), »F. W. J. Schelling. Briefe und Dokumente«, Bd. I, Bonn 1962, Bd. II., Bonn 1973. Hier: Bd. II, 7, Fn. 13. 404 Stefan Gerlach Die evangelischen Klosterschulen hatten in Württemberg eine lange Tradition. Nach der Auflösung aller Klöster durch die Reformation 1534/ 5 wurden 1556 in den 14 ehemaligen Mannsklöstern des Landes evangelische Seminare eingerichtet, mit der Zielsetzung, den zukünftigen reformierten Pfarrern und Lehrern von früh an eine adäquate theologische Ausbildung zu gewähren. Zu Schellings Zeit waren noch vier dieser Schulen übrig geblieben: die Niederen Seminare in Blaubeuren und Denkendorf, in die man mit 14 Jahren zuerst eintrat und von denen aus man nach zwei Jahren auf die Höheren nach Maulbronn oder Bebenhausen wechselte. 4 Klosterschulen hießen die Seminare nicht bloß, weil sie in den ehemaligen Klosteranlagen untergebracht waren. Sondern es wurde in den Schulen durchaus versucht, ein Leben in der Tradition und Zucht des Mönchtums weiterzuführen. Dazu gehörten: Aufstehen um fünf Uhr morgens mit Frühgottesdienst in der Kirche, regelmäßige Gebetszeiten, ein bis in den Abend hinein festgelegter Tagesplan, noch zu Schellings Zeiten die Kutte als einheitliche Kleidung, ein generelles Verbot, sich auf Deutsch zu unterhalten, Karten zu spielen oder anderen Vergnügungen nachzugehen, strenge Reglementierungen des Ausgangs und Umgangs, insbesondere des Kontakts mit Frauen, des Verzehrs von Speisen und des Genusses alkoholischer Getränke mit entsprechend harten Strafregelungen. 5 II. Erste Wohnorte in Bebenhausen Für die Frage, wohin genau die Familie Schelling zunächst in Bebenhausen gezogen ist, haben bauarchäologische Untersuchungen der letzten Jahre zu neuen Erkenntnissen geführt. 6 So kann man es heute als gewiss annehmen, dass der erste Wohnort der Schellings in Bebenhausen das zu einer großzügigen Wohnung mit sechs beheizbaren Zimmern umgestaltete ehemalige Laiendormitorium im ersten Stock des Westflügels der Klausur gewesen war. Jedenfalls hat sich ein Plan aus dem 4 Übrigens in folgender Ordnung: In geraden Jahren trat man in Denkendorf ein und ging anschließend nach Maulbronn, in ungeraden führte der Weg von Blaubeuren nach Bebenhausen. Jede Schule hatte immer nur eine Klasse von etwa 20-25 Stipendiaten und Hospitanten, die sie zwei Jahre betreute, so dass dann anschließend in den geraden Jahren jeweils die Maulbronner Absolventen und in den ungeraden die Bebenhäuser ins Stift eintraten. Wunderkind in Bebenhausen 405 Jahre 1803 gefunden, der dieses Stockwerk als eine einheitliche Wohnung zeigt, die dem heutigen Baubestand bis auf Detailveränderungen entspricht (Abb. 1). Und dieser Plan ist bezeichnet als „Des zweiten Professors Wohnung“ - eben der Stellung eines sogenannten Präzeptors, die Schellings Vater annahm, als die Familie nach Bebenhausen zog. Es ist davon auszugehen, dass die Wohnung auch schon 25 Jahre zuvor diese Funktion gehabt hat, da sich der Ausbau des Obergeschosses des Westflügels zur Wohnung bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. 7 Schelling, der zweijährig nach Bebenhausen kommt, ist das älteste Kind der Familie; zwei weitere Brüder werden in der Bebenhäuser Zeit geboren. Wohl 1781 beginnt er die örtliche Grundschule zu besuchen. Das Schulzimmer der Deutschen Schule war in der Nord-Ost-Ecke des Untergeschosses der damals sogenannten ‚Großen Behausung‘ untergebracht, des ehemaligen Klosterkrankenhauses, das heute ‚Kapf’scher Bau‘ heißt. Hier befand sich auch die Wohnung des ersten Professors, der ‚Oberpräzeptor‘ hieß. 8 Da Schellings Vater 1783 zu dieser Position aufstieg, bezog die Familie dann diese Wohnung im Obergeschoss. 9 Zum Präzeptor und Oberpräzeptor kam als dritte Lehrkraft noch der 5 Vgl. Fausel, H., »Maulbronn 1147-1556-1956. Kloster und Klosterschule«, Stuttgart 1956, 22; Gaub, A., »Kloster Blaubeuren. Klosterschule und Seminar«, Stuttgart 1956, 33; Petersmann, J., »…der rechte Gottesdienst gelehrt/ Vom Mannskloster zur Knabenschule. 250 Jahre Klosterschule Bebenhausen 1556- 1806«, hg. v. den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg, Tübingen 2006, 33; Eitle, J., »Der Unterricht in den einstigen württembergischen Klosterschulen von 1556-1806«, Berlin 1913, 77, charakterisiert die Klosterschulen der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts als „veraltet, [von] großer Einseitigkeit, vielen Mängeln im Einzelnen, einem schweren Ballast überlebter Unterrichtsformen, […] allzu vielen Andachtsübungen“ usw. Es ist allerdings anzumerken, dass Schelling als Hospitant, ganz abgesehen von seiner Rolle als Sohn des Professors, einen Sonderstatus genoss und beispielsweise nicht die Kutte tragen musste (vgl. »Eigener Lebenslauf/ des Christian Jakob Zahn«, in: Franz, M. und Jacobs, W. G. (Hg.), »… so hat mir/ Das Kloster etwas genüzet. Hölderlins und Schellings Schulbildung in der Nürtinger Lateinschule und den württembergischen Klosterschulen« (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft Bd. 23/ 1), Tübingen 2004, 244-255, 245f. 6 Die Untersuchungen betrafen in der Hauptsache den Westflügel des Klausurbereiches und wurden von der Firma STREBEWERK durchgeführt, der an dieser Stelle ausdrücklich und insbesondere Herrn Tilman Riegler namentlich für die Vermittlung ihrer Forschungsergebnisse, ausführliche Detaildiskussionen und der Klosterverwaltung für das Zur-Verfügung-Stellen der gesamten Forschungsdokumentation gedankt sei. 406 Stefan Gerlach Abt als Schulvorsteher hinzu, wobei dessen Stunden oft wegen politischer Verpflichtungen von den beiden anderen übernommen werden mussten. 10 Mit diesem Wohnungswechsel mag im Zusammenhang stehen, dass zu den offiziellen Lektionen ab Schellings achtem Lebensjahr noch weitere hinzukamen, durch den Vater selbst oder durch höhere Seminaristen, die den begabten Jungen in Latein und Griechisch unterrichteten. 11 Denn der Vater war zugleich Kostherr von Hospitanten, Schülern ohne Stipendium also, welche bei ihm am Tisch aßen. 7 Dokumentation STREBEWERK, wo vermutet wird, dass der Ausbau im Zusammenhang mit dem „schulischen Neuanfang nach Ende des 30-jährigen Krieges“ steht. Auch zeugt der Stil der Innenarchitektur von einer Einrichtung des 17. Jahrhunderts. Eine gewisse Unsicherheit ergibt sich für diesen Befund lediglich dadurch, dass bei dentrochronologischen Untersuchungen der Dachstuhlhölzer Fälldaten vom Sommer 1777 und Winter 1784/ 5 bestimmt werden konnten. Also hatte es wahrscheinlich Aus- oder Umbaumaßnahmen zu eben der Zeit gegeben, als Schellings Vater zweiter Professor gewesen war. Jene Hölzer finden sich allerdings nicht über der Wohnung, sondern an einem seitlichen Vorsprung des Daches über dem Kreuzgang, so dass die eigentliche Wohnung unberührt blieb. Eine allerletzte Restunsicherheit bleibt dennoch, da die Dachstuhlhölzer über der Wohnung zwar auf die erste Bauphase des Westflügels datiert werden konnten (1280), die Untersuchung allerdings zeigte, dass diese sich nicht mehr einheitlich an ihrer ursprünglichen Stelle befinden. Der Dachstuhl ist also irgendwann abgetragen und neu zusammengebaut worden - im ungünstigsten Fall gerade zu der Zeit, auf welche die Daten der Hölzer am Dach über dem Kreuzgang verweisen. Aber auch dann kann man vermuten, dass die Wohnung darunter, wenn auch mit Beeinträchtigungen und gegebenenfalls einer kurzzeitigen Unterbrechung, grundsätzlich in den Jahren von 1777-1783 von Familie Schelling bewohnt wurde. 8 Diese Lage des Schulzimmers bezeugt eindeutig ein bisher unveröffentlicher Plan des Hauptstaatsarchivs Ludwigsburg von 1807 (D 39 Bü 340). Darin wird der kleine und eher dunkle Raum im Untergeschoss mit ‚Schulstube‘ bezeichnet, was auch die bisherige Ansicht korrigiert, der Schulraum sei im Erdgeschoss gewesen (Petersmann (Anm. 5), 19) - wo sich zu späterer Zeit nach den Umbauten des 19. Jahrhunderts tatsächlich ein Schulraum befand. 9 Zum Jahr der Beförderung vgl. Franz, M., »Lehrpersonal 1789-1790«, in: Franz/ Jacobs (Anm. 5), 256f. 10 Die Äbte der Klosterschulen waren, wie schon die Äbte der Klöster, zugleich Prälaten, das heißt Abgeordnete im Württembergischen Landtag. Das Abtshaus, welches der evangelische (Schul-)Abt, wie schon der Abt des Zisterzienserkonvents, bewohnte, wird zu jener Zeit daher auch ‚Prälatur‘ genannt. 11 Vgl. Plitt, G. L. (Hg.), »F. W. J. Schelling. Aus Schellings Leben in Briefen«, Bd. 1, Leipzig 1869 (Reprint: Hildesheim 2003), 11. Wunderkind in Bebenhausen 407 Dies bedeutet, dass Schelling durch den Wohnungswechsel von 1783 an auch räumlich engeren Kontakt zu den Seminaristen hatte. Hinzu kam, dass der Vater ein Theologe von außerordentlichen altsprachlichen Kenntnissen war, deren frühe Vermittlung Schellings ungeheure Frühbildung miterklärt. 12 Dies führte dazu, dass Schelling schon ein Jahr vor der Zeit, an Ostern 1784, die Lateinschule in Nürtingen bei seinem Onkel Nathanaël Köstlin zu besuchen begann. 13 Sein Bildungsvorsprung und seine enorme Begabung führten schließlich dazu, dass er schon zwei Jahre später aus dieser wieder entlassen wurde - mit der Begründung, es gäbe nichts mehr, das man ihm noch beibringen könnte! Da er fürs niedere Seminar noch viel zu jung war (obwohl er wohl bereits mehrmals am Landexamen teilgenommen hatte), 14 beschloss der 12 Joseph Friedrich Schelling war der erste, der das Alte Testament einer philologischen Textkritik unterzog. Zudem besaß er hohe Spezialkenntnisse, insbesondere zu den Weisheitsbüchern des Alten Testaments. Vgl. Franz, M., »Joseph Friedrich Schelling, Klosterprofessor in Bebenhausen«, in: Franz/ Jacobs (Anm. 5), 139-157. Außerdem findet sich im Abschlusszeugnis des Vaters die Formel ingenium felix als Charakterisierung seiner Geistesgaben und die Note optima „in latina poësi, etiam germanica, linguis graeca, ebraea, chaldea, syrica et arabica.“ Vgl. Fuhrmans (Anm. 3), Bd. II, 1. Franz 143, vermutet zudem, dass sich der Vater „weitgehend selbstständig an das Studium der orientalischen Sprachen begeben [habe, da es] zu seiner Studienzeit in Tübingen niemanden [gegeben habe], der ihn dazu hätte anleiten können.“ Zum Vater gibt es neben dem zitierten Artikel einen älteren Aufsatz von Müller, K., »Prälat Joseph Friedrich Schelling, der Vater des Philosophen«, in: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte 42, 1938, 89-124. 13 Das Datum des Eintritts in die Lateinschule ist nicht ganz unumstritten. Fuhrmans (Anm. 3), Bd. II, 5 FN, und Tilliette (Anm. 1), 14 mit Anm. 12, datieren entgegen den älteren Biographen (Plitt (Anm. 11), 11) überzeugend auf Ostern 1784. Nur so hat der junge Schelling bereits in Nürtingen auf Hölderlin treffen können (wovon er selbst berichtet), da dieser im Herbst desselben Jahres bereits die Schule wieder verlassen hatte. 14 Wie oft, ist nicht geklärt. Das erste biographisch erwähnte Examen rührt vom 14. 9. 1785 (Plitt (Anm. 11), 12); Fuhrmans (Anm. 3), Bd. II, 6 FN, hält es für plausibel, dass dies auch überhaupt Schellings erstes gewesen sei, da üblicherweise die Zehnjährigen dies erstmals bestritten. Hiergegen ist einzuwenden, dass, wenn Schelling schon ein Jahr früher auf die Lateinschule gewechselt ist, er sicherlich auch ein Jahr früher, nämlich im Herbst 1784, zum ersten Mal das Landexamen absolviert hatte; sonst hätte er ja nach der vorgesehenen vierjährigen Schulzeit ein Jahr Wartezeit aufs letzte Examen und den Eintritt ins niedere Seminar gehabt. 408 Stefan Gerlach Vater, ihn nach Bebenhausen zurückzunehmen und dort als Hospitant am Unterricht teilnehmen zu lassen. Wie sich leicht errechnen lässt, trat der elfjährige Schelling damit direkt der Abschlussklasse der Siebzehnjährigen bei. III. Am Höheren Seminar Die erstaunliche Ausbildung am Höheren Seminar zu Bebenhausen hat an einem besonders reizvollen Ort stattgefunden. Denn ein heller, von drei Seiten befensterter Raum über dem Brunnenhaus mit Blick in den Kreuzgarten wurde vom Seminar als Unterrichtsraum genutzt. 15 Zu ihm gab es direkte Verbindungsgänge von den Wohnungen der beiden Professoren und dem Dorment, dem einstigen Schlafsaal des Zisterzienserkonvents, wo die Seminaristen in den ehemaligen Mönchszellen untergebracht waren. Die Unterrichtsinhalte, welche der kleine Hospitant am Höheren Seminar lernte, sind bekannt, denn die Schulausbildung an den Seminaren im Württemberg des 18. Jahrhunderts ist gut erforscht. 16 Sie war wesentlich ausgerichtet auf die zukünftige Theologenlaufbahn der Klosterschüler. 17 Die Unterrichtsfächer umfassten neben den Bibelsprachen Latein, Griechisch und Hebräisch, Theologie, Logik, Rhetorik, Musik, Arithmetik, Astronomie und seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts auch Historie. 18 Hinzu kamen zahlreiche Privatlektionen durch die Präzepto- 15 Zwei zeitgenössische Pläne bezeichnen diesen Raum als ‚Collegium‘ bzw. ‚ehemaliges Collegium‘ (die Schule wurde 1806 aufgelöst): Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 474 Bü 30a von 1802 und Hauptstaatsarchiv Ludwigsburg, D 40 Bü 268 von 1807. Im Begleitschreiben an den König bezeichnet der Architekt diesen Riss auch als Plan über „den neuen Bau und das bisherige Seminarium“ (ebd.). Der autobiographische Bericht eines Klosterschülers bezeichnet ihn als ‚Collegien-Saal‘ (»Eigener Lebenslauf/ des Christian Jakob Zahn« (Anm. 5), 246). 16 Vgl. Petersmann, Gaub, Eitle und insbesondere Franz/ Jacobs (alle Anm. 5), zudem Ehmer, H. (Hg.), »Evangelische Klosterschulen und Seminare in Württemberg. 1556-2006: lernen, wachsen, leben«, Stuttgart 2006. 17 Vgl. Gaub (Anm. 5), 33, und Franz, M., »Das Höhere Bildungswesen des Herzogtums Württemberg im 18. Jahrhundert«, in: Franz/ Jacobs (Anm. 5), 11- 36, 22ff. 18 Vgl. Franz, M., »Schulbücher - Überblick« und »Kurzbeschreibung einiger Schulbücher zu Schellings Zeit«, in: Franz/ Jacobs (Anm. 5), 264-280. Wunderkind in Bebenhausen 409 ren. 19 Im Fall von Schellings Vater in der Position des Oberpräzeptors kann angenommen werden, dass dieser seine Spezialkenntnisse zum Alten Testament und Lektionen im Arabischen, das der Sohn mit Gewissheit in der Bebenhäuser Zeit vom Vater gelernt hat, in solchen Privatkollegien vermittelte. 20 Zumindest für die altsprachlichen Fächer gibt es Dokumente, die zeigen, dass Schelling trotz des gewaltigen Altersunterschiedes und des Überspringens von sechs Ausbildungsjahren keine größeren Probleme hatte, mit den Schülern der Abschlussklasse Stand zu halten, als er im Herbst 1786 nach Bebenhausen zurückkehrte. Ähnliches darf man für die theologischen Disziplinen, die im Interessengebiet des Vaters lagen, annehmen. Schellings Sohn Karl Friedrich August (K.F.A.), welcher die erste Biographie über den Philosophen schrieb, lagen mehrere Hausaufgaben- (Hebdomadarien-)hefte vor, aus denen er in seiner Biographie ausführlich zitiert. 21 Die früheste dieser Arbeiten ist datiert vom Oktober 1786, also aus der Zeit unmittelbar nach Schellings Rückkehr aus Nürtingen. Schelling übersetzt in ihr ein Thema » Von den Hauptbeweisen für den göttlichen Ursprung der heiligen Schrift«, wobei, so der Bericht des Sohnes, „der elfjährige Knabe […] in einer Reihe von Hexametern den Einklang der Geschichte mit den Weissagungen des Alten Testaments“ 22 nachwies. Die weiteren Hefte beweisen, dass Schellings altsprachliche Fähigkeiten schon in diesem Alter eine Virtuosität aufwiesen, die atemberaubend ist. Er übersetzte klassische Texte wechselseitig ins Griechische und Lateinische und komponierte die Übersetzungen parallel in Prosa und den verschiedensten klassischen Metren. Dies ging nach dem Bericht des Sohnes so weit, „dass er ein deutsches Diktat unmittelbar in lateinischen Hexametern niederschreiben konnte.“ 23 Diese Kunst der Direktübersetzung soll er gleichfalls fürs Griechische und Hebräische beherrscht haben. 19 Franz (Anm. 18), 24. 20 Vgl. ebd., 148. Und »Eigener Lebenslauf/ des Christian Jakob Zahn« (Anm. 5), 245, der davon berichtet, dass Schellings Vater ihm im zweiten Jahr in Bebenhausen (1784) Arabisch beigebracht habe. 21 Vgl. Plitt (Anm. 11), 13ff. Solche Hefte finden sich noch heute unveröffentlicht im Berliner Schelling-Archiv. 22 Plitt (Anm. 11), 15f. 23 Ebd., 20. 410 Stefan Gerlach Nach dem ersten Jahr in der Abschlussklasse begleitet Schelling die folgenden zwei Jahre die gesamte Promotion, die 1787 aus Blaubeuren neu eintrifft. Für den Zeitpunkt, da diese im September 1789 zum Abschluss kommt, findet sich das erste Schulzeugnis Schellings, das zeigt, dass der nun 14-Jährige in jeder Hinsicht das Niveau der 18-Jährigen Absolventen erreicht hatte. In Gaben und Fleiß sowie den Alten Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch vorzüglich, in den sonstigen Fächern Logik, Rhetorik, Historie, Theologie sowie der Bewertung der Sitten recht gut, ist dort verzeichnet. 24 Kein Wunder, dass der Vater sich darum bemüht, dass Schelling bereits jetzt mit seiner Abschlussklasse am Stift aufgenommen werden kann - doch das Gesuch wird abgelehnt. Der Junge sei einfach noch zu jung. So muss Schelling ein zweites Mal den Weg zurück von der Abschlussklasse in die Eingangsklasse gehen; man darf sich vorstellen, dass er sich allmählich zu langweilen beginnt. Jedenfalls zeigt das Zeugnis des Folgejahres keine Fortschritte, in Historie hat sich die Note gar auf gut verschlechtert. 25 Erneut versucht der Vater, den Jungen am Stift unterzubringen. Und diesmal hilft ein glücklicher Umstand: Da die Promotion aus Maulbronn in diesem Jahr ungewöhnlich dünn ausfällt, erteilt der Herzog eine Sondergenehmigung zur Aufnahme. 26 Vielleicht war der Umstand, dass Schelling im letzten Jahr in Bebenhausen gewiss unterfordert war, eine Mitursache dafür, dass er nun tatendurstig am Stift auf Anhieb Klassenprimus wurde - noch immer drei Jahre jünger als der Rest des Jahrgangs. IV. Frühe Interessenschwerpunkte In den Rahmen dieses äußeren Entwicklungsablaufs lassen sich nun die inneren, die thematischen Linien zeichnen. Klarerweise rührt von der schulischen Ausbildung unter der Federführung des Vaters, des Altphilologen und Theologen, Schellings Interesse an den Wurzeln der eu- 24 Vgl. Fuhrmans (Anm. 3), Bd. II, 521f. Schulnoten wurden erst 1775 eingeführt, allerdings nicht für alle Fächer. Unbenotet blieben Musik, Arithmetik und Astronomie (vgl. Petersmann (Anm. 5), 25). 25 Vgl. ebd. 26 Diese ist durchaus lesenswert, denn der Herzog selbst („Von Gottes Gnaden CARL“) ist der Absender und das Schreiben stellt die Aufnahme Schellings an sein Stift als unmittelbar persönlichen Entschluss dar. Vgl. Fuhrmans (Anm. 3), Bd. II, 11. Wunderkind in Bebenhausen 411 ropäischen Geistesgeschichte von der Magisterdissertation über die ältesten Philosopheme zur Erklärung der Übel (1792) 27 , über die erste selbstständige Schrift » Über Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt« (1793) bis zum unvollendeten Spätwerk der » Weltalter«. Und klarerweise darf man für Schellings schwindelerregende Sprachkenntnisse an derselben Stelle nach den Wurzeln suchen. Zu den Unterrichtssprachen hat Schelling vom Vater noch das Arabische erlernt und zudem ausgezeichnete Kenntnisse in den modernen Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch gehabt. 28 Aber noch interessanter ist, was sich an eigenständigen Studien und Tätigkeiten Schellings aus der Jugendzeit findet. Für mehrere Themen des späteren Philosophen finden sich in den erhaltenen Jünglingsschriften Zeugnisse, die zeigen, dass wesentliche Interessen bereits in der Bebenhäuser Zeit vorhanden waren: so für Freiheit, Geschichte, Natur und Religion. In die Epoche Schellings in Bebenhausen fällt auch seine erste Veröffentlichung, ein Gedicht auf den Tod des Pietisten P. M. Hahn ( » Elegie am Grabe Hahns gesungen«), abgedruckt im Mai 1790. 29 Zudem haben sich, abgesehen davon, dass das Verfassen von Lyrik in antiker Sprache und Versmaß zur Ausbildung gehörte, weitere eigenständige Gedichte aus dieser Zeit erhalten; die frühsten stammen aus der Feder des 8-Jährigen: ein deutsches Gedicht auf die Geburt eines Sohnes des Onkels Köstlin in Nürtingen und ein Klagelied auf dessen frühen Tod, das Schelling wohl am Grab des Vetters aufsagte, da der Junge nur 2 Monate später starb. Zudem ist ein lateinisches Gedicht von drei handschriftlichen Seiten Umfang erhalten, in welchem Schelling zwei Jahre später, da er in Nürtingen die Lateinschule besuchte, seinem Onkel Köstlin am Neujahrstag 1786 seinen Dank ausspricht. 30 27 Lat.: »Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis Genes«. 28 Frank, M., »Eine Einführung in Schellings Philosophie«, Frankfurt a.M. 1985, 10. Mit der Muttersprache Deutsch und Sanskrit, worin er wohl Grundkenntnisse besessen hat, kommt die Aufzählung auf zehn. Dafür, dass er sich auch ausgezeichnete Französischkenntnisse bereits in der Klosterschulzeit erworben hat, spricht, dass sein dortiger Lehrer Reuchlin ihm mit Widmung Mai 1791 eine Philosophische Anthologie auf Französisch geschenkt hatte, die Schelling sehr schätzte (Plitt (Anm. 11), 25f.). 29 Vgl. Fuhrmans (Anm. 3), Bd. II, 9. 412 Stefan Gerlach Drei Hinweise finden sich zudem für erste Berührungen Schellings mit der Philosophie selbst. Zum einen zeigen die Aufsatz- und Übersetzungsthemen der Hebdomadarienhefte nicht bloß theologische Inhalte, sondern auch solche zur Völkerkunde, allgemeinen Geschichte, Moral, Psychologie und eben Geschichte der Philosophie. 31 Zweitens gibt es in der » Philosophie der Offenbarung« einen Bericht Schellings, in welchem dieser jemandes erste philosophische Lektüre beschreibt, und man darf annehmen, dass dies eine autobiographische Sequenz ist, die in die Bebenhäuser Zeit zurückreicht. Dort heißt es, es habe ein Lehrer, welcher meinte, die Zeit sei nun reif, sich auch mit der Philosophie zu beschäftigen, einem Jungen „ein Hauptbuch der damaligen Popularphilosophie, Feders Logik und Metaphysik, in die Hände“ gegeben. Dieses sei ihm jedoch zu eingängig, „zu trivial“ gewesen, so dass er fast an sich verzweifelt sei, da er meinte, so einfach könne das Ganze doch nicht sein, weswegen er Hintergedanken vermutete, die er natürlich nicht aussprach. 32 Als ersten Philosophen, welchen man sich den Jungen während der Klosterschulzeit dann mit Vergnügen lesend vorstellen darf, nennt Schelling 40 Jahre später Leibniz, von welchem er von ebendiesem Lehrer ein Aphorismen-Buch geschenkt bekommen hatte. 33 Zuletzt gibt es einen Stammbucheintrag für einen Schulkameraden in Bebenhausen vom August 1788, der zeigt, dass das große Thema der Freiheit ihn bereits berührt hatte - und zudem bestätigt, dass er bereits mit der Philosophie Leibniz´ in Berührung gekommen war: „Freiheit“, heißt es da, „ist das höchste Gut des Menschen; aber nur Abhängigkeit des Willens vom Verstand ist Freiheit.“ 34 30 Vgl. Fuhrmans (Anm. 3), Bd. I, 6; Pareyson, L., »Schellingiana Rariora«, Turin 1977, 13ff. und F. W. J. Schelling, »Hist.-Krit. Ausgabe«, Stuttgart 1976ff., Briefe Bd. 1, 3 und 263. 31 Vgl. Plitt (Anm. 11), 15. 32 SW XIII, 20. Da Philosophie der Hauptlehrinhalt der ersten beiden Jahre am Stift war, muss sich Schellings Rückblick auf seine philosophischen Erstlektüren auf die Zeit in Bebenhausen beziehen. Der Lehrer wäre entsprechend der 1783 auf die Position des Präzeptors nachgerückte Johann Friedrich Reuchlin. Dieser wurde Präzeptor, als der Vater zum Oberpräzeptor aufstieg. Von Reuchlin finden sich noch weitere Bücher mit Widmungen für Schelling (Vgl. Plitt (Anm. 11), 25). 33 SW XIII, 20. Wunderkind in Bebenhausen 413 V. Die Handschrift über das Kloster Bebenhausen Das bemerkenswerteste Zeugnis allerdings für Schellings frühe eigenständige Interessen ist nicht weniger als die erste Monographie über Ort und Klosteranlage Bebenhausen, die der wohl 14-Jährige verfasst hat. Wahrscheinlich im Sommer/ Herbst 1789, als er die Abschlussklasse zum zweiten Mal absolviert hatte und nicht ins Stift aufgenommen wurde, hat Schelling nach großem Plan die Geschichte des Klosters zu verfassen begonnen und irgendwann das ehrgeizige Projekt unvollendet abgebrochen. Titel: » Geschichte des Klosters Bebenhausen. Vom Ursprung bis in die jetztigen Zeiten«. 35 Diese Schrift, deren historischen Teil Schelling von der Klostergründung bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts ausgeführt hat, wäre ohne Frage sowohl für die Erforschung der Entwicklungsgeschichte Schellings als auch der Geschichte des Klosters selbst von außerordentlichem Wert. 36 Leider ist die Handschrift verschollen; sie ist wohl 1944 verbrannt. Allerdings ist die Schrift nicht ganz verloren, denn es gibt Auszüge aus ihr. K. F. A. Schelling berichtet am Beginn seiner Biographie über den Vater, dass ihm dies Jugendmanuskript nahezu vollständig vorliegen würde, „mit Ausnahme weniger fehlender Blätter“, und zitiert dann ausgiebig aus ihr. 37 Daran lassen sich dann Schellings außerschulische Interessen und Züge seines Temperaments und Charakters im Jugendalter ablesen. Allerdings sind diese 34 »Briefe« Bd. 1 (Anm. 3), 261. Vgl. L. Pareyson (Anm. 30), 21. Später heißt es: „Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist - Freiheit! “ (SW I, 177). Die These, dass der Willen neben der Spontaneität noch der Verstandeseinsicht für die Wahl zur Handlung bedarf, um frei und nicht zufällig zu sein, trifft den Kern der Freiheitslehre Leibniz’ („eo major est libertas, quo magis agitur ex ratione“; »Philosophische Schriften«, hg. v. C. J. Gerhardt, Berlin 1890, Bd. 7, 109). 35 Vgl. Plitt (Anm. 11), 6ff. 36 Es ist daher umso erstaunlicher, dass die bei Plitt angeführten Passagen von der späteren Schelling-Forschung nahezu überhaupt nicht beachtet, geschweige denn im Kontext seiner intellektuellen Entwicklung gewürdigt wurden. Von den vier späteren monografischen Biographien (Fuhrmans, Tillette, Dietzsch und Gulyga) zitiert lediglich Letztere zwei Sätze aus der Schrift - doch wurden auch diese bei der Rückübersetzung ins Deutsche verfälscht. Tilliette erwähnt immerhin ihre Existenz. Bei Werken zur philosophischen Entwicklung Schellings fehlt jeder Hinweis auf sie. Ihre Analyse ist ein Desiderat. 37 Sie finden sich bei Plitt (Anm. 11), 6ff und Pareyson (Anm. 30), 22ff. Der Sohn hat die Biographie über den Vater nicht vollenden können, da er 1863 überraschend starb; sie wurde dann von Plitt zu Ende geführt, unter dessen Namen sie sich heute findet. 414 Stefan Gerlach wörtlichen Auszüge und einige Sätze zur allgemeinen Charakterisierung der Schrift durch den Sohn auch das einzige, was wir von ihr besitzen. Sie wird dort folgendermaßen beschrieben: „Die erwähnte kleine Handschrift zerfällt in zwei Theile; der erste Theil gibt eine Beschreibung des Klosters und seiner Örtlichkeiten, der zweite enthält die Geschichte desselben […]. Als Anhang folgt dann ein Verzeichnis der deutschen und lateinischen Grab- und Inschriften.“ 38 Schon diese Konzeption ist bemerkenswert. In ihr ist empirische Bestandsaufnahme mit Quellenstudium verbunden. Die Klostergeschichte wird systematisch von den Anfängen auf eine Gegenwart zugeführt, deren Gestalt präzise erfasst wird - verbunden zudem mit der Dokumentation der unmittelbar in der Gegenwart vorfindlichen Geschichtszeugnisse in den Grabinschriften, von welchen es heißt, dass „der kleine Geschichtsschreiber stundenlang auf den Knien liegend die halbverwitterten Grabschriften in den Kreuzgängen herauszubringen bemüht gewesen“ 39 sei. Von den Grabinschriften gibt K. F. A. Schelling allerdings nichts wieder. Doch finden sich noch heute in der Bebenhäuser Klausur reichlich Grabplatten aus der Zeit von Kloster und Klosterschule, so dass man sich leicht ein Bild von deren dokumentarischen Wert für die Geschichtsschreibung zur Klosteranlage machen kann. 40 a. Die Klosterbeschreibung K. F. A. Schelling berichtet, dass in der Beschreibung seines Vaters dessen elterliches Wohnhaus gleichsam eingekreist wird: Vom Tal, den umliegenden Wäldern und benachbarten Dörfern geht der erfassende Blick zum Ort Bebenhausen, von wo aus „der Leser allmählich vom äußersten Thor bis ins Innere des eigentlichen Klosters geführt“ 41 werde. 38 Plitt (Anm. 11), 6f. 39 Ebd., 7. 40 Sie sind zwischenzeitlich auch gesondert erfasst in: Brand, H. G., Krins, H. und Schiek, S., »Die Grabdenkmale im Kloster Bebenhausen«, Stuttgart 1989. Grabinschriften zu entziffern und Grabsteine und Ähnliches abzuzeichnen war übrigens bei Klosterschülern mit erwachendem historischem Interesse Ende des 18. Jahrhunderts gängig - wenn auch wohl niemand vor Schelling auf die Idee gekommen ist, gleich alle Inschriften vollständig zu inventarisieren (vgl. Petersmann (Anm. 5), 30f.). Wunderkind in Bebenhausen 415 Jedes einzelne Haus des Dorfs sei dabei beschrieben worden. Die erste Passage zur Ansicht des Ortes, die dann direkt zitiert wird, schildert einen Blick vom Rücken eines Bergsporns, des sogenannten ‚Jordanbergs’, auf welchem das Kloster liegt: „Von diesem Berg, so wie vom Herrengarten, dem Garten des Prälaten, hat man die schönste Aussicht auf das unten wie hingegossene Kloster.“ 42 Schelling schildert das Kloster also zuerst von einem erhöhten Panoramastandpunkt aus, der es eingebettet in die bewaldeten Hügel zeigt (vgl. Abb. 2). Der präzise Nachvollzug der Beschreibung Schellings bereitet allerdings Schwierigkeiten. Zwar ist der Standpunkt vom Jordanberg aus eindeutig, aber es gelingt nicht, die anderen Ortsangaben analog zu diesem Standpunkt aufzufassen. Dies liegt einmal daran, dass der Satzbau die Wiedergabe zweier Blicke zu beinhalten scheint: Vom Jordanberg und einem Herrengarten, der dem Prälaten gehört oder nach diesem benannt ist. Allerdings sind Herren- und Prälatengarten zwei verschiedene Flurstücke, welche heute noch diesen Namen tragen (vgl. Abb. 3). Zudem liegen beide Gärten unterhalb des Klosters, wenn sie sich auch bis auf Klosterhöhe die Talhänge hinaufziehen, der Herrengarten gar steil über die Höhe des Klosters hinauf. Schöne Blicke gibt es also nur vom Jordanberg und vom oberen Teil des Herrengartens auf das Kloster unten, vom Prälatengarten jedoch blickt man zu dem Kloster hinauf und vom restlichen Herrengarten aus zum Kloster hinüber. Dies mögen sprachliche Minimal-Ungenauigkeiten sein, doch es lohnt sich, ihnen nachzugehen. Denn es lässt sich an ihnen ein Phänomen kennzeichnen, das sich in den weiteren Beschreibungen wiederfindet. Der Satzbau legt Folgendes nahe: Schelling hat bei der Niederschrift die Aussicht vom Jordanberg auf das nur von dort aus „unten wie hingegossen liegende Kloster“ als feste Vorstellung gehabt, diese aber noch während des Schreibens rasch ergänzt durch die ebenfalls schönen Aussichten (oder Ansichten) von den Gärten her. Schellings Blick spränge so bei der Beschreibung von der Höhenposition kurzzeitig zu Vergleichspositionen hinüber, ohne dies ausdrücklich zu markieren. Dafür, dass hierfür Eile der Niederschrift zumindest mitursächlich ist, spricht, dass Schelling die ‚und‘-Konjunktion weglässt, die die Verschiedenheit der Gärten bezeichnet hätte, und stattdessen das hastige Komma setzt, das diese verschleiert. 41 Plitt (Anm. 11), 7. 42 Ebd., Pareyson (Anm. 30), 23. 416 Stefan Gerlach Beide Phänomene finden sich in der nachfolgenden Beschreibung der Wohnung der Eltern wieder: „Vor derselben ist ein kleiner Hof, der vormals ein Gärtchen war. Auf dieser Seite erscheint das Haus klein. Man muss es von der anderen Seite, von dem Grasgarten des Prälaten, von dem ich oben geredet habe, aus besehen, wenn man seine wahre Größe sehen will. Es wohnen vier Familien darin, oben der Professor, inmitten der Speis- und Schulmeister, und ganz unten der Famulus. Es ist ein überaus großes Haus. Fünf beheizbare Zimmer hat es, nämlich der von den Eltern bewohnte Stock […]“. 43 Über Schellings Beschreibung lässt sich der sogenannte ‚Kapf’sche Bau‘ vormals ‚Große Behausung‘ als das Haus, in dem die Familie ab 1783 gewohnt hat, identifizieren (Abb. 4). 44 Vor diesem befindet sich ein Hof, und von diesem aus wirkt es wesentlich kleiner als von der Rückseite her besehen, da es am Hang gebaut ist. Das im Tal gelegene Flurstück auf der Rückseite heißt heute noch ‚Prälatengarten‘. Drei bewohnbare Stockwerke sind einsichtig, wenn sich auch die Zimmeranordnung im heutigen Bau nicht mehr nachvollziehen lässt, da das gesamte Gebäude 1914-18 innenarchitektonisch umgestaltet wurde. Doch bestätigen alte Pläne Schellings Beschreibung. 45 Schellings Schilderung lässt sich auch entnehmen, wie das Gesamtgebäude genutzt wurde. Der großen Elternwohnung im Obergeschoss, zu deren fünf Zimmern noch sechs (unbeheizte) Kammern kamen, steht die Wohnung des Hausmeisters (‚Famulus‘) im Untergeschoss gegenüber. Hier befand sich auch die schon erwähnte Schulstube der Primarschule. Der vom Hof aus ebenerdige mittlere Stock wurde dicht genutzt: Der Dorfschullehrer ('Schulmeister') hatte zwei Stuben und zwei Kammern, der Koch (‚Speisemeister‘) drei Kammern und die Küche zur Verfügung, hinzu kamen eine ‚Knechts-Kammer‘ und der ‚Seminaristen 43 Plitt (Anm. 11), 8; Pareyson (Anm. 30), 24. Mit ‚Gärtchen‘ ist wohl gemeint, dass der Hof als zweiter kleiner Kreuzgarten des einstigen Klosters angelegt war - für diesen Hinweis danke ich F. Huberth. 44 Vgl. Köhrer, A., »Wo hat Familie Schelling in Bebenhausen gewohnt? «, in: Franz/ Jacobs (Anm. 5), 158-168, der die selbst gestellte Frage mit dem Kapf’ schen Bau zwar richtig, aber doch unvollständig beantwortet, da er die Zeit vor dem Umzug 1783 nicht berücksichtigt. 45 Der bereits erwähnte Plan aus Ludwigsburg (D 39 Bü 340) ist mit „Die große Behausung in Bebenhausen, welche bisher die Wohnung des ersten Professors, des Schulmeisters, des Speißemeisters, der Schulstube und des Famulus enthaltend“ überschrieben. Wunderkind in Bebenhausen 417 Speiß-Stube‘. Schelling allerdings wird im Regelfall nicht dort gegessen haben, sondern als Hospitant und Sohn des Professors an des Vaters Tisch. Im Übrigen gab es im zweiten Untergeschoss dieses Baus neben den Pferdeställen noch eine Badestube. 46 Allerdings finden sich die zuvor schon gekennzeichneten Phänomene der Eile und des Blickwechsels auch in der Beschreibung des Wohnhauses. Unmittelbar offensichtlich ist dies an der Stelle, an der Schelling beim gedanklichen Wechsel vom Haus zum Stockwerk nicht einmal die grammatische Struktur korrigiert, nämlich in der Apposition des Satzes „Fünf beheizbare Zimmer hat es, nämlich der von den Eltern bewohnte Stock […]“. Ähnliches fällt bei der Angabe der Größe des Hauses auf. Vom Hof aus „erscheint das Haus klein“, schreibt Schelling und es wird schnell klar, dass damit der Vergleich mit der unmittelbar danach erwähnten rückseitigen Ansicht gemeint ist, in welcher es in doppelter Höhe aufragt. Aber eben dies sagt Schelling nicht, dass es im Vergleich mit der Talansicht klein zu sein scheine. Er sagt: Das Haus erscheine vom Hof aus klein und gebraucht damit keinen komparativen, sondern einen phänomenalen Ausdruck. Dies ist allerdings keine zutreffende Beschreibung. Das Wohnhaus der Eltern nimmt mehr als die vollständige Längsseite des Hofs ein und seine Front von 38 Metern Breite wirkt von diesem aus nicht klein, sondern im Gegenteil außerordentlich mächtig. Auch dies mag eine sprachliche Winzigkeit sein, aber zusammengenommen mit der Eingangsbeschreibung von der Aussicht aufs Kloster ergibt sich bereits ein Befund. Denn auch diese Ungenauigkeit lässt sich dadurch erklären, dass sie eine Ungenauigkeit des Blicks ist, ein nicht Zur-Deckung-Kommen und Sich-Überlagern verschiedener Blicke in der Beschreibung. Im Falle des Hauses ist es der beide Seiten umfassende Vergleichsblick von Front- und Rückseite, der offensichtlich den ge-danklichen Rahmen bildet, in den hinein dann Schelling die beschreibende Ansicht auf die Eingangsseite des Gebäudes vom Hof aus fügt, ohne den Perspektivwechsel zu kennzeichnen, sicher auch ohne ihn zu bemerken. Denn noch ein weiteres Mal lässt sich dasselbe Phänomen konstatieren, in diesem Fall gar auf besonders prägnante Art. Schelling beschreibt 46 Hauptstaatsarchiv Ludwigsburg, D 40 Bü 268, wo amüsanterweise der gesamte Stock mit „Das Bad, das auch zur Pferde-Stallung benutzt wird“ bezeichnet ist. 418 Stefan Gerlach zuletzt zwei Blicke, die ebenfalls klar lokalisiert werden können. Er spricht von den fünf Zimmern im Stock der Eltern, „unter welchen zwei die herrlichste Aussicht haben“, und fährt fort: „Auf der einen Seite sieht man an den Wald und den schon erwähnten Safranrain hin, auf der anderen in das untere Tal und den Herrengarten.“ 47 Die beschriebene Sicht auf die Flurstücke ist von Fenstern der Ost- und der Südseite des Kapf’schen Baus her nachvollziehbar - wenn auch nicht ganz klar wird, weshalb Schelling von zwei Zimmern mit herrlicher Aussicht spricht, denn alle fünf Zimmer gingen gleichermaßen auf die Ostseite, und von den Eckzimmern wird nur der Blick gen Süden von der Beschreibung getroffen, ein Blick gen Norden ist nicht enthalten. Wie der süd-süd-westlich gelegene Herrengarten ist auch der Safranrein (heute: ‚Saffrigrain’) eine noch gängige Flurbezeichnung für ein Waldstück süd-östlich des Kapf’schen Baus (vgl. Abb. 3). Da Schelling von zwei verschiedenen Seiten spricht, nach denen hin man blickt und das Haus in etwa in Nord-Süd Richtung steht, ist der erste Blick aus einem Ostfenster, der andere (auf den Herrengarten) aus einem Südfenster geworfen. Nach Westen gehende Fenster kommen nicht in Frage, da deren Blick in den Hof geht und vollständig durch den gegenüberliegenden neuen Bau verstellt ist. An die Schilderung des Blicks aus dem Südfenster fügt Schelling jedoch unmittelbar an: „unten ist der […] Garten des Prälaten“ - dieser zieht sich aber die Ostseite des Baus entlang nach Norden hinauf und ist nur von einem Ost- oder Nordfenster aus zu sehen. Schellings Blick springt also auch hier, ohne dass er dies kennzeichnete. Er beschreibt ausdrücklich zwei Richtungen des Blickes, zuerst Ost, dann Süd und fügt stillschweigend an den zweiten eine weitere Sicht gen Osten an. Doch damit nicht genug: Die Beschreibung dieser Aussicht endet mit einem visuellen Höhepunkt: der Schilderung des Anblicks glühender Sonnenuntergänge, den er oft genossen, „wenn die Sonne untergeht und durch die Bäume des Waldes noch so feurig durchscheint“. Doch ein solcher Anblick ist vom Kapf’schen Bau aus unmöglich. Denn die Sicht nicht nur der Westfenster, sondern auch der Südfenster ist in Richtung Westen verstellt: heute durch den angrenzenden neuen Bau und zu Zeiten Schellings durch die an gleicher Stelle sich befindliche Abtsküche, den sogenannten ‚Dachsbau‘. Schelling kann nur im Ausnahmefall, bei günstigen Winkeln der Sonnenstrahlen durch Einschnitte in den west- 47 Plitt (Anm. 11), 8; Pareyson (Anm. 30), 24. Wunderkind in Bebenhausen 419 lichen Höhenzügen des Schönbuchs hindurch überhaupt auch nur eine Reflexion rötlicher Sonnenstrahlen in den Bäumen am Südhorizont gesehen haben. Er kann aber nicht in den Genuss der Aussicht auf eine feurig den Wald durchscheinende untergehende Sonne gekommen sein, sondern maximal auf ein rötlich von der Sonne beschienenes Waldstück. 48 Also gilt auch hier: Schelling verknüpft den beschriebenen Blick aus dem Fenster mit einem andern, dem Anblick von Sonnenuntergängen hinter horizontverstellenden lichten Waldungen, wie man ihn besonders von den höheren Stellen des Tales aus sehen kann, ohne dies zu sagen. Ohne die Notizen aus Schellings Jugend allzu sehr strapazieren zu wollen, dürfte sich damit doch in den frühen Ortsbeschreibungen zu 48 Auch bei den nach Norden gehenden Fenstern, die sich ohnehin nicht mit Schellings Schilderungen decken, ist der Blick Richtung Westen verstellt. Das heißt, auch unter Anrechnung der Tatsache, dass die im Vergleich zum heutigen Nachbarbau etwas niedrigere Abtsküche mit einem Satteldach in Ost-West Richtung gedeckt war und dass das östlichste der Südfenster des Kapf’schen Baus versetzt zum heutigen war, was einen günstigeren Winkel gen Westen gewährt, reicht der Blick in diese Richtung auch bei sehr großzügiger Berechnung maximal zu einem 48-Grad-Winkel im Vergleich zur Südrichtung. Das Azimut, das heißt die westliche Winkelabweichung zur Südrichtung der Sonne, wenn sie den Horizont beim Untergang durchquert, liegt aber in der Breite von Bebenhausen an dem Tag, an dem die Sonne am frühesten und damit am östlichsten untergeht, dem Tag der Wintersonnenwende am 22. Dezember, bei ca. 54 Grad. Nun liegt zwar Bebenhausen in einem Tal, Schelling sagt gar übertreibend „in einem tiefen Tal“, was bedeutet, dass der Sichthorizont, das heißt die Trennungslinie von Himmel und Erde, vom Blickpunkt des Betrachters aus höher liegt als das auf Augenhöhe des Betrachters angegebene Azimut und daher früher von der Sonne durchquert wird; bei den Ortsgegebenheiten von Bebenhausen allerdings nicht im feurigen Schein, weil die Rötung der untergehenden Sonne von den unteren Atmosphärenschichten der Erde herrührt. Der Sichthorizont in süd-süd-westlicher Richtung liegt aber 100-130 Meter höher als der Ort Bebenhausen; es gibt dort keine direkte Rötung der Sonne selbst, sondern nur geröteten Abendhimmel zu sehen. Köhrer (Anm. 44), 163, hat den Ausruf Schellings auf die Weise zu retten versucht, dass er ihn auf den Anblick „jene[r] Strahlen“ bezog, „die die untergehende Sonne von Westen durchs obere Goldersbachtal bzw. Arenbachtal bis zu diesem Teil Bebenhausens schickt.“ Bei Sonnenuntergängen durchs Arenbachtal im Spätherbst liegt aber der Wald oberhalb des Herrengartens im Schatten des höheren Rückens im Westen; bei Sonnenuntergängen vom oberen Goldersbachtal her, im Hochsommer, werden die entsprechenden Waldungen vom Rücken des Betrachters bei dem von Schelling beschriebenen Standpunkt her beschienen und nicht von gegenüber oder seitlich durchschienen. 420 Stefan Gerlach Bebenhausen ein Phänomen kennzeichnen lassen, das vielfach zur Charakterisierung der Schriften des späteren Philosophen gebraucht wurde: Eile, Unruhe und Sprunghaftigkeit von Blick und Gedanken - und bis heute währt der Kampf seiner Interpreten darum, ob diese Merkmale ein Wesenscharakteristikum des philosophischen Oeuvres Schellings treffen, oder ob nicht über alle Brüche hinweg eine Einheit in Schellings Denken konstatiert werden dürfe. 49 b. Die Klostergeschichte Von der Klostergeschichte aus der jugendlichen Hand seines Vaters hat K. F. A. Schelling den Beginn im Umfang von zwei Druckseiten ungekürzt wiedergegeben, in welchem der junge Schelling die Klostergründung darstellt. Sie fängt an mit den Worten: „Das Kloster nun ward um das Jahr 1183 zuverlässig und ohne allen Zweifel von dem Tübingischen Pfalzgrafen Rudolf […] gestiftet.“ 50 Daran ist zunächst festzuhalten, dass Schelling Jahr und Person des Stifters nach heutigem Forschungsstand richtig wiedergibt. Bei der Darlegung des Anlasses der Stiftung sitzt er allerdings einem alten Mythos auf: Schelling erzählt, es habe einen Einsiedler Namens Bebo gegeben, zu dem der Pfalzgraf oft gegangen sei, und dieser habe daher an dem Ort, an welchem Bebo seine 49 Als „schwankend und unbeständig“ wurde Schelling charakterisiert, als ein Proteus der Philosophie, der ständig seine Meinung ändere, dem strenge Zucht des Denkens mangele und daher in Person und Denken vieldeutig, brüchig und unfassbar sei, weswegen seine Schriften bloß fragmentarischen und vorläufigen Charakter hätten (vgl. Reinhold, E., »Handbuch der allgemeinen Geschichte der Philosophie«, 2. Teil, 2. Hälfte, Gotha 1830, 326; Jaspers, K., »Schelling. Größe und Verhängnis«, München 1955, 7; Hansen, F.-P., »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Rezeptionsgeschichte und Interpretation«, Berlin 1989; Vorländer, K., »Geschichte der Philosophie« Bd. III, 291; Kroner, R., »Von Kant bis Hegel«, Tübingen 2006, 171; Kirchhoff, J., »Schelling«, Reinbek 1982, 62). Die neuere Sicht, welche die einheitlichen Elemente in Schellings Werk betont, wurde von Walter Erhardt durch seinen Aufsatz mit dem programmatischen Titel »Nur ein Schelling« 1975 begründet in: Atti del Convengo internationale di studio. Il concetto di natura. Schelling e la ‚Critica del giudizio’. Studi Urbinati 51 (1977), 111-122. Vgl. Sandkühler, H. J., »Schelling - Ein Werk im Werden«, Stuttgart/ Weimar 1998, 6, der es einen Irrtum nennt, aus Schellings vielfältigen philosophischen Ansätzen zu schließen, sein Denken sei sprunghaft und unsystematisch gewesen. 50 Plitt (Anm. 11), 8f.; Pareyson (Anm. 30) 24f. Wunderkind in Bebenhausen 421 Einsiedelei gehabt habe, das Kloster zu bauen sich entschlossen. Hier haben neuere Forschungen aufzeigen können, dass im 16. Jahrhundert derartige Gründungsmythen zu vielen Klöstern entstanden, die oft vom Namen des Klosters ausgingen und natürlich im Laufe der Jahrhunderte opulent ausgeschmückt wurden. 51 So kann Schelling in seinem Referat zu Bebo auch auf reichlich Literatur und mündliche Überlieferung verweisen. 52 Bemerkenswerter als der bloße Inhalt der Schellingschen Geschichtsschreibung über das Kloster ist jedoch die Tatsache, dass in ihr Quellen herangeführt, diskutiert und Alternativen gegeneinander abgewogen werden - mit dem Ziel, eine Lösung zu finden, welche auch sich vordergründig widersprechende Ansichten integrativ vereint. Nachdem Schelling zunächst die These abgelehnt hatte, das Kloster sei schon vor dem Pfalzgrafen durch eine Edle von Lustnau gestiftet worden, nimmt er 51 Auch Schelling leitet den Namen des Ortes wiederum aus der Legende ab, die durch den Namen erst entstanden ist: „Dass Bebenhausen von einem Bebo den Namen hat […] ist außer allem Zweifel“ (Plitt (Anm. 11), 10). Der Parallelfall hierzu ist in etwa die Legende um das Kloster Maulbronn, dieses habe man an dem Ort errichtet, an dem ein Maulesel eine Quelle (= Brunnen) gefunden habe. Der Stand der Dinge in Sachen Anfänge des Klosters ist heute der, dass es am Ort bereits eine vorklösterliche Besiedlung gegeben hat. Archäologische Funde im Klausurbereich zeugen sowohl von einem größeren Bau, der etwa ein Herrensitz des Pfalzgrafen gewesen sein könnte, als auch von einer bereits bestehenden dörflichen Struktur. Die Ortsnamensforschung datiert passend hierzu Besiedlungen mit Endung „-hausen“, ursprünglich „-husen“, auf die Zeit um das 7./ 8. Jahrhundert. ‚Bebo‘ war zudem ein gängiger regionaler Familienname. Das tatsächliche Motiv der Klostergründung war, ein Kloster zur Familiengrablege zu stiften; die Gräber der Pfalzgrafenfamilie befinden sich im Kapitelsaal. Vgl. Setzler, W., »Die Geschichte des Klosters Bebenhausen von den Anfängen bis zur Aufhebung«, in: Schwitalla, U., Setzler, W., »Die Zisterzienser in Bebenhausen«, Tübingen 1998, 9-35. Und Sydow, J., »Die Zisterzienserabtei Bebenhausen« (Germania Sacra, Neue Folge Bd. 16), 1984, 48. Zur Grablege: Vf., »Scandalum magnum! Zur ‚Rechtmäßigkeit‘ des Stiftergrabs im Kapitelsaal des Klosters Bebenhausen«, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte (ZWLG) 69 (2010), 171-184. 52 Schelling zitiert aus Crusius, dessen „Schwäbische Chronik, worinnen zu finden ist, was sich von Erschaffung der Welt bis auf das Jahr 1596 in Schwaben zugetragen“ von 1596 dann 1733 aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt worden war, aus Andreas Christoph Zellers »Ausführlichen Merkwürdigkeiten der hochfürstlichen wirtembergischen Universitaet und Stadt Tübingen« von 1743 und aus Nicodemus Frischlin ohne weitere Angaben. 422 Stefan Gerlach diese (falsche) Ansicht wieder in folgende abschließende Variante auf: „Man könnte, um alle die Nachrichten unter einander zu vereinigen, annehmen, dass die Edle von Lustnau […] lange vor dem 12. Jahrhundert die Einsiedelei gestiftet, der erste Einwohner aber Bebo und daher die Kapelle Bebonshaus geheißen, endlich aber ums Jahr 1181 der Pfalzgraf Rudolf das Kloster gestiftet und Bebenhausen genannt habe. - Dies ist meine Meinung von dem ersten Ursprung und Stiftung Bebenhausens“. 53 Weiter ist bemerkenswert, dass die Darstellung einzelner Begebenheiten historischer Nacherzählung (mögen sie sich auch im Nachhinein als falsch herausgestellt haben) von persönlicher Teilnahme zeugt. Dies lässt sich an Schellings Beschreibung des Verhältnisses vom Pfalzgrafen zum Einsiedler Bebo zeigen: „Zu diesem andächtigen Waldbruder wallfahrte Pfalzgraf Rudolf sehr oft […]. Was Wunder, dass Pfalzgraf Rudolf, dieser andächtige Schwärmer, an dem Ort, wo er so oft vor dem Heiligen sich mit glühender Andacht niedergeworfen - ein Kloster zu bauen den Entschluss fasste.“ 54 Die Formulierungen „andächtiger Waldbruder“, „Heiliger“ und die Beschreibung, dass sich der Graf „mit glühender Andacht niedergeworfen“ habe, künden zweifellos von hoher emotionaler Nähe des jugendlichen Geschichtsschreibers zum dargestellten Geschehen. Schelling wird später in den » Weltaltern« vom Historiker fordern, dass er den Stoff, von dem er erzählt, verinnerlicht haben müsse, um ihn lebendig wiedergeben zu können. 55 Die frühen Bebenhäuser Fragmente zeigen, dass damit eine Haltung beschrieben wird, welche Schelling selbst schon als Kind instinktiv zu eigen war. Die Faszination für die Figur des 53 Plitt (Anm. 11), 11; Pareyson (Anm. 30), 27. Was Schelling dabei entgeht, ist, dass diese Variante zeitlich kaum möglich ist. Denn zuvor hatte er als Anlass der Stiftung die persönliche Bekanntschaft des Stifters mit dem Einsiedler angeführt. Wenn dieser aber lange vor dem 12. Jahrhundert die Einsiedelei bezogen hatte, so konnte er, selbst bei Erreichen eines biblischen Alters, kaum die Bekanntschaft mit dem um 1160 geborenen Pfalzgrafen gemacht haben. Auch fällt auf, dass Schelling hier in der Angabe des Gründungsjahres plötzlich um zwei Jahre zurückgeht. Auch dies gehört zum Aspekt der Sprunghaftigkeit. 54 Plitt (Anm. 11), 10; Pareyson (Anm. 30), 26. 55 „Alles […] muss zuvor innerlich geworden sein, ehe wir es äußerlich oder objektiv darstellen können. Wenn im Geschichtsschreiber nicht selbst die alte Zeit erwacht, deren Bild er uns entwerfen will: so wird er nie anschaulich, nie wahr, nie lebendig darstellen.“ Schelling, »Die Weltalter. Fragmente«, in den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. v. M. Schröter, München 1946, 6. Wunderkind in Bebenhausen 423 Eremiten in der Waldeinsamkeit, welche offensichtlich im jungen Schelling wach war, findet sich zudem in der Spätromantik wieder. 56 c. Die Passagen zur Natur Dasselbe lässt sich über Schellings Verhältnis zur Natur zumindest annehmen - denn die vom Sohn wiedergegebenen Passagen innerhalb der Bebenhäuser Fragmente, an denen sich etwas zu Schellings jugendlichem Naturverständnis ablesen ließe, sind dünn. Innere Teilnahme und die Vorwegnahme typischer Motive der Romantik finden sich auch hier. Zwar bemüht sich Schelling in den Ortsbeschreibungen primär um eine korrekte Wiedergabe der topographischen Gegebenheiten. Doch finden sich unter ihnen Stellen, in denen sich seine innere Haltung zur Natur im Sinne der das abgelegene Kloster umgebenden Landschaft ausspricht: Man habe vom Hügel her „die schönste Aussicht“ auf das Kloster und vom Wohnhaus der Eltern wiederum „eine herrliche Aussicht“ auf die Täler; Schelling spricht davon, dass er hieran sein „Auge gar oft weide“, und seinen eigenen Zustand bei solcher Betrachtung beschreibt er als „seelige Stunden, die [er hierbei] genossen“. 57 Ergriffen „von den Eindrücken seiner Waldwanderungen“, so K. F. A. Schelling über den Vater, habe dieser schließlich in den Aufzeichnungen geschrieben: „Fürwahr, auch wilde Natur ist schön! Oft pries ich über diese wildschönen Örter Gott, den Schöpfer! “ 58 So dünn dieser Textbestand ist, so sprechen sich in diesen Passagen doch Elemente aus, die für Schellings spätere Naturphilosophie, wie überhaupt für die Romantische Epoche, zu deren führenden theoreti- 56 Vgl. zur Malerei in etwa Rauch über M. von Schwinds Gemälde von 1846 Ein Spielmann bei einem Einsiedler, das geradezu eine Beschreibung von Schellings Haltung zu Bebo und den Wäldern des Schönbuchs sein könnte: „Waldeinsamkeit und die Beschaulichkeit des Eremitentums [werden] Ausdruck eines neuen Lebensgefühls [Der Eremit lebt] ein kontemplatives, gottergebenes Dasein, […] der […] stille Wald [wird] als der Ort schweigender, gelegentlich weihevoll-religiöser Andacht verstanden“ (Rauch, A. »Klassizismus und Romantik: Europas Malerei zwischen zwei Revolutionen«, in: Toman, R. (Hg.): »Klassizismus und Romantik«, Köln 2006, 318-479, hier: 471) - nur dass sich bei Schelling dieses „neue Lebensgefühl“ schon etwa 55 Jahre zuvor findet. 57 Plitt (Anm. 11), 8; Pareyson (Anm. 30), 24. 58 Plitt (Anm. 11), 7; Pareyson (Anm. 30), 23. 424 Stefan Gerlach schen Geistern er ja gehören sollte, charakteristisch sind. Diese lassen sich in den romantischen Künsten wiederfinden. 1. Natur wird betrachtet - nicht tätig mit ihr umgegangen. Sie ist Gegenüber. Aber das betrachtende Subjekt wird in die Darstellung miteinbezogen, durch seine Perspektivengebundenheit und durch den Seelenzustand als Spiegel des Betrachteten. Unmittelbar an die objektive Beschreibung angeknüpft berichtet Schelling von seinem Genuss an der Betrachtung und der Beseligung, die er dadurch erfährt. Und er kennzeichnet in den Aufzeichnungen je den Betrachterstandpunkt und betont die spezifische Sicht von diesem her: von der Höhe des Jordanbergs hinab und durch die Fenster der Elternwohnung hinaus - womit bereits typische Situationen romantischer Lyrik und klassische Bildaufbauten romantischer Landschaftsmalerei benannt sind, bei welchen Rückenfiguren den Standpunkt darstellen und den Blick in die Natur leiten. 59 2. Natur wird ästhetisch betrachtet. War sie bei Kant noch primär Gegenstand eines gesetzlichen Zusammenhangs, nach welchem ihre Prozesse mechanisch abliefen, und damit primär Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung, betrachtet sie der junge Schelling hier schon unter der Kategorie der Schönheit. Schellings spätere Naturphilosophie wird wesentlich getragen sein von seiner Absetzung gegen die mechanistische, von ihm als tot aufgefasste Naturauffassung, welcher er eine dynamische als der lebendigen Natur angemessen gegenüberstellen wird. 60 Natur wird in der romantischen Lyrik und der Landschaftsmalerei zum zentralen Genre werden. 3. Wildheit wird ästhetische Qualität zugesprochen. „Fürwahr, auch wilde Natur ist schön! “, ruft Schelling aus. Im Gegensatz zum Barock, in welchem nur die gestaltete, geordnete, kultivierte Natur als schön galt, die wilde hingegen als Furcht erregend, wüst und abstoßend, wird in der Romantik Wildheit und Urwüchsigkeit, das Chaos und das rational Undurchdringbare ästhetisch aufgewertet. Die ungeordnete Natur draußen wird zur lockenden Welt gegenüber dem geordneten bürger- 59 Zur Lyrik vgl. Frühwald, W., »Gedichte der Romantik«, Stuttgart 1984, Einführung, 33, der als typische Situationen des romantischen Menschen in der Lyrik nennt: „[A]m erhöhten Platz des Fensters, durch das die Lockungen der Welt in das schützende Haus eindringen; auf dem freien Gipfel des Berges, wo […] der Blick über die Welt ungehindert in die Weite […] schweifen kann“. Rückenfigur, Höhenblick und Fensterbild finden sich in der Malerei häufig bei C. D. Friedrich, K. F. Schinkel, C. G. Carus usw. 60 Vgl. SW VII, 103. Wunderkind in Bebenhausen 425 lichen Haus. Und Wildheit erhält den Rang des Erhabenen. Dies lässt sich auf allen Ebenen ablesen, vom Übergang der Gartenbaukunst vom symmetrischen Barock zum offenen englischen Landschaftsgarten bis zu den Bildmotiven schroffer Hochgebirgswelten, Einöden, dichter Waldungen und wüster Meeresbrandung bei den romantischen Malern. Schelling benutzt schon 1789 den Ausdruck wildschön. Und zuletzt, 4.: Die Naturbetrachtung wird zur religiösen Andacht. Es sind „seelige Stunden“, die Schelling im ästhetischen Naturgenuss verbringt, und es führt über die betrachtete Natur ein Weg zu Gott. In Schellings Philosophie der Natur und Kunst werden der Kunstwerkgedanke der göttlich gefügten Natur und die Absolutheit Gottes nahe beieinander stehen. 61 Darin, dass sich Gott über die Natur finden lässt, ist der spinozistisch-pantheistische Gedanke des deus sive natura enthalten, welcher in der Romantik zentral wird und sich bei Schelling auch explizit ausspricht. Zudem ist mit der Natur als Andachtsraum ein Motiv vorweggenommen, das in der romantischen Malerei, besonders C. D. Friedrichs Landschaften hohe Bedeutung bekommen sollte. 62 Erstaunlich, dass sich auch dies bereits über 20 Jahre zuvor in den Aufzeichnungen eines vielleicht vierzehnjährigen Jungen findet. 63 61 Vgl. SW V, 377, wo es heißt: „Das unendliche Affirmirtseyn Gottes im All, oder die Einbildung seiner unendlichen Idealität in die Realität als solche, ist die ewige Natur«, oder noch stärker: „Gott ist wesentlich die Natur, und umgekehrt“ (SW VII, 30), weswegen es (SW VI, 355) eine „unendliche Bejahung Gottes in der Natur, welche der ewige Grund des Lebens ist“, gibt, woraus weiter folgt, dass selbst der Geist des Naturforschers „Andacht, Frömmigkeit gegen die Natur, Religion“ (SW VII, 109) sei. Von hier führt dann folgender Weg weiter zur Kunst: „Das Universum ist in Gott als absolutes Kunstwerk und in ewiger Schönheit gebildet“ (SW V, 385), weswegen gilt: „Die unmittelbare Ursache aller Kunst ist Gott“ (SW V, 386). 62 Paradigmatisch hierfür ist sicher der Tetschener Altar von 1808, in welchem ein reines Landschaftsbild den Bildraum eines Altars einnahm. Die Betrachtung der Landschaft wurde so unmittelbar religiöser Betrachtung gleichgestellt, ja unmittelbar als religiöser Dienst aufgefasst. 426 Stefan Gerlach VI. Resümee Eine eingehendere Betrachtung von Schellings Kindheits- und früher Jugendzeit in Bebenhausen fördert nicht nur entwicklungsgeschichtliche Aspekte zutage, welche Schellings enorme Frühvollendung zu erklären helfen, sondern in jener Zeit finden sich bereits die Beschäftigungen mit wesentlichen seiner späteren großen Themen Natur, Freiheit, Geschichte und Religion. Es lässt sich zeigen, dass hier Interessengebiete schon veranlagt waren, welche später zu den zentralen Gegenständen des theoretischen Interesses Schellings wurden. Zudem lassen sich an den Ortsbeschreibungen stilistische Eigenheiten feststellen, welche von Eile und sprunghaftem Denken bei der Niederschrift zeugen, Eigenschaften, welche vielfach zur Charakterisierung der späteren Schriften Schellings gebraucht wurden. Zuletzt lassen sich an Schellings Tätigkeiten, der Auswahl der beschriebenen Motive und der Art ihrer Beschreibung deutlich Merkmale kennzeichnen, welche für die ästhetische Romantik bestimmend wurden: vom Verseschmieden über das historische Interesse am Mittelalter, vom Topos des Einsiedlers über die Berg- und Fensterblicke zu den substantiellen inneren Verhältnissen zur Natur. Fasst man all dies zusammen, dann liegt die These nahe, dass Schelling, der Theoretiker der Romantik, die wesentlichsten inneren Bezüge und Themen der romantischen Weltauffassung bereits als Kind in Bebenhausen gekannt, ja verinnerlicht hatte. 63 Noch weitere romantische Motive lassen sich in Schellings Jugend in Bebenhausen finden. Wenn in der romantischen Literatur die alte Zeit der Grafen, Ritter und Mönche wieder hoch geschätzt wurde und in der bildlichen Darstellung gotische Architekturelemente zur Kennzeichnung dieser vergangenen Epoche wurden, wenn die Vergänglichkeit und Unwiederbringbarkeit der alten Zeit durch gotische Architekturruinen und Natur als menschenleerer Raum, als unbetretbares Gegenüber dargestellt und dadurch symbolisch erhöht wurde, wenn Einsamkeit ein zentrales Motiv werden sollte, so lässt sich all dies vorzüglich in Schellings Kindheitsumgebung einer mittelalterlichen, sechs Jahrhunderte alten Klosteranlage, die zudem seit 250 Jahren ihre ursprüngliche Funktion verloren hatte, umgeben von den weiten Wäldern des Schönbuchs, wiederfinden. Kein Wunder, dass knapp 100 Jahre später, als der romantische Geist auch den württembergischen König Karl erfasst hatte, dieser die zwischenzeitlich zum Jagdschloss umfunktionierte Klosteranlage wegen eben dieser ‚romantischen‘ Elemente so sehr schätzte. Wunderkind in Bebenhausen 427 Abbildung 1: Staatsarchiv Ludwigsburg, D 40 Bü 268. 428 Stefan Gerlach Abbildung 2: Aktuelle Ansicht, Photographie Vf. Wunderkind in Bebenhausen 429 Abbildung 3: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Plan von 1802, A 474 Bü 30a. (1) = Kapf’scher Bau, Wohnhaus Schellings, (2) = Prälatengarten, (3) = Richtung Jordanberg, (4) = Richtung Saffrigrain, (5) = Richtung Herrengarten, (6) = Klausur des Klosters. 430 Stefan Gerlach Abbildung 4: Aktuelle Ansicht, Photographie Vf. Zu den Autoren B ARBARIĆ , D AMIR , geb. 1952, Prof. für Geschichte der Philosophie an der Universität Zagreb. Gastprofessuren an der Universität Wien, der Universität Freiburg und der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1996 Beiratsmitglied der Internationalen Schelling-Gesellschaft. Übersetzung von Schellings »Philosophie der Mythologie« ins Kroatische. In deutscher Sprache erschienene Bücher: »Anblick, Augenblick, Blitz. Ein philosophischer Entwurf zum Seinsursprung«, Tübingen 1999; »Die Sprache der Philosophie«, Tübingen 2011; »Ambivalenz des Fin de siècle« (zus. mit M. Benedikt), Wien 1998; »Denkwege Bd. 2« (zus. mit D. Koch), Tübingen 1998; »Denkwege Bd. 3« (zus. mit D. Koch), Tübingen 2005. An Aufsätzen zu Schelling erschienen in jüngerer Zeit auf Deutsch: »Schellings Platon-Interpretation in der „Darstellung der reinrationalen Philosophie“«, in: Das antike Denken in der Philosophie Schellings, hg. v. R. Adolphi und J. Jantzen, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 77-98; »Jacobi und Schelling im Streit um die göttlichen Dinge«, in: Vernunft und Glaube. Ein philosophischer Dialog der Moderne mit dem Christentum, hg. v. S. Dietzsch und G. F. Frigo, Berlin 2006, 161-175; »Ekstase der Vernunft«, in: Negativität und Positivität als System, hg. v. E. Hahn, Berlin 2009, 11-33. B ENSUSSAN , G ÉRARD , geb. 1948, Prof. für Philosophie an der Universität Straßburg. Mitbegründer und ehemaliger Präsident des Parlement des Philosophes in Straßburg. Seit über zwanzig Jahren Wissenschaftler am Archive Husserl an der École Normale Supérieure in Paris. Lehrtätigkeiten in Deutschland, Brasilien, Chile, den USA, im Libanon und in Israel. Übersetzungen von Werken Schellings, Rosenzweigs, Feuerbachs und Moses Hess’. Mitwirkung an den Zeitschriften Quinzaine Littéraire, Temps Modernes, Magazine Littéraire, Lignes, Esprit. 432 Zu den Autoren Wichtigste Publikationen: »Dictionnaire critique du marxisme«, PUF 1982, 3. Aufl. 1999; Moses Hess, »La philosophie, le socialisme«, PUF 1985, 2. Aufl. Olms 2004; »Questions Juives«, Osiris 1988; »La philosophie allemande dans la pensée juive«, PUF 1998; »Franz Rosenzweig. Existence et philosophie«, PUF 2000; »Le temps messianique. Temps historique et temps vécu«, Vrin 2001; »Heidegger, le danger et la promesse«, Kimé 2006; »Marx le sortant«, Hermann 2007; »Ethique et expérience. Levinas politique«, La Phocide 2008; »Dans la forme du monde. Sur Franz Rosenzweig«, Hermann 2009. An Aufsätzen zu Schelling erschien in jüngerer Zeit auf Deutsch: »Kraft und Begriff. Über die Frage der Dialektik in Schellings Weltaltern«, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 38 (2006), 247-258. B RACHTENDORF , J OHANNES , geb. 1958, Dr. phil., Prof. für philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Zuvor Visiting scholar an der University of Notre Dame sowie Endowed Chair in the Thought of Augustine an der Villanova University (USA). Herausgeber der lateinischdeutschen Gesamtausgabe der Werke Augustins: »Augustinus. Opera - Werke«. Monographien: »Fichtes Lehre vom Sein. Eine kritische Darstellung der Wissenschaftslehren von 1794, 1798/ 99 und 1812«, Paderborn 1995; »Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in De Trinitate (Paradeigmata 19)«, Hamburg 2000. Herausgeber: »Gott und sein Bild - Augustins De Trinitate im Spiegel gegenwärtiger Forschung«, Paderborn 2000; »Prudentia und Contemplatio - Ethik und Metaphysik im Mittelalter. Festschrift für Georg Wieland zum 65. Geburtstag«, Paderborn 2002; »Augustins Confessiones«, Darmstadt 2005; »Augustinus, De libero arbitrio. Einleitung und Übersetzung«, in: Augustinus Opera - Werke, hg. v. J. Brachtendorf und V. Drecoll, Paderborn 2006; »Unendlichkeit - Philosophische, theologische und mathematisch-naturwissenschaftliche Perspektiven« (zus. mit G. Nickel, S. Schaede und Th. Möllenbeck), Tübingen 2008. B UCHHEIM , T HOMAS , geb. 1957, Dr. phil., Prof. der Philosophie an der LMU München. Geschäftsführender Herausgeber des Philosophischen Jahrbuchs der Görres-Gesellschaft. Mitglied der Schelling-Kommission Zu den Autoren 433 und Mitherausgeber der Historisch-kritischen Schellingausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Vorsitzender der Gesellschaft für antike Philosophie. Monographien: »Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens«, Hamburg 1986; »Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie«, Hamburg 1992; »Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt«, München 1994; »Aristoteles«, Freiburg 1999; »Unser Verlangen nach Freiheit«, Hamburg 2006. Herausgeber: »Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente, Testimonien«, gr.-dt., Hamburg 1989; »Destruktion und Übersetzung. Zu den Aufgaben von Philosophiegeschichte nach Martin Heidegger«, Weinheim 1989; »F. W. J. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände«, Hamburg 1997; »„Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität«, Berlin 2004; »Das Leib-Seele-Problem«, München 2006; »Freiheit auf Basis von Natur? «, Paderborn 2007; »Aristoteles: Über Werden und Vergehen«, übersetzt und erläutert (dt. Werkausgabe), Berlin 2010. D ÖRENDAHL , R OSWITHA , Dr. phil., Lehrbeauftragte im Rahmen des Ethisch-Philosophischen Grundlagenstudiums und am Zentrum für Schlüsselqualifikationen der Universität Freiburg. Zuvor Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Verantwortung wahrnehmen“ an der Universität Freiburg. Monographie: »Abgrund der Freiheit. Schellings Freiheitsphilosophie als Kritik am neuzeitlichen Autonomie-Projekt«, Würzburg 2011. F RIGO , G IAN F RANCO , geb. 1941, Dr. phil., Prof. für Geschichte der Philosophie an der Universität Padua. Mitglied des Beirats der Internationalen Schelling-Gesellschaft, des CIRM (Centro Interuniversitario di ricerca sulla morfologia „Francesco Moiso“) und des wissenschaftlichen Beirats der Reihe “Wissenschaftskultur um 1900” (Franz Steiner Verlag, Stuttgart). Monographien: »Unità o dualità della commedia. Il dibattito su Dante da Schelling ad Auerbach«, Florenz 1994; »Scienza e filosofia nel positivismo italiano e tedesco«, Padua 2005. Herausgeber: »Vernunft und Glauben. Ein philosophischer Dialog der Moderne mit dem Christentum«. Père Xavier Tilliette SJ zum 85. Geburtstag (zus. mit S. Dietzsch), 434 Zu den Autoren Berlin 2006. In deutscher Sprache erschienen zu Schelling in jüngerer Zeit folgende Aufsätze: »Das Kunstwerk als Organismus. Natur und Kunst bei Schelling«, in: Heitere Mimesis. Festschrift für Willi Hirdt zum 65. Geburtstag, hg. v. B. Tappert und W. Jung, Tübingen 2003, 627- 636; »Schellings Organismus-Begriff als Modell für Natur- und Kunstgeschichte«, in: Leben und Geschichte. Studien zur deutschen Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. v. L. Knatz, N. Kobayashi und T. Tsunekawa, Würzburg 2008, 97-108; »Denken und Vorstellen in Schellings positiver Philosophie«, in: Das Daedalus-Prinzip. Ein Diskurs zur Montage und Demontage von Ideologien. Steffen Dietzsch zum 65. Geburtstag, hg. v. L. Kais, Berlin 2010, 319-333. G ERLACH , S TEFAN , geb. 1968, Dr. phil., Mentor und Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Museumspädagogischer Mitarbeiter im Schloss und Kloster Bebenhausen. Monographie: »Wie ist Freiheit möglich? Eine Untersuchung über das Lösungspotential zum Determinismusproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft«, Tübingen 2010. Weitere Aufsätze zum Thema des Beitrags: »Ein Bau von europäischem Rang? Zur architekturgeschichtlichen Bedeutung des Sommerrefektoriums in Bebenhausen«, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 45 (2008), 3-32; »Scandalum magnum! Zur ‚Rechtmäßigkeit‘ des Stiftergrabes im Kapitelsaal Bebenhausen«, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 69 (2010), 171-184. H ALFWASSEN , J ENS , geb. 1958, Dr. phil., Prof. für Philosophie an der Universität Heidelberg. Federführender Herausgeber der »Heidelberger Forschungen«, Mitherausgeber der »Quellen und Studien zur Philosophie« und der »Philosophischen Rundschau«. Organisator der Hans- Georg Gadamer Stiftungsprofessur für Geisteswissenschaft an der Universität Heidelberg. Ehem. Heisenberg-Professor der DFG. Meimberg- Preis der Mainzer Akademie der Wissenschaften. Fellow am Collegium Budapest. Mitglied der Hegel-Kommision der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Mitglied der Academia Platonica Septima Monasteriensis. Mitglied im Stiftungsrat der Karl-Jaspers-Stiftung. Monographien: »Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin«, Stuttgart 1992, 2. Aufl. 2006; »Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin und Numenios«, Stuttgart 1994; »Hegel und der Zu den Autoren 435 spätantike Neuplatonismus«, Hamburg 1999, 2. Aufl. 2005; »Plotin und der Neuplatonismus«, München 2004, 2. Aufl. 2005. Herausgeber: »Platonismus im Orient und Okzident. Neuplatonische Denkstrukturen im Judentum, Christentum und Islam« (zus. mit R. G. Khoury und in Verbindung mit F. Musall), Heidelberg 2005; Wolfram Hogrebe, »Die Wirklichkeit des Denkens«, Vorträge der Gadamer-Professur (zus. mit M. Gabriel), »Heidelberger Forschungen« Bd. 34, Heidelberg 2007; »Kunst, Metaphysik und Mythologie« (zus. mit M. Gabriel), »Heidelberger Forschungen« Bd. 35, Heidelberg 2008; »Philosophie und Religion« (zus. mit M. Gabriel), »Heidelberger Forschungen« Bd. 36, Heidelberg 2011. H ENNIGFELD , J OCHEM , geb. 1943, Dr. phil., Univ.-Prof. i. R., bis 2009 Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau, Mitherausgeber der »Schellingiana«, Mitherausgeber der Historisch-kritischen Schelling-Ausgabe. Monographien: »Mythos und Poesie. Interpretationen zu Schellings „Philosophie der Kunst“ und „Philosophie der Mythologie“«, Meisenheim 1973; »Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts«, Berlin 1982; »Geschichte der Sprachphilosophie. Antike und Mittelalter«, Berlin 1994; »F. W. J. Schellings „Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit“«, Darmstadt 2001. Herausgeber: »Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert« (zus. mit F. Decher), Würzburg 1992; »Kategorien der Existenz«. Festschrift für Wolfgang Janke zum 65. Geburtstag (zus. mit K. Held), Würzburg 1993; »Philosophien des 19. Jahrhunderts« (zus. mit M. Fleischer), Darmstadt 1998; »Kierkegaard und Schelling« (zus. mit J. Stewart), Berlin 2002. H ERMANNI , F RIEDRICH , geb. 1958, Dr. phil., Prof. für Systematische Theologie an der Universität Tübingen; kooptiert an der dortigen Fakultät für Philosophie und Geschichte; Mitglied der Schelling- Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Monographien: »Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojektes in Schellings Philosophie«, Wien 1994; »Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung«, Gütersloh 2002; »Metaphysik - Versuche über letzte Fragen«, Tübingen 2011. Herausgeber: »Philosophische Orientierung«, München 1995; »Die Wirklichkeit des Bösen«, München 1998; »Der 436 Zu den Autoren leidende Gott«, München 2001; »Leibniz und die Gegenwart«, München 2002; »„Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“ - Schellings Philosophie der Personalität«, Berlin 2004; »Der freie und der unfreie Wille«, München 2004; »Das Leib-Seele-Problem«, München 2006; »Wahrheitsansprüche der Weltreligionen«, Neukirchen- Vluyn 2006; »Endangst und Erlösung I«, München 2009; »Augustin, De Natura Boni - Die Natur des Guten«, mit Einleitung und Kommentar (zus. mit B. Berges und B. Goebel), Paderborn 2010. J ACOBS , W ILHELM G., geb. 1935, Dr. phil., Prof. für Philosophie an der LMU München. Mitherausgeber der Historisch-kritischen Schelling- Ausgabe und Mitglied der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Mitbegründer und ehem. Präsident der Internationalen Schelling-Gesellschaft. Präsident der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Philosophie. Gastprofessuren in Tokyo, Łód und Wrocław. Monographien: »Trieb als sittliches Phänomen. Eine Untersuchung zur Grundlegung der Philosophie nach Kant und Fichte«, Bonn 1967; »Zwischen Revolution und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen«, Texte und Untersuchungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989; »Gottesbegriff und Geschichtsphilosophie in der Sicht Schellings«, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993; »Schelling lesen«, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. Herausgeber: »Schellings Weg zur Freiheitsschrift. Legende und Wirklichkeit« (zus. mit H. M. Baumgartner), Stuttgart-Bad Cannstatt 1996; »Zeit und Freiheit. Schelling - Schopenhauer - Kierkegaard - Heidegger« (zus. mit I. M. Fehér), Budapest 1999; »Religion und Gott im Denken der Neuzeit« (zus. mit A. Franz), Paderborn 2000; »„… so hat mir / Das Kloster etwas genüzet“. Hölderlins und Schellings Schulbildung in der Nürtinger Lateinschule und den württembergischen Klosterschulen« (zus. mit M. Franz), Tübingen 2004. K OCH , D IETMAR , geb. 1957, Wissenschaftlicher Angestellter und Dozent am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Vorsitzender der Tübinger Gesellschaft für Phänomenologische Philosophie. Mitglied im Vorstand der Martin-Heidegger-Gesellschaft. Herausgeber der Publikationsreihen »Phainomena«, »Tübinger Phänomenologische Bibliothek« und »Denkwege«. Mitveranstalter der Tagungsreihe „Tü- Zu den Autoren 437 binger Zeitdiagnosen“ und der „Tübinger Platon-Tage“. Mitherausgeber der Publikationsreihe »Antike Studien«. Monographie: »Zur hermeneutischen Phänomenologie. Ein Aufriß«, Tübingen 1992. Herausgeber: »Denkwege« Bd. 1, Tübingen 1998; »Denkwege« Bd. 2 (zus. mit D. Barbari ć ), Tübingen 2001; »Denkwege« Bd. 3 (zus. mit D. Barbari ć ), Tübingen 2005; »Im Garten der Philosophie«. Festschrift für Hans-Dieter Bahr zum 65. Geburtstag (zus. mit O. Erdogan), München 2005; »Platon und das Göttliche. Antike-Studien« Bd. 1 (zus. mit I. Männlein-Robert und N. Weidtmann), Tübingen 2010. OLIVER, MÜLLER, geb. 1972, Dr. phil., leitet eine Nachwuchsforschergruppe (BMBF) zur Natur des Menschen in der biomedizinischen Ethik an der Universität Freiburg. Kooperation mit Prof. Dr. Lore Hühn am Philosophischen Seminar der Universität Freiburg. Monographie: »Sorge um die Vernunft. Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie« Paderborn 2005; »Synthetische Biologie. Eine ethisch-philosophische Analyse« (zus. mit J. Boldt und G. Maio), Bern 2009; »Zwischen Mensch und Maschine. Vom Glück und Unglück des Homo faber«, Berlin 2010. Herausgeber: »Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik« (zus. mit G. Maio und J. Clausen), Freiburg 2008; »Die „Natur des Menschen“ in Neurowissenschaft und Neuroethik« (zus. mit G. Maio und J. Clausen), Würzburg 2008; »Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie« (zus. mit J. Clausen und G. Maio), Paderborn 2009. S CHICK , F RIEDRIKE , geb. 1960, Dr. phil., apl. Prof. für Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Monographien: »Hegels Wissenschaft der Logik metaphysische Letztbegründung oder Theorie logischer Formen? «, Freiburg/ München 1994; »Sache und Notwendigkeit. Studien zum Verhältnis von empirischer und begrifflicher Allgemeinheit«, Würzburg 2005; Herausgeberin: »G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik« (zus. mit A. F. Koch), Klassiker Auslegen Bd. 27, Berlin 2002. S CHMIDT , A NDREAS , geb. 1966, Dr. phil., Privatdozent am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. 438 Zu den Autoren Wichtigste Veröffentlichungen: »Der Grund des Wissens. Zu Fichtes Wissenschaftslehre in den Versionen von 1794/ 95, 1804/ II und 1812«, Paderborn 2004; »Göttliche Gedanken. Zur Metaphysik der Erkenntnis bei Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz«, Frankfurt a.M. 2009; »Übersetzung, Einleitung und Kommentar zu René Descartes: Meditationen«, dreisprachige Parallelausgabe, Göttingen 2004. Aufsätze zu Thomas von Aquin, Descartes, Spinoza, Fichte und Hegel. S CHRÖDER , W OLFGANG M., geb. 1968, Dr. phil., Privatdozent für Philosophie und Dilthey-Fellow an der Universität Tübingen. Monographien: »Grundrechtsdemokratie als Raison offener Staaten. Verfassungspolitik im europäischen und im globalen Mehrebenensystem«, Berlin 2003; »Politik des Schonens. Heideggers Geviert-Konzept, politisch ausgelegt«, Tübingen 2004. Herausgeber: »Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung. Von der Volkssouveränität zur Völkersouveränität« (zus. mit G. Jochum, N. Petersson und K. Ullrich), Berlin 2007; »Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Kooperativer Kommentar«, Berlin 2011. S CHWENZFEUER , S EBASTIAN , geb. 1979, Dr. phil., Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar der Universität Freiburg und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Koordinationsstelle des Ethisch-philosophischen Grundlagenstudiums des Interdisziplinären Ethik-Zentrums Freiburg. Promotion bei Prof. Dr. L. Hühn 2010 mit einer Arbeit zum Thema »Natur und Subjekt. Zur Grundlegung der Schellingschen Naturphilosophie«. S TEINMANN , M ICHAEL , geb. 1964, Dr. phil., Associate Professor am Stevens Institute of Technology in Hoboken, New Jersey. Monographien: »Die Ethik Friedrich Nietzsches«, Berlin 2000; »Die Offenheit des Sinns. Untersuchungen zu Sprache und Logik bei Martin Heidegger«, Tübingen 2008; »Martin Heideggers „Sein und Zeit“, Werkeinführung«, Darmstadt 2010. Herausgeber: »Martin Heidegger und die Griechen«, Frankfurt 2007; »Das Leib-Seele-Problem und die Phänomenologie« (zus. mit C. Nielsen und F. Töpfer), Würzburg 2007. Personenregister Adam, C. 362 Adelung, J. C. 80 Adorno, T. W. 136, 385 Allwohn, A. 327 Anselm von Canterbury 374 Arendt, H. 270 Aristoteles 78, 170 f., 292, 295, 297, 301 Augustinus 295 Autenrieth, J. H. H. F. v. 81 Baader, F.v. 214, 218, 220 f., 245, 270 f. Barbarić, D. 17, 19, 309 Bartez, J. P. 79 Barth, B. 135 Baumgartner, H. M. 154, 222, 247 Beach, E. A. 315, 317 Beck, H. 298 Behler, E. 62 Beierwaltes, W. 136, 153, 168, 250, 295 f., 301 f. Bensussan, G. 20, 346 Benz, E. 218 Bertani, C. 82 Biester, J. E. 68 Bittner, R. 28 Blumenbach, J. F. 79, 82, 257 Blumenberg, H. 266, 271, 311 440 Personenregister Böhme, J. 15 f., 218 - 222, 228, 235, 239 - 241, 244 f., 300, 335 Bonsiepen, W. 259 Bossi, M. 82 Brachtendorf, J. 12, 14, 118, 169 f. Brand, H.G. 414 Brandner, R. 107, 114 Brandt, H. D. 127 Breinersdorf, S. 100 Brender, S. 23 Brinkmann, K. 383 Brinkmann, R. 83, 85 Brown, J. 11, 85, 88, 90 - 96, 99 f., 103, 257 - 260, 262 f., 269 Brown, R. F. 218 Bruneder, G. 239 Brunner, O. 47 Bubner, R. 126, 296 Buchheim, T. 9, 15, 23, 45, 127, 187, 206, 218 f., 228, 234, 247, 337 Buchner, H. 50, 52, 154, 159, 296 Buridan, J. 337 Bynum, W. F. 79 Cancik, H. 47 Carus, C. G. 424 Cassirer, E. 311 Cimino, G. 79 Conze, W. 47 Correggio da Antonio 142 Cramer, K. 28, 114 Cramer, W. 105 Creuzer, G. F. 197 Creuzer, L. 10, 24, 28 - 34, 39, 41 f., 302 Crusius, M. 421 Curley, E. 49 Da Vinci, L. 142 Personenregister 441 Dabag, M. 295 Decher, F. 84 Dekker, G. 310, 317 Descartes, R. 42, 78, 108, 111, 113, 174, 362 f., 373 f., 377 Deuse, W. 298 Diels, H. 331 Dierksmeier, C. 50 Diersel, U. 335 Dietzsch, S. 402, 413 Diez, I.C. 75 Döllinger, I. 84 Dörendahl, R. 15 f., 218 Duchesneau, F. 79 Düsing, K. 126, 251, 293 f. Durner, M. 83 f., 148 - 150, 152, 154, 161, 163, 167, 316 Duso, G. 294 Ebbestad Hansen, J. E. 241 Ehmer, H. 408 Ehrhardt, W. E. 124, 170, 222, 237, 307, 346, 420 Eitle, J. 405, 408 Eliade, M. 311 Engelhardt, D. v. 78, 82 f., 85 f., 257 - 259 Erhard, J. B. 75, 80, 82 Eschenmayer, C. A. v. 83, 223, 245 Fausel, H. 405 Feick, H. 189 Feuerbach, P. J. A. 11, 63 - 67 Fichte, J. G. 12 - 14, 16, 27, 36, 39, 50, 55, 61, 75 f., 105 f., 112, 121 f., 124, 138, 148 - 155, 157 - 159, 161, 163 - 165, 167-169, 171 - 187, 191 f., 202, 208 f., 220, 222, 224, 226 - 230, 233, 239, 242, 244 f., 251 f., 288, 294, 338 Fietkau, W. 146 Fischer-Homberger, E. 86 Florig, O. 188, 208 442 Personenregister Förster, E. 155, 157 Frank, M. 75 f., 107, 109, 303, 307, 383 f., 402, 411 Franz, M. 158 f., 405 - 409, 416 Friedrich, C. D. 424 f. Fries, J. F. 82, 259 Frigo, G. F. 10 f., 78 Frischlin, N. 421 Frühwald, W. 424 Fuchs, E. 169 Fuhrmans, H. 223, 279, 403, 407, 410 - 413 Fulda, H. F. 114 Funke, G. 82 Gaiser, K. 301 Galen 78, 81 Gall, F. J. 85 Gassendi, P. 373 Gaub, A. 405, 408 Gawlick, G. 367 Georgii, E. F. 219 Gerabek, W. E. 86, 257, 260, 262 Gerhard, J. 302 Gerhardt, C. J. 413 Gerhardt, V. 254 Gerlach, S. 22, 402 Gliwitzky, H. 149, 151, 169, 226 Glüsing, J. O. 219 Grotius, H. 49, 55 Grotsch, K. 218 Gruner, C. G. 79 Grunert, F. 48 Gulyga, A. 402, 413 Haas, B. 111 Habermas, J. 353, 356 Personenregister 443 Hahn, P.M. 411 Halfwassen, J. 17 f., 250, 292 - 295, 298, 301 f. Haller, A. v. 79, 257, 260, 366 Hammacher, K. 157, 227 Hansen, F.-P. 420 Happ, H. 297 Hartmann, H. 383 Hasler, L. 81 - 83, 86 f., 103 Heckmann, R. 86, 251, 258 Hegel, G. W. F. 20, 22, 50, 83, 86, 111, 126, 138, 166, 170 f., 176 - 178, 181, 188, 259, 289 f., 293 f., 301 - 303, 310 f., 317, 331, 350, 353, 383 f., 386, 390 - 402, 420 Heidegger, M. 136, 189, 272 f., 313, 385 Heim, E.L. 81 Heinroth, J.C. 82 Hennigfeld, J. 17, 19, 23, 84, 127, 188, 236 f., 240, 246, 248, 272, 331 Henrich, D. 105, 114, 170, 303, 376 f. Heraklit 331 Herder, J. G. 348 Hermanni, F. 20 f., 188, 198, 214, 220 f., 234, 247, 361 f., 364 Hesiod 321 Heun, M. 85 Heuser-Keßler, M.-L. 105, 251-253, 257 Heydenreich, K.H. 63, 66 Hippokrates 78 Hirschfeld, E. 84 Hobbes, T. 11, 48 f., 55, 58 f. Hoffbauer, J. C. 63 Höffe, O. 188, 208, 237, 277 Hofmann, M. 61 Hogemann, F. 395 Hölderlin, J. C. F. 75, 171, 285, 402, 405, 407 Hollerbach, A. 61 444 Personenregister Holz, H. 219, 295 Homer 342 Horn, E. 81 Horstmann, R. P. 114 Hösle, V. 50 Hoven, F. W. v. 81 Huberth, F. 416 Hübner, K. 311 Hühn, L. 112, 118, 121 f., 124, 149, 221, 224, 226, 233 f., 239, 247 f., 251, 272 Hufeland, C.W. 80 f., 85, 249 Hufeland, G. 63 Hume, D. 366 f., 378 Hunter, J. 79 Hutter, A. 240, 243 Iber, C. 122, 136, 138, 221, 247, 385 Ideler, K.W. 82 Ilting, K.-H. 47, 49 Jacob, H. 150, 224, 226 Jacobi, F. H. 157, 166, 169, 179, 227 - 229, 240, 245 Jacobs, W.G. 6, 9, 12 f., 23, 50, 52, 60 - 62, 70, 105, 127, 148, 154, 188, 222, 247, 249, 252, 405 - 408, 416 Jaeschke, W. 157, 227, 395 Jähnig, D. 138 Jantzen, J. 9, 23, 83, 127, 149, 154, 248, 257 - 259, 271, 274 Jaspers, K. 420 Jonas, H. 268 Kain, P. 27 Kant, I. 10 f., 13 f., 16, 19 - 21, 24-31, 33 - 36, 39, 41, 43, 46, 57 - 59, 61 - 63, 66, 72, 75 - 78, 82 f., 87, 105, 114, 117 f., 122, 133, 138 f., 154 - 157, 159 f., 162 f., 167, 171 f., 175, 177, 187, 191 f., 197 f., 202, 206 f., 212 f., 219 f., 222, 224 - 226, 229 f., 233 f., 242, 244, 249 - 254, 257, 259, 267, 274 f., 277, 293 - 295, 316, 338, 361- 373, 377 - 379, 420, 424 Personenregister 445 Kapust, A. 295 Kerényi, K. 311 Kielmeyer, C. F. 257 f. Kierkegaard, S. 234, 240, 246 f. Kieser, D.G. 84 Kim, E. S. 298 Kirchhoff, J. 420 Kirsten, E. 402 Klein, J. 23 Klotz, C. 149 Knatz, L. 219, 341 Knisser, T. 138 Kobusch, T. 293 Koch, A. F. 302 Koch, D. 17, 279 Köhler, D. 188 Köhrer, A. 416, 419 Köllner, J. 82 Korten, H. 127, 163 Koselleck, R. 47 Köstlin, N. 407, 411 Krämer, H. J. 293, 297 Kranz, W. 331 Krause, K. C. F. 50 Kreysig, F. L. 81 Krings, H. 86, 154, 159 f., 251, 258 Krins, H. 414 Kroner, R. 420 Kudella, S. 23 Kuhlen, R. 335 Kurz, G. 107, 402 Lapuh, Ž. 23 Largier, N. 286 446 Personenregister Lauth, R. 149 - 151, 169, 224, 226 Lavater, J. C. 85 Leese, K. 218 Leibbrand, W. 84 Leibniz, G.W. 187, 189, 206, 230, 254, 295, 364, 376, 412 f. Leinkauf, T. 295 Lenoir, T. 82 Leupoldt, J. M. 82 Lindner, K. 247 Locke, J. 187 Loer, B. 124, 236, 241 Lohff, B. 84 Luther, M. 215 Maimon, S. 11, 57, 68 - 70 Marcus, A. F. 84 Marino, L. 82 Marquard, O. 275 Marx, K. 303, 383 Maurer, H.-J. 79 Meinhard, H. 280 Meister Eckhart 17 f., 170, 279 f., 282, 286 f., 289 Meyer, I. 82 Meyer, R.W. 86, 251, 258 Michel, J. G. 219 Michel, K. M. 178, 290 Model, A. 82 Moiso, F. 83 Mojsisch, B. 294 Moldenhauer, E. 178, 290 Möller, I. 166 Müller, K. 407 Müller, O. 15 f., 246 Müller, P. 127 Personenregister 447 Narbonne, J.-M. 250 Nasse, C. F. 82 Neschke, A. 47 Newton, I. 78, 231 Nida-Rümelin, J. 205 Niethammer, F.I. 11, 50, 57, 61 - 64, 68, 71, 75, 77 Nonnenmacher, B. 23 Novalis 252 Oberauer, A. 302 Oetinger, F. C. 15 f., 218 f., 221, 229 - 232, 235, 243 - 245, 335 Oken, L. 84 Osten, M. 50 f., 55, 61, 72 Österreich, P. L. 248, 274 Ott, M. 23 Otto, R. 169 Otto, W.F. 309 f. Paetzold, H. G. 138 Pagel, P. W. 268 Paracelsus 268 Pareyson, L. 412 f., 415 f., 418, 420, 422 f. Parmenides 170, 183, 185 Peetz, S. 23, 127, 188, 198, 200, 202, 220 f., 295 Petersmann, J. 405 f., 408, 410, 414 Peukert, W.-E. 228 Pfaff, C. H. 85, 91 Philo 366 Picht, G. 311 Pieper, A. 50, 52, 188, 208, 237, 277 Piske, I.-M. 157 Platen, A.v. 375 Platon 13, 17, 153, 159 f., 170, 183, 250, 279 f., 282, 284 - 287, 289, 291 - 298, 301 - 303, 306, 331 f. Plessner, H. 277 448 Personenregister Plitt, G. L. 406 f., 409, 411 - 416, 418, 420 - 423 Plotin 18, 250, 293 - 297, 301 f., 304 f. Plutarch 298 Pocai, R. 122, 221 Poggi, S. 82 f. Portre, R. 79 Prang, S. C. 23 Pranteda, M. A. 82 Proklos 302 Pseudo-Dionysius Areopagita 295, 302 Pufendorf, S. v. 11, 57 Quint, J. 286 Rametta, G. 294 Rang, B. 105 Raphael 142, 146 Rauch, A. 423 Reckermann, A. 250 Reil, J. C. 85 Reinhold, C. L. 10, 24, 28 - 36, 42, 75, 80, 174, 197 f. Reinhold, E. 420 Retzer, J. Fr. v. 85 Reuchlin, J. F. 411 f. Riegler, T. 405 Röschlaub, A. 11, 82, 84 - 86, 93 f., 96, 100, 103, 257 - 259 Rosenau, H. 333 Rosenzweig, F. 353 Rothschuh, K. E. 79, 82 f. Rousseau, J.-J. 51 Ruppert, M. 23 Russell, B. 206 Salber, D. 139 Sandkühler, H.-J. 50, 61, 86, 124, 219, 258, 420 Sauter, J. 47 Personenregister 449 Schadel, E. 298 Schäfer, C. 295 Schäfer, G. 229 Schätzel, W. 49 Schaumann, J.C.G. 11, 63, 72 - 74 Schelling, C. 200 Schelling, J.F. 402, 405 - 407, 409 - 411 Schelling, K.E. 256 Schelling, K. F. A. 23, 148, 150, 167, 169, 220, 331, 361, 409, 413 f., 420, 423 Schelver, F. J. 84 Schick, F. 20 f., 383 Schiebler, K. W. 235 Schieche, W. 166 Schiek, S. 414 Schiemann, G. 47 Schinkel, K. F. 424 Schlegel, F. 62 Schleiermacher, F. 169 Schmid, C. C. E. 10, 24, 28, 33, 39, 82 Schmidt, A. 10, 24, 198 Schmidt, C. 23 Schmidt, R. 28 Schmidt-Biggemann, W. 218 Schneider, H. 47 Schneiders, W. 48 Schoeps, H. J. 79 Schopenhauer, A. 122, 138, 221, 239, 247 Schraven, M. 219 Schröder, W. M. 10, 46, 118 Schröter, M. 224, 301, 333, 350, 422 Schubert, G. H. 84 Schulz, W. 121, 127, 149, 301, 303, 305 450 Personenregister Schulze, G. E. 80 Schulze, W. A. 218 Schwab, P. 239 Schwarz, J. 316 Schwenzfeuer, S. 12, 104 Schwind, M. v. 423 Schwitalla, U. 421 Seidler, E. 86 Setzler, W. 421 Shakespeare, W. 359 Sieber, N. 23 Simon, J. 293 Sladek, M. 241 Smid, S. 50 Soemmering, S. T. 82 Sokrates 284, 332 Speusipp 301 Spinoza, B. de 12, 14, 157 f., 161, 166 f., 169 - 186, 202, 226, 288, 348, 376 f., 425 Sprengel, K. P. J. 78 Steffens, H. 84, 102 Steinmann, M. 12 f., 126 Stern, R. 41 Stewart, J. 240, 246 Stoll, J. 82 Strack, F. 118, 122, 124, 251 Sturma, D. 208, 214 Summerell, O. F. 294 Sydow, J. 421 Szondi, P. 146 Tafani, D. 30, 32, 41 Tannery, P. 362 Thales 331 Personenregister 451 Theunissen, M. 84, 220, 248, 303 Thomasius, C. 48 f. Tilliette, X. 50, 315, 317, 375, 402 f., 407, 413 Toellner, R. 81 Toman, R. 423 Traub, H. 149 Troxler, I. P. V. 100 Tsouyopoulos, N. 84, 86, 93 f., 257 f., 261 Tugendhat, E. 109 Utz, K. 302 Vernant, J.-P. 311 Vetö, M. 219 Voigt, U. 298 Volkmann-Schluck, K.-H. 313, 341 Vorländer, K. 420 Wagner, H. 105 Waldenfels, B. 295 Weikard, A. M. 85 Weischedel, W. 361 Wieland, C. M. 80 Wieland, W. 107 Wiesing, U. 78, 86, 249 Wilbrand, J. B. 84 Windischmann, K. J. H. 84, 295, 302 Wolff, C. 391 Zahn, C. J. 405, 408 f. Zedler, J. H. 80 Zehnpfennig, B. 285 Zeller, A.C. 421 Zeltner, H. 154 Ziche, P. 127, 163 Zovko, M.-E. 220 f., 240 »Tübinger Phänomenologische Bibliothek« Herausgegeben von Dietmar Koch Friedhelm Schneider Die Wahrnehmung der Wirklichkeit Ein philosophisch-theologischer Essay (1992) Klaus Bort Personalität und Selbstbewußtsein Grundlagen einer Phänomenologie der Bezogenheit (1993) Wolfgang von der Weppen Der Spaziergänger Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht (1995) Søren Harnow Klausen Verfahren oder Gegebenheit? Zur Sinnfrage in der Philosophie des 20. Jahrhunderts (1997) Günther Wille Akroasis Der akustische Sinnesbereich in der griechischen Literatur bis zum Ende der klassischen Zeit (2001) Günter Figal / Georg Knapp (Hrsg.) Prognosen Jünger Studien, Band 1 (2001) Günter Figal (Hrsg.) Interpretationen der Wahrheit (2002) Günter Figal / Georg Knapp (Hrsg.) Verwandtschaften Jünger Studien, Band 2 (2003) Roberto Rubio Zur Möglichkeit einer Philosophie des Verstehens Das produktive Scheitern Heideggers (2006) Wolfgang von der Weppen / Bernhard Zimmermann (Hrsg.) Sokrates im Gang der Zeiten Sokrates-Studien VI (2006) Günter Figal / Georg Knapp (Hrsg.) Mythen Jünger Studien, Band 3 (2007) Wolfgang von der Weppen / Bernhard Zimmermann (Hrsg.) Sokrates, die Sophistik und die postmoderne Moderne Sokrates-Studien VII (2008) Hans-Dieter Bahr Zeit der Muße - Zeit der Musen (2008) Günter Figal / Georg Knapp (Hrsg.) Autorschaft - Zeit Jünger Studien, Band 4 (2010) Dietmar Koch/ Irmgard Männlein-Robert/ Niels Weidtmann (Hrsg.) Platon und das Göttliche (2010) Antike-Studien 1 »Phainomena« Herausgegeben von Dietmar Koch Dietmar Koch Zur hermeneutischen Phänomenologie Ein Aufriß (1992) Klaus Bort Freiheit und Bezug Ansätze zu einer phänomenologischen Ethik (1993) Wolfgang von der Weppen Das verlorene Individuum Eine phänomenologische Skizze zur Funktionalisierung von Welt (1994) Friedhelm Schneider Kindsein - ein Gleichnis Philosophisch-theologische Gedanken zum generativen Verhältnis (1995) Rainer Thurnher Wandlungen der Seinsfrage Zur Krisis im Denken Heideggers nach »Sein und Zeit« (1997) Susanne Ziegler Zum Verhältnis von Dichten und Denken bei Martin Heidegger (1998) Damir Barbarid Anblick, Augenblick, Blitz Ein philosophischer Entwurf zum Seinsursprung (1999) Friedhelm Schneider Kants transzendentale Dialektik oder Die Unvernunft in der Vernunft (1999) Gerhard Wölfle Kult und Opfer in Hegels Religionsphilosophie (1999) Eva Strobel Nietzsches Philosophie der Bejahung (2000) Günter Figal Lebensverstricktheit und Abstandnahme Überlegungen zur Ursprünglichkeit der Philosophie (2001) Marion Hiller Das »zwitterhafte« Wesen des Wortes Eine Interpretation von Platons Dialog »Kratylos« (2001) Wolfgang M. Schröder Politik des Schonens Heideggers Geviert-Konzept, politisch ausgelegt (2004) »Denkwege« Herausgegeben von Dietmar Koch und Damir Barbarid Denkwege 1. Philosophische Aufsätze (1998) Denkwege 2. Philosophische Aufsätze (2001) Denkwege 3. Philosophische Aufsätze (2004) Nähere Informationen unter: www. tuebinger-phaenomenologie.de www.attempto-verlag.de