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Zum Teufel! – Die Frage nach dem Bösen

2020
978-3-8930-8661-0
Attempto Verlag 
Paul Metzger

Zum Teufel und zur Hölle damit. Der Teufel hat keine Lust mehr. Er ist weg und die Hölle ist leer. Doch: Wo ist der Teufel heute? Er ist ausgewandert in die Deutung der Welt. Als Symbol für das Böse gibt es ihn. Er ist eine Antwort auf die Frage: Warum leiden wir? Doch es gibt noch andere Fragen: Sind wir daran selbst schuld? Sind wir verantwortlich für das Böse? Oder hat Gott damit etwas zu tun? Warum gibt es das Böse überhaupt? Und was ist eigentlich 'böse'? Das Buch gibt Antworten und stellt Fragen. Damit am Ende nicht alles "zum Teufel" geht.

ISBN 978-3-89308-461-6 W W W . N A R R . D E W W W . N A R R . D E Zum Teufel und zur Hölle damit. Der Teufel hat keine Lust mehr. Er ist weg und die Hölle ist leer. Doch: Wo ist der Teufel heute? Er ist ausgewandert in die Deutung der Welt. Als Symbol für das Böse gibt es ihn. Er ist eine Antwort auf die Frage: Warum leiden wir? Doch es gibt noch andere Fragen: Sind wir daran selbst schuld? Sind wir verantwortlich für das Böse? Oder hat Gott damit etwas zu tun? Warum gibt es das Böse überhaupt? Und was ist eigentlich „böse“? Das Buch gibt Antworten und stellt Fragen. Damit am Ende nicht alles „zum Teufel“ geht. Metzger Zum Teufel! - Die Frage nach dem Bösen Zum Teufel! - Die Frage nach dem Bösen Paul Metzger 20461_Umschlag.indd 3 25.09.2020 09: 39: 40 Paul Metzger Zum Teufel! -- Die Frage nach dem Bösen Umschlagabbildung: AndreasJ, Notre-Dame, Teufel, Paris, Frankreich © AdobeStock Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 2626-0697 ISBN 978-3-89308-461-6 (Print) ISBN 978-3-89308-661-0 (ePDF) ISBN 978-3-89308-006-9 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Inhalt Vorwort 7 1. Einleitung 9 Die offizielle römisch-katholische Sicht 10 Papst Franziskus und der Teufel 12 Der Teufel und das Vaterunser 13 Der Teufel als Sinndeutung des Bösen 14 Die Welt als Deutung 15 Das Böse als konkretes Erleben 18 Ein Beispiel 19 Der Teufel und seine Funktion 20 Der Teufel heute 21 2. Der Monotheismus 23 Der Polytheismus 23 Die Entwicklung der Monolatrie 24 Die Entwicklung des Monotheismus 26 Die Konsequenz für die Frage nach dem Bösen 27 3. Gott ist schuld! 29 Der „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ oder das „Ursache-Wirkung-Prinzip“ 30 Amos 31 Hosea 32 Das Buch Hiob 34 Joh 9 37 Gott erschafft das Böse: Deuterojesaja 39 Die Möglichkeit des Bösen: Adam und Eva (Gen 3) 41 Die Realisierung des Bösen: Kain und Abel (Gen 4) 44 Fazit 45 4. Der Mensch ist schuld! 47 Adam und der Sündenfall 47 Das 4. Buch Esra 50 Paulus 53 5. Der Teufel ist schuld! 57 Das Leben Adams und Evas 58 Der Äthiopische Henoch 59 Der Teufel und Jesus von Nazareth 60 Der Teufel und die Versuchung Jesu 64 Der Teufel im Brennpunkt 69 Fazit 73 6. Die Zeit ist schuld 75 Eine philosophische Antwort 75 7. Gott ist schuld! 85 Und wie gehen wir damit um? -- Eine theologische Perspektive 85 Literatur 105 Eigene Vorarbeiten 105 Weiterführende Literatur 106 7 Vorwort Die „Biographie“ des Teufels habe ich in einem kleinen Buch skizziert, das 2012 erschienen ist. * Darin habe ich dargestellt, wie der Teufel geboren wird, welche Vorfahren er hat und wie er zu der Figur wurde, die wir heute kennen. Diese Darstellung wird im vorliegenden Band durchgängig vorausgesetzt. Wo es für den vorliegenden Zusammenhang nötig ist, werden Gedanken daraus hier aufgegriffen und fokussiert. Das vorliegende Buch will die Frage nach dem Teufel auf die Frage nach dem Bösen konzentrieren. Ist der Teufel, der „Mörder“ und „Lügner von Anfang an“, wie es im Evangelium nach Johannes heißt (Joh 8), verantwortlich für das Böse? Wer ist schuld am Bösen? Und wie können wir mit dem Bösen umgehen? Das sind die Fragen, mit denen sich dieses Buch beschäftigen wird. Gleich vorweg möchte ich eine Warnung aussprechen. Ich fürchte, dass sich diese Fragen nicht so beantworten lassen, dass wir alle am Ende damit zufrieden sind. Es werden Aporien bleiben und wir werden uns bescheiden müssen. Wäre dieses Buch ein Kriminalroman, würde uns die Auflösung vielleicht nur mäßig zufriedenstellen, vielleicht würde uns auch der Täter nicht gefallen. Aber wir beschäftigen uns mit dem Leben aus der Perspektive der Theologie. Und auch wenn die Theologie zuweilen Romane schreibt, so ist das Leben nun mal kein Roman. Das Buch hat dann sein Ziel erreicht, wenn der geneigten Leserin und dem geneigten Leser deutlich wird, wie die moderne Theologie Themen wie „Teufel“ oder „das Böse“ angeht und sie so bearbeitet, dass sie für unser Leben Relevanz haben. Dabei greife ich das Thema vor allem aus bibelwissenschaftlicher Perspektive * Paul Metzger, Der Teufel, Wiesbaden 2 2016. 8 auf, sodass auch ein gewisser Einblick gegeben wird, wie man heute mit biblischen Texten umgehen und sie zur Deutung der eigenen Wirklichkeit heranziehen kann. Ich danke denjenigen, die sich für die Entstehung dieses Buchs eingesetzt haben: Frau Dr. Kristina Dronsch, Frau Dr. Valeska Lembke und Frau Corina Papp vom Narr Verlag, die dieses Buch angeregt und seine Entstehung umgesetzt haben. Korrektur gelesen haben mit freudigem Einsatz: Roswita Barthels, Volker Keller, Alfred Metzger, Ute Metzger, Dr. Jochen Wagner und vor allem meine Sekretärin, Frau Elke Weingardt. Ihnen allen sei herzlich gedankt. 9 1. Einleitung Der Teufel hat keine Lust mehr auf die Hölle. Deshalb hat er sie verlassen und lebt heute in Los Angeles. Er nennt sich „Lucifer Morningstar“ und betreibt dort einen Nachtclub mit dem sprechenden Namen „Lux“ („Licht“). Außerdem hilft er einer jungen Polizistin, in die er sich verliebt hat, Kriminalfälle zu lösen. Nebenbei macht er eine Psychotherapie und versucht, familiäre Probleme aufzuarbeiten. Insbesondere leidet er unter einem Vaterkomplex. So präsentiert zumindest die US-amerikanische TV-Serie „Lucifer“, die von Jerry Bruckheimer Television, DC Entertainment und Warner Bros. Television produziert wird und auf der Comic-Vorlage von Neil Gaiman und Mike Cary beruht, den Teufel und seine Geschichte in der Gegenwart. Gespielt von dem britischen Schauspieler Tom Ellis handelt es sich beim Teufel um einen eloquenten, gutaussehenden, hedonistisch veranlagten jungen Mann, der mit seiner teuflischen Bestimmung und seinem schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, also Gott, hadert. Noch vor Beginn der Ausstrahlung dieser aktuellen Teufelsadaption regte sich Protest. 2015 forderten bereits konservative christliche Verbände die Absetzung der Serie, die allerdings erst ab 2016 ausgestrahlt wurde, lediglich aufgrund eines Trailers, der die Serie bewarb. Dieser Protest wundert nicht. Er zeigt vielmehr eine grundsätzliche Problematik der Gegenwart auf. Wie kann, darf oder muss man biblische oder generell religiöse Themen oder Figuren verstehen? Genau wie bei Gott selbst ist dieser Streit gerade beim Teufel besonders „brennend“. Steht er doch in der christlichen Tradition für das Böse (oder den Bösen) schlechthin. Darf man sich mit ihm Scherze erlauben, ihn satirisch überarbeiten? Auf der einen Seite der Gegenwart ist der Teufel also eine Figur in einem Comic oder einer TV -Serie. Eine kulturelle Chiffre, die 10 gefüllt werden muss. Er ist Gegenstand von unzähligen Rock- und Popsongs (der bekannteste dürfte „Sympathy for the Devil“ von den „Rolling Stones“ sein), er taucht in Sprichwörtern, Romanen, Comics und TV -Serien auf, ist Maskottchen von Fußballvereinen (1. FC Kaiserslautern; Manchester United), eine Figur im Puppentheater und ein beliebtes Karnevalskostüm. Die offizielle römisch-katholische Sicht Auf der anderen Seite stehen die Lehren der römisch-katholischen Kirche und vieler fundamentalistisch orientierter Freikirchen. Die römisch-katholische Glaubenslehre legt den maßgeblichen und kulturell einflussreichsten Entwurf des Teufels vor. Sie hat das Bild des Teufels, wie wir ihn kennen, maßgeblich bestimmt. Im „Katechismus der katholischen Kirche“ ( KKK ; 1997), der allen Katholiken zum gläubigen Gehorsam vorgelegt wird, ist ein recht eindeutiges Teufelsbild zu erkennen ( KKK 391-397). Am Anfang ist er ein guter Engel Gottes. Allerdings wurde er von sich selbst aus böse ( KKK 391). Warum, wissen wir nicht. Mit anderen Engeln fiel er von Gott ab und entschied sich unwiderruflich für das Böse ( KKK 392). Deshalb kann er auch niemals gerettet, seine Sünde nicht verziehen werden. Er hat von Beginn an die Menschen getäuscht. Seine schlimmste Tat besteht in der „Verführung, die den Menschen dazu gebracht hat, Gott nicht zu gehorchen“ ( KKK 394). Im Paradies stürzt er Adam und Eva so ins Unglück, indem er sie zum Ungehorsam gegenüber Gott anstiftet. Er tat dies, weil er auf die Menschen und ihre ausgezeichnete Gottesbeziehung neidisch war. Warum und auf was er genau neidisch war, erklärt der KKK nicht. Der Teufel habe Adam und Eva letztlich mit der Lüge verführt, dass sie sein könnten wie Gott. Diese Lüge ist das Grundverbrechen des Teufels. Von da an gilt: Der Teufel lügt und betrügt ( KKK 2482): „Der Teufel ist ,Sünder von 11 Anfang an‘ (1.Joh 3,8), ,der Vater der Lüge‘ (Joh 8,44).“ ( KKK 392) Weil Gott den Menschen schließlich aus dem Paradies vertreibt, ist also der Teufel letztlich schuld an Tod und Sünde. Er kämpft als reines Geistwesen aus Hass gegen Gott und gegen den Aufbau des Reiches Gottes in dieser Welt, also gegen die Kirche. Er schadet den Menschen auf psychische und physische Weise. Warum er das kann, wissen wir nicht. Denn: „Dass Gott das Tun des Teufels zulässt, ist ein großes Geheimnis“ ( KKK 395). Durch die Sünde Adams und Evas, der „Stammeltern“ ( KKK 407), hat der Teufel eine gewisse Macht über alle Menschen erlangt, obwohl diese trotzdem in ihren Entscheidungen frei bleiben. Allerdings sind sie ständig durch den Teufel bedroht. Die zentrale Verführung des Teufels besteht also in dem Versuch, Menschen davon abzubringen, Gott zu gehorchen. Der Glaube des Menschen wird durch den Teufel bedroht. Der Teufel kann letztlich das Werk Gottes nicht aufhalten, aber den einzelnen Menschen doch von seinem Weg abbringen. So warnt Papst Johannes Paul II.: Die Tätigkeit Satans besteht vor allem darin, die Menschen zum Bösen zu verführen, indem er ihr Vorstellungsvermögen und ihre höheren Fähigkeiten beeinflusst, um sie in die dem Gesetz Gottes entgegengesetzte Richtung zu lenken. * Er stellt damit eine reale Gefahr dar, sowohl für das Individuum wie auch für ganze Gesellschaften: Die besondere Gewandtheit des Teufels in dieser Welt besteht darin, die Menschen dazu zu verführen, seine Existenz zu leugnen, und zwar im Namen des Rationalismus und eines jeden derartigen Denksystems, das alle möglichen Ausflüchte sucht, um ja nicht das Wirken des Teufels zugeben zu müssen. ** * Papst Johannes Paul II., Ansprache bei der Generalaudienz am 13. 8. 1986; http: / / www.vatican.va/ holy_father/ john_paul_ii/ audiences/ 1986/ documents/ hf_jpii_aud_19860813_it.html (Zugriff am 20. 03. 2020). ** Ebd. 12 Papst Franziskus und der Teufel Gegenwärtig greift Papst Franziskus die Rede vom Teufel betont auf. Für ihn ist seine Existenz eine Tatsache. Ausdrücklich warnt der Papst in den Abschnitten 160-161 des Apostolischen Schreibens „Gaudete et exsultate“ („Freut euch und jubelt“-- Über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute), das am 9. April 2018 veröffentlicht wurde, dass der Teufel mehr sei als ein Mythos: Wir würden die Existenz des Teufels nicht anerkennen, wenn wir darauf beharrten, das Leben nur mit empirischen Kriterien und ohne übernatürlichen Sinn zu betrachten. Gerade die Überzeugung, dass diese böse Macht unter uns gegenwärtig ist, lässt uns verstehen, weshalb das Böse manchmal eine so zerstörerische Kraft besitzt-[…]. Als Jesus uns das Vaterunser lehrte, wollte er tatsächlich, dass wir am Ende den Vater bitten, er möge uns von dem Bösen erlösen. Der dort benutzte Ausdruck bezieht sich nicht auf etwas Böses im abstrakten Sinn, sondern lässt sich genauer mit „der Böse“ übersetzen. Er weist auf ein personales Wesen hin, das uns bedrängt. Jesus lehrte uns, täglich um diese Befreiung zu bitten, damit die Macht Satans uns nicht beherrsche. Wir sollen also nicht denken, dass dies ein Mythos, ein Schauspiel, ein Symbol, ein Bild oder eine Idee sei. Dieser Irrtum bringt uns dazu, die Hände in den Schoß zu legen, nachlässig zu sein und mehr Gefährdungen ausgesetzt zu sein. Der Teufel hat es nicht nötig, uns zu beherrschen. Er vergiftet uns mit Hass, Traurigkeit, Neid, mit den Lastern. Er nützt dann unsere Achtlosigkeit, um unser Leben, unsere Familien und unsere Gemeinschaften zu zerstören-… * Angesichts dieser klaren Haltung der größten christlichen Kirche der Welt, der immerhin ca. 1,3 Milliarden Menschen angehören, wundert der Protest gegen eine TV -Serie nicht, in der ein netter * http: / / www.vatican.va/ content/ francesco/ de/ apost_exhortations/ documents/ papa-francesco_esortazione-ap_20180319_gaudete-et-exsultate.html (Zugriff am 16. 07. 2020). 13 harmloser Teufel die Menschen zum Partyrausch in seinem Nachtclub verführt. Der Teufel und das Vaterunser Der Teufel ist also der große Gegenspieler Gottes, der versucht, alle Menschen ins Verderben zu führen. Papst Franziskus will deshalb auch das wohl bekannteste und wichtigste Gebet der Welt neu fassen: das Vaterunser. Er liegt damit auf einer Linie mit dem KKK . Dort wird ausgeführt, dass das Böse, um das es geht, „nicht etwas rein Gedankliches“ ist, sondern eine Person bezeichnet, den „Satan, den Bösen, den Engel, der sich Gott widersetzt“ ( KKK 2851) hat: „Der Teufel stellt sich dem göttlichen Ratschluss und dem in Christus gewirkten Heilswerk entgegen.“ Gemäß dieser Einsicht drängt Franziskus darauf, die Zeile „führe uns nicht in Versuchung“ neu zu formulieren, da man sie so verstehen könne, als ob Gott uns in Versuchung führe. Dies sei aber nicht der Fall. 2017 sagte er in einem Interview des italienischen Senders TV 2000, dass nicht Gott den Menschen in Versuchung führen wolle, um ihn zu prüfen oder sogar zu Fall zu bringen. Franziskus sagte: Ein Vater tut so etwas nicht; ein Vater hilft, sofort wieder aufzustehen. Wer dich in Versuchung führt, ist der Satan. * Dass man gegen den Teufel kämpfen muss, ist in entsprechenden Kreisen der römisch-katholischen Kirche damit auch klar. In Deutschland fand der letzte offizielle Exorzismus durch die römisch-katholische Kirche im Jahr 1976 statt, bei dem eine junge Frau, Anneliese Michel, schließlich an den Folgen von Unterernäh- * https: / / www.katholisch.de/ artikel/ 15729-papst-kritisiert-deutsche-vaterunser-uebersetzung (Zugriff am 16. 07. 2020). 14 rung starb. Seitdem gab es im katholischen Bereich in Deutschland keinen bekannten „Großen Exorzismus“, bei dem man den Teufel aus einem Menschen austreiben will. Blickt man jedoch auf katholisch geprägte Länder, wie z. B. Polen oder Italien, erkennt man, dass Exorzisten gesucht werden und sich deren Zahl in den letzten Jahren drastisch erhöht hat. Selbst in Deutschland kam es 2015 im freikirchlichen Kontext zu einem Exorzismus. In einer aus Südkorea eingewanderten Familie starb dabei diejenige, die exorziert wurde. Sogar im Gemeindekontext deutscher evangelischer Kirchen, deren protestantisch-reformierte Nüchternheit eigentlich skeptisch gegenüber dämonischen Elementen machen sollte, bin ich Personen begegnet, die freimütig bekennen, an den Teufel zu glauben. Bei vielen Veranstaltungen und Vorträgen zum Thema „Teufel“ habe ich Menschen kennengelernt, die echte Ängste damit verbinden und oft vehement an der Existenz des Teufels als realem Wesen festhalten wollen. Der Glaube an den Teufel durchzieht dabei alle Konfessionen und beachtet deren offizielle Lehre nicht. Dieses Phänomen lässt sich zwar an verschiedenen Themen beobachten, z. B. bei der Haltung zu Frauenordination oder Homosexualität, kann beim Teufel allerdings sehr gut auf ein grundlegendes Thema zurückgeführt werden: Wie verstehe ich die Bibel? Muss man sie als Gottes Wort wörtlich nehmen oder darf bzw. muss man sie interpretieren? Die Frage der Bibelauslegung steht also im Hintergrund des Teufelthemas. Der Teufel als Sinndeutung des Bösen Der Umgang mit dem Teufel in der Gegenwart erscheint also paradox, und es können leicht Situationen entstehen, in denen sich Dialogpartner gegenüberstehen, die keinen Dialog mehr führen 15 können, weil die Art und Weise, wie sie die Welt sehen, zu verschieden ist. Ihre Verstehensvoraussetzungen, ihre Weltdeutungen sind so fundamental unterschiedlich, dass sie keine Grundlage des Dialoges finden können. Wer sich „Lucifer“ im Fernsehen anschaut und sich darüber amüsiert, kann nicht an den Teufel der römisch-katholischen Kirche „glauben“, die Bibel nicht wörtlich verstehen und letztlich auch kaum Verständnis für „bibeltreue“, fundamentalistisch angehauchte Christen aufbringen. Wer umgekehrt glaubt, dass der Teufel in dieser Welt real am Werk ist und Menschen in den Untergang führt, kann nicht akzeptieren, dass man sich über ihn lustig macht. Die Chance, hier einen Graben zu überbrücken, ist nicht groß. Nichtsdestotrotz scheint das Thema „Teufel“ lohnend zu sein, um zu zeigen, wie eine mythologische Figur, als solche wird der Teufel hier verstanden, „gebraucht“ werden kann, um die eigene Deutung der Welt zu leisten. Dies ist die Grundthese dieses Buches: Der Teufel existiert nicht als Person, die in der Hölle (oder in Los Angeles) wohnt, sondern ist eine religiöse Deutung von Phänomenen, die Menschen als bedrohlich, ängstigend oder schädigend erfahren. Insofern existiert der Teufel zwar, aber lediglich als-- mehr oder minder-- abstrakte Idee, die je und je aktualisiert und eingesetzt wird, als Symbol, das eine Rolle bei der menschlichen Deutung der Welt spielt. Der Teufel als Symbol hilft den Menschen, das Böse in der Welt und in sich selbst zu deuten. Der Teufel als Sinndeutung des Bösen- - diese Grundthese hat zwei Voraussetzungen, die zunächst erläutert werden müssen: Die Welt als Deutung 2 x 3 macht 4-- Widdewiddewitt und 3 macht 9e! Ich mach’ mir die Welt-- widdewidde wie sie mir gefällt-… Hey-- Pippi Langstrumpf hollahi-hollaho-holla-hopsasa 16 Hey-- Pippi Langstrumpf-- die macht, was ihr gefällt. (Wolfgang Franke nach Astrid Lindgren) Erstens: Seit Immanuel Kant wissen wir, dass es das Ding an sich für uns nicht gibt, sondern die Dinge so sind, wie wir sie wahrnehmen. Wir können die Dinge nur so erkennen, wie es uns möglich ist. Wenn wir die sprichwörtliche rosarote Brille auf der Nase haben, dann sehen wir die Welt in rosa Farben. Wenn wir überall nach dem Teufel suchen, dann werden wir ihn überall finden. Das bedeutet also: Farben, Themen, die Welt an sich- - all das gibt es eigentlich nicht an sich. Die Welt wird uns durch unsere Sinnesorgane und durch die Verarbeitung von Sinneseindrücken im Gehirn vermittelt. Wenn wir in der Welt handeln, mit ihr umgehen, sie verstehen, dann ist das unsere Erschließung der Wirklichkeit. Dabei ist die Wirklichkeit widerspenstig. Wir können sie nicht nach Belieben verändern. Die äußeren Bedingungen unseres Lebens sind uns vorgegeben. Wir bestimmen nicht, wann wir wo und warum und als was geboren werden. Wir erfinden nicht die Hindernisse, die sich uns im Leben entgegenstellen. Den Stein, an den wir stoßen, haben wir nicht konstruiert. Er ist einfach da und wir werden auf ihn aufmerksam, weil wir uns an ihm stoßen, und erkennen ihn dann als Stein. Die Wirklichkeit leistet Widerstand. Das ist das Argument dafür, dass wir die Welt-- im Gegensatz zu Pippi Langstrumpf-- nicht so machen können, wie sie uns gefällt. Aber was wir daraus machen, das ist unsere Sache. Das ist die Botschaft des Sinnspruchs „Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus“. Die Welt, in der wir leben, ist also geprägt von unserem Verstehenszugang. Wir produzieren Sinn und legen den Dingen und Geschehnissen, die wir wahrnehmen, Bedeutung bei. Das heißt, dass wir die Welt verstehen. In diesem Sinn sind wir dann doch bei Pippi Langstrumpf und machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Jeder Zugang zur Wirklichkeit wird also von uns aufgrund unse- 17 rer kulturellen Erfahrungen und unseres Hintergrundes geleistet. Dafür steht der Begriff der Deutung. Unsere Welt zu verstehen und darin zu leben, heißt, sie zu deuten, ihr einen, konkret: meinen Sinn zu verleihen. Deshalb lässt sich festhalten: Die Welt ist menschliche Deutung, unsere Welt ist in entscheidenden Teilen unsere Konstruktion. Sie ist auch nicht „nur“ unsere Deutung und in Wirklichkeit etwas ganz anderes, sondern sie ist tatsächlich so für uns. Die Deutung ist der einzige Zugang zur Wirklichkeit, den wir haben. Was wir nicht wahrnehmen, ist für uns nicht von Belang. Es gibt Dinge in der Welt, die für uns nicht wichtig sind, also keine Deutung von uns erfahren, aber die Welt, wie wir sie verstehen und in ihr leben können, diese Welt wird von uns gemacht. Nicht in dem Sinne, dass wir sie hervorbringen, sondern in dem Sinne, wie wir damit umgehen. Das, was wir erleben und was uns wichtig ist, deuten wir mit Hilfe unserer Erfahrungen und machen es für uns lebbar. Wir verstehen es und gehen damit um. Was wir nicht verstehen, können wir schlecht akzeptieren. Wir versuchen, in den Dingen, die geschehen, einen Sinn zu finden. Aber es liegt kein Sinn an sich in dem, was wir erleben, sondern wir konstruieren einen Sinn für uns, oft den Sinn, der uns hilft, so gut wie möglich zu leben. Die ganze Welt ist unsere Interpretation. Die Welt, wie wir sie sehen und verstehen, ist insofern unsere Leistung. Da dieser Vorgang in der Regel unbewusst abläuft, staunen wir manchmal, wenn wir damit konfrontiert werden, dass andere Menschen die Welt anders sehen und dementsprechend anders handeln. Jetzt ist bereits ersichtlich: Nur in einem religiösen Deutehorizont ist die Rede vom Teufel überhaupt vorstellbar. Weiß jemand nichts von Religion, von Gott, den Engeln, dann wird er diese Komponenten auch nicht zur Deutung seiner Welt heranziehen. Folglich wird er das, was er als böse qualifiziert, auch nicht dem Teufel zuschreiben, sondern andere Erklärungen suchen. Weiter ist jetzt auch klar: Das Böse selbst ist eine Deutung. 18 Das Böse als konkretes Erleben Denn an sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu. (William Shakespeare, Hamlet, 2. Akt; 2. Szene) Zweitens: Wir erleben Geschehnisse und wir deuten sie. Manche sind für uns gut, andere böse. Die zweite Voraussetzung unserer Grundthese hat mit dieser Bewertung zu tun. Sie besteht schlicht in der Erkenntnis, dass die Bewertung der Geschehnisse ebenso von uns abhängt wie die Deutung der Welt. Wir bringen mit Begriffen wie „gut“ oder „böse“ und allen sprachlichen Verwandten dieses Gegensatzpaares Ordnung in unser Denken und damit auch in die Welt. Wir orientieren uns damit und werten Dinge auf oder ab. Und gleichzeitig merken wir dabei, dass etwas, das für einen Menschen „gut“ ist, für einen anderen Menschen „böse“ sein kann. Das Denken bewertet Geschehnisse und Dinge. Und es gehört vielleicht zu den erschreckendsten Erkenntnissen, dass das Böse relativ und von uns abhängig ist. Man kann kaum glauben, dass es Menschen gab und sogar heute noch gibt, die die Ermordung von Menschen jüdischen Glaubens während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland als „gut“ und „notwendig“ bezeichnen. Gerade so ein krasses Beispiel führt vor Augen, dass „das“ Böse offensichtlich relativ ist und von der Perspektive des Betrachters abhängt. Man kommt in der Flucht dieser Überlegungen schließlich zu der Erkenntnis, dass es „das“ Böse eigentlich nicht gibt, zumindest nicht als abstrakte Größe. „Das“ Böse existiert nicht für sich und unabhängig von uns, sondern ist nur an uns (oder anderen Menschen) erfahrbar, d. h. es ist eine konkret erlebte Schädigung des Lebens. Wenn es „das“ Böse nicht gibt, ist auch von vornherein klar, dass es „den“ Bösen, also den Teufel, nicht an sich gibt. Die Überlegungen zum „Bösen“ werden im Kapitel zur theo- 19 logischen Deutung des Bösen noch einmal aufgenommen und ausgeführt. Ein Beispiel Ein Beispiel soll beide Voraussetzungen verdeutlichen: In einem Krankenhaus liegen in einem Zimmer zwei Patienten mit der Diagnose „Lungenkrebs“. Ein Patient hat sein ganzes Leben lang viel geraucht. Der andere Patient nicht, vielleicht ist er sogar ein durchtrainierter Marathonläufer. Als Krankenhausseelsorger kann man recht sicher sagen, wer mehr mit seinem Schicksal hadert. Da mittlerweile auf vielen Zigarettenpackungen steht, dass neun von zehn Lungenkarzinomen ursächlich mit Rauchen zusammenhängen, kann sich der Raucher seinen Lungenkrebs gut erklären. Ursache und Wirken passen zusammen. Anders der Marathonläufer. Er kann sich seine Krankheit nicht erklären. Ursache und Wirken klaffen auseinander. Er kann keinen Sinn finden. Der Krebs ist für beide eine immense Schädigung ihres Lebens, er ist für beide in diesem Sinn „böse“. Aber einer kann ihn überzeugend deuten, der andere nicht. Das Problem der Deutung des Bösen bricht für den Marathonläufer viel dringender auf als für den Raucher. Ein Mensch, der im Dualismus von „gut“ und „böse“, „Gott“ und „Teufel“ erzogen wurde, mag hier auf den Gedanken kommen, dass der Krebs vom Teufel ist und der Mensch durch den Teufel und die durch ihn verursachte Krankheit in seinem Glauben geprüft wird. Der Teufel ist damit die Sinndeutung des Bösen. 20 Der Teufel und seine Funktion Die Geschichte des Teufels ist lang. Und die Geschichte des Umgangs mit ihm auch. Der Teufel kann als Bedrohung und Einschüchterung eingesetzt werden. So hat dies die Kirche über Jahrhunderte gehalten. Er bestraft die sündigen Menschen in der Hölle. Das ist seit der Alten Kirche ein klassisches Motiv, das sich über Dante Alighieris „Göttliche Komödie“ weit in das christliche Abendland hineinzieht und selbst in der TV -Serie „Lucifer“ seine eigentliche Aufgabe darstellt. Der Teufel ist in dieser Tradition ein Instrument der Gerechtigkeit Gottes, die letztlich aus rächender Vergeltung besteht. Der Teufel kann weiter als Erklärung für das Böse in der Welt stehen. Von Anfang an, von der Schlange im Paradies bis zur Erklärung von Drogen und Glücksspiel, ist der Teufel der Böse. Das macht sowohl seine Faszination als auch seine Gefährlichkeit aus. Das Böse ist letztlich die Triebfeder der Teufelsfigur. Weil es im Kontext christlicher Theologie, vor allem unter der Prämisse des Monotheismus eigentlich nicht richtig erklärt werden kann, muss es einen Ausweg geben, mit dem der gläubige Mensch leben kann. Der Teufel ist dieser Ausweg und nimmt die Schuld am Bösen auf sich. Wie dies der theologischen Deutung gelingt, soll dieses Buch in den weiteren Kapiteln zeigen. Dazu müssen zunächst die Entstehung des Monotheismus knapp skizziert und seine Auswirkungen auf das Böse und den Teufel erläutert werden. Im nächsten Schritt werden die drei grundlegenden Antworten auf die Frage nach dem Bösen vorgestellt, die sich in der Bibel finden; grob zusammengefasst: Erstens: Gott ist schuld am Bösen. Zweitens: Der Mensch ist schuld. Drittens: Der Teufel ist schuld. Im sechsten Kapitel wird eine philosophische Antwort auf die 21 Frage nach dem Bösen vorgestellt, die ihrerseits auf den Teufel als Symbol Bezug nimmt. Und schließlich soll im letzten Abschnitt eine moderne theologische Antwort skizziert werden, eingedenk dessen, dass es aus christlicher Sicht wohl kaum eine überzeugende Lösung geben wird. Der Teufel heute Interessant für jetzt ist nur: Der Teufel ist in der Gegenwart keine eindeutige Figur mehr. Was man von ihm hält, hängt hochgradig davon ab, wer man selbst und in welchem religiösen und weltanschaulichen Milieu man zuhause ist. Und deutlich ist auch: Man kann selbst ein hochmoderner Mensch sein, der sich mit aktuellen Smartphone-Modellen auskennt, Grundlagen künstlicher Intelligenz versteht und ganz in der Moderne angekommen ist- - und trotzdem an den Teufel glauben. Religiöse Aufklärung kann sich komplett von sonstigen Lebenseinstellungen abkoppeln. Man kann ein fundamentalistisches Bibelverständnis haben und trotzdem ein moderner Mensch sein. Diese paradoxe Tatsache muss man sich gerade im Hinblick auf den Teufel vor Augen führen. Der Mensch kann eine paradoxe Identität leben, indem er seine religiösen Überzeugungen von seinem sonstigen Denken unabhängig macht. Wer an den Teufel glauben will, wird sich von keinem theologischen Argument und keiner historischen Herleitung überzeugen lassen. Gleiches gilt in gewissem Sinn auch von der Figur „Gott“- - aber das wäre ein anderes Buch. 23 2. Der Monotheismus Die Konzentration des Göttlichen in einem Gott zog die Konzentration des Bösen in einer einzigen Gestalt nach sich. (Gerd Theißen * ) Der Monotheismus ist nicht vom Himmel gefallen. Vorformen finden sich bereits im Alten Ägypten. Für unseren Zusammenhang entscheidend ist die Entwicklung im Rahmen der israelitischen Religion. Diese entwickelte sich von einer polytheistischen (gr.: polys-= viel; Theos-= Gott) Religion über verschiedene Stufen zur monotheistischen (monos-= allein). Der Polytheismus Am Anfang kannte Israel also genauso wie andere antike Völker mehrere Götter (z. B. Ps 82) und verehrte diese. Aus Ägypten und Griechenland ist der Glaube an die Existenz mehrerer Götter besser bekannt. Geschichten um Zeus, Poseidon und andere Götter bilden unser kulturelles Erbe. In einem Kontext, in dem man an mehrere Götter glaubt, ist es einfacher, böse Erlebnisse zu deuten. Wenn ein Gott seinen klar definierten Wirkungsbereich hat, dann kann man ihn genau dann anrufen, wenn er zuständig ist. Und man kann dem Gott die Schuld für das Böse, das man erlebt, zuschieben. Während die meisten Gottheiten in der Umwelt des Alten Israel zumindest ambivalent und nie nur böse oder gut waren, * Gerd Theißen, Monotheismus und Teufelsglaube. Entstehung und Psychologie des biblischen Satansmythos, in: Demons and the Devil in ancient and medieval Christianity, Leiden 2011, 38. 24 ist dies in der Religion des alten Persiens anders. Hier kämpft der böse Gott Ahriman gegen den guten Gott Ohrmazd. Diese klare Einteilung wird als Dualismus bezeichnet. Böse gegen gut-- so lässt sich die Welt recht einfach verstehen und deuten. Aber auch in Griechenland oder Ägypten weiß man, wer für was verantwortlich ist. Vor allem im Bereich der Vegetation, der für antike Kulturen die entscheidende Lebensgrundlage bildete, lassen sich Gegenspieler ausmachen. In der Religion Kanaans, mit der sich Israel intensiv auseinandersetzen muss, kämpft der gute Gott Baal gegen den Herrn des Todes, den Gott Mot. Mot steht für das Vergehen der Natur, Baal für die Wiederkehr der Pflanzen. Der ewige Kampf von Baal und Mot wird zur Deutung des Kreislaufs der Natur herangezogen. Der eine steht für die gute Fruchtbarkeit der Erde, der andere für ihr Verblühen. Die Entwicklung der Monolatrie Israel entwickelt im Laufe seiner Geschichte aber die Vorstellung, dass es nur einen Gott gibt. Im Alten Testament lassen sich bei aufmerksamer Lektüre Spuren dieser Entwicklung finden. Im 1. Buch Mose, der Genesis, wird z. B. erzählt, dass Rahel, die Frau Jakobs, ihrem Vater dessen „Hausgott“ stiehlt (Gen 31,19). Im gleichen Kapitel wird von einem Vertrag berichtet, den Jakob mit seinem Schwiegervater Laban schließt. Dieser Vertrag wird mit der Anrufung verschiedener Götter besiegelt, in deren Namen geschworen wird: Der Gott Abrahams und der Gott Nahors, der Gott unserer Väter, seien Richter zwischen uns. Und Jakob schwor ihm bei dem Schrecken Isaaks, dem Gott seines Vaters. (Gen 31,53-54) Deutlich ist hier, dass verschiedene Götter akzeptiert werden. Weniger klar ist, ob mit der Bezeichnung „Schrecken Isaaks“ bereits 25 der spätere Gott Israels bezeichnet ist. Die einzelnen Götter der Familien oder Stämme, die später zum Volk Israel werden, fließen im Laufe der Entwicklung zu einem einzigen Gott zusammen. Doch zeigt diese kleine Erzählung exemplarisch, dass ursprünglich mehrere Götter verehrt wurden, Israel also durchaus polytheistisch war. Neben den Familiengöttern dürfte es in Israel auch Götter gegeben haben, die lokal an ihren eigenen Heiligtümern verehrt wurden. So wurden z. B. Inschriften gefunden, die verschiedene Ausprägungen eines Gottes namens „Jahwe“ („Jahwe von Theman“; „Jahwe von Samaria“), des späteren einzigen Gottes Israels, belegen, der zudem wohl auch eine Gefährtin an seiner Seite hatte, die „Aschera“ genannt wurde. Im Laufe der Geschichte entwickelt sich der Gott Jahwe, von dem man nicht genau weiß, ob er ursprünglich eine lokale Gottheit oder ein Gott des Wetters war, weiter und Israel beschränkt seine Verehrung auf ihn. Damit ist aber noch nicht die Stufe des Monotheismus erreicht, da die Existenz anderer Götter nicht bestritten, sondern lediglich deren Anbetung verboten wird. Bester Beleg dafür ist das erste der zehn Gebote: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. (Ex 20,3; Dtn 5,7) Ohne die Anerkennung der Existenz anderer Götter wäre dieses Gebot sinnlos. Die alleinige Verehrung eines Gottes ohne die Bestreitung der Existenz anderer Götter nennt man Monolatrie. Der Weg vom Polytheismus zur Monolatrie ist umkämpft. Der Streit um den richtigen Gott wird vor allem zwischen den Anhängern Baals und Jahwes im 9./ 8. Jahrhundert v. Chr. ausgetragen. Mit der Zeit trägt Jahwe den Sieg davon und steigt durch politische Einflüsse zum alleinigen Nationalgott Israels auf. Vor allem die Reform der israelitischen Religion unter König Josia im 7. Jahrhundert v. Chr. verhilft Jahwe zu diesem Aufstieg. Josia zentralisiert den Kult und lenkt ihn in geordnete, staatlich geregelte Bahnen. Er setzt die alleinige Verehrung Jahwes durch. Damit erlöschen im 26 Volksglauben zwar die verschiedenen Einflüsse der Umwelt nicht, doch schwenkt der offizielle Nationalkult auf diesen Kurs ein. Die Entwicklung des Monotheismus Zu einem Monotheismus, also zu einem Glauben an einen Gott, der gleichzeitig die Existenz anderer Götter bestreitet, entwickelt sich die israelische Religion erst unter dem Eindruck des babylonischen Exils weiter. 597 v. Chr. wird Jerusalem durch den babylonischen König Nebukadnezar II . zum ersten Mal erobert, zerstört wird es dann 587 v. Chr. Beide Niederlagen ziehen Deportationen von tausenden Menschen nach sich, die sich im Laufe der Zeit in Babylon recht gut einfinden und ihre eigene Religion und Kultur bewahren können. Es ist erstaunlich, dass Israel, also das unterlegene Volk, nun seinen Gott nicht verlässt, sondern dessen Macht steigert. Normal wäre zu erwarten gewesen, dass Israel seine militärische Niederlage auch als Niederlage seines Gottes angesehen und ihn deshalb aufgegeben hätte. Denn immerhin hatte die Zerstörung des Tempels doch gezeigt, dass die babylonischen Götter Marduk und Assur stärker waren als Jahwe. Aber Israel hält an Gott fest und beklagt sein Schicksal: Der HERR hat mich verlassen, der HERR hat meiner vergessen. (Jes 49,14) Vor allem durch das Wirken eines Propheten, den die alttestamentarische Forschung den „zweiten Jesaja“ (Deuterojesaja) nennt, scheint sich der Monotheismus durchgesetzt zu haben. Sein theologisches Programm findet sich im Buch Jesaja in den Kapiteln 40-55. Die Forschung geht davon aus, dass dieser Textblock nicht vom ursprünglichen Propheten Jesaja stammt, der im 8. Jahrhundert v. Chr. lebte, sondern von einem unbekannten Autor, der wahrscheinlich 550-540 v. Chr. im babylonischen Exil wirkte. Deshalb wird er als „Deuterojesaja“ bezeichnet. Er kündigt seinem 27 Volk an, dass Jahwe es aus dem Exil befreien wird und sich so als überlegener Gott, ja schließlich sogar als einziger Gott erweisen wird. Der Prophet erklärt die Niederlage Israels damit, dass Gott sich verborgen hielt und das Exil als Strafe für Verfehlungen Israels in der Zeit davor zu verstehen ist. Gott hat also nicht verloren, sondern er blieb nur aus guten Gründen verborgen. Damit kann das Volk zu seinem Gott sprechen: Nur bei dir ist Gott, und sonst ist kein Gott mehr. Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, der Heiland. (Jes 45,14) Und Gott sagt selbst von sich: Vor mir ist kein Gott gemacht, so wird auch nach mir keiner sein. Ich, ich bin der HERR , und außer mir ist kein Heiland. (Jes 43,10-11) Damit ist die Stufe des Monotheismus erreicht. Man kann diese Erhöhung Jahwes als Reaktion auf die erlittene Niederlage verstehen. Die Dissonanz zwischen Erwartung (Sieg) und Erfahrung (Niederlage) setzt eine Dynamik in Gang, die den unterlegenen Gott gegen alle Wahrscheinlichkeit aufsteigen lässt. Der Monotheismus ist folglich das Ergebnis der theologischen Verarbeitung einer militärischen Niederlage. Er stellt die geistige Kompensation der verlorenen Schlacht dar. In religiösen Kategorien kann man hier auch schlicht von einem Wunder sprechen. Die Konsequenz für die Frage nach dem Bösen Durch die Entwicklung des Monotheismus handelt sich die israelitische Religion eine Vielzahl von Problemen ein, die der bisherige Götterpluralismus nicht kannte. Der eine Gott ist nun für alles verantwortlich. So verbaut der Monotheismus eine zentrale Möglichkeit, wie man das Böse erklären kann. Denn nun lässt es sich nicht mehr mit dem Wirken eines anderen Gottes erklären, 28 alles fällt auf den einen Gott zurück. Und damit lässt sich schlecht leben. Denn die Frage nach dem Bösen findet keine befriedigende Antwort mehr. Es kann nicht mehr überzeugend gedeutet werden. Soll etwa der „liebe Gott“ schuld sein? Aber wenn es sonst niemanden mehr gibt, dem man die Schuld anlasten kann? 29 3. Gott ist schuld! Es gibt niemanden, der schuld sein kann, nur Gott allein. Das ist der Ausgangspunkt des Monotheismus. Das heißt für den Teufel: Im Alten Testament spielt er keine Rolle, allenfalls seine „Vorfahren“. Betrachtet man den Teufel, wie er in der römischen Kirche gelehrt wird, als Norm, wie der Teufel zu sein hat, wird man eine solche Gestalt im Alten Testament nicht finden. In der Erzählung von Adam und Eva (Gen 2-3) spielt kein Teufel eine Rolle-- nirgends wird behauptet, dass die Schlange der Teufel sei. Der Sturz des Teufels lässt sich nicht finden- - allenfalls eine kleine und merkwürdige Geschichte um Riesen auf der Erde (Gen 6,1-4). Eine wichtige Traditionslinie führt vom Buch Hiob zum Teufel. Hier tritt in der Rahmenerzählung des Buches eine Figur auf, die Satan genannt wird. Wichtig ist vor allem der erste Auftritt des Satans im ersten Kapitel des Buches: Eines Tages aber kamen die Götterwesen, um vor den HERRN zu treten, und auch der Satan kam mit ihnen. 7-Da sprach der HERR zum Satan: Woher kommst du? Und der Satan antwortete dem HERRN und sprach: Ich habe die Erde durchstreift und bin auf ihr hin und her gezogen. 8-Und der HERR sprach zum Satan: Hast du auf meinen Diener Hiob geachtet? Auf Erden ist keiner wie er: Er ist schuldlos und aufrecht, er fürchtet Gott und meidet das Böse. 9-Der Satan aber antwortete dem HERRN und sprach: Ist Hiob ohne Grund gottesfürchtig? 10-Hast du nicht ihn und sein Haus und alles, was er hat, ringsum beschützt? Das Werk seiner Hände hast du gesegnet, und seine Herden haben sich im Lande ausgebreitet. 11-Doch strecke deine Hand aus und taste seine ganze Habe an-- wenn er dich dann nicht ins Angesicht lästert! 12-Da sprach der HERR zum Satan: Sieh, alles, was er hat, ist in deiner Hand. Nur gegen ihn selbst strecke deine Hand nicht aus! Da entfernte sich der Satan vom Angesicht des HERRN . (Hi 1,6-12) Der Satan ist hier weit davon entfernt, der Teufel zu sein, wie man ihn kennt. Er ist Mitglied im himmlischen Hofstaat, wie er in der 30 Umwelt Israels bekannt war. Ganz unbestritten zählt er zu den Götterwesen, die den Hof Gottes bevölkern. Gott spricht Satan an und lenkt dessen Aufmerksamkeit auf Hiob. So angesprochen stellt der Satan die Frage, ob Hiob nur deshalb gottesfürchtig ist, weil es ihm gut geht. Gott nimmt diese Frage auf und gibt dem Satan den Auftrag, Hiob auf die Probe zu stellen. Die Initiative geht also von Gott aus. Der Satan führt lediglich den Befehl Gottes aus. Er ist also eindeutig ein Werkzeug Gottes. Es geht in diesem Buch nicht um den Satan. Er spielt nur eine Nebenrolle in der Rahmenhandlung. Das Buch beschäftigt sich vielmehr mit der Frage, warum der gerechte und gottesfürchtige Mensch leiden muss, warum der gute Mensch böse Dinge erlebt. Der „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ oder das „Ursache-Wirkung-Prinzip“ Das Buch Hiob bricht mit der Vorstellung des im Alten Testament häufig gebrauchten „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“. Modern kann man vom „Ursache-Wirkung-Prinzip“ sprechen. Wie bereits gezeigt, kommt ein Mensch besser mit seiner Situation zurecht, wenn er sie deuten kann, wenn er sich erklären kann, warum es ihm so geht, wie es ihm nun mal geht. Hat er eine Ursache gefunden, kann er sich die Wirkung erklären. So funktioniert über weite Strecken auch die Lebensdeutung im Alten Testament. Im Hinblick auf das Böse ist dies ein Muster, das erklärt, warum Menschen oder das ganze Volk Israel leiden. Psalm 1 belegt dieses Prinzip sehr eindringlich: Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzt, wo die Spötter sitzen, 2 sondern hat Lust am Gesetz des HERRN und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht! 3 Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, das gerät wohl. 31 4 Aber so sind die Gottlosen nicht, sondern wie Spreu, die der Wind verstreut. 5 Darum bestehen die Gottlosen nicht im Gericht noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten. 6 Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht. Deutlich ist: Wer fromm und gläubig ist, dem wird es gut gehen. Wer aber spottet und sündigt, der wird Strafe erleiden. Dieses Schema ist prominent von verschiedenen Propheten aufgegriffen worden. Amos Der Prophet Amos verkündet seinen Hörern, dass Gott sie wegen ihrer sozialen und religiösen Fehltritte bestrafen wird (Am 2). Das Böse, das Israel erleiden wird, beruht also auf der eigenen Schuld. Sie haben ihre besondere Erwählung nicht bewahrt und den Bund gebrochen. Das ist die Ursache. Als Konsequenz werden sie bestraft: Allein um euch habe ich mich gekümmert von allen Sippen des Erdbodens. Darum werde ich an euch all eure Verschuldungen heimsuchen. (Am 3,2) Das Leiden ist also die Strafe für die Verfehlungen Israels. Klar ist dabei, dass die Katastrophe, die Israel erwartet, von Gott stammt: Geschieht ein Unglück in einer Stadt, ohne dass der HERR es bewirkt hat? (Am 3,6) Insofern wird die Schuld am Leiden eindeutig verortet. Allerdings wird das Leiden zwar als „Unglück“ oder „Katastrophe“ bewertet, aber durch die Erklärung von Ursache und Wirkung wird es nicht mehr als „böse“ angesehen, sondern eher als pädagogisches Instrument, das zur Umkehr rufen soll. Dass dies nicht funktioniert, ist Grund einer weiteren Klage Gottes gegen Israel: 32 Und so habe dann ich euren Zähnen nichts zu kauen gegeben in allen euren Städten und euch Mangel gegeben an Brot an allen euren Orten. Dennoch seid ihr nicht zurückgekehrt zu mir! (Am 3,6) Deshalb stellt es eine Drohung dar, wenn Gott sein Volk dazu aufruft, sich auf die Begegnung mit ihm vorzubereiten: Darum werde ich so mit dir verfahren, Israel! Weil ich dir dies antun werde, mache dich bereit für die Begegnung mit deinem Gott, Israel! (Am 3,12) Erst wenn die Strafe vollzogen ist, kann die Beziehung neu aufgebaut werden: Durch das Schwert sterben alle Sünder in meinem Volk, alle, die sagen: Du wirst kein Unheil über uns bringen und es nicht an uns herankommen lassen! An jenem Tag richte ich die verfallene Hütte Davids auf, und ihre Risse werde ich vermauern, und ihre Trümmer richte ich auf, und ich werde sie bauen wie in früheren Tagen. (Am 9,10-11) Das Böse ist damit im Grunde wie ein Liebesbeweis Gottes, ein Versuch, das abtrünnige Israel zurückzuholen. Ist das, was Israel dann passiert, eigentlich noch böse? Hosea Ähnlich argumentiert auch der Prophet Hosea. Das Böse, das Israel widerfährt, ist auch hier die Konsequenz für Israels Ungehorsam. Deshalb droht Israel die Vernichtung: Ich aber bin der HERR , dein Gott vom Land Ägypten her, und außer mir kennst du keinen Gott, und es gibt keinen Retter außer mir. 5-Ich habe dich schon in der Wüste gekannt, im Land der Dürre. 6-Dank ihrem Weideplatz wurden sie satt; da sie satt wurden, hat ihr Herz sich erhoben. Deshalb haben sie mich vergessen! 7-Ich aber bin für sie wie ein Löwe geworden, wie eine Raubkatze lauere ich am Weg. 8-Ich falle über sie her wie eine Bärin, der man die Jungen genommen hat, und ich zerreiße die Brust über ihrem 33 Herzen. Und dort fresse ich sie wie eine Löwin, die Tiere des Feldes reißen sie in Stücke. 9-Es hat dich zugrunde gerichtet, Israel, dass du gegen mich, deine Hilfe, bist. (Hos 13,4-9) Israel hat sich von Gott abgewandt. Aber es gibt keinen anderen Gott. Deshalb muss es Strafe erleiden. Aber diese Strafe ist nicht sinnlos. Sie soll zur Umkehr reizen-- zumindest die, die dann noch leben: Kehre zurück, Israel, zum HERRN , deinem Gott! Denn durch deine Schuld bist du zu Fall gekommen. 5-Ich werde ihre Abtrünnigkeit heilen; weil ich es will, liebe ich sie, denn mein Zorn hat sich abgekehrt von ihm. (Hos 14,2.5) Das Böse ist bei Amos und Hosea also kein blindes Schicksal, sondern von Gott gewollt und als Strafe verstanden. Es ist deshalb nicht blind und sinnlos, sondern in Gottes Händen. Damit stellen beide Propheten exemplarisch ein verbreitetes Denken im Alten Testament dar. Das Böse, das man erfährt, kommt zwar von Gott, aber die Schuld daran trägt man selbst. Dies gilt nicht nur im Kollektiv wie bei den Propheten, sondern auch individuell. Viele Beispiele liefert hier vor allem das Buch der Sprüche, z. B. Der Fluch des HERRN ist im Haus des Frevlers, aber die Wohnung der Gerechten segnet er. (Spr 3,33; weitere Beispiele: Spr 10,3; 11,8 u. v. m.) Akzeptiert man diese Deutung, lässt sich das Böse immerhin in das Gottesbild eines Erziehungsberechtigten integrieren, da konsequentes, auch strafendes Handeln in der Erziehung durchaus seinen Platz haben kann. Zum Bild eines liebenden Vaters passt dieser Zug schon weniger. Auch das Maß, das hier aufgerufen wird, ist natürlich zu drastisch und sprengt die Kategorien der Erziehung. Kriegerische Aktionen als pädagogische Mittel zu verstehen, ist sicherlich in der Gegenwart nicht mehr akzeptabel. Außerdem schließen sich weitere Fragen an dieses Schema an. Stellt es nicht eine gewisse Form der Hybris dar, jede Form des Bösen auf sich selbst zurückzuführen? Es scheint wie eine verquere Form des 34 Egozentrismus, das eigene Handeln als Ursache göttlichen Zorns zu deuten und damit sich selbst permanent die Schuld am Bösen zuzuschreiben. Können nicht auch mal die Anderen schuld sein? Und umgekehrt verführt dieses Deuteschema dazu, sich selbst als „gut“ und „fromm“ anzusehen, wenn man selbst gerade nicht leidet. Soll jede Krankheit auf Schuld und Sünde zurückgeführt werden? Trotzdem ist das Schema von „Ursache-Wirkung“ bzw. „Tun-Ergehen“ immer noch häufig anzutreffen. Viele Menschen fragen: „Was habe ich getan, um das zu verdienen? “ Das Buch Hiob Deshalb ist das Buch Hiob in diesem Rahmen so hilfreich. Es bricht mit dem „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ und verbietet deshalb eine einfache Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Bösen. Es lenkt den Blick in Richtung Gott. Allerdings lässt sich das Handeln Gottes nun nicht mehr verstehen. Gott und der Satan nehmen Hiob nach und nach seinen Besitz, seinen Reichtum, seine Familie, schließlich setzen sie ihm auch körperlich zu. Das Leiden Hiobs wird auf die Spitze getrieben und sein Glaube auf diese Weise getestet. Hiob verzweifelt und verflucht den Tag seiner Geburt (Hi 3,2). Nun treten Freunde auf, die exemplarisch alle gängigen Deutungen des Leidens ausbreiten und ihm als Erklärung vorschlagen: Der Tun-Ergehen-Zusammenhang wird angesprochen. Bedenke: Wann ist je ein Schuldloser umgekommen, und wo wurden Aufrechte je vernichtet? (Hi 4,7) Es gilt die Prämisse, dass Gott auf jeden Fall gerecht handelt. Die Schuld muss also bei Hiob gesucht werden. Aber Hiob weist die Deutungen seiner Freunde zurück. Er akzeptiert zwar, dass Gott nur eine bestimmte Zeit strafe und dass Buße immer und grundsätzlich angebracht sei, aber in seinem Fall besteht er auf seine 35 Unschuld. Er will zwar sterben, aber nicht anerkennen, dass er durch mangelnde Frömmigkeit gegen Gott sich schuldig gemacht hat. Er ruft deshalb Gott selbst zum Zeugen seiner Unschuld auf: Gott möge mich wiegen auf rechter Waage, so wird er erkennen meine Unschuld! (Hi 30,6) Das Problem bleibt damit bestehen. Die traditionellen Deuteschemata haben versagt. Bevor Gott schließlich selbst zu Wort kommt, tritt ein weiterer Freund Hiobs auf, Elihu, der Gott verteidigt und sich auf ein Motiv bezieht, das bereits angesprochen wurde: Siehe, selig ist der Mensch, den Gott zurechtweist; darum widersetze dich der Zucht des Allmächtigen nicht. (Hi 5,17) Das Leiden Hiobs soll demnach positiv angenommen werden. Das Böse wird hier zur Auszeichnung erklärt. Durch böse Träume würde Gott den Menschen warnen und ihn retten (Hi 33,17-18). Schließlich ergreift Gott selbst das Wort. Er eröffnet seine Rede aus dem Sturm und wendet sich an Hiob: Wer behauptet, mein Walten sei finster, und redet ohne Einsicht? 3-Gürte deine Lenden wie ein Mann, dann will ich dich fragen, und du lehre mich! (Hi 38,2-3) Diese Eröffnung stellt eine ironische Provokation dar, die Gott während der ganzen Rede durchhält. Er zeigt Hiob damit seinen begrenzten menschlichen Horizont auf. Wo warst du, als ich die Erde gegründet habe? Rede, wenn du es weißt! 5-Wer hat ihre Masse bestimmt? Weißt du es? Und wer hat die Messschnur über sie gespannt? (Hi 38,4-5). Eine Reihe solcher Fragen machen deutlich, dass Hiob sich nicht an die Stelle Gottes setzen kann. Der Hinweis auf die Schöpfung und Gottes Wirken in der ganzen Welt demonstriert Gottes Über- 36 legenheit und verweist Hiob auf seinen Platz. Die Rede Gottes besteht aus vielen rhetorischen Fragen und läuft letztlich auf die Unterscheidung von Gott und Mensch hinaus. Dies erinnert an die Rede Gottes bei Jesaja: Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, Spruch des HERRN , 9-denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so viel höher sind meine Wege als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. (Jes 55,8-9). Gott ist so souverän, dass der Mensch nicht mit ihm streiten, nicht über ihn urteilen kann. Er kann ihn nicht erfassen, dazu ist er zu gering. So fragt Gott nach den Ausführungen und Beispielen seiner Majestät Hiob schließlich: Willst du wirklich mein Recht bestreiten, mich schuldig sprechen, damit du Recht bekommst? (Hi 40,8) Am Ende zeigt die Rede Gottes Wirkung. Hiob ist beeindruckt von dessen Stärke und gibt nach: Ich weiß, dass du alles vermagst. Nichts, was du willst, ist dir unmöglich. 4-Höre, und ich will reden, ich will dich fragen, und du lehre mich! 5-Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich gesehen. 6-Darum gebe ich auf und tröste mich im Staub und in der Asche. (Hi 42,2.4-6) Die Lösung des Hiob-Buches ist im Grunde nur der Verweis auf das souveräne Wesen Gottes. Der Mensch kann Gottes Wege nicht erfassen, weil er als Geschöpf den Schöpfer nicht begreifen kann. Deshalb kann er auch nicht verstehen, warum es das Böse gibt. Der Mensch ist wie Ton in der Hand Gottes, der bei dem Propheten Jeremia mit einem Töpfer verglichen wird: Kann ich mit euch nicht verfahren wie dieser Töpfer, Haus Israel? Spruch des HERRN . Seht, wie der Ton in der Hand des Töpfers, so seid ihr in meiner Hand, Haus Israel. (Jer 18,6) 37 Positiv gewendet bedeutet diese Erkenntnis: Das Böse lässt sich nicht unter allen Umständen erklären oder wegdiskutieren. Es widersetzt sich jeder Deutung. Im Rahmen des Monotheismus wird dadurch geklärt, dass Gott wirklich für alles, was geschieht, in irgendeiner Weise verantwortlich ist. Er kann im Hinblick auf das Böse nicht entschuldigt werden, weil sich der Mensch dadurch über ihn erheben und an seine Stelle treten würde. Er müsste mehr von der Welt und der Geschichte erkennen als Gott selbst, um Gott von seiner Verantwortung für das Böse freisprechen zu können. Er müsste einen tieferen Sinn finden und würde dadurch schließlich in Gottes Vorsehung eindringen. Doch dass der Mensch den Sinn des Bösen nicht verstehen kann, ist gerade der Beweis für die göttliche Vorsehung. Das Buch Hiob bietet als Handlungsoption angesichts des Leidens an, dass der Mensch auf Gott gerade dann vertraut, wenn er sein Schicksal nicht mehr deuten kann. Es ist eine Haltung der Gelassenheit: Nackt bin ich gekommen aus dem Leib meiner Mutter, und nackt gehe ich wieder dahin. Der HERR hat gegeben, der HERR hat genommen, der Name des HERRN sei gepriesen. (Hi 1,21) Am Ende der Erzählung bekommt Hiob mehr als er am Anfang hatte. Er wird als frommer Mann belohnt. Dieses Happy End kann aber über den harten Kern des Buches nicht hinwegtrösten. Das Böse kommt von Gott-- und damit muss man umgehen. Joh 9 Im Neuen Testament wird eine Erkenntnis des Hiobbuches aufgenommen und bekräftigt. Der „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ ist kein Schema, mit dessen Hilfe man das Böse deuten kann. Im Johannesevangelium treffen Jesus und seine Jünger auf einen 38 Menschen, der blind geboren wurde. Hier stellt sich im Rahmen des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ und seiner Suche nach der Schuld natürlich eine Frage, die die Jünger auch äußern: Rabbi, wer hat gesündigt, er oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde? 3- Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. (Joh 9,2-3) Wie soll ein Mensch, der blind geboren wurde, vorher gesündigt haben, um dieses Schicksal zu verdienen? Will man solche Spekulationen verfolgen, müsste man vielleicht an Gen 25,22 denken, an den Kampf, den Esau und Jakob bereits im Mutterleib austragen. Dies scheint allerdings nicht besonders plausibel. Die zweite Möglichkeit, nämlich, dass die Eltern gesündigt haben und die Kinder die Strafe der Sünde erleiden, dürfte besser belegt sein. So kennt und überliefert der Prophet Ezechiel ein Sprichwort in Israel: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. (Ez 18,2) Dies könnte der Hintergrund der Frage sein. Allerdings ist dies bereits bei Ezechiel selbst umstritten: So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR : Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. 4 Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben. (Ez 18,3-4) Im Johannesevangelium wird dies klar verneint. Jesus weist seine Jünger zurecht und so wird für den Leser klar, dass die Blindheit des Menschen keine Strafe Gottes ist, sondern als Symbol für die Blindheit gegenüber Gott bzw. Jesus zu verstehen ist. Auf der Textebene heilt Jesus die Blindheit, auf der übertragenen Ebene öffnet er dem Leser die Augen für Gott. 39 Gott erschafft das Böse: Deuterojesaja Im Alten Testament ist also deutlich, dass Gott die Schuld am Bösen nicht abstreifen kann. Bei Hiob spielt er in der Rahmenhandlung eine sehr unrühmliche Rolle, wenn er gewissermaßen aus einer Laune heraus die Prüfung Hiobs durch den Satan initiiert. Im Grunde ist Gott unmittelbar schuld am Leiden Hiobs. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der Prophet „Deuterojesaja“, der für die Entwicklung des Monotheismus (s. o.) eine bedeutende Rolle spielt. Deuterojesaja führt die Frage nach dem Bösen in diesem Kontext aus. Wenn es nur einen Gott gibt, ist es logisch, dass alles in seiner Verantwortung liegt. Deuterojesaja formuliert deshalb in radikaler Konsequenz: Ich bin der Herr, und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut. (Jes 45,6-7) Die Besonderheit dieser Einsicht liegt im Gebrauch der Verben, die alle das Handeln Gottes als Schöpfer im Blick haben. Die Verben charakterisieren Gott damit als denjenigen, der einst die Welt erschaffen hat, der sich aber durch eine fortwährende Schöpfung weiterhin definiert. Gott hat das Böse nicht einmal zugelassen und von da an verbreitet es sich selbständig, sondern Gott erschafft das Böse auch immer wieder-- genauso wie er das Gute erschafft. Vor allem das Verb „schaffen“ ist dabei besonders auf Gott konzentriert. Im Alten Testament kommt nur Gott dieses Verb zu, keine andere Macht kann „erschaffen“. Niemand anderes ist also für das Böse verantwortlich als Gott allein, er ist derjenige, der alles, was geschieht, in seinen Händen hält. Die Konstruktion des Satzes zeigt zudem, dass der Akzent der Aussage auf dem Erschaffen des Bösen durch Gott liegt. Es scheint fast so, als wollte der Text besonders 40 betonen, dass Gott das Böse bewusst und gezielt geschaffen hat. Diese radikale Aussage lässt sich im Kontext der Botschaft Deuterojesajas und in Aufnahme der Gedanken von Propheten wie Amos oder Hosea verstehen. Diese haben Israel vor dem Gericht gewarnt, das in Form des babylonischen Exils eingetreten ist. Sie haben ihre Warnung mit den Verfehlungen Israels begründet. Deuterojesaja hat das Exil erlebt und er stellt sich der Aufgabe, es nun zu deuten. Das Böse, das Israel also jetzt erlebt, ist von Gott geschaffen. Es ist die Konsequenz des eigenen Verhaltens. Insofern deutet Deuterojesaja das Exil als Strafe Gottes und gewinnt ihm so einen Sinn ab. In dieser Perspektive lässt der Prophet Gott selbst zu Wort kommen und das Exil erklären: Ich, ich bin es, der deine Vergehen tilgt, um meinetwillen, und an deine Sünden werde ich nicht mehr denken. 26-Zeige mich an! Wir wollen miteinander rechten, berichte du, damit du Recht bekommst. 27- Schon dein frühester Vorfahr hat gesündigt, und deine Wortführer haben mit mir gebrochen. 28-Und so habe ich die Fürsten des Heiligtums entweiht, um Jakob der Vernichtung preiszugeben und Israel den Schandreden. (Jes 43,25-28) Deuterojesaja spielt hier auf den Betrug Jakobs in Gen 27 an und stellt ihn als Beispiel des allgemeinen frevelhaften Handelns Israels dar. Gleichzeitig tröstet diese „Strafaktion“ Gottes das Volk auch, weil damit bewiesen ist, dass Gott weiterhin die Macht hat, die Geschicke seines Volkes zu lenken. Damit ist der radikale Gedanke, dass Gott gerade auch das Böse schafft, eingezogen in den übergeordneten Zusammenhang des Trostes. Gott ist weiterhin im Regiment, auch wenn Israel seinen irdischen Krieg verloren hat. Irdische Geschehnisse beeindrucken Gott nicht, er hält an seinem Plan fest und hat dazu auch die Macht: Denkt daran, und verhaltet euch wie Männer, ihr Abtrünnigen, nehmt es zu Herzen! 9-Denkt an den Anfang, an das, was schon immer war: Ich bin Gott und keiner sonst, ich bin Gott, und meinesgleichen gibt es nicht: 10-Der von Anfang an kundtut, wie es endet, und schon in frühester Zeit, 41 was noch ungeschehen ist, der sagt: Was ich geplant habe, wird sich erfüllen, und was immer mir gefällt, das führe ich aus, 11-der ich den Raubvogel rufe vom Aufgang der Sonne, aus einem Land in der Ferne den Mann meines Plans. Ich habe gesprochen! Ich lasse es kommen! Ich habe es entworfen, ich führe es aus! (Jes 48,8-10) So führt Deuterojesaja schließlich wieder zurück zu Gottes Plan für Israel. Es ist in der Tat eine Trostbotschaft, die er vermittelt. Allerdings bleibt für unseren Zusammenhang auch unwidersprochen, dass Gott derjenige ist, der das Böse schafft. Es gibt sonst niemanden, der dafür verantwortlich ist. Damit formuliert Deuterojesaja die klarste Antwort, die im Rahmen des Monotheismus möglich ist. Gleichzeitig ist dies die Antwort, die in ihrer Konsequenz auch wenig befriedigend ist. Warum schafft Gott das Böse? Weil er es kann und er es will. Eine uns befriedigende Antwort hat der Prophet demnach nicht. Die Möglichkeit des Bösen: Adam und Eva (Gen 3) Hiob und Deuterojesaja stimmen darin überein, dass Gott souverän ist und es keine Antwort darauf gibt, warum Gott das Böse permanent erschafft. Eine etwas andere Position nehmen die Erzählungen der Genesis ein. Vor allem die Erzählungen vom „Sündenfall“ (Gen 3) und die Geschichte von Kain und Abel (Gen 4) sind hier wichtig. Beide Erzählungen sind in ihrem Aufbau recht ähnlich. Eine Situation wird geschildert, die durch eine Übertretung gestört wird. Es folgt jeweils ein Dialog zwischen Mensch und Gott, an dessen Ende eine Konsequenz steht. Beide Erzählungen fragen danach, wie das Böse in die gute Schöpfung Gottes einbrechen konnte. Während die Paradieserzählung allerdings erzählt, wie die Möglichkeit des Bösen in die Welt gekommen ist, erzählt die Geschichte des Brudermordes, wie das Böse durch den Menschen realisiert wurde. 42 Zunächst muss im Hinblick auf beide Erzählungen festgehalten werden, dass es sich um Geschichten handelt, die erzählen, warum die Welt so ist, wie wir sie kennen. Es geht weder in erster Linie um naturwissenschaftliche Erklärungen noch um historische Berichte, die Erzählungen verleihen der Welt, in der ihre (ersten) Leser leben, einen Sinn. Sie sind Mythen des Anfangs, wie sie in vielen anderen Kulturen auch zu finden sind. Dies ist besonders deutlich vom Ende der Paradiesgeschichte her zu sehen. Gott verflucht die Protagonisten der Erzählung zu dem Leben, das der antike Mensch führt. Schlangen sind für ihn gefährlich, die Frau gebärt unter Schmerzen und der Mann muss arbeiten, um zu leben. Grundkonstanten des Lebens werden durch die Erzählung erklärt. Die Erzählung will also in erster Linie gar nicht schildern, wie das Böse in die Welt gekommen ist. Sie will die Welt an sich deuten. Deshalb ist auch die Schlange nicht die Personifikation des Bösen an sich, schon gar nicht ist sie mit dem Teufel in Verbindung zu bringen, sondern sie dient in der Erzählung als Figur, die das Geschehen in Gang bringt. Die Schlange tritt als besonders kluges Wesen auf, das eine Aporie in Gottes Schöpfung aufdeckt. Warum hat Gott den Menschen das Wissen um Gut und Böse vorenthalten? Die Erzählung widerspricht dieser Frage nicht, sondern macht sie zum Einfallstor der Verführung. Liegt damit die Schuld am Bösen nicht doch wieder bei Gott selbst? Der Mensch, der sich stets bemüht, Wissen anzusammeln und zu forschen, wird vor allem durch die Frau verkörpert. Sie sucht nach Einsicht in ihr Dasein und greift deshalb zum verbotenen Baum der Erkenntnis. Sofort bricht das Paradies zusammen. Der Mensch wird sich seiner Individualität bewusst, seiner Schutzlosigkeit, seiner Schamhaftigkeit. Allerdings gewinnt er auch das Urteilsvermögen über Gut und Böse, er kann zwischen Dingen unterscheiden, die dem Leben dienlich und die ihm schädlich sind. Man kann auch sagen: Der Sündenfall ist eine Art 43 Emanzipationsgeschehen, der Mensch wird erwachsen. Allerdings neigt er nach dem Urteil des Textes dazu, seine neue Fähigkeit eher zum Schlechten einzusetzen. Dies wird im Dialog zwischen Gott und den Menschen deutlich, wenn sofort die Verantwortung weitergereicht wird. Die Schuld der Übertretung will niemand auf sich nehmen. Der Mann wälzt die Schuld auf die Frau und sogar auf Gott selbst ab, schließlich hat Gott ihm die Frau gegeben (Gen 3,12). Der Mensch wird im Paradies also erwachsen und macht dabei keine gute Figur. Er muss es deshalb verlassen. Und so beginnt die Welt, wie wir sie kennen-- so gut und so schlecht sie ist. Der Mensch lebt nicht mehr im Paradies und hat sich das selbst zuzuschreiben. Aber er lebt trotzdem weiterhin mit Gott. Diese Ambivalenz der menschlichen Existenz ist der Zielpunkt der Paradieserzählung. Gleichzeitig wird damit im Gegensatz zu Deuterojesaja der Anfang des Bösen auf einen Punkt gebracht. Die Möglichkeit des Bösen ist jetzt gegeben. Der Mensch kann nun das Böse und das Gute wählen. Dass er dies in der Regel leider auch tut, zeigt sogleich die Geschichte der Brüder Kain und Abel. Während bei Deuterojesaja Gott also ständig und immer wieder das Böse schafft, liegt der Einbruch des Bösen hier in der Vergangenheit, die allerdings ständig aktuell ist und uns bestimmt. Gott schafft das Böse nicht, sondern er hat die Möglichkeit des Bösen zugelassen. Sie ist der Preis der menschlichen Selbstbestimmung, der Preis des Erwachsenwerdens. Dass die Welt so ist, wie sie ist, also gegenüber dem Paradies eine Daseinsminderung darstellt, die z. B. durch eine patriarchale und machtorientierte Gesellschaft gekennzeichnet ist, lässt sich also auf das Handeln der ersten Menschen zurückführen. Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, ist demnach Folge des Falls und eigentlich nicht „schöpfungsgemäß“. Auch wenn Adam und Eva als literarische Figuren natürlich keine Wahl hatten, so ist die Frage nach dem Bösen doch anders beantwortet: Gott ist nicht der, der das Böse schafft. Er hat es lediglich zugelassen. Und von 44 diesem ersten Punkt her breitet es sich selbständig aus. Es wird zur Macht der Sünde und der Mensch realisiert sie eher, als dass er ihr widerstehen kann. Die Realisierung des Bösen: Kain und Abel (Gen 4) Dies zeigt die folgende Erzählung deutlich. Die berühmte Erzählung des ersten Mordes der Weltgeschichte schildert einen unvorstellbaren Brudermord. Kain und Abel, wahrscheinlich sogar Zwillingsbrüder (Gen 4,2), führen dem Leser vor, was daraus wird, wenn der Mensch die Möglichkeit zum Bösen bekommt. Gott spielt auch in dieser Erzählung nicht unbedingt eine positive Rolle. Es beginnt damit, dass er das Opfer von Kain nicht annimmt, das von Abel allerdings akzeptiert. Der Text lässt vollkommen offen, warum Gott dies tut. Auch hier ist deutlich: Gott ist souverän und unberechenbar. Dies erinnert an Ex 33,19: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Gottes Handeln ist nicht zu verstehen. Die Erzählung ruft damit in Erinnerung, dass es Situationen im menschlichen Leben gibt, die himmelschreiend ungerecht sind, die aber trotzdem bewältigt werden wollen. Aber nicht so wie Kain die Situation angeht. Die unerklärliche Nichtbeachtung des Opfers von Kain treibt einen Spalt zwischen die Brüder. Kain wird zornig. Daraufhin spricht Gott mit Kain und fragt ihn, warum er zornig sei. Dies liest sich wie eine Provokation Gottes, dient aber der Erzählung dazu, deutlich zu machen, dass die Souveränität Gottes dem Menschen wie blindes Schicksal vorkommen kann. Die Erfahrung von Zufall und Scheitern muss bewältigt werden, ohne sich dabei dem Bösen hinzugeben. Der Text warnt, dass gerade solche Erfahrungen das Einfallstor des Bösen, der Sünde sein können. Gott will, dass Kain 45 die Sünde, die wie eine böse Macht auf ihn lauert, beherrscht und ihr nicht nachgibt. Aber dies gelingt ihm nicht. Er tötet seinen Bruder aus Zorn und Neid auf Gottes Achtsamkeit. Auch hier schwingt die Frage nach Gottes Schuld mit. Wie er den Menschen im Paradies nicht alles mitgeteilt hat, so bewirkt er ja durch sein Handeln erst das Motiv des Neids. So klingt die Schuld Gottes an diesem Mord in der Frage Kains durchaus an: „Bin ich denn der Hüter meines Bruders? “ (Gen 4,9) Man hört die Nachfrage direkt mit: „Bist du, Gott, nicht der Hüter meines Bruders? Und hast du nicht versagt, ihn zu beschützen? Hast du mich nicht zu diesem Mord provoziert? “ Aber der Erzählung geht es nicht um das Einfühlungsvermögen Gottes, sondern sie will zeigen, wie das Böse durch den Menschen realisiert wird. Dem Text geht es also um die Beschreibung der menschlichen Realität. Zugleich ist Kain als schlechtes Beispiel vorgestellt, als Mensch, der es nicht schafft, die Sünde zu beherrschen. So lassen sich beide Texte, die Paradiesgeschichte und die Brudermordgeschichte, als Mythen lesen, die erklären, warum die Welt, in der wir leben, kein Paradies mehr ist. Der Mensch hat nun die Wahl und der Text vermutet, dass wir eher zum Bösen tendieren als zum Guten. Damit formuliert er einen gewissen geistesgeschichtlichen Konsens. Sowohl der antike römische Dichter Ovid („Ich sehe das Bessere, heiße es gut und mache das Schlechtere“; Metamorphosen VII 20b / 21a) als auch der Apostel Paulus (Röm 7,19: „Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, das treibe ich voran.“) stimmen dem zu. Fazit Das Alte Testament scheut in der Regel nicht davor zurück, sowohl das Gute wie auch das Böse auf Gott zurückzuführen. Dies ist im Rahmen des Monotheismus einsichtig und alle weiteren 46 Antworten auf die Frage nach dem Bösen werden immer wieder zu dieser Antwort zurückkehren müssen. Allerdings versucht das Alte Testament, das Böse auch zu erklären und Gott damit in gewisser Weise in Schutz zu nehmen. Wenn das Böse eine Strafe ist, hat es zumindest einen Sinn. Schuld daran ist dann eigentlich nicht mehr Gott, der diese Strafe ja nur verhängt, weil Israel uneinsichtig ist. Im Grunde ist also Israel an seiner Strafe selbst schuld. Diesen Grundsatz durchbricht das Buch Hiob und andere Hinweise im Alten Testament. Manchmal ist das Böse einfach auch in Gottes Souveränität verborgen und es ist unmöglich, einen Sinn darin zu finden. Hier entsteht die Herausforderung, es anzunehmen und damit umzugehen. Die einzige Antwort in einer solchen Situation bleibt die Klage. Sie ist dann die richtige Redeform. Letztlich stellt das Alte Testament dadurch klar: Gott ist verantwortlich für das Böse, es gibt keine andere Kraft neben ihm, die das Böse verantworten kann. Gott ist schuld. Warum, wissen wir nicht, aber da ist sonst niemand, der es sein kann. In den Erzählungen der Genesis zeichnet sich allerdings ein anderer Weg ab. Hier haben Adam und Eva scheinbar die Wahl. Ein Gedankenexperiment kann hier seinen Ausgang nehmen: Was wäre, wenn die beiden nicht das Gebot Gottes übertreten hätten? Zwar ist so eine Frage unsinnig-- Adam und Eva handeln, wie der Autor seine Figuren handeln lässt,-- trotzdem keimt ein Verdacht auf: Ist der Mensch vielleicht schuld am Bösen? Liegt es in seiner Verantwortung? 47 4. Der Mensch ist schuld! Fragen, die mit „was wäre gewesen, wenn“ beginnen, sind immer nur hypothetischer Natur. Insbesondere verlieren sie dann ihre Relevanz, wenn sie zu reinen Gedankenspielen werden. Wer also fragt, was geschehen wäre, wenn Adam im Paradies die Frucht vom Baum der Erkenntnis nicht gegessen hätte, stellt eine im Grunde unzulässige Frage. Da es sich um einen Text handelt, stellen Adam und Eva literarische Figuren dar, die sich nicht entscheiden können, sondern das tun, was der Autor sie tun lässt. Und da es sich bei den ersten Erzählungen der Genesis zum großen Teil um Ätiologien handelt, also um Erzählungen, die erklären, warum das Leben so ist, wie es ist, stellt es ein reines und irrelevantes Gedankenspiel dar, zu fragen, ob ein anderer Ausgang der Geschichte möglich gewesen wäre. Trotzdem haben viele Theologen im Laufe der Kirchengeschichte hierüber spekuliert. Adam und der Sündenfall Das Gedankenexperiment, das sie interessiert hat, ist der Unterschied zwischen Adam und uns. Der Unterschied wird im Verhältnis zur Sünde gesehen. Adam wäre demnach der erste und einzige Mensch gewesen, der die Möglichkeit hatte, nicht zu sündigen (auf lateinisch lässt sich dies schön knapp ausdrücken: posse non peccare). Nach seinem Fall, nach seiner Sünde aber sei diese Möglichkeit nicht mehr gegeben. Ich-- als Mensch heute-- habe die Möglichkeit, nicht zu sündigen, nicht mehr (non posse non peccare). Ich befinde mich also in einer Art Kollektivsünde. Die erste Sünde des Menschen hat alle Menschen grundsätzlich zu Sündern gemacht. Aus diesen Gedankengängen entwickeln Theologen in den ersten Jahrhunderten des Christentums die Lehre von der „Erbsünde“. 48 Durch und in Adam-- wenn man ihn als Prototyp des Menschen an sich verstehen darf-- sind alle Menschen zu Sündern geworden und bedürfen der Gnade Gottes. Vor allem der Apostel Paulus bringt dies in seiner Theologie vehement auf den Punkt, wenn er Psalm 14 in seinem Brief an die Römer zitiert: Keiner ist einsichtig, keiner fragt nach Gott. 12 Alle sind sie von ihm abgefallen, allesamt sind sie verdorben. Es gibt keinen, der etwas Gutes tut! Auch nicht einen Einzigen! (Röm 3,11-12) So weist er auf, dass alle Menschen auf die Vergebung in Christus angewiesen sind und nur durch ihn Hoffnung haben können. Erst in der späteren Kirchengeschichte wird aber das, was Paulus hier behauptet, zu einer wirklichen Lehre ausgebaut und die Sünde mit der biologischen Abstammung des Menschen begründet. Dass der Mensch in seinen Entscheidungen eher zur Selbsterhaltung als zum Altruismus neigt, also eher zur Selbstdenn zur Nächstenliebe, wird in biblischer Perspektive als Tatsache behauptet. Dass es sich dabei um ein Verhängnis handelt, das mit dem Mensch-Sein gegeben ist, dies wird erst die spätere Theologie konstatieren. Für unseren Zusammenhang ist diese Lehre von der Erbsünde weniger interessant als die Deutung und Wirkungsgeschichte von Gen 3. Bereits gezeigt wurde, dass die Erzählung keine Antwort auf die Frage nach dem Bösen von sich aus geben will. Das Handeln der Schlange wird nicht erklärt. Im Grunde weist sie nur auf bewusste Leerstellen in der Schöpfung Gottes hin. Warum sollen die Menschen eigentlich nicht Böses und Gutes unterscheiden können? Man muss sich hier immer wieder in Erinnerung rufen, dass diese Erzählung von der Faktizität der antiken Lebensverhältnisse geprägt ist, die ihren Rahmen bestimmen. Es muss auf die Welt hinauslaufen, in der die Leser leben, diese Welt muss erklärt werden. Warum sie so ist, wie sie ist, kann dabei nicht bis ins letzte Detail erklärt werden. So bleibt die Frage nach der Herkunft des Bösen offen. Man kann allerdings auf die Figur Gottes blicken, 49 der in pädagogischer Hinsicht mit dem ausdrücklichen Verbot, von diesem Baum nicht zu essen, einen Fehler macht. Gerade das Verbotene reizt für gewöhnlich. Auch seine Entscheidung, den Menschen das Wissen um Böses und Gutes vorzuenthalten, weist ihm die Verantwortung zu. Die fehlende Begründung des Verbots ist eine Leerstelle der Erzählung und wird als Einfall der Verführung in das Paradies genutzt. Auch die fehlende Konsequenz Gottes fällt auf und wirft erziehungstechnisch kein gutes Licht auf ihn. Die Menschen sterben nicht nach dem Genuss der Frucht, sondern ihnen gehen die Augen auf, was im Alten Testament eigentlich etwas Positives ist. Weiter fällt auf, dass Gott zwar die Menschen in der Geschichte zur Rede stellt, die Schlange aber nicht befragt wird. Das wäre aber für die Frage nach dem Bösen doch entscheidend. Hier müsste Gott ansetzen. Man bemerkt also, dass die Schlange lediglich als Figur interessant ist, die die Geschehnisse ins Rollen bringt. Sie gibt aber keine Auskunft über das Böse. Das Böse bleibt in Gen 3 entweder ungeklärt oder bei Gott verhaftet. Die Wirkungsgeschichte wird Gott aber davon entschuldigen. Die Geschichte vom „Sündenfall“ kann dementsprechend unter zwei verschiedenen Antworten auf die Frage nach dem Bösen gelesen werden. Bereits gezeigt wurde die erste Antwort: Gott ist schuld. Die Wirkungsgeschichte des Textes setzt aber eher auf die zweite Antwort: Der Mensch ist schuld. Er hätte schließlich die Möglichkeit gehabt, der Verführung zu widerstehen, er hätte nicht sündigen müssen. Aber er hat es faktisch getan und damit das Böse in der Welt realisiert. Er hat nicht nur die Möglichkeit zum Bösen geschaffen (wie bislang gezeigt), sondern er hat auch selbst gesündigt-- indem er von der verbotenen Frucht gegessen hat. Breit aufgenommen ist die Antwort, dass der Mensch am Bösen schuld sei, in der weiteren Theologiegeschichte. Exemplarisch für die jüdische Entwicklung steht das 4. Buch Esra, die Theologie des Apostels Paulus steht für die christliche Rezeption dieser Antwort. 50 Das 4. Buch Esra Die um 100 n. Chr. entstandene und in christlichen Kreisen überlieferte Schrift, die den Namen „4. Buch Esra“ bekommen hat, ventiliert besonders deutlich, dass Adam an allem schuld ist: Ach, Adam, was hast du getan? (4. Esr 7,118) * Adam hat die Anordnung Gottes übertreten. Er trug ein böses Herz in sich (4. Esr 3,21). Von ihm ausgehend verbreitet sich das Böse wie eine Krankheit über die Erde (4. Esr 3,22). Durch ihn hält das Böse Einzug in die Welt (4. Esr 4,30). Jeder Mensch hat von Anfang an verloren, weil Adam gesündigt hat. Der Text kommt zu dem Ergebnis: Es wäre besser gewesen, die Erde hätte Adam nicht hervorgebracht. (4. Esr 7,116) Allerdings gäbe es dann auch keine anderen Menschen, auch Esra nicht. Deshalb setzt er hinzu: Wenn die Erde Adam schon hervorbringen musste, dann hätte sie verhindern müssen, dass Adam sündigt (4. Esr 7,116). Das Problem, dem sich der 4. Esra stellt, ist die Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. Wie konnte dies dem auserwählten Volk nun schon zum zweiten Mal widerfahren? Der Held der Erzählung, der Prophet Esra, fragt nach dem Schicksal des von Gott auserwählten Volkes. Das grundsätzliche Problem ist also die nicht mehr gelingende Sinndeutung der Welt. Esra klagt Gott an: Da hast du deine Stadt den Händen deiner Feinde ausgeliefert. (4. Esr 3,27) Warum hat Gott dies getan? * Der Text des 4. Esr wird nach der Übersetzung von Josef Schreiner, Das 4. Buch Esra, JSHRZ V / 4, Gütersloh 1981, zitiert. 51 Weshalb ist Israel zur Schmach den Heiden ausgeliefert, das Volk, das du geliebt hast, gottlosen Völkern? (4. Esr 4,23) Vielleicht verdient Rom zu siegen, weil seine Bewohner die besseren Menschen sind (4. Esr 4,28)? Dies wird verneint und so das Problem noch verschärft (4. Esr 4,31ff). Es gibt keine innerweltliche Erklärung für das Geschehen. Ähnlich wie bei Hiob wird auch Esra auf die Souveränität Gottes hingewiesen. Wieder wird dies mit Hilfe von rhetorischen Fragen erreicht: Geh, wiege mir das Gewicht des Feuers und miss mir das Maß des Windes, oder ruf mir den Tag zurück, der vergangen ist. (4. Esr 4,5) Die erste Antwort wird demnach formuliert: Du kannst schon das nicht erkennen, was dein und mit dir verwachsen ist, wie kann deine Fassungskraft den Weg des Höchsten erfassen? (4. Esr 4,10f) Im Rahmen der theologiegeschichtlichen Strömung, die sich „Apokalyptik“ nennt, wird Esra auf ein kommendes Zeitalter hingewiesen, das seine Fragen beantworten und zeigen wird, dass die Erwählung Gottes Bestand hat. Für die Frage nach dem Bösen ist aber der Fall Adams im Zentrum der Aufmerksamkeit. Deutlich konstatiert Esra, dass Gott als Schöpfer alles geschaffen haben muss. Er hat also auch Adam gemacht, allerdings-- offensichtlich-- nicht perfekt: Herr, Herrscher, du hast doch am Anfang, als du ganz allein die Erde gebildet hast, gesprochen und hast dem Staub befohlen, dass er Adam als leblosen Körper hergebe. Aber auch dieser war ein Gebilde deiner Hände. Du hast ihm den Lebensatem eingehaucht. Da wurde er lebendig vor dir. Du hast ihn in das Paradies geführt, das deine Rechte gepflanzt hatte, bevor die Erde kam. Du hast ihm ein einziges Gebot gegeben; er hat es übertreten. Und sofort hast du den Tod über ihn und seine Nachkommen verhängt. (4. Esr 3,4-7) Klar ist demnach: Gott ist nicht ganz unschuldig am Bösen. Hätte er Adam nicht besser machen können? Und hätte er dann wenigs- 52 tens nicht nach der Übertretung des Gebots ein wenig gnädiger handeln können? Musste er sofort-- ohne Bewährung-- über alle Menschen den Tod als Strafe verhängen? Hier zeigt sich, was auch in der christlichen Theologie angenommen wird: Der Tod ist nicht einfach das biologische Ende des Lebens, er ist eine Strafe, er ist der ultimative Feind des Lebens. Im Paradies gab es keinen Tod. Erst durch Adam ist er in die Welt gekommen. Aber warum hat Adam das Gebot übertreten? Die Genesis gibt darauf keine Antwort. Der 4. Esra bemüht sich immerhin. Adam hat gesündigt, „weil er nämlich ein böses Herz in sich trug.“ (4. Esr 3,21) Das ist der Grund seiner Tat. Und gleichzeitig ist es das Verhängnis aller Menschen. Alle, die von Adam abstammen, haben auch das böse Herz in sich. So entstand eine dauernde Krankheit: das Gesetz im Herzen des Volkes zusammen mit der Wurzel des Bösen. (4. Esr 3,22) Das böse Herz ist der Grund, warum der Mensch sich nicht dem Guten zuwendet, sondern weiterhin sündigt. Adam ist schuld an der Sünde, aber warum er ein böses Herz in sich trägt, bleibt wiederum offen. Dass er es in sich trägt und dies auch all seinen Nachkommen vermacht hat, erklärt, warum es so viel Böses in der Welt gibt. Das böse Herz erklärt letztlich für den 4. Esr die Zerstörung Jerusalems. Diese Welt ist böse und in ihr ist vom Menschen nichts Gutes zu erwarten. Erst durch Gottes Eingreifen in die Welt werden die Gerechten ihre Belohnung erhalten. Esra führt das Böse also auf das böse Herz im Menschen zurück. Aber wie es dahin gekommen ist, bleibt explizit offen, lässt sich aber implizit leicht schließen: Da Gott den Menschen erschaffen hat, muss er das böse Herz auch miterschaffen haben. Aber warum er das gemacht hat, kann man nicht sagen. Letztlich verweist diese Antwort im Grunde wieder zurück zu der ersten Antwort, dass Gott schuld am Bösen ist. Allerdings in einer deutlich abgeschwächten Variante, die zunächst Adam als dem Urvater des Menschen die Schuld zuweist. 53 Paulus Während der 4. Esra davon spricht, dass der Mensch durch den Fall Adams eine Krankheit in sich trägt (4. Esr 3,22), vertritt ein Text, der aus der gleichen Zeit stammt und aufgrund seiner Überlieferungsgeschichte der „Syrische Baruch“ (syrBar) genannt wird, * dazu eine andere Meinung. Auch hier ist klar, dass Adam als erster Mensch gesündigt und so den Tod für alle gebracht hat (syrBar 54,15). Allerdings ist damit kein Verhängnis über den Menschen gekommen, das diesen schuldlos betreffe. Jeder Mensch hat im Gegenteil sein eigenes Schicksal in der Hand und scheitert daran. Für den syrBar ist klar: Somit ist Adam einzig und allein für sich der Grund; wir alle aber wurden Stück für Stück zu Adam für uns selbst. (syrBar 54,19) Diese Radikalisierung der Schuld Adams, die jeder Mensch für sich selbst erwirkt, wird in der christlichen Theologie insbesondere von dem Apostel aufgenommen, der wesentliche Impulse für die Entwicklung der später ausgeformten Erbsündenlehre gibt: Paulus von Tarsus! Er stellt Adam und Christus gegenüber und entwirft so das Bild des Menschen, wie er von sich aus und aus eigener Schuld ist und wie er durch Christus im Glauben sein soll. Von Anfang an ist dadurch klar, dass Paulus keine empirische oder philosophische Studie des menschlichen Seins vorlegt. Er blickt durch die Brille des Glaubens. In Adam erkennt er den Menschen in seiner Fehlerhaftigkeit. Adam ist für ihn das Urbild des Menschen. Es geht ihm also in erster Linie-- im Gegensatz zur späteren Erbsündenlehre-- nicht um die biologische Abstammung aller Menschen von Adam, sondern um eine * Zitiert wird der syrBar nach: Albertus F. J. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, JSHRZ V / 2, Gütersloh 1976. 54 Beschreibung des menschlichen Wesens. Ohne die Gnade Gottes ist der Mensch dem Tod ausgeliefert. Das ist das Schicksal, das er verdient. Der Mensch ist schuld am Bösen und deshalb wird er sterben. Die Erzählungen der Genesis sind für Paulus das Muster des Menschen ohne Gott. Durch Christus aber zeigt Gott, dass er den Menschen nicht im Tode lassen will. Für Paulus lebt der Mensch als „alter Adam“, soll aber in Christus leben: Deshalb lebe ich eigentlich nicht mehr selbst- - sondern Christus lebt in mir. (Gal 2,19) Im Vollzug der Taufe wird der alte Mensch ertränkt und der neue Mensch steht auf. An die Römer schreibt er: Ihr wisst doch: Bei unserer Taufe wurden wir förmlich in Christus Jesus hineingetaucht. So wurden wir bei der Taufe in seinen Tod mit hineingenommen. 4-Und weil wir bei der Taufe mit ihm gestorben sind, wurden wir auch mit ihm begraben. Aber Christus ist durch die Herrlichkeit des Vaters vom Tod auferweckt worden. Und genauso sollen auch wir jetzt ein neues Leben führen. 5-Denn wenn wir ihm im Tod gleich geworden sind, werden wir es auch in der Auferstehung sein. (Röm 5,3-5) Die Taufe ist also der Übertritt vom alten, sündigen, dem Tod verfallenen Leben in das neue Leben in Christus. Hier geschieht eine neue Schöpfung: Wenn jemand zu Christus gehört, gehört er schon zur neuen Schöpfung. Das Alte ist vergangen. Seht doch! Etwas Neues ist entstanden! (2.Kor 5,17) Zweimal stellt Paulus in seinen Briefen Adam und Christus gegenüber. Im ersten Brief an die Korinther verdeutlicht Paulus, dass wir sterben müssen, weil wir so sind wie Adam. Er ist unser Schicksal: Der erste Mensch wurde aus Erde gemacht. Er ist irdisch. Der zweite Mensch stammt vom Himmel. 48- Alle irdischen Menschen sind so wie der erste irdische Mensch. Und alle himmlischen Menschen sind so wie der erste himmlische Mensch. 49- Jetzt sind wir das Abbild des irdischen 55 Menschen. Dann werden wir das Abbild des himmlischen Menschen sein. (1.Kor 14,48-49) Der erste Mensch, der irdische Adam, bestimmt unser Leben und führt in den Tod. Der zweite Mensch, der himmlische Christus, führt uns in das unsterbliche, himmlische, unvergängliche Leben (1.Kor 15,50-53). Im Brief an die Römer führt Paulus den ersten Menschen wieder ein, um zu zeigen, dass durch ihn grundsätzlich alle Menschen ohne Christus verloren wären. Während der 4. Esr und der syrBar zwar auch erkennen, dass der Mensch ein Sünder ist, ihm aber zugestehen, sich mit Hilfe der Tora für das Gute entscheiden zu können, gibt Paulus diese Vorstellung auf. Für ihn ist klar, dass niemand sich selbst durch die Beachtung der Tora retten kann. Insofern denkt Paulus radikaler. Das böse Herz in Adam ist keine Neigung zur Sünde, die man mit Hilfe der Tora beherrschen kann, sondern es ist ein Verhängnis, dem man nicht aus eigener Kraft entgehen kann. Durch Adam ist die Sünde in die Welt gekommen: Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt. Und durch die Sünde kam der Tod. So verfielen alle Menschen dem Tod. (Röm 5,12) Kein Mensch kann diesem Schicksal entfliehen. Jeder Mensch ist Sünder. Jeder Mensch muss sterben. Adam ist-- wie im Korintherbrief-- das Urbild des Menschen. So wie er ist jeder Mensch. Der Mensch ist ein Sünder, schlicht deshalb, weil er ein Mensch ist. Adam ist für Paulus damit eine Person und zugleich ein Schicksal. Er hat gesündigt und damit das Böse in die Welt gebracht. Aus diesem Verhängnis gibt es nur einen Ausweg: die Gnade Gottes. Sie ist größer und mächtiger als die Sünde und führt den Menschen in Christus zum Leben: Wo aber das Maß der Sünde voll war, da ist die Gnade über jedes Maß hinausgewachsen. 21- Die Sünde übte ihre Herrschaft mithilfe des Todes 56 aus. Genauso wird die Gnade ihre Herrschaft entfalten, indem sie gerecht macht. So führt die Gnade zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn. (Röm 5,20-21) Der Mensch lebt durch Adam also in einem Schicksals- und Tatzusammenhang, aus dem nur Christus befreien kann, weil er die Herrschaft der Sünde überwunden hat: Damals hat die Verfehlung eines Menschen allen anderen den Tod gebracht. Das wird jetzt mehr als aufgewogen durch die Gnade, die Gott uns erwiesen hat. Und dieses Geschenk der Gnade hat der eine Mensch Jesus Christus für alle anderen erwirkt. (Röm 5,15) Adam hat die Menschen also zum Tode verurteilt, Christus befreit sie wieder davon. Diese Gegenüberstellung macht deutlich, dass Paulus eindeutig ein Vertreter der These ist, dass der Mensch, nämlich Adam, schuld ist am Bösen. Er spekuliert-- im Gegensatz zum 4. Esr-- nicht darüber, ob letztlich nicht Gott dafür verantwortlich ist. Er blickt weniger auf den Ursprung des Bösen als auf dessen Überwindung in Christus. Er denkt von Christus her und kann deshalb den Menschen bei seiner Verantwortung radikal behaften. Der Mensch ist schuld-- und Christus erlöst ihn aus reiner Gnade aus seinem Verhängnis. 57 5. Der Teufel ist schuld! Bisher sind die Antworten, die auf die Frage nach der Herkunft des Bösen gegeben wurden, nicht sonderlich befriedigend. Entweder ist der gute Gott schuld, zu dem wir beten sollen, dass er uns von dem Bösen befreien möge- - dabei ist er doch derjenige, der das Böse wirkt. Oder der Mensch, also wir selbst sind schuld. Auch das ist nicht befriedigend. Hätte Gott uns nicht besser erschaffen können? Außerdem: Was können wir dafür, dass wir Menschen sind? Dass wir in einem Verhängnis mit Adam stehen? Tun wir dies überhaupt? Diese offenen Fragen führen die Theologie zu einer dritten Antwort: Der Teufel ist schuld am Bösen. Im Alten Testament spielt der Teufel-- wie gesehen-- im Grunde keine Rolle. Erst in den jungen Schriften des AT lassen sich einzelne Motive finden, die später zum Teufel führen, wie wir ihn kennen. Ein Satz aus dem Buch der Weisheit („Sapientia Salomonis“), einer wahrscheinlich im 1. Jh. v. Chr. entstandenen Schrift, bringt ohne Erklärung den Zusammenhang zwischen Teufel und Tod auf den Punkt: Denn Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen / und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. 24- Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt / und ihn erfahren alle, die ihm angehören. (Sap 2,23-24) Der Teufel hat also die gute Schöpfung Gottes zerstört. Er hat das „Ebenbild Gottes“ (Gen 1,27) zunichte gemacht. Anscheinend konnte der Text bei seinen Lesern voraussetzen, dass sie wissen, wieso der Teufel neidisch ist und auf wen. 58 Das Leben Adams und Evas Die Antwort auf diese Fragen muss in anderen Texten gesucht werden. Vor allem Texte, die die Geschichte von Adam und Eva mit verschiedenen Akzenten nacherzählen und in verschiedenen Fassungen in verschiedenen Sprachen überliefert sind, können hier helfen. Es handelt sich dabei um die griechische „Apokalypse des Mose“ (ApkMos) und das lateinische „Leben Adams und Evas“ ( LAE ). * Wichtig ist die Einführung des Teufels in die Geschichte vom Sündenfall. Der Teufel stiftet die Schlange an, Eva zu verführen (ApkMos 15). Warum er dies tut, wird in LAE 11,3 explizit gefragt: Was verfolgst du uns, du Feind, so gottlos und voller Neid bis zum Tod? ( LAE 11,3) Jetzt erst kann sich der Teufel erklären: O Adam, meine ganze Feindschaft und mein Neid und mein Schmerz richtet sich auf dich, weil ich deinetwegen vertrieben und meiner Herrlichkeit beraubt worden bin, die ich im Himmel inmitten der Engel hatte, und deinetwegen auf die Erde hinausgeworfen bin. ( LAE 12,1) Der Teufel erklärt, dass er Adam, als dieser von Gott geschaffen wurde, nicht anbeten wollte. Obwohl der Mensch das Ebenbild Gottes ist, will er ihn im Gegensatz zu dem Engel Michael nicht anbeten. Eine kleine Nebenbemerkung an dieser Stelle: Im Koran nimmt Sure 2,34 dieses Bild auf. Einige islamische Gelehrte argumentieren, dass der Teufel, der Engel Iblis, im Grunde mit seiner Weigerung, Adam anzubeten, Recht hat. Denn Anbetung gebührt nur * Zitiert werden beide Texte nach Otto Merk / Martin Meiser, Das Leben Adams und Evas, JSHRZ II / 5, Gütersloh 1998, 740 ff. 59 Gott allein-- auch nicht seinem Ebenbild. Allerdings wird in der islamischen Diskussion abschwächend argumentiert, dass es sich hier nicht um Anbetung handele, sondern lediglich um Ehrerweisung. Und schließlich habe Gott die Anbetung selbst befohlen und Gott müsse auch gehorcht werden. Hier tut sich ein im Grunde unlösbares Dilemma auf. Die erste Sünde des Teufels besteht also in der Ablehnung des göttlichen Gebots. Im Gegenteil verlangt der Teufel, dass der Mensch ihn anbeten solle: Bevor jener entstand, war ich schon geschaffen. Er muss mich anbeten. ( LAE 14,3) Damit setzt sich der Teufel an die Seite Gottes, dem allein Anbetung zukommt. Dies ist seine Grundsünde. Der Teufel möchte sein wie Gott. Deshalb wird der Teufel aus dem Himmel verbannt. Deshalb ist er auf den Menschen wütend. Deshalb rächt er sich an Adam und Eva im Paradies. Der Teufel will, dass der Mensch den gleichen Sturz aus dem Himmel erleidet wie er selbst. Damit ist das Motiv der Feindschaft zwischen dem Teufel und den Menschen benannt. Der Teufel wirkt das Böse, weil er sich am Menschen rächen will. Jetzt ist die Motivation des Teufels klar. Der Äthiopische Henoch Dass der Teufel das Böse in die Welt bringt, haben wir gesehen, aber was ist das Böse eigentlich, das er bringt? Sehr ausführlich erzählt dies eine Schrift, die der „Äthiopische Henoch“ (ÄthHen) genannt wird. Mehrere Schriften und Fragmente sind mit dem Namen Henoch verbunden, die heute vor allem nach der Sprache ihrer Überlieferung bezeichnet werden. Der ÄthHen ist über eine lange Zeit entstanden und wurde immer weiter fortgeschrieben. Für die Frage nach dem Bösen ist das „Buch der Wächter“ (ÄthHen 60 1-36) interessant, das Gen 6,1-4 nacherzählt. Die dort erzählte Vermischung von Engeln und menschlichen Frauen ist der letzte Auslöser der Sintflut. Im ÄthHen wird daraus eine Ätiologie des Bösen. Manche Engel machen sich schuldig, weil sie sich der sexuellen Lust mit menschlichen Frauen hingeben. Andere Engel lehren die Menschen böse Dinge. Die bösen Engel bringen den Menschen bei, wie man Krieg führt, wie man Schwerter und Metalle herstellt. Sie bringen den Frauen bei, wie man mit Hilfe der Kosmetik die Männer verführt. Für Männer und Frauen ist die Lehre der bösen Engel verheerend. Die bösen Engel, hier vor allem der Dämon Azazel, bringen den Menschen böse Dinge bei. Gewalt und Verführung kommen in die Welt und machen sie schlecht. Der Mensch wird zum Täter. Für den Teufel heißt dies in der Folge: Er hat nicht nur die ersten Menschen einmal verführt, sondern tut dies auch weiterhin. Jeder Mensch muss sich davor hüten, vom Teufel oder einem seiner Dämonen zum Bösen verleitet zu werden. Der Teufel führt die Menschen in den Abgrund. Der Teufel und Jesus von Nazareth Der Teufel ist der Herrscher dieser Welt. Das ist für das Neue Testament klar (Joh 12,31; 14.30; 16,11). Aber er wird von Jesus entmachtet: Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt! Jetzt wird der Herrscher dieser Welt gestürzt! (Joh 12,31) Durch das Wirken Jesu wird der Teufel besiegt. Dies geschieht innerweltlich allerdings nur verdeckt. Es ist nur dem Glauben ersichtlich. In der Welt hat der Teufel weiterhin Macht und nutzt diese, um den Menschen zu verführen, um das Böse in der Welt zu wirken. Er verführt die Menschen und leitet sie in die Irre (1.Joh 61 3,7) Der Teufel dringt in Menschen ein, um sie sich zu Werkzeugen zu machen. Judas, der Verräter Jesu, ist ein gravierendes Beispiel für das teuflische Wirken (Lk 22,3). Aber über Jesus hat der Teufel keine Macht (Joh 14,30). Im Gegenteil: Durch Jesus wird der Teufel entmachtet: Gottes Sohn ist in die Welt gekommen, um die Werke des Teufels zu zerstören. (1.Joh 3,8) In der Geschichte Jesu ereignet sich die entscheidende Wende. Teufel und Tod werden besiegt (1.Kor 15,26). Am Ende wird es beide nicht mehr geben (Apk 21,4). Diese Sicht auf den Teufel, auf seine Möglichkeiten und seine Beschränkungen, nimmt ihren Ausgang bei Jesus von Nazareth. Obwohl es schwierig ist, Aussagen über Jesus und sein Selbstverständnis zu treffen, ist es durchaus plausibel anzunehmen, dass sich Jesus in einem Kampf mit dem Teufel gesehen hat. Im Kontext der antiken Weltdeutung ist es nicht abwegig, dass er sich nicht nur als (der letzte) Prophet Gottes, sondern auch als Exorzist gesehen hat. Das älteste Evangelium, das Evangelium nach Markus, gibt als Kern der Botschaft Jesu wieder, dass dieser den Anbruch des Gottesreiches-- was immer das auch genau meint-- angekündigt hat: Die von Gott bestimmte Zeit ist da. Sein Reich wird sichtbar in der Welt. (Mk 1,15) Dazu gehört nach antikem Verständnis auch die Entmachtung der bösen Mächte. Wenn sich Jesus als Prophet der neuen Zeit verstanden hat, dann ist sein Kampf gegen den Teufel folgerichtig. Zwei Verse aus dem Lukasevangelium unterstreichen diese Einschätzung nachdrücklich. In Lk 10 berichten die Jünger Jesu von ihrem Wirken in der Mission. Sie erzählen Jesus voller Freude, dass sogar Dämonen ihnen gehorchen, wenn sie sich auf Jesu Namen beziehen. Darauf antwortet Jesus: 62 Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel hinabstürzen. (Lk 10,18) Die Entmachtung des Teufels ist also die Voraussetzung des irdischen Wirkens der Jünger. Sie können nur deshalb Dämonen austreiben, weil der Satan als der Herrscher der Dämonen bereits entmachtet ist. Es wird allerdings nicht gesagt, wer den Teufel entmachtet und gestürzt hat. Wahrscheinlich fließen hier bereits verschiedene Traditionen ineinander. Zu denken ist z. B. an den Sturz des Morgensterns, des Lichtträgers (lat: „Luzifer“) aus Jes 14. Im Neuen Testament wird dies in Apk 12 deutlich aufgenommen. Wesentlich ist hier aber die Vorstellung, dass Jesus nicht für sich in Anspruch nimmt, den Teufel entmachtet zu haben. Er sieht dies lediglich. Vielleicht ist damit auf eine Vision angespielt. Gott aber ist derjenige, der den Teufel offensichtlich besiegt hat. Jesus hat den Satan vom Himmel fallen sehen und bringt dies in einen Zusammenhang mit seiner Mission. Der Teufel ist demnach bereits besiegt, allerdings wirkt er immer noch auf der Erde. Sein Schicksal ist zwar besiegelt, aber er verführt immer noch Menschen zum Bösen. Dieser Gedanke wird in aller Deutlichkeit in der Offenbarung des Johannes nochmals aufgenommen. Für Jesus von Nazareth ist relativ deutlich, dass er sich als der Beauftragte Gottes verstanden hat, der Dämonen austreiben kann, weil der Teufel bereits besiegt wurde. Dies ist eine Voraussetzung seiner Verkündigung vom nahe herbeigekommenen Reich Gottes. Lk 11,20 unterstreicht dies nachdrücklich: Wenn mir aber der Finger Gottes hilft, Dämonen auszutreiben: Dann ist das Reich Gottes doch schon zu euch gekommen! Gott ist derjenige, der den Teufel besiegt hat und Jesus dazu verhilft, die Dämonen, also die niederen Engel des Teufels, auszutreiben. All dies geschieht unter dem Eindruck des anbrechenden Gottesreiches. Diesen Gedanken spiegelt auch eine Erzählung in Mk 3,22-27: 63 22-Aber die Schriftgelehrten, die aus Jerusalem gekommen waren, sagten: „Er ist von Beelzebul besessen.“ Und: „Der Höchste der Dämonen hilft ihm, andere Dämonen auszutreiben.“ 23-Jesus rief sie zu sich. Er redete zu ihnen und gebrauchte dabei Vergleiche: „Wie kann der Satan den Satan austreiben? 24-Wenn die Machthaber eines Staates miteinander im Streit liegen, kann dieser Staat nicht bestehen. 25-Und wenn eine Familie miteinander im Streit liegt, kann diese Familie nicht bestehen. 26-Wenn sich also der Satan gegen sich selbst erhebt und mit sich im Streit liegt, kann er nicht bestehen und es ist aus mit ihm. 27- Ebenso kann kein Einbrecher einem kräftigen Mann seinen Besitz rauben, wenn er ihn nicht vorher fesselt. Dann kann er ihm das ganze Haus ausrauben.“ Diese sprichwörtlich gewordene Geschichte („Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben“) beruht auf einem in der Antike verbreiteten Gedanken, der „kosmischen Analogie“. Diese Vorstellung ist bis in die Gegenwart wirksam. Alles hat demnach seine Entsprechung. Was im Himmel passiert, passiert auch auf Erden. Wenn zwei Völker auf Erden Krieg führen, dann tun dies auch ihre Götter im Himmel. Innerweltlich gewendet führt dieser Gedanke zu der Einsicht, dass man Feuer mit Feuer bekämpfen muss. Gleiches erkennt Gleiches, Gleiches bekämpft Gleiches. In der Bibel stellt Mose in Num 21,6ff das Bild einer Schlange auf, um vor einer Schlangenplage zu schützen. Kirchen werden durch Dämonenfratzen, die an ihren Fassaden angebracht werden, vor Dämonen geschützt, die versuchen, dort einzudringen. Wohnhäuser werden durch Skelette von (schwarzen) Tieren (oft: Hunden) vor Türschwellen gesichert. Die Schriftgelehrten in der markinischen Erzählung können mit ihrem Vorwurf also Recht haben. Der Streit entzündet sich demnach nicht daran, dass Jesus Exorzismen durchführt, sondern in welchem Namen er dies tut. Die Exorzismen an sich sind nur bedingt aussagekräftig. Jesus wehrt den Gedanken der Analogie für sich ab. Mit Hilfe von drei Vergleichen macht er deutlich, dass die Herrschaft des Teufels gebrochen ist. Jesus ist der Einbrecher, der in das Haus des Teufels einbricht. Der Teufel und seine Dä- 64 monen kämpfen nicht gegeneinander, sie sind von Gott her besiegt worden, ihre Macht ist gebrochen. Deshalb kann Jesus mit der Macht Gottes die Dämonen austreiben. Sie sind im Himmel bereits besiegt, auf Erden können sie deshalb von Jesus erfolgreich bekämpft werden. Der Teufel und die Versuchung Jesu Dass der Teufel Menschen verführt, ist ein Hauptmotiv der Figur in den neutestamentlichen Evangelien. Er ist das Böse in Person, weil er gegen die christliche Mission arbeitet. Im Gleichnis vom Sämann (Mt 13) ist der Böse derjenige, der das Bemühen der christlichen Verkündigung zu zerstören sucht. Der Teufel ist die personifizierte Feindschaft gegen Gott und alles Gute. Er versucht, die Gläubigen von ihrem Glauben abzubringen. Als der „Versucher“ (1.Thess 3,5) schlechthin wird er zum zentralen Gegenspieler Gottes aufgebaut. Ganz besonders deutlich wird dies in der Erzählung von der Versuchung Jesu in Mt 4,1-11 / Lk 4,1-13. 1-Danach wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt. Dort sollte er vom Teufel auf die Probe gestellt werden. 2-Jesus fastete vierzig Tage und vierzig Nächte lang. Dann war er sehr hungrig. 3-Da kam der Versucher und sagte zu ihm: „Wenn du der Sohn Gottes bist, befiehl doch, dass die Steine hier zu Brot werden! “ 4-Jesus aber antwortete ihm: „In der Heiligen Schrift steht: ,Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.‘“ 5-Dann nahm ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt. Er stellte ihn auf den höchsten Punkt des Tempels 6- und sagte zu ihm: „Wenn du der Sohn Gottes bist, spring hinunter! Denn in der Heiligen Schrift steht: ,Er wird seinen Engeln befehlen: Auf ihren Händen sollen sie dich tragen, damit dein Fuß an keinen Stein stößt.‘“ 7-Jesus antwortete ihm: „Es steht aber auch in der Heiligen Schrift: ,Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen! ‘“ 8-Wieder nahm ihn der Teufel mit sich, dieses Mal auf einen sehr hohen Berg. Er zeigte ihm alle Königreiche der Welt in ihrer ganzen Herrlichkeit. 9-Er sagte zu ihm: „Das alles werde ich dir 65 geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest! “ 10-Da sagte Jesus zu ihm: „Weg mit dir, Satan! Denn in der Heiligen Schrift steht: ,Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihn allein verehren! ‘“ 11-Da verließ ihn der Teufel. Und sieh doch: Engel kamen und brachten ihm zu essen. Dass Jesus vom Teufel versucht wurde, weiß auch Mk 1,12-13. Allerdings ist es dort lediglich konstatiert. Ausführlich erzählt wird es erst bei Matthäus und Lukas. Der Teufel tritt als der Versucher schlechthin auf und versucht, Jesus von seinem Weg abzubringen. Es entwickelt sich ein Dialog, in dessen Verlauf der Teufel mit Hilfe von Zitaten aus dem Alten Testament versucht, das Schicksal Jesu zu beeinflussen. Man sieht deutlich: Auch der Teufel zitiert die Bibel. Ein Bibelvers allein ist deshalb kein Argument und keine Autorität. Dies ist ein Hinweis, der vor allem in fundamentalistischen Kreisen immer wieder betont werden muss. In der Wüste, also dem Ort, an dem die Dämonen wohnen und wo Israel auf seinem Weg von Ägypten her 40 Jahre lang geprüft wurde, wird nun Jesus auf die Probe gestellt. Weil Jesus in der Wüste fastet, versucht der Teufel ihn zunächst auf seinen Hunger anzusprechen (Mt 4,2-3). Jesus wird also gleichzeitig auf seine menschlichen Bedürfnisse und seine göttliche Macht angesprochen. Als Mensch muss er essen, als Sohn Gottes müsste er Steine in Brot verwandeln können. Die Erzählungen von der wundersamen Nahrungsvermehrung in Mt 14,14; 15,32 zeigen, dass Matthäus Jesus die Fähigkeit zuschreibt, Brot zu beschaffen. Es mangelt ihm nicht an Möglichkeit, sondern am Willen, sich dem Teufel zu beugen. Zwei Versuchungen liegen also in dieser ersten Aufforderung. Der menschliche Hunger steht für die allgemeinen Bedürfnisse des Menschen. Sie sind ein Einfallstor des Bösen. Wer unter Hunger leidet, kümmert sich wenig um Gut und Böse, sondern will in erster Linie seine Bedürfnisse erfüllen. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, heißt es so treffend in der „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht. Jesus erweist seine Integrität dadurch, dass er 66 diese Versuchung mit Hilfe eines Schriftzitates aus Dtn 8,3 zurückweist. Damit verweist Matthäus darauf, dass Jesus im Gegensatz zu Israel in der Wüste seine erste Probe besteht. Wie einen Sohn hat Gott Israel in der Wüste erzogen (Dtn 8,5), nun zeigt Matthäus, dass Jesus diese Erziehung als Sohn Gottes nicht braucht. Die erste Versuchung ist damit erledigt. Doch der Teufel lässt noch nicht locker. Die zweite Versuchung spielt nicht mehr in der Wüste, sondern in Jerusalem. Dort führt ihn der Teufel hin und stellt ihn auf den Tempel, also auf die heilige Stätte in der heiligen Stadt. Das Moment der Heiligkeit kann daher nicht weiter gesteigert werden. Dies zeigt, dass der Teufel selbst vor dem Heiligen nicht zurückschreckt, dass es ihn auch nicht aufhalten kann. Der Teufel zitiert nun in Mt 4,6 seinerseits die „heilige“ Schrift, nämlich Ps 91,11-12. Der Psalm richtet seine Zusage an gottesfürchtige Menschen, scheint also nicht unbedingt an die Gottessohnschaft Jesu geknüpft zu sein. Deutlich sind aber die Verweise in das weitere Evangelium. In Mt 27,40 fordern die Schriftgelehrten Jesus auf vom Kreuz zu steigen, wenn er Gottes Sohn ist. In Mt 16,1 weigert sich Jesus, sich mit Hilfe eines Wunders auszuweisen. Er bleibt durch das ganze Evangelium unbeirrt auf seiner Linie und geht konsequent seinen Weg ans Kreuz (Mt 26,53-54). So wehrt er den Teufel schließlich zum zweiten Mal unter Verweis auf Dtn 6,16 ab. Die dritte Versuchung offenbart das teuflische Wesen. Der Teufel stellt sich als Herr der Welt dar. Dies entspricht einer im Neuen Testament bekannten Auffassung. Dem Teufel wird also zugetraut, dass er Jesus wirklich alle Königreiche der Welt zu Füßen legen kann. In dieser letzten Versuchung zeigt sich das wahre Motiv des Teufels. Was er will, ist Anbetung. Er will an die Stelle Gottes treten. Hier wird also eine Linie aufgenommen, die bereits beobachtet und vor allem im „Leben Adams und Evas“ deutlich wurde. Der Berg, auf den der Teufel Jesus bringt, verweist auf den Berg der Offenbarung an Mose. Die Szene ist also symbolisch aufgela- 67 den. Nun entscheidet sich der Weg Jesu und damit verbunden der ganzen Welt. Seine programmatische Rede wird Jesus auf einem Berg halten, die „Bergpredigt“ (Mt 5-7). Am Ende, nachdem Jesus den Tod am Kreuz erlitten hat, wird er auferstehen und seine Jünger wieder auf einem Berg treffen (Mt 28,16). Er überbietet die Offenbarung an Mose. Auf dem Berg wird er ihnen endgültig offenbaren, dass er die Macht im Himmel und auf Erden empfangen hat (Mt 28,18). Die wahre göttliche Macht erstreckt sich also weiter als „nur“ über die Königreiche der Erde, über die der Teufel gebietet. Was der Teufel anzubieten hat, ist also nur ein Abklatsch dessen, was Jesus als Sohn Gottes empfangen wird. Dies zeigt, dass der Teufel nicht das anbieten kann, was der gläubige Mensch von Gott empfangen wird. Der Teufel verbleibt im Vorläufigen, er kann nur innerweltlich agieren. Seine Macht ist begrenzt. Jesus aber geht seinen Weg unbeirrt. Er wehrt den Teufel und die Macht, die er anbieten kann, endgültig ab und hält daran fest, dass nur Gott angebetet werden darf. Damit verweigert er dem Teufel dessen fundamentalen Wunsch. Gleichzeitig lehnt er damit auch jegliche irdische Macht ab. Tatsächlich könnte er sie aber nach Matthäus in Anspruch nehmen. Im Kontext der Gefangennahme sagt er: Weißt du nicht, dass ich meinen Vater um Hilfe bitten kann? Dann schickt er mir sofort mehr als zwölf Legionen Engel. 54-Aber wie kann sich dann erfüllen, was in den Heiligen Schriften steht? Es muss alles so kommen. (Mt 26,53-54) Jesus folgt dem göttlichen Plan-- obwohl er Macht beanspruchen könnte. Aber er tut es nicht, weil er seiner Sendung treu bleibt. Deshalb wehrt er den Satan nicht nur hier ab, sondern auch bei einer weiteren Versuchung. In Mt 16 kündigt Jesus seinen Jüngern an, dass er in Jerusalem leiden und sterben muss. Dies gefällt den Jüngern aber nicht. Deshalb nimmt ihn Petrus, als Sprecher des Jüngerkreises, beiseite und will Jesus dieses Schicksal ausreden: 68 Gott bewahre dich davor, Herr! Das darf dir nicht zustoßen! (Mt 16,22) Damit durchkreuzt er den göttlichen Plan genauso wie der Teufel. Bei Petrus lässt sich sein Vorhaben mit Unwissen und Sorge entschuldigen, allerdings würde sein Wunsch den Plan Gottes gleichfalls scheitern lassen. Deshalb fährt ihn Jesus an und setzt ihn mit dem Teufel gleich: Geh weg von mir, Satan! Du willst mich von meinem Weg abbringen! Dir geht es nicht um das, was Gott will, sondern um das, was Menschen wollen. (Mt 16,23) Das Schicksal Jesu ist in dieser Welt nicht von Macht und Hoheit geprägt, sondern von Demut und Niederlage. Sein Weg ans Kreuz ist von Gott gewollt und vorherbestimmt. Jeder, der Jesus davon abbringen will, handelt teuflisch. Jesus bindet sein Schicksal allein an Gott und die Heilige Schrift, die als Blaupause des göttlichen Plans erfüllt werden muss. Am Ende kann sich Jesus über alle Kräfte hinwegsetzen, die auf die eine oder andere Weise versuchen, den göttlichen Plan zu unterlaufen. Am Ende verlässt der Teufel Jesus und Engel Gottes kümmern sich um ihn. Während bei Matthäus nüchtern gesagt wird, dass der Teufel verschwindet, fügt Lukas in der parallelen Erzählung ein: Er verließ ihn eine Zeit lang. (Lk 4,13) Damit ist ersichtlich, dass der Teufel hier nur eine Schlacht verloren hat, aber nicht den Krieg. Er kehrt zurück und wird Judas benutzen, um Jesus ans Kreuz zu bringen (Lk 22,3). In der Welt ist der Teufel also nicht besiegt. Die Versuchung Jesu war nur eine Etappe auf dem Weg zur endgültigen Niederlage des Teufels. Im Blick auf die Teufelsfigur ist deutlich, dass der Teufel einen großen Entwicklungsschritt vorangekommen ist. Er hat Karriere gemacht. Vom gefallenen Engel ist er zum Herrscher der Welt aufgestiegen. Das Böse in der Welt ist auf ihn zurückzuführen. Er 69 ist zum Faktor der Gegenwart geworden. Allerdings bleibt er Gott klar untergeordnet. Und auch gegen Jesus kann er letztlich nichts ausrichten. Der Teufel im Brennpunkt Der Teufel ist an allem schuld. Nirgends wird diese Antwort so deutlich wie in der Offenbarung des Johannes. Hier kulminiert die christliche Teufelsvorstellung. Apk 12 ist ein Text, der viele Traditionen aufnimmt, sie kombiniert und damit die Basis für die weitere Entwicklung der Teufelsfigur schafft. Allerdings ist dies kaum das eigentliche Anliegen des Textes, eher ein Nebenprodukt. Es geht dem Propheten Johannes, dem Autor der Apk, eher um eine raffinierte Deutung seiner Gegenwart, die er mit Hilfe der kosmischen Analogie erläutert. Er entwirft ein Szenario, in dem sich seine Hörer bzw. Leser wiederfinden sollen und das ihnen verdeutlicht, was die Stunde geschlagen hat. Deshalb entwirft er Bilder voll Licht und Schatten, voller Gefahr und Schrecken, aber auch voller Heil und Zuversicht. In erster Linie tröstet sein Text das Zielpublikum: Der Teufel ist besiegt, das Lamm hat gesiegt (Apk 5). Aber es gibt noch eine zeitliche Diskrepanz zwischen den Ereignissen, die im Himmel stattgefunden haben, und deren Auswirkungen auf der Erde. Die kosmische Analogie wird akzeptiert und als Argument benutzt, aber ihre Umsetzung verzögert sich. Der Hörer der Offenbarung lebt in einem Zwischenstadium. Er lebt zwischen den Zeiten. Dies ist ein Grundgedanke der Offenbarung, der die Hörer tröstet und motiviert. Es dauert nicht mehr lange. Diese Welt steht kurz vor dem Gericht Gottes, das für die treuen Hörer des Johannes eine heilbringende Wende der Geschichte und ihres Schicksals sein wird. Es ist ein Gegenstand der Hoffnung und man kann kaum erwarten, das Gericht zu erleben. Dann wird alles gut. Dann manifestiert sich der Sieg Gottes auch auf Erden. Aber jetzt 70 muss man noch durchhalten. Diese Zwischenzeit muss bewältigt werden. Und das ist nicht einfach, weil jetzt der Teufel noch wirkt. Und falls es dem Hörer so vorkommt, als ob alles immer schlimmer wird, dann ist das richtig. Es wird schlimmer, weil es auf das Ende zugeht. Der Höhepunkt des Bösen ist der Punkt, an dem Gott eingreift. Diese kurze Zeitspanne muss man also standhaft und dem Glauben treu bleiben, dann wird man gerettet werden. Apk 12 ist demnach der wahrscheinlich wichtigste Text für die Figur des Teufels: 7- Dann brach im Himmel ein Krieg aus: Michael und seine Engel kämpften gegen den Drachen. Und der Drache und seine Engel stellten sich dem Kampf. 8-Aber er konnte den Kampf nicht gewinnen. Und im Himmel gab es keinen Platz mehr für sie. 9-Der große Drache wurde hinabgestoßen-- die Schlange aus uralter Zeit, die auch „Teufel“ oder „Satan“ genannt wird. Sie verführt die ganze Welt zum Abfall von Gott. Der Drache wurde also auf die Erde hinabgestoßen, und ebenso erging es seinen Engeln. 10-Dann hörte ich im Himmel eine laute Stimme. Sie rief: „Jetzt ist die Rettung da! Unser Gott hat seine Macht gezeigt und die Königsherrschaft angetreten. Und sein Christus hat Vollmacht bekommen. Denn der Ankläger unserer Brüder und Schwestern ist auf die Erde hinabgestoßen worden. Tag und Nacht hat er sie bisher vor unserem Gott angeklagt. 11-Aber sie haben ihn besiegt durch das Blut des Lammes und durch das Wort ihrer Zeugenaussage. Ihr Leben ging ihnen nicht über alles, sie nahmen sogar den Tod in Kauf. 12-Darum freut euch, ihr Himmel, mit allen, die darin wohnen! Aber wie schrecklich wird es sein für das Land und das Meer. Denn der Teufel ist zu euch herabgekommen und er ist rasend vor Wut. Denn er weiß, dass ihm nur wenig Zeit bleibt.“ (Apk 12,7-12) Die Verklammerung von Himmel und Erde, von Gegenwart und Zukunft wird in diesem kleinen Textausschnitt deutlich. Beide Pole sind keine getrennten Welten, sondern hängen unmittelbar zusammen. Im Rahmen der großen Vision von der Frau und dem Drachen (Apk 12) wird von einem Kampf im Himmel erzählt. Aller- 71 dings hat der Prophet am eigentlichen Kampf und seinen Ursachen kein Interesse. Er ist vor allem am Ergebnis interessiert. Wichtig ist ihm, dass der Teufel und seine Anhänger aus dem Himmel auf die Erde geworfen werden. Der Teufel selbst stellt dabei eine Kombination von alttestamentlichen Ungeheuern dar, die wiederum ihrerseits Vorbilder in der Umwelt des alten Israels haben. Hier ist z. B. an den Leviathan zu denken (Hi 3,8; 41,1; Ps 104,26), der laut Jes 27,1 als Schlange vorzustellen ist. So wird die Assoziation zur Schlange in der Paradieserzählung deutlich, was durch Texte wie „Das Leben Adam und Evas“ bereits vorbereitet ist. Die verschiedenen Bezeichnungen fassen gleichfalls verschiedene, ursprünglich eigenständige Traditionen zu einer Teufelsfigur zusammen. Der „Teufel“ ist der „Diabolos“, der Verleumder, Durcheinanderwerfer und Verwirrer. Er ist derjenige, der versucht, die Gläubigen vom Weg des Herrn abzubringen (Apg 13,10), sie zu verwirren und alle ins Chaos zu stürzen. Der „Satan“ ist der Ankläger, wie er aus Sach 3 bekannt ist, und der Verführer zum Abfall von Gott, wie bei Hiob und später im 2. Brief an die Thessalonicher. Aus allen widergöttlichen Elementen wird die Figur des Teufels nun zusammengesetzt und so das Böse in einer Person zusammengefasst. Allerdings nur, um sie gleich zu entmachten. Das Böse wird aufgebaut, um es zu besiegen. Der Sieg über den Teufel ist damit die entscheidende Wende der Geschichte, die ultimative Durchsetzung Gottes gegen das Böse. Deshalb sollen alle Wesen im Himmel jubeln. Denn jetzt ist das Ende gekommen, alles ist gut-- zumindest im Himmel. Für die Erde steht das Ende noch aus. Den Menschen steht jetzt eine harte Zeit bevor, weil sie nun in das beschriebene Zwischenstadium eintreten. Die harte Zwischenzeit beginnt. Weil der Teufel weiß, dass er besiegt ist, schlägt er jetzt um sich wie ein Boxer, der nichts mehr zu verlieren hat. Das Böse in der Welt steigert sich also noch. Das Böse, was die Hörer der Offenbarung erleben, ist damit erklärt. Die Welt ist böse, weil der Böse mit einem größeren Zorn umhergeht als bisher. Der Sieg Gottes im Himmel erklärt 72 das Böse auf Erden. Der Sieg Gottes ist zugleich der grundlegende Trost der christlichen Gemeinde. Der zweite Trost ist, dass es nicht mehr lange dauern wird. Es ist nur eine kurze Zeit, die man noch ertragen muss. Endgültig vernichtet werden Tod und Teufel dann auf Erden erst am Ende der Zeit, im Gericht Gottes. Der Teufel wird in Apk 20,2 zunächst für tausend Jahre gefangen genommen, danach wird es eine erneute Schlacht geben, an deren Ende er endgültig vernichtet wird: Und der Teufel, der sie zum Abfall von Gott verführt hatte-- er wurde in den See aus Feuer und Schwefel geworfen. Dort sind auch schon das Tier und der falsche Prophet. Sie werden Tag und Nacht gequält, für immer und ewig. (Apk 20,10) Auch der Tod und das Totenreich werden letztlich in einem See aus Feuer vernichtet (Apk 20,14). Tod und Teufel gibt es nicht mehr nach dem Gericht, nur noch die himmlische Stadt mit ihren Bewohnern (Apk 21). Der Teufel wird in der Johannesoffenbarung also dramatisch gesteigert, aber nicht um seiner selbst willen. Er verkörpert alles Böse, was der Seher kennt. Aber trotzdem ist er nur bedingt interessant. Er dient zur Erklärung der Welt. So paradox es scheint, er ist ein Trost für die Gemeinde, weil mit seiner Hilfe ihre Gegenwart gedeutet werden kann. Das Wirken des Teufels-- so gefährlich es ist-- lässt den Hörer der Offenbarung verstehen, warum er das Böse erleidet. Der Teufel stiftet Sinn und hilft damit, das Böse zu bewältigen. Die Aussicht auf seine endgültige Niederlage schenkt in der Folge die Kraft zum Durchhalten und zum Widerstand gegen das Böse. Im Reich Gottes braucht man ihn dann nicht mehr. 73 Fazit Der Teufel ist an allem schuld. Laut Joh 8-- einem hart zu lesenden und in der Wirkungsgeschichte katastrophalen Text- - ist er von Anfang an ein Mörder. In ihm gibt es keine Wahrheit. In ihm ist nur Lüge und Betrug, sein Wesen ist von Grund auf böse. Alles Böse kommt von ihm (Joh 8,44). Die dritte Antwort auf die Frage nach dem Bösen ist dadurch mehr als deutlich beantwortet. Gott ist entschuldigt, der Mensch wird verführt-- der Teufel ist schuld. Er „sündigt von Anfang an“ (1.Joh 3,8) und bis zum Ende. Während die Johannesoffenbarung kein weiteres Interesse am Teufel hat, wird die Alte Kirche die Figur breit ausbauen. Der Teufel wird zur permanenten Bedrohung, die Zwischenzeit, die in der Offenbarung relativ kurz gedacht war, wird zum Normalzustand. Der Teufel wird benutzt, um die Gläubigen bei der Sache zu halten. Die Hölle wird zur Drohkulisse und zum Reinigungsort ausgebaut (Purgatorium-- Fegefeuer) und selbst hier kann die Kirche noch wirken-- manchmal für eine kleine Gegenleistung (Ablass). Der Teufel wird zu einem allgemein akzeptierten Faktor der Weltgeschichte. Es wird Jahrhunderte dauern, bis man neu über das Böse nachdenkt. So überzeugend, so bequem, so handhabbar ist diese dritte Antwort. Der Teufel ist schuld, und wir waschen unsere Hände entweder in Unschuld oder sind nur arme Opfer. 75 6. Die Zeit ist schuld Eine philosophische Antwort Der Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996) hat eine Antwort auf die Frage nach dem Bösen, die weder Gott noch den Menschen noch den Teufel einbezieht. Interessant ist sie hier aber vor allem deshalb, weil er vom Teufel ausgeht und über ihn hinausweist. In seinem Buch „Lebenszeit und Weltzeit“ * greift er Apk 12,12 auf: Er sieht in dem Vers „Der Teufel ist zu euch herabgekommen und er ist rasend vor Wut. Denn er weiß, dass ihm nur wenig Zeit bleibt“ die Wurzel des Bösen in mythologischer Redeweise dargelegt. Um seine Deutung verständlich zu machen, ist ein Blick auf Grundlinien des Denkens Blumenbergs zunächst hilfreich. Der Teufel und die Distanzierung der Wirklichkeit Hans Blumenberg klärt auf. Er nimmt die Philosophie der Aufklärung genauso auf wie existentialistische Einflüsse oder Impulse der philosophischen Anthropologie. Der Mensch ist ein Mängelwesen, das seine Existenz als Aufgabe hat. Trotzdem ist nichts wichtiger als der Mensch als Individuum. Blumenberg zeichnet den Menschen in eine Welt ein, die ihn permanent überfordert und demütigt. Die wissenschaftliche Aufklärung der Welt lässt den Menschen sinn- und ratlos zurück. Die alten Geschichten von Göttern und die Erzählungen von heldenhaften Menschen haben ihre Orientierungskraft verloren. Die Wissenschaften haben die Welt entzaubert. Der Mensch lebt in einer Himmelswüste. Er ist nicht mehr die Krone der Schöpfung, sondern lediglich ein Lebewesen, * Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M., 3 1986. 76 das dem nackten Zufall ausgeliefert ist. Er muss mit der Erkenntnis zurechtkommen, dass er der Welt herzlich gleichgültig ist. Er ist das Produkt einer evolutionären Entwicklung, die er nicht beeinflusst hat und die auch anders hätte verlaufen können. Er ist nicht von einem Schöpfer als Ebenbild geschaffen, sondern ein durch und durch kontingentes Wesen. Der Mensch weiß in der Moderne nicht mehr, wo er hingehört und warum es ihn überhaupt gibt. Die Naturwissenschaften lassen den Menschen als Staubkorn in den Weiten eines sich unendlich ausdehnenden Universums zurück. Sie blicken ihn mit kalten Augen als Forschungsobjekt an und zeigen ihm permanent die Grenzen seiner Existenz auf. Auch die Geisteswissenschaften leisten ihren Beitrag zur Depotenzierung des menschlichen Daseins. Die Geschichtswissenschaft hat ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, indem sie gezeigt hat, dass jede Vergangenheit Konstruktion ist, dass die Geschichte von Siegern geschrieben wird und vielleicht gar nicht so war, wie wir gedacht haben. Unsere Herkunft ist damit unsicher geworden. Geschichte ist sprachliche Konstruktion, keine Tatsache, an der wir uns festhalten können. Die Vergangenheit wird unsicher und die Zukunft hilft uns auch nicht. Sie erschreckt uns vielmehr, weil sie sich unendlich ausdehnt und wir wissen: Wir werden sie nicht erleben. Deshalb sorgen wir uns. Wir werden zurückgeworfen auf unsere momentane Existenz und wissen dabei, wir sind eigentlich nichts. Und trotzdem ist nichts wichtiger als wir. Etwas anderes haben und sind wir nicht. Der Mensch ist buchstäblich in Raum und Zeit verloren. Aber so können wir nicht leben. Diese Wirklichkeit ist zu mächtig für uns. Wir müssen sie distanzieren. Wir müssen Auswege aus der Wüste der Sinnlosigkeit finden. Hans Blumenberg ist sensibel für den Verlust, den er beschreibt. Er sucht Möglichkeiten, wie der Mensch die Wirklichkeit auf Abstand halten, sie bewältigen kann. Er beschreibt in verschiedenen Veröffentlichungen Versuche, den Absolutismus der Wirklichkeit lebbar zu machen. Dabei nennt er verschiedene Bereiche. Die 77 Technik versucht z. B., die Natur zu beherrschen. Sie stellt Mittel bereit, die Natur so zu formen, dass wir in ihr leben können, ohne uns ständig um unsere Existenz zu sorgen. Der Mensch erschafft sich in der gleichgültigen Natur ein Zuhause. Er grenzt seinen Lebensraum so ab, dass er ihn überschauen kann. Die Gnadenlosigkeit der Natur wird eingehegt, und wir fühlen uns behütet. Wir schaffen uns unsere eigene Lebenswelt. Eine Welt, die uns groß vorkommt, die wir aber gleichzeitig verstehen und in der wir unser kleines Glück finden können. Diese Lebenswelt wird aber nicht nur durch Technik, sondern auch durch kulturelle Leistungen erbaut. Sie wird durch unsere Geschichten eingerichtet, unsere Sinndeutung der Welt spiegelt sich darin wider. Wir setzen die unüberschaubare Natur und das kalte Universum buchstäblich vor die Tür unserer Lebenswelt. Wir blenden das aus, was uns ängstigt. In unserer Lebenswelt fühlen wir uns sicher. Ihre Bausteine sind die alten Mythen, denen wir eine sinnstiftende Kraft zuschreiben. Wir lassen uns unsere Welt wieder verzaubern. Unsere Lebenswelt ist dadurch nicht mehr sinn- und bedeutungslos, sondern sie wird mit Sinn verzaubert und dadurch für uns lebens- und liebenswert. Dass die Welt Bedeutung hat, ist also unsere Konstruktion. Wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich sind, erkennen wir, dass wir der Schöpfer unserer Welt sind. Dass wir in der Natur, wie sie uns die Wissenschaft zeigt, unsere Welt einrichten und sie dadurch abschotten. Wir vergessen dies gerne und sind deshalb anfällig für die Aporien des Systems. Denn tief in uns haben wir nicht vergessen, dass wir nur diese Lebenswelt haben, dass sie nur eine von anderen möglichen Lebenswelten ist, dass sie nur ein Schutzraum unserer Existenz ist und dass wir eigentlich keinen anderen Sinn haben als den, den wir uns selbst machen. Die ganze Härte der Distanzierung der Wirklichkeit trifft uns, wenn wir erkennen, dass wir im Grunde nur hier und jetzt sind. Wir haben keine Vergangenheit und keine Zukunft und das ist der Welt völlig egal. Deshalb sind wir anfällig für das Böse, das in diesem 78 System liegt. Denn wenn wir keine Zukunft haben, dann müssen wir jetzt die Zeit nutzen. Aber die Zeit, die wir haben, ist so kurz. Das ist das Einfallstor des Bösen. Das ist der Mythos des Teufels. Der Teufel und die Enge der Zeit Im zweiten Teil von „Lebenszeit und Weltzeit“- - überschrieben mit dem Titel „Apokalypse und Paradies“-- greift Blumenberg den letzten Teil von Apk 12,12 auf: Der Teufel ist zu euch herabgekommen und er ist rasend vor Wut. Denn er weiß, dass ihm nur wenig Zeit bleibt. Der Teufel weiß, dass er keine Zeit mehr hat. Deshalb ist er wütend und wird gegen die Gläubigen umso härter vorgehen. Was für die Hörer der Offenbarung in ihrem Denksystem einen Trost darstellen konnte, ist für Blumenberg abzustreifen. Der Vers kann heute keinen Trost mehr bieten: Was so lakonisch in der Apokalypse des Johannes geschrieben steht, mag man für obsolet halten, weil die Existenz des Teufels seither umstritten ist. Aber auch im Zweifel steht, ob es noch als Trost empfunden würde, die Zeit sei knapp bemessen, die für Umtriebe des Bösen bleibt. (71) Den Teufel gibt es nicht mehr und deshalb kann an seiner kurzen Zeit auch kein Trost haften. Allerdings offenbare der Vers „ein Grundmuster für die Erfassung der menschlichen Großlage“ (71). Die Offenbarung formuliert also im Grunde keine theologische Wahrheit, sondern eine philosophische Einsicht. Sie deckt in mythologischer Vorstellung auf, wie es zum Bösen in der Welt kommt: Der Ein-Satz-Mythos aus der Apokalypse enthält eine Wahrheit, auf die es dem Apokalyptiker kaum angekommen sein mag: Enge der Zeit ist die Wurzel des Bösen. (71) 79 Damit ist eine vierte Antwort auf die Frage nach dem Bösen gegeben. Blumenberg verzichtet darauf, „menschliche Bosheit zu dämonisieren“ (71), er nimmt auch Gott nicht in die Verantwortung. Er sieht sie aus dem schlichten Mißverhältnis entstehen, daß ein Wesen mit endlicher Lebenszeit unendliche Wünsche hat. Es lebt in einer Welt, die keine Grenzen des ihm Möglichen vorzuzeichnen scheint, ausgenommen die eine, daß es sterben muß. (71-72) Das ist also der Wesenskern des Bösen: die Verlorenheit des Menschen in der Zeit. Diese Erkenntnis entspricht dem aufklärerischen Impetus Blumenbergs. Er beschreibt die „Öffnung der Zeitschere“, die Diskrepanz zwischen unserer Lebenszeit und der Zeit der Welt, indem er unsere Existenz mit dem Paradiesmythos vergleicht. Der grundlegende Unterschied besteht für ihn im Verhältnis des Menschen zur Zeit. Im Paradies spielt die Zeit keine Rolle: Das Paradies hatte Paradies sein können, so paradiesisch, wie man es ihm zutrauen möchte, weil dort kein Mangel an Zeit war. Zeitgewinne hätten nichts bedeutet. (72) Im Paradies gibt es keine Welt und keine Zeit außerhalb des Paradieses, also außerhalb der menschlichen Existenz. Die Welt und ihre Zeit enden an den Grenzen des Paradieses und diese Grenzen kann der Mensch abschreiten. Eine solche Abschreitung seines Horizontes kann außerhalb des Paradieses nicht mehr gelingen. Der Mensch blickt über sich selbst hinaus und erkennt, dass er nur genau das kann, blicken, aber er kann niemals über sich selbst hinaus gehen, nicht über seine Lebenswelt hinausreichen. Er kann seinen Horizont nicht abschreiten. Der Mensch lebt in den Grenzen seiner Mortalität. Im Paradies konnte es diesen Schmerz nicht geben, es gab diesen Grundkonflikt nicht, der in dem Bewußtsein liegt, von der Welt bleibe etwas vorenthalten, was denen zufallen würde, die eine Zeit jenseits der eigenen nutzen könnten. (72) 80 Blumenberg setzt das Böse in Anlehnung an den Römerbrief des Paulus mit der Sünde gleich. Die Sünde, also das Böse, bleibt in der Welt, weil es den Tod gibt. Er ist die ultimative Kränkung des Menschen. Die Welt aber schert sich nicht um unseren Tod. Wir werden durch den Tod gedemütigt. Er reißt unsere heile Welt auseinander. Die Unzulänglichkeit unserer Lebenswelt wird sichtbar. Wir wissen, dass es vor uns die Welt gab und wir wissen, dass es nach uns die Welt geben wird. Die Welt geht weiter-- mit oder ohne uns. Und das kränkt uns. Wir leiden darunter, dass unsere Lebenszeit nicht mit der Zeit der Welt identisch ist. Das ist das schlichte Missverhältnis, das Blumenberg beschreibt und in dem Mythos des Teufels gespiegelt sieht. Der Mensch empfindet also die Aufklärung über die wahre Natur seiner Existenz im Grunde als Kränkung. Er muss sich eingestehen, lediglich „als Episode zwischen Natalität und Mortalität in den Weltlauf eingelassen zu sein“ (73), sei es als Individuum oder sogar als Gattung. Er muss zugeben und wahrnehmen, dass „die Welt so wenig mit dem eigenen Leben endet, wie sie mit ihm begonnen hat“ (73). Blumenberg diagnostiziert dabei nüchtern, dass „keine Generation sich mit dieser Fatalität abzufinden vermag“ (73). Im Gegenteil: Dieses Leiden steigert sich in der Moderne, weil dem Menschen immer mehr Möglichkeiten aufgezeigt werden. Aber die Zeit wird nur unbedeutend mehr. Selbst eine so immens gewachsene Lebenserwartung wie in der Gegenwart kann mit der Ausdehnung der Welt und ihren Möglichkeiten nicht Schritt halten. Es bleibt dabei, es gibt „immer weniger Zeit für immer mehr Möglichkeiten und Wünsche“ (73). Und je mehr man mit Hilfe der Medien von der Welt sieht, desto mehr merkt man, dass man selbst nicht alles erleben kann. Die absolute Zeit der Welt kränkt den Menschen. Und das ist das Einfallstor des Teufels. Die Verführung des Teufels liegt darin, mit Mitteln der Magie, der Gewalt oder der Illusion die Weltzeit auf die Maße der Lebenszeit zu zwingen, die Lebensgrenze auf den Augenblick eingestandener Weltsättigung zu fixieren. (73) 81 Der Mensch greift zu unlauteren Mitteln, um die Weltzeit auf seine Lebenszeit zu bringen. Neid und Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung, alles ist uns recht, um in unsere Lebenszeit so viel Leben zu zwingen wie möglich, damit wir alles gesehen haben, bevor wir sterben. „1000 places to see before you die! “ (Patricia Schultz) * Wir werden ungerecht und böse, weil wir aus Angst vor dem Tod um uns selbst kämpfen. Nach dem Tod kommt nichts mehr, also müssen wir alles in unser Jetzt bringen, koste es, was es wolle. Das ist der Kern der Teufelsfigur. Sie ist die personalisierte Enge der Zeit, das Symbol der menschlichen Verführung: Nimmt man den Teufel als Figur für den Ursprung aller Bosheit, so weiß er nicht nur, daß er wenig Zeit hat; er ist auch die Inkarnation dieses Wissens und der nacktesten daraus gezogenen Daseinsform. Zugleich springt heraus, daß das Diabolische ein Konzentrat der das Leben durchziehenden Techniken und Kunstgriffe ist, Zeit zu gewinnen, um mehr von der Welt zu haben. Die abstrakte Fassung lautet: Die Welt kostet Zeit. (73) Wir versuchen Zeit zu gewinnen, um mehr von der Welt zu sehen, um im Grunde mehr zu leben. Wir haben nicht genug Zeit, um alles zu sehen und alles zu machen, was wir wollen. Angelehnt an Gedanken von Sören Kierkegaard lässt sich erkennen: Unsere Möglichkeiten sind begrenzt, aber unzählige Möglichkeiten stehen uns vor Augen. Daran können wir verzweifeln. Die Wirklichkeit ist die Realisierung einer Möglichkeit und dabei fallen viele andere Möglichkeiten weg. Vielleicht wären diese aber besser gewesen? Aber uns fehlt die Zeit, alle Wege zu gehen, die möglich wären. Darin liegt der Reiz der Unsterblichkeit. Wir könnten alles ausprobieren, was wir wollen, alle Reisen machen, alle Möglichkeiten realisieren. Aber das können wir nicht. Deshalb wollen wir es erzwingen. Wir brauchen mehr Zeit: * Patricia Schultz, 1000 places to see before you die, Potsdam 3 2015. 82 Zeitgewinn ist das Radikal aller Wünsche auf Erweiterung und Zugewinn an Lebensrealität. (74) Die Realität ist ein Kompromiss zwischen unendlichen Wünschen und einem endlichen Wesen. Was man ,das Leben‘ nennt, besteht aus dieser Art von Konzessionen und Arrangements. (73) Das gilt es zu akzeptieren und zu bewältigen. Der Teufel ist das personifizierte Wissen um „die Gleichgültigkeit der Welt“ (75) gegenüber dem Menschen. Er ist die verkörperte Erkenntnis der „Differenz zwischen Weltzeit und Lebenszeit einerseits“ und dem „Angebot ihrer endgültigen Identität andererseits“ (75). Das Wissen um diesen Sachverhalt ist die Wurzel des Bösen, das von Blumenberg hier also lediglich als das moralisch und vom Menschen verursachte Böse begriffen wird. Darüber will er aufklären. Er versucht, die Dramatik zu verringern, die im Auseinandertreten von Lebenszeit und Weltzeit liegt. Dies muss kein Verhängnis sein, es kann auch als Preis für das Bewusstsein um die eigene Existenz betrachtet werden. Es ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man sich über sich selbst klar werden will. Es geht letztlich um die Befriedung der aufbrechenden Divergenz von Lebenszeit und Weltzeit durch Auflösung der Passung zwischen dem Horizont der Bedürfnisse und dem der Bedingungen ihrer Befriedigung. (76) Bei Blumenberg gibt es keine Erlösung, kein Leben nach dem Tod. Es gibt keinen Trost, der über den Tod hinweghelfen kann. Man muss sich letztlich damit arrangieren-- genauso wie mit dem Bösen. Wir können nur in den Tod einwilligen und uns so von dem Druck befreien, das Leben bis in seine letzten Minuten auskosten zu müssen. Das ist unsere Chance, dem Bösen zu entgehen. Der Tod befreit uns von der Angst, etwas verpasst zu haben, von der 83 Sorge um uns selbst, die sowieso eigentlich unangemessen ist. Wir kommen aus der Wüste des Schicksals und gehen dahin zurück. Es besteht also eigentlich kein Grund zur Sorge. You know, you come from nothing, You’re going back to nothing. What have you lost? Nothing! (Monty Python-- Always look on the bright side of life) 85 7. Gott ist schuld! Und wie gehen wir damit um? -- Eine theologische Perspektive Gott ist das Schrecklichste auf der Welt. (Ödön von Horváth * ) Der Teufel ist tot. Zumindest im Rahmen der aufgeklärten Theologie, zumindest der Teufel, den wir im römisch-katholischen Katechismus kennengelernt haben. Zwar hat Martin Luther noch heftig mit dem Teufel gekämpft, doch hat die Aufklärung dem Teufel endgültig ein Ende bereitet. Der Tod des Teufels 1830 fällt der Theologe Friedrich D. E. Schleiermacher (1768-1834) in seiner Glaubenslehre ein vernichtendes und abschließendes Urteil über den Teufel: Die Vorstellung vom Teufel, wie sie sich unter uns ausgebildet hat, ist so haltungslos, dass man eine Überzeugung von ihrer Wahrheit niemandem zumuten kann. ** Gnadenlos seziert Schleiermacher die logischen Schwächen der Teufelsvorstellung. Wieso sollen sich Engel- - immerhin Wesen reinster Vollkommenheit- - bewusst und willentlich auf einen * Ödön von Horváth, Jugend ohne Gott, GW 13, Frankfurt a. M. 10 2018, 52. ** Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt I, hg. v. Martin Redeker, Berlin 1960, 211. 86 Kampf gegen Gott einlassen, von dem sie wissen mussten, dass sie ihn verlieren werden. Außerdem ist fraglich, warum ein vollkommenes Wesen bewusst unvollkommen werden will. Der Fall der Engel sei absolut unvorstellbar, weil deren Motivation nicht begründet werden kann. Wenn der Teufel also ein Engel war, lässt sich nicht begreifen, warum er keiner mehr sein wollte. Und wieso sollte der Teufel als kluger und gefährlicher Ex-Engel gegen Gott agieren, wenn er doch weiß, dass er keine Chance hat? Gleiches gilt für alle Dämonen. Warum sollten sie unablässig gegen Gott agieren, wenn ihnen doch klar ist, dass sie damit eigentlich Gottes Willen erfüllen? Denn dieser muss ihnen ihr Wirken in seiner Allmacht überhaupt erst gestatten. Wenn die Dämonen also nichts unternähmen, würden sie doch angesichts dieser Umstände „in gänzlicher Untätigkeit“ mehr „Befriedigung ihres Hasses gegen Gott finden“ (213). Unglaubwürdig wird die Vorstellung vom Teufel aber letztlich vor allem deshalb, weil sie auch nichts erklärt. Selbst wenn das Böse durch den Teufel gewirkt würde, müsste man doch dann immer noch erklären, warum der Mensch das Böse tut. Deshalb kommt Schleiermacher letztlich zu dem Ergebnis, dass der Glaube an den Teufel auf keine Weise als eine Bedingung des Glaubens an Gott oder an Christus aufgestellt werden darf, und dass von einem Einfluss desselben innerhalb des Reiches Gottes nicht die Rede sein kann. (215) Das grundlegende Problem des Teufels besteht also darin, dass er für die Deutung der Welt nichts taugt. Er löst einfach keine Probleme. Niemand kann zeigen, dass der Teufel dieses oder jenes bewirkt hat. Es ist nicht möglich, dem Teufel in letzter Konsequenz die Schuld für das Böse zuzuweisen, weil er sonst ein ebenbürtiger Gegner Gottes sein müsste. Deshalb muss man letztlich zu dem Schluss kommen, dass es keinen Grund gibt, die Existenz des Teufels anzunehmen. Ein ein- 87 facher Umgang mit dem Teufel ist demnach, ihn einfach aus der Theologie, aus der Deutung der Welt zu verabschieden und ihn als Figur im Kasperletheater oder im Kino willkommen zu heißen. Lediglich als Symbol für das Böse scheint er weiterhin brauchbar. Im Rahmen der Theologie muss man dann aber eigentlich nicht über ihn als Person, sondern als Funktion nachdenken. Was zeigt der Teufel als Chiffre für das Böse an? Und wie muss man sich das Böse denken? Das dreifache Böse Gibt es das Böse überhaupt? Ist das nicht nur ein unnötiges Moralisieren und Bewerten von natürlichen Dingen, die einfach so passieren? Ist das, was wir „böse“ nennen, nicht vielleicht nur eine Form der natürlichen Aggression, wie sie durch unsere evolutionäre Herkunft angelegt ist? Kann ein Tier böse sein? Die kurzen Hinweise zum Bösen aus der Einleitung sind wieder aufzunehmen, um diese Fragen zu beantworten und das Böse noch genauer in den Blick zu nehmen. Bereits gesagt haben wir: • Gut und Böse sind sprachliche Wertungen, die Orientierung schaffen. • Das Böse lässt sich nicht abstrakt definieren. Es ist immer konkret. • Das Böse wird erlebt, erfahren, erlitten. Es widerfährt. • Das Böse schädigt und zerstört Leben. Als Quintessenz aus den Bemerkungen in der Einleitung lässt sich festhalten: Wo sich Böses ereignet, wird es als Schädigung des Lebens und Zerstörung von Lebensmöglichkeiten erfahren, als Einbruch von Üblem, Argem und Sinnwidrigem in eine Welt, die-- und das wird eben durch den Einbruch 88 des Bösen in Gestalt von Übeln deutlich- - nicht so sein müsste, sondern anders sein könnte und auch sein sollte. * Das Böse wird also in einem sehr weiten Sinn verstanden. Es ist unerheblich, ob das Böse natürlich, zufällig oder gewollt geschieht. Es ist dann böse, wenn es uns, ob individuell oder kollektiv, betrifft, uns widerfährt. So kann also auch ein Löwe böse sein, weil er uns frisst, obwohl dies für ihn natürlich ist. Das Böse ist also nicht abstrakt, sondern konkret an uns selbst erfahrbar. Drei Formen des Bösen lassen sich klassischerweise unterscheiden. Zunächst wird damit der Stachel in unserem Fleisch bezeichnet, der uns beständig daran erinnert, dass wir keine Götter sind. Wir sind Menschen und als solche Mängelwesen. Wir sind beschränkt und wissen das. Für Martin Luther ist dies die ultimative Kränkung des Menschen: Der Mensch kann von Natur aus nicht wollen, dass Gott Gott ist; er möchte vielmehr, dass er Gott und Gott nicht Gott ist. ** Dies erinnert sowohl an die Hybris des Teufels, der sich im Mythos auflehnt, weil er wie Gott sein will, als auch an die Philosophie Blumenbergs, der die Enge der Zeit als Kränkung des Menschen ansieht. Das Motiv ist entscheidend: Der endliche Mensch will sich nicht mit seiner Endlichkeit abfinden. Er ist allein aus seinem Sein heraus unvollkommen. Dies ist der Ansatzpunkt der Sünde im Menschen. Die Disposition des Menschen, der versucht, seine Beschränkungen zu überwinden, birgt die Gefahr, dass sich der Mensch verführen lässt. In der Natur des Menschen ist also angelegt, dass er verführbar ist. Diese Grundverfassung des Menschen bringt die Möglichkeit zur Sünde mit sich. * Ingolf U. Dalfert, Das Böse. Essay über die Denkform des Unbegreiflichen, Tübingen 2 2010, 24. ** Martin Luther, Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), WA 1, 225. 89 Der Teufel, der die Verführung als Grundaufgabe in seinem Tätigkeitsprofil führt, ist demnach als Symbol der Sünde gut zu erkennen. Dieses Verständnis des Bösen bezeichnet man mit dem lateinischen Fachbegriff „malus metaphysicum“. Zweitens umfasst der Begriff des Bösen auch das Leiden. Es ist böse, dass wir leiden müssen. Wir werden geschädigt-- von einem anderen Lebewesen, von Krankheiten oder von Naturkatastrophen. In diesem Sinn kann ein Mörder genauso „böse“ sein wie ein Virus. Die Rede von der „höheren Gewalt“ zeigt dabei, dass es hier nicht um Verantwortung geht, sondern der Blick rein auf dem Opfer und dessen Schädigung ruht. Dieser Begriff, der die Schädigung des Lebens in den Blick nimmt, wird „malum physicum“ genannt. Drittens kann das Böse auch in ethischer Perspektive betrachtet werden. Dies ist für die Frage nach dem Teufel virulent, weil es hier darum geht, dass der Teufel zu einer bösen Tat verleitet. Dies schließt ein, dass der Mensch wählen kann. Hier geht es dann um die Verantwortung für das Böse und um das willentliche Verursachen von Bösem. Es dreht sich um die Frage nach Schuld und Strafe und Sühne. Ein Täter muss also verantwortlich sein. Das Böse wird dadurch auf das moralische Übel, „das malum morale“, fokussiert. In theologischer Hinsicht muss dann über Sünde und Schuld gesprochen werden. Das Böse an sich- - in einem weiten Sinn-- ist dann aber nicht mehr im Blick. Der Philosoph Gottfried W. Leibniz (1646-1716), auf den diese klassisch gewordene Einteilung zurückgeht, fasst zusammen: Das metaphysische Übel besteht in der einfachen Unvollkommenheit, das physische Übel im Leiden und das moralische Übel in der Sünde. * Damit nimmt Leibniz einen weiteren Begriff auf, der heute nicht * Zitiert nach der Übersetzung von Rochus Leonhardt, Grundinformation Dogmatik, Göttingen 4 2009, 252. 90 mehr allgemein verständlich und im Rahmen der Theologie doch wichtig ist. Was ist eigentlich Sünde? Die Sünde Sünde ist heute „ein verlorenes Wort“. * Es beschreibt in biblischer Perspektive eine Verfehlung. Wer sündigt, verfehlt ein Ziel, verfehlt das, was er treffen soll. Der Mensch als soziales Wesen ist darauf angelegt, in einer gelingenden Gemeinschaft zu leben-- dies gilt sowohl in seiner Beziehung zu Gott als auch zu seinen Mitmenschen. Das ist die theologische Grundvoraussetzung für das Verständnis des Menschen. Verfehlt er diese Bestimmung, verzweifelt er. Die Verzweiflung über seinen Zustand ist die eigentliche Sünde. Sünde ist also keine Tat, sondern ein Zustand. Aus diesem Zustand folgen schlimme Taten. Für diese Taten ist der Mensch verantwortlich. Insofern wird er schuldig. Aus verschiedenen Gründen wählt er das Böse. Vielleicht wird er von der Angst vor dem Tod motiviert und kann sich mit seinem natürlichen Ende nicht abfinden. Vielleicht kränkt ihn dieses Bewusstsein und er versucht-- wie bei Blumenberg gezeigt- - mit Mitteln der Gewalt seine Lebenszeit auszudehnen und deren Qualität auf Kosten der Natur und seiner Mitmenschen zu steigern. Auf jeden Fall muss der Mensch in dieser Perspektive scheitern, weil er mit diesem Unternehmen letztlich keinen Erfolg haben kann. Ein solcher Mensch ist verloren. Das, was er sein soll, hat er nicht erreicht. Sein Leben ist nicht gelungen. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855) hat diese Diagnose des menschlichen Wesens auf den Punkt gebracht. ** Der Mensch verzweifelt an den Beschränkungen seines Daseins. Die Verzweiflung kann dabei viele Formen annehmen. Manchmal * Gunda Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, Göttingen 2 2008, 236. ** Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, hg. v. Hans Rochol, Hamburg 1995. 91 ist man verzweifelt und weiß es gar nicht-- dann muss man sich über sich selbst aufklären lassen. Manchmal ist man verzweifelt, weiß es, kann sich aber nicht selbst helfen-- dann muss man Hilfe annehmen. Manchmal ist man verzweifelt und gefällt sich darin-- dann ist man krank. Weil man sich nicht heilen lassen will, ist man verloren. Das ist der Zustand der Sünde. Verzweiflung ist in ihrer reinen Form ein Bewusstsein des Trotzes, eine Haltung, die lieber untergeht, als Hilfe anzunehmen. Verzweiflung ist Stolz und Protest gegen den Schöpfer. Sie ist das Aufbegehren des Tippfehlers gegen den Schriftsteller. Sie ist Sünde, weil man ganz in sich verkrümmt ist und seine natürliche Offenheit für die Welt, für die Menschen und für Gott verschlossen hat. Die Sünde ist die Potenzierung der Verzweiflung. (77) Der Mensch, der sich selbst aufrichten wollte, sich selbst gründen und groß sein wollte, ist gescheitert und verzweifelt. Er kann sich nicht mehr selbst helfen. Dieser Zustand lässt den Menschen nicht los. Die Verzweiflung ist zu mächtig. Insofern ist Sünde auch eine Macht. Wie eine Sucht den Süchtigen „besitzt“, so herrscht die Verzweiflung über den Sünder. Er ist damit wie von einem Dämon besessen. Der Alkoholiker weiß, dass er nicht trinken soll, und tut es trotzdem. Der Verzweifelte weiß eigentlich, dass er in einem falschen Zustand lebt, aber es wäre zu schmerzhaft, sich heilen zu lassen. „Das Gute hat er verzweifelt aufgegeben“ (112), er ist zu einem dämonischen Menschen geworden. Die Parallelen zum Teufel werden nun sichtbar. Er ist die personifizierte Macht der Sünde, er ist der Sünder von Anfang an (Joh 8,44). Gegen den Teufel kann man nicht selbst und vor allem nicht allein mit Aussicht auf Erfolg kämpfen. Paulus spricht-- wie gesehen-- von der Sünde als Macht, die nur von Gott her durchbrochen werden kann. Das zeigt den Wesenskern der Sünde. Sie kann von innen nicht erkannt werden. Man kann sich folglich auch nicht von innen selbst befreien. Dazu braucht der Verzweifelte Hilfe von außen. 92 Überhaupt liegt die Bestimmung des Menschen nicht in ihm, sondern in seiner Beziehung zu Gott und seinen Mitmenschen. Deshalb ist der Gegenbegriff zur Sünde auch der Glaube. Wenn der Mensch akzeptiert, dass er Geschöpf Gottes ist, dann ist er nicht mehr verzweifelt und die Sünde beherrscht ihn nicht mehr. Der richtige Gegensatz aus christlicher Sicht ist demnach Sünde oder Glaube. Der Mensch, der sich selbst in Gott gründet, ist gerettet. Aber dazu braucht er Hilfe: Woher kommt mir Hilfe? (Ps 121,1) Der Teufel und die Sünde Die evangelische Theologie kommt-- wie gesehen-- ohne die Rede vom Teufel aus. Will sie dem Symbol „Teufel“ etwas abgewinnen, muss sie bei der Erfahrung ansetzen. Der Mensch erlebt sich selbst als uneindeutig, er sieht sich verschiedenen Alternativen ausgesetzt, die er wählen kann. Und oft genug bemerkt er, dass er nicht dem Guten folgt. Biblisch ist dies vor allem durch den Apostel Paulus ausgesagt worden: 18-Ich weiß: In mir-- das heißt: in meinem irdischen Leib-- wohnt nichts Gutes. Der Wille zum Guten ist bei mir zwar durchaus vorhanden, aber nicht die Fähigkeit dazu. 19-Ich tue nicht das, was ich eigentlich will-- das Gute. Sondern das Böse, das ich nicht will-- das tue ich. 20-Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bin nicht mehr ich der Handelnde. Es ist vielmehr die Sünde, die in mir wohnt. 21-Ich entdecke also bei mir folgende Gesetzmäßigkeit: Obwohl ich das Gute tun will, bringe ich nur Böses zustande. (Röm 7,18-21) Paulus diagnostiziert einen Zwiespalt im Menschen. Im Menschen wohnt die Sünde. Der Wille zum Guten kann sich gegen sie nicht durchsetzen. Das Gute liegt im Streit mit seiner irdischen Natur. Hier muss die Rede vom Teufel in systematischer Sicht ansetzen. 93 Wenn der Teufel noch eine Funktion haben soll, muss er als Symbol für die Sünde stehen. Seine Macht ist eigentlich die Macht der Sünde. Er spiegelt die Erfahrung wider, dass der Mensch zwar das Gute will, aber es letztlich nicht tut. Es geht um die Erfahrung, dass das Böse von außen kommt und sich im Inneren des Menschen festsetzen kann. Die Sünde hat also in sich eine gewisse Dynamik. Lässt man sich auf sie ein, wird man immer tiefer hineingezogen. Man wird zum Gefangenen der Sünde. Der Wille zum Guten ist da, aber das reicht nicht. Dies ist ein Grundzug biblischer Lehre vom Menschen. Auf den Punkt bringt diese Ansicht der zum Sprichwort gewordene Vers aus Mk 14,38: Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. Gott und das Böse Die Fragen nach dem Bösen und nach der Sünde werden vor allem durch das christliche Gottesbild schwierig. Zugespitzt lässt sich fragen: Wenn Gott gut ist, warum gibt es dann das Böse? Die Frage bricht auf, wenn sich die Erfahrungen des Lebens nicht mit dem Glauben an den guten Gott vereinen lassen. Der Mensch klagt Gott an-- beispielhaft wurde dies bei Hiob deutlich. In systematischer Perspektive wird dies spätestens seit Gottfried W. Leibniz das „Theodizeeproblem“ genannt. * Leibniz war der Auffassung, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hat, die Welt, in der sich das maximal mögliche Glück für die maximal mögliche Anzahl von Menschen ermöglichen ließe. Eine bessere Welt konnte Gott nicht schaffen, weil alle Geschöpfe nicht perfekt sind-- zumindest nicht so perfekt wie Gott selbst. Sie sind unvollkommen und aus unvollkommenen * Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de Théodicée, Amsterdam 1710. 94 Bausteinen kann nicht einmal Gott eine perfekte Welt schaffen. Deshalb kann die Schöpfung auch nicht das maximale Glück für alle bringen und deshalb enthält sie notwendig auch verschiedene Unvollkommenheiten. Diese sind die Erklärungen für Leid und Übel in der Welt. Eine andere Welt wäre in jedem Fall eine (noch) schlechtere Welt. Auch wenn Leibniz versucht, diese These durch Naturbeobachtungen plausibel zu machen, bleibt sie doch in einem metaphysischen Rahmen beheimatet. Die Voraussetzungen der These sind gegenwärtig nicht mehr akzeptiert. Deshalb lässt uns auch sein Versuch unbefriedigt zurück. Das Problem der Theodizee, nämlich das Auseinanderklaffen von Glaube und Erfahrung, ist wesentlich älter. Klassisch formuliert der antike christliche Apologet Laktanz (250-320) das Problem unter Berufung auf den griechischen Philosophen Epikur: Gott will entweder die Übel in der Welt abschaffen und kann nicht, oder er kann es und will nicht, oder er kann nicht und will nicht, oder er kann und will. Wenn er will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, ist er schlecht, was ihm ebenfalls fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, ist er schwach und schlecht und somit auch kein Gott. Wenn er will und kann, was allein Gott angemessen ist, woher kommen dann die Übel? Und warum beseitigt er sie nicht? * Laktanz entwirft also ein Bild Gottes, wie es auch in der christlichen Glaubenslehre vertreten wird. 1. Gott kann alles tun, er ist * Zitiert nach Rochus Leonhardt, Grundinformation Dogmatik, Göttingen 4 2009, 251. 95 allmächtig. 2. Gott weiß alles, deshalb kann er auch in das Herz des Menschen sehen und den Lauf der Welt vorauswissen. 3. Gott ist gut. Als Schöpfer hat er sich der Welt zugewandt. Gott will das Leben, will das Gute. Erst wenn diese Annahmen zutreffen, entsteht das Problem der Theodizee. Denn dann wird das Dilemma deutlich, in dem der Glaube steckt. Ein guter Gott und eine böse Welt? Wie geht das zusammen? Die Aporie der Theologie In dem Drama „Dantons Tod“ (1835) lässt der deutsche Schriftsteller Georg Büchner (1813-1837) einen amerikanischen Aufklärer namens Thomas Payne sagen: Schafft das Unvollkommne weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren; Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Merke dir es, Anaxagoras: warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten. (3. Akt, Szene 1) Das Leiden wird zum Beweis, dass es keinen Gott gibt. Dies ist angesichts der bisher gestellten Fragen logisch konsequent. Wie kann ein guter Gott böse Dinge zulassen? Wer angesichts dieser Frage zu dem Ergebnis kommt, dass er nicht an diesen Gott glauben kann, findet mein volles Verständnis. Ich halte dies für eine redliche Konsequenz aus dem Dilemma des Theodizeeproblems. Allerdings kann man vielleicht nicht aufhören zu glauben, selbst wenn man will. Man kann z. B. auch nicht einfach aufhören, Fan eines Fußballvereins zu sein, nur weil der Verein absteigt. Wer wirklich Fan ist, muss jede Niederlage durchleiden. Und wer wirklich glaubt, kann nicht einfach vom Glauben abfallen. Er leidet mit. 96 In theologischer Perspektive formuliert Büchner vor allem den Schmerz des Glaubens. Die Sünde ist eine unerklärliche Möglichkeit und eine schwer zu ertragende Realität. Das Böse ist nicht zu verstehen. Weder seine Herkunft, noch seine Sinnhaftigkeit. Nach allen Versuchen, das Böse im Rahmen einer guten Schöpfung, eines guten Gottes zu verstehen, bleibt nur das Eingeständnis des Scheiterns. Es mag zugestanden werden, dass manche Menschen es schaffen, das, was sie als Böses erleiden, in ihrem Weltbild zu deuten-- aber in einem allgemeinen Sinn gelingt dies der Theologie nicht. Sie muss bei der Antwort des Alten Testaments stehenbleiben: Gott ist schuld. Er schafft das Gute und das Böse. Aber warum er das Böse schafft oder es zumindest zulässt, was in der Konsequenz das Gleiche ist, lässt sich nicht erklären. Das Geheimnis des Bösen liegt in der Souveränität Gottes begründet. Als Mensch kann man Gott nicht vollkommen verstehen. Die biblischen Texte- - ob Hiob, ob Paulus- - und in ihrem Gefolge auch Philosophen wie Leibniz oder Blumenberg, argumentieren immer mit den Unzulänglichkeiten des Geschöpfs. Diese seien die Triebfeder des Bösen und gleichzeitig der Grund, warum es keine Rechtfertigung des Schöpfers vor seinem Geschöpf geben kann. Der Mensch ist zu klein für Gott. Paulus bringt dies mit Hilfe alttestamentlicher Gedanken (Jes 45,9) in einem berühmten Bild auf den Punkt: Du Mensch, wer bist du eigentlich, dass du dir anmaßt, mit Gott zu streiten! Sagt etwa ein Gefäß zu dem, der es geformt hat: „Warum hast du mich so gemacht? “ Hat nicht der Töpfer alle Macht über den Ton? (Röm 9,20-21) Man kann Gott dessen Souveränität nicht nehmen, ohne sein Gottsein zu verletzen. Deshalb ist das Böse bei Gott zu verorten. Dies ist die Antwort der Theologie auf die Frage nach dem Bösen. Sie endet in einer Aporie. Dass es das Böse gibt, ist angesichts eines guten Gottes paradox. 97 Der Umgang mit dem Bösen Das Christentum steht und fällt mit der Wirklichkeit der Auferweckung Jesu von den Toten durch Gott. * Das ist das Zentrum des christlichen Glaubens. Von hier müssen sich letztlich alle Themen der Theologie herleiten und beurteilen lassen. Die Auferweckung Jesu von Nazareth offenbart das Wesen Gottes. Er hat den Prediger der Nächstenliebe nicht im Tod gelassen, sondern ihn auferweckt. Damit hat er die Verkündigung Jesu bewahrheitet. Menschen haben Jesus ermordet. Gott hat ihn bestätigt. Das zeigt uns: Gott widersetzt sich all dem, was bislang als das Böse beschrieben wurde. Er widersetzt sich dem Leiden (leider ohne es in dieser Welt zu verhindern), dem Übel, all dem, was Leben schädigt und Lebensmöglichkeiten zerstört. Er ist der Gott, der für seine Geschöpfe nur Gutes im Sinn hat. Die evangelische Theologin Gunda Schneider-Flume formuliert das zentrale Ereignis des Heils so: Jesus von Nazareth ist gestorben als Opfer politischer Umstände und menschlicher Bosheit und Sünde (Lebenszerstörung, Lieblosigkeit und Gottlosigkeit). Sein Tod ist Konsequenz seines Lebens in Hingabe an den Vater (Mk 14,36), seiner Verkündigung und seines Eintretens für Menschen. Nach dem Bekenntnis des Glaubens ereignet sich in Jesus Christus Gottes Geschichte als Gottes Identifikation mit dem sich hingebenden Leidenden und Sterbenden. ** Biblisch wird diese zentrale Einsicht in das Wesen Gottes knapper formuliert. Der 1. Brief des Johannes schließt aus dem Geschehen * Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung. Ursachen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, BE vTh 38, München 1965, 150. ** Gunda Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik, Göttingen 2 2008, 250. 98 um Jesus von Nazareth darauf, dass Gottes Verhältnis zu uns Menschen ein liebendes Verhältnis ist. Analog zum (gelingenden) Verhältnis zwischen Eltern und ihren Kindern setzt er das Verhältnis mit dem Wesen, dem Sein Gottes gleich: Gott liebt uns nicht nur, er ist die Liebe selbst. 7 Ihr Lieben, wir wollen einander lieben. Denn die Liebe kommt von Gott. Und wer liebt, hat Gott zum Vater und kennt ihn. 8- Wer nicht liebt, kennt Gott nicht. Denn Gott ist Liebe.-[…] 13-Gott hat uns Anteil gegeben an seinem Geist. Daran merken wir, dass wir in seiner Gegenwart leben und er in uns gegenwärtig bleibt.-[…] 16-Und wir haben die Liebe, die Gott uns schenkt, kennengelernt und im Glauben angenommen. Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe lebt, lebt in Gottes Gegenwart und Gott ist in ihm gegenwärtig.-[…] 18-Die Liebe kennt keine Furcht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn Furcht rechnet mit Strafe. Bei dem, der sich fürchtet, ist die Liebe noch nicht an ihr Ziel gelangt. (1.Joh 4) Nicht umsonst sind die Bilder, die uns in der Bibel von Gott begegnen, Vergleiche mit Mutter (Jes 49,15) und Vater (Mt 6,9). Mit dieser Wesensbestimmung Gottes ist das, was wir durch Kreuz und Auferweckung gelernt haben, auf den Punkt gebracht. Gott hat uns durch die Verkündigung und das Schicksal Jesu gezeigt, dass er uns liebt und dem Bösen nicht das letzte Wort lässt. Das letzte Wort Gottes ist die Liebe zu uns. Dies erfahren wir gegenwärtig durch das Geschenk des Geistes und durch den Glauben. Wenn wir Liebe erfahren, machen wir eine Gotteserfahrung. Der Glaube richtet sich auf diesen Gott aus. Deshalb können wir gewiss sein, dass Gott das Böse nicht will, obwohl wir zugeben müssen, dass er es zulässt. Eigentlich hat er durch das Kreuz schon gezeigt, dass er das Böse besiegen will. Und weil er Gott ist, können wir glauben, dass er es auch kann und darauf hoffen, dass er es eines Tages auch für uns vollkommen beseitigen wird. Aber jetzt müssen wir noch darunter leiden. Die angemessene Form, mit dem Bösen umzugehen, ist deshalb die Klage. 99 Die Klage über das Böse Der Mensch, der Böses erleidet, kann sich von Gott abwenden und vom Glauben abfallen. Sein Glaube ist dann am Leiden, dem „Fels des Atheismus“ (Büchner), zerschellt. Die Frage ist dann, ob er sein Leben ohne Glauben besser bewältigen kann. Oder er kann seine Klage vor Gott bringen. Dies ist der Weg, den die biblischen Texte vorschlagen. Besonders im Alten Testament finden sich viele Texte, die Schmerz, Wut und Verzweiflung gegenüber Gott aussprechen. Im Buch der Psalmen gibt es eine eigene Gattung, die sich „Klagepsalm“ nennt. Im Evangelium nach Markus wird so ein Klagepsalm sogar Jesus am Kreuz in den Mund gelegt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? “ (Ps 22,2) Dieser Psalm zeigt exemplarisch, wie ein Mensch, dem Böses widerfahren ist, sein Schicksal vor Gott bringt. Er selbst fühlt sich von Gott verlassen. Gott hört ihn nicht mehr und deshalb hat er keine Aussicht auf Rettung: 2 Weit entfernt ist meine Rettung. Ungehört verhallt mein Hilfeschrei. 3- „Mein Gott“, so rufe ich am Tag, doch du gibst keine Antwort. Und so rufe ich in der Nacht, doch nur Schweigen umgibt mich. Das Leiden des Beters erstreckt sich über einen längeren Zeitraum. Tag und Nacht ruft er nach Gott, aber Gott antwortet nicht. Nur das kalte Schweigen umgibt ihn. Er ist in einer hoffnungslosen Situation. Trotzdem hält er an Gott fest. Er ist zwar verzweifelt, hat aber keinen anderen Ansprechpartner als Gott. Er hat zuvor bereits geholfen: 4-Du aber, du bist der Heilige! Du thronst über den Lobgesängen Israels! 5-Auf dich vertrauten schon unsere Eltern. Sie vertrauten darauf, dass du sie rettest. 6-Sie riefen zu dir und wurden gerettet. Auf dich haben sie sich verlassen und wurden nicht enttäuscht. 100 Die Vorfahren des Beters wurden nicht enttäuscht. Israel wurde von Gott letztlich nicht im Stich gelassen. Diese Heilserfahrung hält der Beter fest. Allerdings hilft sie ihm nur insofern, dass er Gott weiterhin anspricht und sich etwas von ihm erwartet. Deshalb ruft er immer noch. Trotzdem hilft ihm dies eigentlich nicht weiter. 7-Aber ich bin ein Wurm und kein Mensch mehr-- ein Gespött der Leute und verachtet vom Volk! Der Beter ist erniedrigt und verlassen. Sein Menschsein wurde in Frage gestellt. Er wurde aus der Gesellschaft ausgestoßen. Er wurde zum Gegenstand von Hohn und Verachtung. Gott allein ist sein einziger Bezugspunkt. 10-Ja, du hast mich aus dem Mutterleib gezogen. An der Mutterbrust lehrtest du mich Vertrauen. 11-Auf dich bin ich angewiesen seit meiner Geburt. Vom ersten Atemzug an bist du allein mein Gott! Er spricht Gott direkt an und erinnert ihn an die gemeinsame Geschichte. Der Beter erinnert Gott damit an seine Verantwortung ihm gegenüber. Sein Vertrauen gründet auf seiner Jugend mit Gott, auf seiner Geschöpflichkeit. Wie kann Gott sein Geschöpf im Stich lassen? Eigentlich darf er das nicht. Darauf weist ihn der Beter hin und nimmt ihn in die Verantwortung. Er appelliert an Gott, sein Schicksal zu wenden. 12-Bleib nicht fern von mir! Denn die Not ist so nahe. Und sonst habe ich niemand, der mir hilft.-[…] 15- Ich fühle mich wie ausgeschüttetes Wasser und habe keine Gewalt mehr über meine Glieder. Mein Lebensmut ist weich wie Wachs, dahingeschmolzen in meinem Innern. 16- Trocken wie eine Tonscherbe ist meine Kehle und die Zunge klebt mir schon am Gaumen. So bettest du mich in den Staub zu den Toten. Diese Verse deuten auf eine Krankheit des Beters hin. Das ist also das konkrete Leiden, das der Beter vor Gott bringt. Er ist so krank, 101 dass er fast stirbt. Er hat Fieber und kann sich nicht mehr bewegen. Es gibt für ihn eigentlich keine Rettung mehr. 17-Ja, Hunde rotteten sich um mich zusammen! Eine Meute von Bösen hat mich eingekreist- - wie ein Löwe, der bereit ist zum Sprung, um mich an Händen und Füßen zu packen. 18-Schon zähle ich alle meine Knochen. Sie aber schauen zu, sie gaffen mich an. 19-Schon verteilen sie meine Kleider unter sich und werfen das Los über meinen Mantel. Die Situation des Beters ist dramatisch. Sein Tod scheint eine sichere Sache. Er hat Feinde, die ihn bestehlen. Sie haben seine Kleider genommen und losen jetzt aus, wer sie bekommt. Das Letzte, was er besitzt, ist nun auch noch weg. Der Beter ist am Tiefpunkt angekommen. Es geht nach menschlichem Ermessen nicht mehr weiter. Ein letzter Appell an Gott kommt ihm aber noch über die Lippen. 20-Doch du, HERR , bleib nicht fern von mir! Du bist meine Stärke, hilf mir schnell! 21-Bewahre mein Leben vor dem Schwert, mein einziges Gut vor der Gewalt der Hunde! 22-Rette mich aus dem Rachen des Löwen und vor den Hörnern der Wildstiere! Offensichtlich sieht der Beter in den Tieren, die er beschreibt, dämonische Gewalten am Werk. Auch gegen diese muss Gott sich durchsetzen, wenn er ihm zur Hilfe eilt. Und dies tut Gott dann auch tatsächlich. Er erhört die Bitten des Beters und rettet ihn aus der Todesgefahr. Ab Vers 23 wandelt sich der Klagepsalm deshalb zum Dank- und Lobpsalm. 25-Denn das Elend, das mich Armen bedrückt, hat er nicht übersehen und nicht missachtet. Sein Angesicht hat er nicht vor mir verborgen. Er hat mich gehört, als ich um Hilfe schrie. Psalm 22 zeigt also, dass der Beter sich auf den Glauben seiner Vorfahren verlässt und deshalb an Gott festhält. Die guten Erfahrungen, die sein Volk mit Gott gemacht hat, bringen ihn dazu, Gott auf sein Verhältnis zu ihm anzusprechen und sich von Gott 102 Hilfe zu erwarten. Er verlangt dies regelrecht. Dabei traut er Gott die Überwindung des Leidens, das ihn getroffen hat, ohne Zweifel zu. Er vertraut darauf, dass Gott ihn rettet, obwohl er nur vergangene Erfahrung als Anhaltspunkt dafür hat. Im Leiden behauptet er seinen Glauben. Während Psalm 22 am Ende von einer Rettung durch Gott erzählt, kommt Psalm 38 ohne „Happy End“ aus. Dieser Psalm ist deshalb noch besser geeignet, den biblischen Umgang mit dem Bösen zu demonstrieren. Der Beter des Psalms weiß, dass das Böse von Gott kommt. Er sieht es als Strafe Gottes an. HERR , straf mich nicht voller Zorn! Schlag mich nicht in deiner Wut! 3- Denn deine Pfeile haben mich getroffen. Ebenso hat deine Hand mich getroffen. 4-Kein Fleck an meinem Körper ist mehr heil. Der Grund dafür ist dein Zorn. (Ps 38,2-4) Das Leiden, hier wieder in Form einer Krankheit, wird vom Beter gedeutet. Er gibt zu, dass er Fehler gemacht hat, und erkennt, dass Gott direkt für seine Krankheit verantwortlich ist. Im Gegensatz zu Ps 22 gibt es in diesem Fall aber keine Lösung. Am Ende bleibt dem Beter nur die Bitte an Gott. 22- HERR , lass mich nicht im Stich! Mein Gott, bleib nicht fern von mir! 23-Komm mir schnell zu Hilfe! Mein HERR , du bist meine Rettung! Ob Gott diese Bitten erhört hat, wird nicht berichtet. Der Psalmbeter weiß in Ps 38, dass er etwas falsch gemacht hat, und bittet um Vergebung. Er weiß, dass sein Leiden von Gott verursacht wurde, und akzeptiert dies. Schwerwiegender sind die Texte, die keinen Grund für ihr Leiden sehen. Das Buch Hiob wurde in diesem Zusammenhang bereits besprochen. Psalm 17 ist ein Beispiel für einen Beter, der sich keiner Schuld bewusst ist und trotzdem Böses erleidet. Er bittet Gott um Hilfe. 103 8- Behüte mich wie die Pupille im Augapfel! Im Schatten deiner Flügel verstecke mich-- 9-vor den Frevlern, die mir Gewalt antun, vor den Todfeinden, die mich umringen! 10- Sie haben ihr Herz fest verschlossen und schwingen überhebliche Reden. 11- Sie sind mir dicht auf den Fersen. Ja, sie haben mich gleich umzingelt. Ihre Augen verlangen danach, mich zur Strecke zu bringen. Der Beter erleidet Böses, er wird von anderen Menschen gejagt und muss damit rechnen, sein Leben zu verlieren. Aber er hat nichts Böses getan und Gott weiß das: 3-Du hast mein Herz durchleuchtet, nachts meine Gedanken erforscht. Du hast mich wie Metall geprüft. Doch du wirst nichts Unreines finden! Ich bin mir keiner Schuld bewusst. 4- Schau auf das Treiben der Menschen! -- Ich habe mich an das Wort gehalten, das von deinen Lippen kommt. Der Beter weiß nicht, warum ihm Böses geschieht. Er kann es- - im Gegensatz zum Beter aus Ps 38- - nicht deuten. Seine einzige Möglichkeit ist, sich trotzdem weiter an Gott zu halten und von ihm Hilfe zu erwarten. 13 Rette mein Leben vor dem Frevler! 14-Dein Schwert rette mich vor solchen Leuten! Deine Hand, Herr, rette mich vor solchen Leuten! Der Psalm bleibt bei dieser Bitte stehen. Auch hier ist ungewiss, ob Gott diese Bitte erhört. Alle Beispiele zeigen also auf ihre Weise: Der Glaubende weiß, dass das Böse von Gott kommt. Manchmal kann er es für sich deuten und verstehen, manchmal aber auch nicht. Aber am Ende steht immer die Anrede an Gott. Er wird in Anspruch genommen. Er wird für das Böse und die Rettung davor verantwortlich gemacht. Wenn er der Gott ist, der das Gute will und der sich verhält wie liebevolle Eltern zu ihren Kindern, dann darf er auf seine Verantwortung hin angesprochen werden. Psalm 25 macht dies vorbildlich: 104 16 Wende dich zu mir und hab Erbarmen mit mir! Denn ich fühle mich einsam und unglücklich. 17- Befreie mich von der Angst, die mir das Herz zusammenschnürt. Führe mich aus meiner Bedrängnis! 18-Nimm mein Unglück und Leid von mir! Schaff alle meine Sünden aus der Welt! -[…] 20-Schütze mein Leben und rette mich! Lass mich keine Enttäuschung erleben! Denn bei dir suche ich Zuflucht. In der jüdisch-christlichen Tradition ist demnach klar, wie man dem Bösen begegnen soll. Man bringt es vor Gott. Man spricht ihn darauf an. Man weiß dabei, dass Gott das Böse auch zugelassen hat, deshalb kann er es aber auch wieder nehmen: „Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt! “ (Hi 1,21). Man kann Gott vorwerfen, dass er das Böse zugelassen hat. Letztlich bleibt Gott aber der einzige Bezugspunkt, der den Umgang mit dem Bösen erträglich machen kann. Ein Grundzug der biblischen Einsicht in das Böse ist es also zuzugeben, dass wir Gott nicht verstehen, dass wir nicht verstehen, warum er das Böse zulässt, und gleichzeitig darauf zu vertrauen, dass er uns gegen das Böse helfen wird. Das Böse ist daher für uns immer paradox. Gott will es nicht, lässt es aber zu. Und Gott hilft uns, es zu bewältigen. Erklären lässt es sich also in christlicher Perspektive nicht. Wir können lediglich damit umgehen. Wir sind aufgerufen, es dort zu bekämpfen, wo dies in unseren Möglichkeiten liegt. Am Ende sind wir aber darauf angewiesen, dass Gott sein Versprechen hält, dass er das Gute will und es auch zum Sieg bringen wird. Für uns ist letztlich klar, dass Gott uns hilft, das Gute anzunehmen und das Böse auszuhalten, was nichts anderes heißt als unser Leben zu leben. Dabei hilft uns Gott. Woher kommt Hilfe für mich? 2-Hilfe für mich, die kommt vom HERRN ! Er hat Himmel und Erde gemacht. (Ps 121,1-2) 105 Literatur Eigene Vorarbeiten Katechon. II Thess 2,1-12 im Horizont apokalyptischen Denkens, BZNW 135, Berlin / New York 2005. Esra und das vierte Buch Esra-- Die Bedeutung des Pseudonyms für die Interpretation einer apokalyptischen Schrift, in: Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung. FS Otto Böcher, hg. v. Michael Wolter / Friedrich W. Horn, Neukirchen-Vluyn 2005, 263-290. „Der Teufel hat wenig Zeit“ (Offb 12,12)-- Hans Blumenberg, die Wahrheit der Apokalyptik und die Legitimität der Auslegung, ZNT 22, 2008, 34-43. Das böse Herz. Der Mensch als Schicksal der Schöpfung im IV Esra, in: Theologies of Creation in Early Judaism and Ancient Christianity, hg v. Tobias Nicklas / Korinna Zamfir, DCLS 6, Berlin- - New York 2010, 225-252. Der Teufel, Wiesbaden 2012 ( 2 2016). Die geheime Offenbarung- - Zur Autorität der Schrift im IV Esr, in: Scriptural Authority in Early Judaism and Ancient Christianity, hg. v. Géza G. Xeravit / Tobias Nicklas / Isaac Kalimi, DCLS 16, Berlin-- New York 2013, 207-224. „Tropfen und Rauch“ (4Esr 4,50)- - Das Zeitverständnis im apokalpytischen Denken, in: Zeit, hg. v. Dorothea Sattler / Michael Wolter, JBT h 28, Neukirchen-Vluyn 2014, 47-67. Sie über sich-- Eine exegetische Untersuchung zur Autorität der Schrift in ökumenischer Perspektive, Tübingen 2018. 106 Weiterführende Literatur Michaela Bauks, Theologie des Alten Testaments. Religionsgeschichtliche und bibelhermeneutische Perspektiven, Göttingen 2018. Christian Brüning / Robert Vorhalt, Die Frage des Bösen. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, NEB , Würzburg 2018. Ingolf U. Dalfert, Das Böse. Essay über die Denkform des Unbegreiflichen, Tübingen 2 2010. Bart. D. Ehrman, God’s Problem: How the Bible Fails to Answer Our Most Important Question-- Why We Suffer, San Francisco 2009. Jan C. Gertz, Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1-11, ATD 1, Göttingen 2018. Rochus Leonhardt, Grundinformation Dogmatik, Göttingen 4 2009. Gunda Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik. Nachdenken über Gottes Geschichte, Göttingen 2 2008. Gerd Theißen, Monotheismus und Teufelsglaube. Entstehung und Psychologie des biblischen Satansmythos, in: Demons and the Devil in ancient and medieval Christianity, Leiden 2011, 37-69. ISBN 978-3-89308-461-6 W W W . N A R R . D E W W W . N A R R . D E Zum Teufel und zur Hölle damit. Der Teufel hat keine Lust mehr. Er ist weg und die Hölle ist leer. Doch: Wo ist der Teufel heute? Er ist ausgewandert in die Deutung der Welt. Als Symbol für das Böse gibt es ihn. Er ist eine Antwort auf die Frage: Warum leiden wir? Doch es gibt noch andere Fragen: Sind wir daran selbst schuld? Sind wir verantwortlich für das Böse? Oder hat Gott damit etwas zu tun? Warum gibt es das Böse überhaupt? Und was ist eigentlich „böse“? Das Buch gibt Antworten und stellt Fragen. Damit am Ende nicht alles „zum Teufel“ geht. Metzger Zum Teufel! - Die Frage nach dem Bösen Zum Teufel! - Die Frage nach dem Bösen Paul Metzger 20461_Umschlag.indd 3 25.09.2020 09: 39: 40