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Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken

0617
2015
978-3-7720-5546-1
978-3-7720-8546-8
A. Francke Verlag 
Robert Ranisch
Sebastian Schuol
Marcus Rockoff
10.2357/9783772055461
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Entwicklungen der Lebenswissenschaften versprechen nicht mehr nur Heilerfolge, sondern auch eine Optimierung des Menschen. Stichworte wie "Hirndoping" und "Designer-Babys" verweisen dabei auf Potenziale und Gefahren von Möglichkeiten der Selbstgestaltung durch Biotechniken. Solche neuen Handlungsoptionen fordern unser Normensystem heraus und bedürfen einer bioethischen Reflexion. Der Band zeigt aus interdisziplinärer Perspektive Wege auf, die Herausforderungen insbesondere der Genetik und Neurowissenschaften anzunehmen. Dabei werden sowohl ethische Grundlagen als auch die gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Selbstgestaltung des Menschen in den Blick genommen.

Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken Robert Ranisch/ Sebastian Schuol/ Marcus Rockoff (Hrsg.) Tübinger Studien zur Ethik · Tübingen Studies in Ethics 4 Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken Tübinger Studien zur Ethik Tübingen Studies in Ethics 4 Herausgegeben vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) Schriftleitung: Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn Prof. Dr. Friedrich Hermanni Dr. Roland Kipke Prof. Dr. Thomas Potthast Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing Robert Ranisch Marcus Rockoff Sebastian Schuol (Hrsg.) Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken / / Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Graduiertenkolleg 889 Bioethik Zur Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken © 201 5 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8 546 - 8 “ „ - . Inhaltsverzeichnis Eve-Marie Engels & Thomas Potthast Das Graduiertenkolleg „Bioethik“ Eine kurze Übersicht zu seinen Grundideen, Zielen und Ergebnissen......... 7 Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff Einleitung: Zur Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken.............................. 15 N ORMATIVE G RUNDLAGEN Roman Beck Transparenz in der Biomedizin und die Frage nach der „Selbstgestaltung des Menschen“ ..................................................................... 35 Cordula Brand „Wie Du mir so ich Dir“ Moralische Anerkennung als intersubjektiver Prozess ................................. 51 Daniel C. Henrich Wieso soll ich? Zum Begriff der praktischen Rationalität im Spätwerk von Philippa Foot......................................................................... 65 Björn Sydow Menschsein als moralischer Maßstab der biotechnologischen Menschengestaltung ........................................................ 83 H ISTORISCHE Z UGÄNGE Katrin Esther Lörch-Merkle Zur materialen Wertethik Nicolai Hartmanns im Zeitalter des Human Enhancements........................................................... 97 Sabine Pohl Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben und die Bioethik ................ 113 D AS S ELBST Michael Jungert Memory, Personal Identity, and Memory Modification.............................. 129 Jon Leefmann Der unartikulierte Verdacht: Varianten des Authentizitätsbegriffes in der Debatte um Neuro-Enhancement .............. 141 G ENETIK UND R EPRODUKTION Shirin Garmaroudi Naef Modern Reproductive Technologies in the Light of Traditional Ontologies: An Anthropological Reflection on Assisted Reproduction in Iran ......................................................................... 157 Leona Litterst „Neues“ Leben aus dem Labor? Systematische und ethische Aspekte der Synthetischen Biologie.............. 173 Robert Ranisch „Du sollst das beste Kind wählen! “ Eine Kritik des Pflichtbegriffs von Procreative Beneficence ....................... 191 K. Viktoria Röntgen Epigenetic Profiling Assays - ethische Aspekte einer neuen Technologie.................................................... 209 Sebastian Schuol Der Lebensstil als Biotechnik? Zur Erweiterung des Genbegriffs durch die Epigenetik ............................. 223 M EDIALE T HEMATISIERUNG Jutta Krautter Zur medialen Darstellung von Neuro-Enhancement: Eine rhetorische Analyse mit einem Fokus auf (latente) Welt- und Menschenbilder .......... 237 Simon Ledder „Ich will kein Freak werden! “ Die Produktion von „Verbesserung“ und „Behinderung“ in digitalen Spielen .......................... 253 Marcus Rockoff Seelenlose Klone? Literatur als Reflexionsmedium bioethischer Fragen am Beispiel des Organ-Klons ....................................... 271 F ORMEN DER R EGULIERUNG Veljko Dubljević Regulation of Cognition Enhancement Drugs and Public Reason: Prohibition or Economic Disincentives Model? ............................................ 289 Jochen Fehling Vermarktung genetischer Tests im Spannungsverhältnis zwischen Gewinnoptimierung und Patientennutzen: Was kann eine Unternehmensethik leisten? .................................................. 305 Danksagung ....................................................................................................... 321 Über die Autorinnen und Autoren ................................................................. 323 Eve-Marie Engels & Thomas Potthast Das Graduiertenkolleg „Bioethik“ Eine kurze Übersicht zu seinen Grundideen, Zielen und Ergebnissen Entstehungsgeschichte und Grundidee Seit etwa fünfzig Jahren konfrontieren uns die Lebenswissenschaften, Biologie und Medizin, zunehmend mit neuen ethischen und rechtlichen Herausforderungen. Ihre rasanten Entwicklungen in der Grundlagenforschung und in ihren heutigen und für die Zukunft erwarteten biotechnischen Anwendungen erfordern eine fundierte bioethische Kompetenz. Bioethik, sei es in ihrer Funktion der ethischen Reflexion aktueller Forschung und Technologie oder in ihrer antizipierenden Rolle als Sensor möglicher zukünftiger Chancen und Risiken der Lebenswissenschaften, konkretisiert sich in Expertisen, Stellungnahmen, Empfehlungen und Gesetzesentwürfen auf nationaler und internationaler Ebene. In diesem Sinne hat sich insbesondere seit Anfang der 1990er Jahre eine zunehmende Institutionalisierung der Bioethik im akademischen und politischen Raum vollzogen. Allerdings besteht weiterhin eine erhebliche Kluft zwischen der wachsenden Nachfrage nach bioethischer Kompetenz und den verfügbaren Ausbildungsmöglichkeiten. Interdisziplinäre Kompetenzen, wie sie für eine fundierte bioethische Urteilsbildung erforderlich sind, lassen sich über die etablierten Formen der Promotionsausbildung nur schwer erlangen. Sie setzen vielmehr die Struktur einer interfakultären Kooperation voraus, in der Vertreterinnen und Vertreter verschiedener natur-, sozial- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen sowie der Medizin in einem interdisziplinären und integrativen Reflexionsprozess an gemeinsamen Fragestellungen und Lösungsmöglichkeiten arbeiten. Ein Ziel des Graduiertenkollegs Bioethik war es daher, mit seinem Forschungs- und Qualifizierungsprogramm einen wesentlichen Beitrag zur Professionalisierung und Institutionalisierung einer interdisziplinären, anwendungsbezogenen Bioethik zu leisten und damit eine strukturbildende Funktion zu erfüllen. Für die Kollegiaten und Kollegiatinnen sollte dies den Erwerb inhaltlicher, struktureller und methodischer Kernkompetenzen in der interdisziplinären anwendungsbezogenen Bioethik beinhalten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte das Graduiertenkolleg 889 „Bioethik“ von Januar 2004 bis Dezember 2013. Eve-Marie Engels & Thomas Potthast 8 Die Universität Tübingen bietet mit ihrer langjährigen Tradition und den gewachsenen Strukturen interdisziplinärer Ethik für das Graduiertenkolleg Bioethik die besten Voraussetzungen. Das methodologische Programm einer Ethik in den Wissenschaften wird hier seit mehr als 25 Jahren in Forschung und Lehre erfolgreich praktiziert. Die grundlegende Idee einer Ethik in den Wissenschaften ist die, dass ethische Fragen, die der wissenschaftlichen Arbeit erwachsen, durch die personelle und institutionelle Zusammenführung interdisziplinärer Kompetenzen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus der Ethik und anderen Wissenschaftsbereichen in einem integrativen Reflexionsprozess aufgedeckt, analysiert, diskutiert und bewertet werden, um mögliche Lösungswege zu erarbeiten. Durch das am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) von der DFG bereits von 1991-2000 geförderte Graduiertenkolleg „Ethik in den Wissenschaften“ und die Einrichtung und Besetzung der beiden Lehrstühle für Ethik in den Biowissenschaften (Prof. Dr. Eve-Marie Engels, 1996, Fakultät für Biologie, seit 10/ 2010 Fachbereich Biologie, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät) und Ethik in der Medizin (Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing, 1998, Medizinische Fakultät) wurden institutionelle Strukturen für die dauerhafte Etablierung einer Ethik in den Lebenswissenschaften in Lehre und Forschung geschaffen. Dank der vielen Vorarbeiten interdisziplinärer Ethik an der Universität engagierten sich zahlreiche Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen aus unterschiedlichen Fächern und Fakultäten in der Betreuung der Kollegiaten und Kollegiatinnen. Die beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen brachten in die Formulierung der Themenschwerpunkte auch ihre eigenen Forschungsinteressen ein. Das Graduiertenkolleg Bioethik ermöglichte es, die Bioethik speziell auf der Doktoranden- und Postdoc-Ebene zehn Jahre lang im Rahmen eines strukturierten Ausbildungs- und Forschungsprogramms intensiv und systematisch auszubauen, was auch zur Stärkung ihrer Rolle in Wissenschaft und Gesellschaft beiträgt. Mit Blick auf den thematisch weit verzweigten bioethischen Diskurs, der die Anwendung von Biotechniken auf Pflanzen, Tiere und Menschen umfasst, erfolgte aus pragmatischen Gründen eine thematische Fokussierung. Im Graduiertenkolleg Bioethik wurden drei Forschungsschwerpunkte bearbeitet: 1. Theoretische Grundlagen der Bioethik, 2. Ethische und wissenschaftstheoretische Aspekte der Neurowissenschaften, 3. Ethische und wissenschaftstheoretische Aspekte des Umgangs mit genetischer Information. Die Auswahl dieser Schwerpunkte liegt in der Notwendigkeit einer bioethischen Grundlagenreflexion und der zunehmenden Relevanz und Brisanz von Genetik und Neurowissenschaften in Wissenschaft und Gesellschaft begründet. Von Anfang an waren daher die biotechnischen Anwendungen von Genetik und Neurowissenschaften und ihre ethischen, gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen als zentrale Themen des Graduiertenkollegs Bioethik eingeschlossen. Dabei wurden nicht nur therapeutische Anwendungen Das Graduiertenkolleg „Bioethik“ 9 von Biotechniken reflektiert, sondern auch darüber hinausgehende Ideen der Verbesserung, des Enhancements, der menschlichen Natur durch Biotechniken. Unter dem Begriff der Biotechniken ist die Gesamtheit der biowissenschaftlichen (biologischen und medizinischen) Techniken zu verstehen, die Eingriffe in Organismen ermöglichen. Nach der ersten Förderperiode von 2004 bis 2006 wurden die beiden anschließenden Förderphasen explizit unter das übergreifende Forschungsthema „Bioethik - Zur Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken“ gestellt. In Kontinuität der ersten Phase des Graduiertenkollegs standen weiterhin Genetik und Neurowissenschaften und deren biotechnologische Entwicklungen als Bezugswissenschaften im Mittelpunkt. Damit waren auch Fragen der theoretischen Grundlagen der Bioethik mit je spezifischen Akzentsetzungen in Abhängigkeit von den bearbeiteten Schwerpunkten impliziert. Die explizite Fokussierung auf den Menschen und seine Selbstgestaltung hat neben Umfang und inhaltlicher Homogenität vor allem sachliche Gründe. In der klassischen philosophischen Anthropologie wird der Mensch als Lebewesen beschrieben, das von Natur aus ein Kulturwesen ist. Helmuth Plessner bezeichnet sein erstes anthropologisches Grundgesetz als das „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“. Der Mensch ist für die Herausbildung und Realisierung der menschlichen Existenz auf Kultur angewiesen. Lange Zeit zielte der Begriff des Kulturwesens auf die geistige Dimension des Menschen, die Möglichkeit und Notwendigkeit seiner Erziehung und Bildung im traditionellen, klassischen Sinn. Mit der Entwicklung von Biotechniken, die auf den Menschen und im Menschen angewendet werden, gewinnt die Idee, dass der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen ist, eine über Erziehung und Bildung hinausgehende Bedeutung. Durch diese Techniken, die der Mensch als Kulturwesen hervorgebracht hat, wird es ihm zunehmend möglich, in die eigene körperliche, leibliche und seelisch-geistige Natur einzugreifen, sich selbst mit technischen Mitteln zu gestalten. „Auch jener Bereich des Menschen, der ursprünglich keiner direkten Beeinflussung zugänglich war und der dem Menschen vor aller kulturellen Strukturierung oder Überformung in die Wiege gelegt war, wird dann seiner künstlichen Gestaltbarkeit zur Disposition stehen.“ (Engels 1999, 31) Angesichts dieses anthropologischen Faktums wird die Bestimmung der Freiräume und Grenzen biotechnischer Selbstgestaltung des Menschen zu einer besonderen ethischen Herausforderung. Die Selbstgestaltung des Menschen wurde im Graduiertenkolleg daher nun unter ethischen, anthropologischen, gesellschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Aspekten reflektiert. In diesem Rahmen kommt der interdisziplinären anwendungsbezogenen Bioethik die Funktion einer Brückendisziplin zwischen den Naturwissenschaften, Medizin und Psychologie auf der einen Seite und den Geistes- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite zu (vgl. Potthast 2004). Eve-Marie Engels & Thomas Potthast 10 Forschungs- und Ausbildungsprogramm Die Zielsetzungen des Forschungs- und Ausbildungsprogramms des Graduiertenkollegs Bioethik waren die Förderung einer interdisziplinären Kompetenz der Kollegiaten und Kollegiatinnen und ihrer Fähigkeit zum interdisziplinären Dialog. Beides ist in einer Zeit, in der die Lebenswissenschaften und ihre Techniken zunehmend Relevanz für Individuum und Gesellschaft erlangen, dringlicher denn je. Da die Fruchtbarkeit und Lebendigkeit eines interdisziplinären Graduiertenkollegs von der Vielfalt der in ihm vertretenen Fächer und Disziplinen lebt, wurde bei der Auswahl der Stipendiaten und Stipendiatinnen darauf geachtet, nicht nur Kompetenz, sondern auch disziplinäre Vielfalt zu fördern. Dies sind optimale Voraussetzungen für den Aufbau einer interdisziplinären Bioethik. Bioethische Aspekte und Problemstellungen werden in einzelnen Fächern und für diese relevant und bestimmen damit deren Inhalte, theoretische Bezüge und Strukturen. Umgekehrt erfährt die Bioethik eine Bereicherung durch den Anwendungsbezug in diesen verschiedenen Kontexten. Die integrative und interdisziplinäre Struktur des Graduiertenkollegs wurde nicht nur innerhalb des Kollegs durch die Vernetzung der Disziplinen mit der Bioethik und untereinander realisiert. Auch außerhalb des Kollegs können sich in wissenschaftlichen, beruflichen und anderen institutionellen Kontexten mögliche neue Anwendungsfelder der Bioethik ergeben. Das breit gestreute Spektrum verschiedener Herkunftsfächer und wissenschaftlicher Disziplinen der Kollegiaten und Kollegiatinnen umfasste die Biologie, Cinema Studies, Erziehungswissenschaften, Theologie, Geschichte, Germanistik, Literaturwissenschaften und Literaturgeschichte, Humanbiologie und Humanmedizin, Japanologie, Kunstpädagogik, Medienwissenschaften, Pädagogik, Philosophie, Politikwissenschaften, Psychologie, Publizistik und Kommunikationswissenschaften, Rechtswissenschaften, Religionsgeschichte, Religionswissenschaften, Allgemeine Rhetorik, Sozialanthropologie, Sozialwissenschaften, Soziologie, Sportwissenschaften, Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsethik. Die Heterogenität der Gruppen bildete zwar stets eine große Herausforderung für die inhaltliche und fachsprachliche Kommunikation, doch führte sie zugleich zu wirklich fächerverbindenden ertragreichen Debatten. Für die einzelnen Kollegiaten und Kollegiatinnen entstand Interdisziplinarität „in einer Person“ zumeist durch die Kombination ihrer Herkunftsfachkultur mit einer komplementären Wissenschaftskultur (Naturwissenschaften/ Medizin mit Geistes- oder Sozialwissenschaften), für das Kolleg als Ganzes wurde Interdisziplinarität vieler Fächer im Diskurs und in den entsprechenden Publikationen praktiziert. Für den Erfolg der Interdisziplinarität im Graduiertenkolleg als Ganzem mussten bestimmte strukturelle Bedingungen thematischer Vernetzung erfüllt sein, die auch die drei Schwerpunkte des Graduiertenkollegs miteinander verknüpften. Diese waren 1. die in zweiwöchentlichem Turnus stattfinden- Das Graduiertenkolleg „Bioethik“ 11 den Kolloquien des Graduiertenkollegs Bioethik, in denen die Mitglieder des Kollegs ihre Projekte vorstellten, 2. öffentliche Ringvorlesungen mit Experten und Expertinnen zu verschiedenen thematischen Bereichen des Kollegs, 3. philosophische Module zu bestimmten grundlagentheoretischen Fragen, 4. weitere für die jeweiligen Fächer der Kollegiaten und Kollegiatinnen einschlägige Ausbildungsmodule, 5. die Rolle der Postdocs für ein Mentoring von Doktoranden und Doktorandinnen, 6. „Tandembetreuungen“ der Dissertationen, an denen jeweils die Betreuer und Betreuerinnen der für das Projekt konstitutiven Fachrichtungen beteiligt waren, 7. das interdisziplinäre Studienprogramm, das den Besuch von Praktika bzw. Lehrveranstaltungen der jeweils komplementären Fachrichtung erforderte, 8. die Bildung von Arbeitsgruppen, die innerhalb des Kollegs Kleingruppen zu Themen bildeten, welche von den Mitgliedern des Kollegs selbst gewählt wurden und in denen gezielt an spezifischen Detailfragen gearbeitet wurde. Mit diesen strukturellen Voraussetzungen wurde auch die Erarbeitung und Vermittlung von Inhalten auf vielfältige Weise möglich. Hinzu kam die selbständige Organisation auch öffentlicher Veranstaltungen wie Ringvorlesungen, Symposien, Workshops und einer internationalen Tagung, verbunden mit der Herausgabe von Sammelbänden der Tagungen. Dadurch erlernten die Kollegiaten und Kollegiatinnen organisatorische Fertigkeiten, die in ihrem zukünftigen Berufsfeld wesentlich für die eigene Vermittlung und Weitergabe bioethischer Kompetenz sind. Zusammenfassend lassen sich die für die Kollegiaten und Kollegiatinnen angestrebten und erreichten Zielsetzungen des Graduiertenkollegs Bioethik wie folgt beschreiben: Erwerb inhaltlicher, struktureller und methodischer Kernkompetenzen in der interdisziplinären anwendungsbezogenen Bioethik, d. h. Überblick und vertiefter Einblick in Problemstellungen, Struktur und Methoden der Bioethik; Vertrautheit mit den Möglichkeiten ethischer Theoriebildung; Einblick in wissenschaftstheoretisch relevante Aspekte der Themenschwerpunkte; Fähigkeit fundierter Stellungnahme zu bioethischen Fragen in Kenntnis der relevanten Disziplinen und ethischen Traditionen. Erfreulich war auch das große Interesse ausländischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen am Kolleg. Insgesamt gab es 12 Herkunftsländer der Stipendiaten und Stipendiatinnen. Sie kamen aus Südamerika (Argentinien, Chile), dem Nahen Osten (Iran, Israel), Asien (Indien, Japan) und verschiedenen europäischen Ländern (Deutschland, Italien, Österreich, Rumänien, Serbien, Ungarn). Ein Gastkollegiat aus Simbabwe verbrachte drei Monate am Graduiertenkolleg. Auch von dieser Art Vielfalt profitierte das gesamte Kolleg. Die Internationalität des Graduiertenkollegs äußerte sich auch in seiner Vernetzung durch die Kooperation mit Ethikzentren in Estland (Tartu), Großbritannien (Cardiff), den Niederlanden (Utrecht) und der Schweiz (Zürich) sowie durch weitere internationale Kontakte, von denen sowohl die Eve-Marie Engels & Thomas Potthast 12 Kollegiaten und Kollegiatinnen als auch individuelle Forschungsprojekte profitierten. Themen und Ergebnisse im Kurzüberblick Während der Laufzeit des Graduiertenkollegs Bioethik von 2004 bis 2013 wurden insgesamt 51 Promotionsprojekte und 11 Postdocprojekte gefördert. Zu allen drei Schwerpunkten (Grundlagen, Neurowissenschaften, Genetik) konnte eine große Anzahl von interdisziplinär orientierten Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gefunden werden. Dabei wurden innerhalb der einzelnen Projekte jeweils Akzente gesetzt. Zugleich standen die Projekte mit ihren ethischen Fragen aus Neurowissenschaften bzw. Genetik stets mit grundlagentheoretischen Aspekten der Bioethik in wechselseitiger Verbindung, und die grundlagentheoretischen Projekte standen in engem Zusammenhang mit den beiden anderen Schwerpunkten, in die neben den ethischen Aspekten je nach Projekt anthropologische, gesellschaftliche und wissenschaftstheoretische Bezüge mit eingingen. Das Thema der moralischen Relevanz im weiteren Sinne anthropologischer Fragen zeigte sich in der gesamten Laufzeit des Kollegs: mehrere Arbeiten bearbeiteten den Personbegriff aus unterschiedlichen philosophischen und theologischen Perspektiven, in den späteren Phasen erwiesen sich einzelne Aspekte wie Authentizität oder Gedächtnis als bedeutsame Fragstellungen. Ein zweites Grundlagenthema, das zugleich in die Bereiche der Neurowissenschaften und der Genetik hineingriff, war die immer aufs Neue zu bestimmende Frage der Verhältnisbestimmung zwischen dem individuellen Guten und dem Gerechten bei der Selbstgestaltung durch Biotechniken. Auch hier zeigte sich eine große Bandbreite sowohl grundlagentheoretischer Herangehensweisen als auch einzelner Themen (z. B. reproduktionsmedizinische Fragen, Fragen des Umgangs mit genetischen und epigenetischen Daten). Desweiteren wurde die Rolle der Ethiken bestimmter Philosophen wie Nicolai Hartmann (Problem Axiologie/ Wertrealismus) und Albert Schweitzer (moralischer Status des Lebendigen) für die Bioethik ausgelotet sowie das aktuelle Problem der Transparenz der Forschung in den Biowissenschaften bearbeitet. In den neurowissenschaftlich orientierten Arbeiten gab es sowohl klassische Fragen der ethischen Analyse einzelner biotechnischer Interventionen und Unterstützungssysteme (Neuropharmaka, Tiefe Hirnstimulation, Neurofeedback) als auch die Frage des Selbsterlebens und des sozialen Kontexts neurotechnischer Interventionen und Systeme. Dabei erwies es sich als notwendig, klassische philosophische Themen der Willensfreiheit und Autonomie sowie Fragen des Menschenbildes mit konkretem Bezug auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Anwendungen weiter zu bearbeiten. Analog erfolgten mit Blick auf den Umgang mit genetischer Information sowohl Einzelanalysen (Chorea Huntington, Epigentik in Microarray- Das Graduiertenkolleg „Bioethik“ 13 Techniken, Anwendungsfelder der Synthetischen Biologie) als auch übergreifende Fragen wie die der Verwendung von Metaphern in der Beratungspraxis, die Frage nach einer „epigenetischen“ Verantwortungsdimension und die nach möglichen eugenischen Vorannahmen und Implikationen des Umgangs mit genetischer Information. Weitere übergreifende Aspekte in der Entwicklung des Kollegs waren die Zunahme von sozialwissenschaftlich und kulturwissenschaftlich orientierten Arbeiten, die die philosophischen, theologischen oder technikfolgenabschätzungsorientierten Arbeiten komplementierten. Stets aufs Neue und mit Bezug auf die konkreten Forschungsprojekte wurde die Frage der Bedeutung sozialempirischer Befunde zu moralischen Einstellungen für die ethische Begründungsebene thematisiert. Dabei ergab es sich, die kritische Analyse der normativen Kraft des Faktischen mit einer ebensolchen Kritik der normativen Kraft des Fiktionalen zu ergänzen, weil der Umgang mit Fakten ebenso wie mit eher visionär-literarischen (Literatur, Computerspiele) oder kontrafaktischen Entwürfen der Selbstgestaltung durch Biotechniken von zunehmender Bedeutung ist. Wissenschaftstheoretische Fragen nach der Deutungssicherheit, Aussagekraft und Validität genetischer Analysen und Prognosen sowie bildgebender Verfahren in den Neurowissenschaften waren in zahlreichen Arbeiten relevant. Tier- und Menschenbilder und tierethische Fragen spielten ebenfalls in verschiedenen Schwerpunkten eine Rolle. Im Ergebnis bedeutet dies, dass sich die Kombination von Grundlagenthemen und speziellen „Anwendungsfeldern“ sehr bewährt, weil immer wieder die Kombination dieser beiden Bereiche zum einen notwendig und zum anderen ertragreich war. Dies zeigt sich exemplarisch in den zahlreichen, als Monografien erschienenen Dissertationen, in weiteren individuellen wissenschaftlichen Leistungen, die in den Sammelbandpublikationen von Tagungen (Wie funktioniert Bioethik? 2008; Was bedeutet genetische Information? 2009; Human Nature and Self-Design, 2011) als auch den Ergebnisbänden mit Beiträgen der ersten (Forschungspraxis Bioethik, 2011) sowie zweiten/ dritten Generation der Kollegiaten und Kollegiatinnen (Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken, 2015, dieser Band) erschienen sind. Insgesamt scheinen uns die mit dem Graduiertenkolleg Bioethik verbundenen Zielsetzungen sehr gut erfüllt. Mit der Wahl der Schwerpunkte wurden Themen aufgegriffen, die im Mittelpunkt der Debatten stehen und von zentraler Brisanz und Relevanz sind. Die strukturellen Voraussetzungen wurden mit dem Forschungs- und Ausbildungsprogramm des Graduiertenkollegs geschaffen. Die aktuellen beruflichen Tätigkeiten der Kollegiaten und Kollegiatinnen zeigen, dass sie die im Graduiertenkolleg erworbenen Kompetenzen konkret einbringen können. Die beachtliche Anzahl breit gestreuter Publikationen, die aus dem Graduiertenkolleg Bioethik hervorgegangen sind, und ihre Veröffentlichung als Monographien, in Sammelbänden und Zeitschriften, zeigen das große öf- Eve-Marie Engels & Thomas Potthast 14 fentliche Interesse an der Bioethik und deuten auf die zu erwartende Breitenwirkung des Graduiertenkollegs Bioethik hin. Hiervon zeugt auch die Anstellung der Absolventen und Absolventinnen in vielfältigen Bereichen, von der Universitätsprofessur und anderen universitären Positionen über leitende Tätigkeiten in Klinischen Ethikkomitees, öffentlichen Bildungseinrichtungen sowie der wissenschaftlichen Politikberatung. Das Graduiertenkolleg Bioethik hat somit dazu beigetragen, in einer immer stärker durch Biotechniken beeinflussten Lebenswelt die Rolle einer reflektierten, interdisziplinären und praxisbezogenen Ethik zu stärken und die Bioethik in kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit dieser Lebenswelt weiterzuentwickeln. Literatur Brand, Cordula/ Engels, Eve-Marie/ Ferrari, Arianna/ Kovács, László (Hrsg.) (2008): Wie funktioniert Bioethik? Paderborn: Mentis. Engels, Eve-Marie (1999): Natur- und Menschenbilder in der Bioethik des 20. Jahrhunderts. Zur Einführung. In: Engels, Eve-Marie (Hrsg.): Biologie und Ethik. Stuttgart: Reclam, S. 7-42. Hildt, Elisabeth/ Kovács, László (Hrsg.) (2009): Was bedeutet genetische Information? Berlin u. a.: de Gruyter. Kovács, László/ Brand, Cordula (Hrsg.) (2011): Forschungspraxis Bioethik. Freiburg i. B. u. a.: Karl Alber. Potthast, Thomas (2008): Bioethik als inter- und transdisziplinäre Unternehmung. In: Brand, Cordula/ Engels, Eve-Marie/ Ferrari, Arianna/ Kovács, László (Hrsg.): Wie funktioniert Bioethik? Interdisziplinäre Entscheidungsfindung im Spannungsfeld von theoretischem Begründungsanspruch und praktischem Regelungsbedarf. Paderborn: Mentis, S. 255-277. Ranisch, Robert/ Schuol, Sebastian/ Rockoff, Marcus (Hrsg.) (2015): Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken. Tübingen: Francke. Schleidgen, Sebastian/ Jungert, Michael/ Bauer, Robert/ Sandow, Verena (Hrsg.) (2011): Human Nature and Self-Design. Paderborn: Mentis. Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff Einleitung Zur Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken Mit der „Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken“ greift der Titel dieses Bandes eines der zentralen Kennzeichen unserer Zeit auf. Erkenntnisfortschritte der Lebenswissenschaften sowie deren biomedizinische Anwendung versetzen Menschen zunehmend in die Lage, nicht nur ihre Umwelt, sondern auch sich selbst in einem stetig umfangreicheren und präziseren Maße zu verändern. Die biotechnische Selbstgestaltung kann auf verschiedene Weisen gedeutet werden: als Versprechen auf individuelles Glück durch Emanzipation von den eigenen Unzulänglichkeiten; als eine Möglichkeit der Anpassung an stetig wachsende Anforderungen einer Leistungsgesellschaft; oder schließlich auch als Kur ihrer Erschöpfungssymptome. Jenseits dieser Interessenlagen ist das Thema der Selbstgestaltung aber nicht zuletzt ein Verweis darauf, dass technischer Fortschritt die Ziele der Medizin - die Prävention und Heilung von Krankheiten - zunehmend erweitert. Zur Orientierung in diesen umfangreichen Themenfeldern ist eine anfängliche Begriffsverortung im Hinblick auf das Titelthema dieses Bandes hilfreich. So spielt die erste Wortgruppe der „Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken“ auf die anthropologische Tatsache an, dass der Mensch einerseits ein von Natur aus defizitäres Wesen ist, andererseits aber dieses Defizit seiner Anlagen durch Kultur kompensieren, d. h. sich selbst in einem höheren Sinne als Mensch gestalten kann. Um diesen Doppelcharakter zu unterstreichen, sprach der Anthropologe Helmuth Plessner (2003 [1928]) von der „natürlichen Künstlichkeit“ des Menschen (vgl. Engels 2009). In dieser Hinsicht verweist der Titel des Bandes keineswegs nur auf innovative biomedizinische Anwendungen, sondern erinnert auch daran, dass das Thema der Selbstgestaltung des Menschen im Hinblick auf die westliche Ideengeschichte zu einem „Evergreen“ der Philosophie gezählt werden kann (vgl. Passmore 2000). Dabei ist auch auf die Zweideutigkeit der Bezeichnung „Selbstgestaltung des Menschen“ hinzuweisen, die sowohl generisch (bezogen auf die menschliche Spezies) als auch spezifisch (bezogen auf das Individuum) gelesen werden kann. Betrachtet man aus historischer Perspektive die Debatte um die Selbstgestaltung, so finden sich zumeist beide Facetten gleicherweise Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff 16 vor. Betonte die Auseinandersetzung mit Fragen der Lebenskunst in der Antike insbesondere die Individualebene, so bezieht sich das eugenische Denken in Platos Politeia zugleich auf eine überindividuelle Ebene, insofern hier das „menschliche[…] Geschlecht“ (459b) gestaltet werden soll. Weitere Beispiele zeigen sich im Verlauf der Geschichte sowohl auf einer spirituellen als auch auf einer säkularen Ebene: etwa im christlichen Selbstformungsdenken innerhalb der Klostergemeinschaften - hier vor allem auf die Bereinigung des eigenen Selbst bezogen - oder im Rahmen der Aufklärung als Zukunftsprojekt - hier nun auf die Menschheit bezogen -, deren Entwicklung etwa bei Kant allerdings die Kultivierung auf Individualebene stets voraussetzt. In Nietzsches Visionen sind es schließlich wenige Individuen, die in Anbetracht des Nihilismus und nach dem „Tod Gottes“ Sinn zu stiften vermögen. Dabei ist die übrige Menschheit ein bloßes „Gerüst“, an dem sich diese „ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermag“ (Nietzsche 1999 [1886], 206- 207). Solche ideengeschichtlichen Bezüge sind offenkundig nicht ohne Provokation (vgl. Sloterdijk 1999), deutet der Vergleich zu historischen Programmen der Menschenformung doch auf eine entscheidende Diskontinuität zu zeitgenössischen Vorstellungen der Selbstgestaltung des Menschen hin. Vernachlässigt man den Anachronismus einer solchen Bewertung, wirken Platos Vorstellungen einer Menschenzucht heute als totalitär und Nietzsches Hoffnung auf Selbstüberwindung ist gezeichnet von einem demokratiefeindlichen und antiegalitären Kastendenken, das die „breite Masse“ verachtet. Trotz der verschiedenen Ausformungen solcher Fantasien ist diesen historischen Beispielen gemeinsam, dass sie von verbindlichen, kulturweit ausgreifenden Normen ausgingen. Im Vergleich dazu weist die zeitgenössische Debatte zur Selbstgestaltung des Menschen eine entscheidende Abweichung auf: Hier ist es der Wertepluralismus der Moderne, in welcher kein Anspruch auf ein einziges Konzept des Guten erhoben wird, sondern verschiedene Lebensformen gleichsam gültig nebeneinander stehen dürfen. Vergegenwärtigt man sich das eugenische Denken der Antike, so zeigt sich diese Besonderheit der heutigen Praxis einer Selbstgestaltung etwa an einer Begriffsschöpfung wie der „liberalen Eugenik“, die im Rahmen der technisch assistierten Reproduktion prominent Verwendung findet (vgl. Potthast 2012). Angesichts des zentralen Werts der Autonomie des Individuums in westlichen Gesellschaften bleibt es - unter Wahrung der Freiheitssphäre des Anderen - dem Einzelnen überlassen, auf welche Art und mit welchem Ziel die Selbstgestaltung umgesetzt wird. Ein zentrales Kennzeichen der gegenwärtigen Auseinandersetzung ist also die zunehmende Individualisierung in einer pluralistisch ausgerichteten Gesellschaft. Schließlich muss auch der Zusatz in der Rede der „Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken“ eingeordnet werden. Womöglich denken wir, Einleitung 17 befangen im zeitgenössischen, naturwissenschaftlichen Fortschrittdenken, dabei vor allem an die Manipulation biologischer Prozesse, etwa durch Pharmaka oder Gentechnik. Das Spektrum möglicher Biotechniken muss allerdings weiter gefasst werden: es reicht von der Erweiterung des Geistes (z. B. durch Informationstechnologie) und der Verbindung des Körpers mit Technologie (z. B. Herzschrittmacher) hin zu konventionellen Techniken der Selbstformung durch Sport, Meditation oder Askese. Die Grenzen zwischen den auf alltäglichem Erfahrungswissen beruhenden Biotechniken und neuartigen Anwendungen sind dabei fließend. Alle Formen der Selbstgestaltung finden dabei letztlich auch auf biologischer Ebene des Körpers ihren Niederschlag. Dennoch können sich die mit ihnen verbundenen Chancen und Risiken aber gravierend unterscheiden. Die Aufmerksamkeit in der Auseinandersetzung mit der Selbstgestaltung gilt insbesondere Biotechniken in einem engeren Sinne. Damit soll die Gesamtheit der über alltägliches Erfahrungswissen hinausgehenden biowissenschaftlichen Techniken bezeichnet werden, die Eingriffe in den menschlichen Organismus ermöglichen. Eine zentrale Besonderheit liegt hier am Ansatzpunkt der nunmehr direkten technischen Intervention. Während vormals Eingriffe auf die lebensweltliche Ebene zielten und sich auf biologischer Ebene auswirkten, verschiebt sich nun der Angriffspunkt. Der Erkenntnisfortschritt der Lebenswissenschaften, die Kombination verschiedener Wissenschaften sowie die Translation des Wissens in die technische Anwendung erlauben es, unmittelbar am Körper anzusetzen. Nicht mühsames Training, sondern die Manipulation biologischer Prozesse - sei sie substanzgebunden wie im Falle von Neuropharmaka oder gerätetechnisch wie im Falle genetischer Optimierung - ist das Kennzeichen moderner Biotechniken. Unter den Bedingungen des enormen Erkenntniszuwachses in den Biowissenschaften ermöglicht dieser unvermittelte Ansatz nicht nur eine neue Reichweite und Tiefe der Selbstgestaltung, sondern auch eine bisher ungekannte Präzision sowie neuartige Einsatzmöglichkeiten. In diesem Zusammenhang wies Hans Jonas bereits in den 1980er Jahren in einer heuristischen Gegenüberstellung der klassischen Ingenieurskunst mit modernen Biotechniken auf eine weitere Neuartigkeit hin. Insofern der Mensch als Handlungssubjekt nicht auf unbelebte Natur als Handlungsobjekt gestaltend einwirkt, sondern die belebte Natur, mithin sich selbst, direkt zum Gestaltungsobjekt erklärt, sieht Jonas (1987 [1982], 165) einen qualitativen Unterschied angezeigt. Ist bei der mechanischen Konstruktion mit unbelebter Materie der Weg vom Rohstoff zum vollständigen Endprodukt ein Prozess, bei dem der Mensch als allein Handelnder auf passives Material einwirkt, so trifft bei Biotechniken „Tätigkeit auf Tätigkeit“ (ebd.). Der Biotechniker sieht sich aktivem Material gegenüber, dessen Strukturen als funktionierendes, biologisches System er modifizieren will. Jonas betont dementsprechend, dass biotechnisch handeln nicht heißt, etwas nach einem Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff 18 wohldefinierten Plan aufzubauen, sondern der biotechnische Akt hat die Form der Intervention. Nehmen wir diesen Umstand ernst, so Jonas weiter, wird schnell deutlich, dass Fragen der Vorhersagbarkeit und Reversibilität biotechnischer Interventionen große Bedeutung erhalten. Denn verglichen mit der ingenieurtechnischen Planung, bei der die Folgen der technischen Handlung weitestgehend exakt vorausgesagt werden können, ist der Einfluss der biotechnischen Interventionen auf die Dynamik biologischen Materials ungleich schwieriger vorauszubestimmen. Diese latente Unsicherheit hinsichtlich der Vorhersagbarkeit erhält weitere Brisanz durch die in den meisten Fällen manifestierte Unumkehrbarkeit entsprechender biotechnischer Anwendungen. Sind bei mechanischen Konstruktionen des Ingenieurs Maßnahmen durchaus reversibel, so sind biotechnische Eingriffe am Menschen oftmals nur schwer oder gar nicht widerrufbar - ein Umstand, der mit Blick auf die Verfügbarmachung der Erbanlagen unserer Nachkommen insbesondere von Jürgen Habermas (2005, 90) als zentraler Einwand gegen die liberale Eugenik vorgebracht wurde. Selbstverständlich liegen die Ziele solcher Eingriffe durch Biotechniken außerhalb der Biologie, was es erforderlich macht, auch die aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen zu berücksichtigen, welche über ihre Wahl entscheiden. Ein zentrales Thema im Diskurs um die Selbstgestaltung des Menschen stellt die Optimierung dar. Dabei liegt es nahe zu fragen, wofür genau optimiert wird. Sicher ist es unpräzise, die Vielfalt denkbarer Optimierungsziele zu vereinheitlichen. Jedoch weisen kritische Autoren auf die besonderen Anforderungen einer Leistungsgesellschaft hin, deren Konkurrenzdenken entsprechende Handlungen lenkt und die mögliche Optimierung zur Leistungssteigerung vor allem im Arbeitssektor als notwendig erscheinen lässt. Doch stellt dies nur einen Aspekt dar. Weitere Ziele wären z. B. ästhetischer oder reproduktiver Art, wobei es freilich interessant ist zu fragen, ob letztere bei genauerer Überprüfung nicht doch unter den Leistungsaspekt subsumierbar wären. Eine solche Auslegung ist, gemessen an einem veränderten Politikverständnis, durchaus plausibel, wonach nicht mehr der Staat, sondern vor allem das Individuum sich selbst zu regieren hat und sich ganzheitlich, d. h. bis auf die biologische Ebene, organisieren muss (vgl. Lemke 2007). Danach werden die selbstregulativen Handlungen durch das Ökonomieprinzip geleitet, das größtmögliche Leistung mit kleinstmöglichem Aufwand zu erreichen vorschreibt, wie dies etwa aus dem Finanzsektor bekannt ist. Anders als in der Geldwirtschaft geht es in dieser Debatte, welche ursprünglich auf Michel Foucaults (2004) Analyse historischer Diskurse zurückgeht, aber um Biomacht, d. h. um das Wissen zur Lenkung biologischer Prozesse (vgl. Gehring 2006). Diese Debatten ähneln sich, da in beiden Kritiker vor der Verselbständigung des Maximierungsgebots warnen, welches dem Ökonomieprinzip immanent zu Einleitung 19 sein scheint. Das Aufeinandertreffen eines solchen Zwangs zur Aktivität und Leistungssteigerung mit einer um Individualität und Eigenverantwortlichkeit bemühten Lebensweise wird in der aktuellen soziologischen Debatte um Selbstregulierung als Hauptursache systematischer Selbstüberforderung und ihrer Folge, dem erschöpften Selbst, gesehen (vgl. Ehrenberg 2004). Es wird deutlich, dass mit der Eröffnung vielfältiger neuer Handlungsräume durch Biotechniken und angesichts der gewachsenen gesellschaftlichen Anforderungen nicht nur Chancen, sondern stets auch Risiken einhergehen und das Bedürfnis nach Orientierung steigt. Damit verbunden ist die Nachfrage nach professionellen Instanzen zur ethischen Bewertung. Längst hat sich hierbei die Ethik in den Wissenschaften als eigenständige und zentrale Reflexionsinstanz etabliert. Ihre Diversifizierung in verschiedene Bereichsethiken zeugt einerseits von der Besonderheit und Vielfalt ihrer Themenbereiche. Für die Herausforderung der Selbstgestaltung ist insbesondere die Bioethik zentral, verstanden als Medizin-, Umwelt- und Naturethik. Aber auch neuere Ausprägungen von Bereichsethiken, wie die Neuro- oder Genethik, sind an dieser Stelle zu nennen. Diese Diversifizierung macht andererseits deutlich, dass die Ethik in den Wissenschaften, respektive die Bioethik, in ihrer Auseinandersetzung mit Querschnittsfragen notwendig als eine interdisziplinäre Unternehmung verstanden werden muss, deren Arbeitsbereich an der Schnittstelle von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften eine besondere Expertise verlangt (vgl. Engels 2005). Zu ihren Kennzeichen zählt vor allem die Vermittlung zwischen diesen beteiligten Positionen und die Integration der dabei oftmals bereits im Ansatz verschiedenen Perspektiven in entsprechende Handlungsbereiche. Dieses „Dazwischen“ prägt die Bioethik aber auch im außerwissenschaftlichen Bereich, da es zunehmend notwendig ist, sowohl die Öffentlichkeit über Entwicklungen aufzuklären als auch den Gesetzgeber bei Regulierungen beratend zu unterstützen. Hierfür sind grundständige Kenntnisse aus Philosophie und Theologie etwa im Hinblick auf eine normativ strukturierende Expertise unverzichtbar. Als integratives Reflexionsfeld vereinigt die Bioethik dabei also die unterschiedlichen Perspektiven aus Natur- und Geisteswissenschaften, Politik und Öffentlichkeit. Innerhalb der bioethischen Reflexion hat sich hierzu ein begriffliches und methodisches Instrumentarium bewährt, das diese abwägende und moderierende Vorgehensweise gewährleisten kann, vor allem, wenn es um die Bewertung entsprechender Zielsetzungen und aufgewandter Mittel, die Analyse von Rechtfertigungen sowie fundierender Werthintergründe geht. Aspekte der Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken Vor einer Übersicht der einzelnen Beiträge des Sammelbands soll dieses Instrumentarium der Bioethik im Hinblick auf die Selbstgestaltung des Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff 20 Menschen durchmessen werden. Bei der ethischen Urteilsbildung sind dabei insbesondere drei Themenkomplexe zentral: a.) die jeweiligen Akteure der biotechnischen Anwendungen sowie die betroffenen Parteien, b.) die verwendeten Techniken und die durch sie verfolgten Zwecke, sowie c.) die von den jeweiligen Praktiken berührten ethischen-normativen und evaluativen Fragen. Bei der folgenden konzisen Darstellung dieser zentralen Aspekte der Selbstgestaltung wird zudem bereits auf die Autoren des Sammelbandes Bezug genommen und damit ein erster Überblick über das Spektrum der hier verhandelten Themen gegeben. a.) Akteure und Betroffene Für die Frage nach einem verantwortungsvollen Umgang mit Techniken der Selbstgestaltung, aber auch für die Inblicknahme des öffentlichen Diskurses bezüglich ihrer Regulierung ist eine Analyse der handelnden Akteure sowie der betroffenen Gruppen notwendig. Dabei sind nicht nur autonome, für ihr Handeln Verantwortliche („moral agents“), sondern auch nicht handlungsfähige Wesen („moral patients“), wie menschliches Leben in Grenzbereichen (Embryonen oder komatöse Patienten), aber auch nicht-menschliches Leben zu beachten (Brand; Pohl). Aufgrund der intergenerationalen Wirkung von Techniken - am deutlichsten etwa im Falle der Reproduktionsmedizin - müssen zudem von der biotechnischen Wirkung betroffene, zukünftige Generationen Berücksichtigung finden (Ranisch; Schuol; Garmaroudi Naef). Neben den Personen, die nach Behandlung oder Verbesserung streben, sind bei diesen Prozessen häufig auch mittelbar wirksam Akteure beteiligt, wie Wissenschaftler, Forscher oder Experten (Litterst; Beck; Röntgen) und vor allem Ärzte. Im Falle biomedizinischer Anwendungen regulieren diese zudem häufig den Zugang zu entsprechenden Technologien (Dubljević). Ebenso zählen pharmazeutische und medizintechnische Unternehmen, die die Entwicklung und Vermarktung medizinischer Produkte vorantreiben, sowie die Krankenversicherungen zu wichtigen, gesellschaftlich einflussreichen Akteuren, sodass gerade von ihnen ein verantwortungsvolles Handeln zu fordern ist (Fehling). Als weitere Akteure sind zudem religiöse Institutionen zu nennen, welche eine zentrale Instanz bei der Vermittlung von Normen und Werten einnehmen (Garmaroudi Naef). Schließlich ist auch der Gesetzgeber im Rahmen der Regulierung biotechnischer Entwicklungen und Anwendungen ein entscheidender Faktor (Dubljević) und hat somit selbst die Rolle eines Verantwortungsträgers (Schuol). b.) Techniken und Zielsetzungen der Selbstgestaltung Wie bereits deutlich wurde, umfassen Techniken der Selbstgestaltung gleichsam konventionelle Maßnahmen der Selbstformung wie auch moderne biomedizinische Anwendungen. Beide können dabei den traditionellen therapeutischen und präventiven Zwecken der Medizin dienen, erlauben Einleitung 21 aber auch einen Einsatz darüber hinaus (vgl. Wiesing 2006). So hat sich insbesondere hinsichtlich moderner Biotechniken ein lebhafter Diskurs herausgebildet, welcher deren Potentiale für eine Verbesserung der menschlichen Natur diskutiert (vgl. Schöne-Seifert/ Talbot 2009). Aus der angelsächsischen Debatte wird dabei häufig das in Abgrenzung zur Therapie verwendete Schlagwort „Enhancement“ aufgegriffen: die „Verbesserung“ oder „Erhöhung“ des Menschen. Die Vorstellungen reichen dabei bis zu einer radikalen Umformung der menschlichen Spezies, um diese schließlich in ein posthumanes Zeitalter zu überführen (vgl. Ranisch/ Sorgner 2014). Die beiden Themenbereiche „Therapie“ und „Enhancement“ werden in der gegenwärtigen bioethischen Debatte vor allem im Kontext der Genetik und der Neurowissenschaften diskutiert. Im Bereich der Humangenetik liegt der Schwerpunkt hier auf neuartigen Therapien und Diagnoseverfahren: mittels Gendiagnostik kann Aufschluss über mögliche Krankheitsdispositionen oder Informationen für eine personalisierte Pharmakotherapie gegeben werden (Fehling). Vorgeburtliche Gentests ermöglichen es Kinderwunschpaaren Erbkrankheiten oder Chromosomenanomalien zukünftiger Kinder auszuschließen (Ranisch; Sydow). Die eingesetzten Verfahren der technisch assistierten Reproduktion können zudem unfruchtbaren Paaren bei der Erfüllung ihres Kinderwunsches helfen oder etwa genetische Nachkommen durch Leihmütter ermöglichen (Garmaroudi Naef). Zu den kontrovers diskutierten Techniken der Reproduktionsmedizin gehört ebenfalls das Klonen. Auch wenn sich ein breiter Konsens gegen eine Zulässigkeit zum Zwecke der menschlichen Reproduktion zeigt und das Klonen bisher anscheinend auf Forschungszwecke, etwa zur Gewinnung von Stammzellen, beschränkt blieb, ist die Aussicht auf menschliche Klone ein verbreitetes Motiv (Rockoff). Eine zusätzliche Dynamik geht zudem von den neueren Erkenntnissen der Epigenetik aus. Insofern auch Umweltfaktoren die Genregulation beeinflussen, ergeben sich hier erweiterte Handlungsspielräume der Selbstgestaltung etwa zur Krankheitsprävention durch gezielte Veränderung des Lebensstils (Röntgen; Schuol). Jenseits der Humangenetik zeigen sich in dem noch jungen Forschungsfeld der Synthetischen Biologie Bestrebungen, mit denen der Mensch zunehmend versucht, seine Handlungsspielräume zu erweitern, Organismen zu verändern oder sogar neu herzustellen (Litterst). Im Bereich der Hirnforschung haben Innovationen in den letzten Jahren dank der Verbreitung bildgebender Verfahren Einsichten in Gehirnaktivitäten gegeben und damit Fragen nach der Notwendigkeit neuer Menschenbilder provoziert (vgl. Engels/ Hildt 2005). Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen insbesondere aber auch neuropharmakologische Maßnahmen, die das Ziel haben, eine positive Wirkung auf kognitive und emotionale Fähigkeiten zu nehmen. Während entsprechende Wirkstoffe schon seit geraumer Zeit gegen Aufmerksamkeitsdefizitstörung oder Depression eingesetzt werden, wendet sich das öffentliche Interesse nun zunehmend auch Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff 22 gesunden Konsumenten zu (Krautter). Unter dem Stichwort „Hirndoping“ oder „Neuro-Enhancement“ wird dabei der Gebrauch von Neuropharmaka zur Steigerung oder Aufrechterhaltung kognitiver Fähigkeiten diskutiert (Dubljević; Leefmann; Jungert; Lörch-Merkle). c.) Ethisch-normative und evaluative Aspekte Mit der biotechnischen Selbstgestaltung begegnen uns Fragen, die vor dem Hintergrund der Verantwortung der jeweiligen Akteure sowie etablierter Ansätze der biomedizinischen Ethik verhandelt werden (vgl. Beauchamp/ Childress 2012). Die hier auftretenden ethischen Herausforderungen werden nun in Bezugnahme auf die Prinzipien der Autonomie, Nichtschädigung, Fürsorge und Gerechtigkeit skizziert. Im Hinblick auf die Anwendungen von Biotechniken ist der Respekt vor und die Wahrung der Autonomie von Personen zentral. Dabei muss gefragt werden, ob Wünsche nach autotechnischen Verbesserungen als selbstbestimmt gelten können oder etwa auf Fehl- oder unvollständiger Information (Beck), versteckten Leistungsnormen (Ledder) oder gar (indirektem) Zwang (Dubljević) beruhen. Zugleich besteht häufig der Verdacht, dass Neuro- oder Gentechniken moralisch problematische Wirkungen haben könnten, indem sie Bedingungen der personalen Autonomie gefährden (Leefmann; Rockoff; Lörch-Merkle; Jungert). Bezüglich solcher Gefahren ist im Hinblick auf das Prinzip der Nichtschädigung zu untersuchen, welche Kosten-Nutzen-Erwägungen für die Bewertung von biotechnischen Innovationen angemessen sind (Beck; Pohl). So berührt insbesondere die „Lifestyle-Medizin“, wie auch die Entwicklung entsprechender Techniken, das Berufsethos von Ärzten und die Verantwortung von Wissenschaftlern (Litterst; Beck). Die moralische Urteilsbildung erfordert hier stets die Berücksichtigung empirischen Wissens, etwa über Risiken entsprechender Techniken (Beck). Für eine Ethik in den Wissenschaften sind gerade solche „gemischten Urteile“ zentral (vgl. Potthast 2008), wobei aber die Hürden beim Übergang vom „Sein“ zum „Sollen“ nicht außer Acht gelassen werden dürfen (vgl. Engels 2005). Im Hinblick auf das Prinzip der Fürsorge stellt sich die Frage, ob der Einsatz neuer Techniken nicht nur zulässig ist, sondern sogar eine Optimierungspflicht besteht (Ranisch). So könnte von einer „genetischen Verantwortung“ gegenüber sich selbst und den Nachkommen gesprochen werden, die sich durch ein wachsendes genetisches Wissen und erweiterte biotechnische Handlungsoptionen ergibt. Was folgt etwa aus der Erkenntnis, dass unsere Ernährung eine epigenetische Wirkung auf unsere Kindes-Kinder haben kann? Ein hier häufig behaupteter Zuwachs an Verantwortung muss dabei zugleich selbst problematisiert werden (Röntgen; Schuol). Diese Fragen betreffen so auch das Prinzip der Gerechtigkeit: was schulden gegenwärtige Generationen ihren Nachfahren? Bereits heute zeigen sich neben der Frage einer Zugangsgerechtigkeit zu kostspieligen technischen Einleitung 23 Innovationen auch Herausforderungen bezüglich der Chancengleichheit, wenn sich etwa Personen durch Verbesserungstechniken Wettbewerbsvorteile verschaffen (Dubljević; Lörch-Merkle). In diesem Zusammenhang ist dann auch die soziale Wirkung eines breiten Einsatzes von Biotechniken zu bedenken: Gefährdet der Trend zur Selbstgestaltung womöglich die Solidarität mit ohnehin marginalisierten oder vulnerablen Gruppen, die die Leistungsideale nicht erreichen können (Ledder)? Oder würde gar eine Mentalität der Perfektionierung den Schutz des menschlichen Lebens aufweichen? Die Bioethik begegnet hier vertrauten Fragen nach dem moralischen Status von Personen sowie dem menschlichen Leben in seinen Grenzbereichen (Brand), die sich nun aber im Kontext der „verbrauchenden“ Embryonenforschung oder der Reproduktionsmedizin von Neuem stellen (Sydow; Garmaroudi Naef). Insofern Biotechnik dabei auch außerhumanes Leben betrifft - etwa bei Tierversuchen in der Grundlagenforschung oder bei der Schaffung „neuen Lebens“ in der Synthetischen Biologie - steht die moralische Relevanz der Grenzen zwischen dem „Lebenden“ und „Nichtlebenden“ sowie zwischen „Natürlichkeit“ und „Künstlichkeit“ (Litterst; Pohl) zur Debatte. Diese Kategorien berühren tiefsitzende Welt- und Menschenbilder (Krautter), die allerdings von einer interessenbasierten „Minimalmoral“ nur unbefriedigend rekonstruiert werden können (Sydow; Henrich). Eine Neulektüre klassischer Positionen der Philosophie, welche die Wirklichkeit von Werten in der Natur oder in allem Seienden bedenkt (Lörch-Merkle; Pohl), kann hier ebenso aufschlussreich sein wie die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Positionen des Naturalismus (Henrich). Die Verhandlung der Selbstgestaltung des Menschen provoziert schließlich auch Fragen nach dem richtigen Umgang mit dem Gegebenen sowie der uns angemessenen Lebensweise oder „Gattungsethik“ (Habermas 2005) - Themen, die von der Minimalmoral zumeist vernachlässigt werden. Während sich letztere bei der Auseinandersetzung mit verschiedenen Lebensformen in liberaler Zurückhaltung übt und auf sozialethische Fragen der Gerechtigkeit fokussiert, bedarf es alternativer Ansätze zur Klärung einer der zentralen Fragen der Debatte um die Selbstgestaltung (Leefmann; Sydow): Ist die zunehmende technische Verfügbarmachung des Menschen unserem guten Leben nun zu- oder doch vielmehr abträglich? Über diesen Band Von 2004 bis 2013 hat das DFG-Graduiertenkolleg 889 „Bioethik“ Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler verschiedener Disziplinen und Nationalitäten mit dem Ziel zusammengebracht, Themenbereiche der anwendungsbezogenen Ethik durch die Integration von ethischer Reflexion und einzelwissenschaftlicher Expertise zu erforschen. Der Sammelband vereinigt 18 Forschungsprojekte der zweiten und dritten Förderphase des Graduiertenkollegs. Dessen Rahmenthema „Zur Selbstgestal- Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff 24 tung des Menschen durch Biotechniken“ leiht dem vorliegenden Band seinen Titel. Zugleich vervollständigt dieser die von László Kovács und Cordula Brand (2011) herausgegebene Anthologie zu den Ergebnissen der ersten Förderphase. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben den inhaltlichen Schwerpunkt ihrer Beiträge selbst gesetzt. So geben sie entweder einen Überblick über ihr Projekt, vertiefen eine konkrete Forschungsfrage oder nehmen sich einer Weiterführung ihrer Studie an. Dem internationalen Charakter des Graduiertenkollegs entsprechend, sind sowohl Arbeiten in deutscher als auch ein englischer Sprache versammelt. Die Beiträge zur Selbstgestaltung des Menschen werden im vorliegenden Band anhand von fünf Sektionen geordnet: Zunächst werden i.) normative Grundlagen sowie ii.) historische Zugänge und Positionen vorgestellt und das Thema iii.) „des Selbst“ im Rahmen der Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken erörtert. Nachfolgend stehen mit iv.) Genetik und Reproduktion ethische und anthropologische Analysen zentraler Anwendungsfelder im Fokus. Abschließend werden die v.) medialen Thematisierungen von Biotechniken in den Blick genommen sowie vi.) Ansätze für deren Regulierung vorgeschlagen. i.) Normative Grundlagen Mit den Möglichkeiten der Selbstgestaltung des Menschen zeigte sich eine Verschiebung in den Zielen der biomedizinischen Praxis. Nicht nur das Heilen, sondern auch die Optimierung wird zum Zweck biomedizinischer Technik. Damit verbindet sich auch die Notwendigkeit einer Neubestimmung der normativen Grundlagen der Bioethik. Insbesondere scheint dabei die liberale Minimalethik in der Kritik, welche in einigen Fällen der technischen Selbstgestaltung kaum Orientierung zu geben vermag. Zugleich verschärfen sich mit der Ausweitung der medizinischen Praxis hin zur Verbesserung des Menschen auch forschungsethische Anforderungen. Während in der bioethischen Auseinandersetzung mit neuartigen Technologien häufig direkt die Frage ihrer Zulässigkeit betrachtet wird, werden die empirischen Voraussetzungen dieser Bewertung oft vernachlässigt. Für die Frage der Zulässigkeit, etwa von Neuro-Enhancement, ist es aber entscheidend, ob tatsächlich eine nebenwirkungsfreie Verbesserung der kognitiven Leistung gesunder Probanden bewirkt werden kann. Roman Beck nimmt sich in seinem Beitrag „Transparenz in der Biomedizin und die Frage nach der ,Selbstgestaltung des Menschen‘“ dieser häufig vernachlässigten Rolle biomedizinischer Informationen in der ethischen Urteilsbildung an. Ausgehend vom neuen Paradigma der „Verbesserung des Menschen“ hebt er dabei Transparenz als Regulativ für die biomedizinische Informierung hervor. Mit seiner Analyse verteidigt Beck schließlich eine Reihe von Kriterien, die bei der Informationsvermittlung zwischen Experten und der Öffentlichkeit zu beachten sind. Während sich ein solches Ideal als anspruchs- Einleitung 25 voll für „Transparenzvermittler“ zeigt, ist es aber eine notwendige Voraussetzung der ethischen Bewertung von Verbesserungstechniken. In der Auseinandersetzung mit biomedizinischen Anwendungen ist die Frage des Personenstatus für den Umgang mit (menschlichen) Leben zentral. So ist etwa für die Bewertung der verbrauchenden Embryonenforschung, Sterbehilfe aber auch für den Umgang mit Primaten entscheidend, ob wir es hier überhaupt schon oder noch mit Personen zu tun haben. Wie Cordula Brand in „,Wie Du mir so ich Dir.‘ Moralische Anerkennung als intersubjektiver Prozess“ beschreibt, zeigen sich in der Philosophie dabei zwei Verwendungsweisen: Entweder werden Personen mit Wesen identifiziert, welche über bestimmte (kognitive) Fähigkeiten verfügen, oder Personen werden mit Menschen gleichgesetzt. Brands Überlegungen zur Lebenswelt als Raum geteilter Bedeutung moralischer Begriffe machen dabei klar, dass wir keinen dieser beiden Aspekte aufgeben können. Im Anschluss an Husserl und Habermas zeichnet sie so zwei Ebenen der Lebenswelt nach, in denen diese jeweiligen Bedeutungen des Personenbegriffs verankert sind. Eine solche lebensweltliche Analyse könne schließlich die scheinbar konkurrierenden Aspekte des Personenbegriffs integrieren. Die Frage nach dem richtigen Umgang mit der menschlichen Natur verleiht naturalistischen Positionen der Normenbegründung in der Bioethik Attraktivität. Während der Naturalist sich gegen Verfechter einer bloßen Minimalmoral zugute hält, aus der menschlichen Natur substanzielle Normen rechtfertigen zu können, steht er allerdings vor anderen Herausforderungen: Phänomene unserer alltäglichen moralischen Praxis, wie etwa die Verbindlichkeit moralischer Normen, scheinen resistent gegen Versuche einer Naturalisierung. Anschließend an diesen Befund widmet sich Daniel C. Henrich in „Wieso soll ich? Zum Begriff der praktischen Rationalität im Spätwerk von Philippa Foot“ dem Versuch der Rechtfertigung von unbedingten Sollensansprüchen in Foots ethischem Naturalismus. Nach Foot hat menschliches Leben natürlich-teleologische Qualitäten, welche für vernünftige Wesen Verbindlichkeit beanspruchen. Während Foot damit zeigen kann, dass Moralität Teil der praktischen Rationalität des Menschen ist, gelingt es ihr nach Henrich allerdings nicht, die unbedingte Geltung moralischer Imperative zu erklären. Die subjektunabhängige Geltung der Moral, wie sie sich im Naturalismus zeigt, ist ebenfalls Ausgangspunkt des Beitrags „Menschsein als moralischer Maßstab der biotechnologischen Menschengestaltung“ von Björn Sydow. Seine Analyse beginnt mit der Intuition, dass die Grenzen der biotechnischen Gestaltung des Menschen nicht durch eine Minimalmoral, also dem bloßen Verweis auf Interessen und Wünsche von Personen, rekonstruierbar seien. Sydow rechtfertigt diese Annahme durch handlungstheoretische Überlegungen, die er im Anschluss an Gilbert Ryle entwickelt. Dabei verteidigt er eine Moraltheorie, nach der nicht die Berücksichtigung der Wünsche von Handlungssubjekten zentral ist, sondern die Achtung vor der Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff 26 Entfaltung ihres Potentials zum Menschsein. Sydow zeigt die Konsequenzen dieses vermögenstheoretischen Ansatzes für Fragen nach der biotechnischen Selbstgestaltung auf: So erlaubt der Ansatz nicht nur eine differenzierte Bewertung der freiwilligen technischen Veränderung von Menschen, er vermag auch, die Grenzen des gestaltenden Eingreifens in das sich entwickelnde menschliche Leben aufzuzeigen. ii.) Historische Zugänge Die biowissenschaftlich bezeugte Kontingenz der conditio humana sowie die zunehmenden technischen Verfügungsmöglichkeiten über das Leben machen klassische philosophische und anthropologische Positionen attraktiv, die sich der Werthaftigkeit der inneren und äußeren Natur angenommen haben. So ist ein weiterer Themenschwerpunkt des Sammelbandes historischen Positionen der Ethik gewidmet, um diese auf ihre Anschlussfähigkeit für aktuelle moralische Herausforderungen der Biotechniken hin zu untersuchen. Entsprechend verfolgt Katrin Esther Lörch-Merkle in ihrem Beitrag „Zur materialen Wertethik Nicolai Hartmanns im Zeitalter des Human Enhancements“ das Ziel, wichtige Bezugspunkte von Hartmanns Ethik für die gegenwärtige Debatte um Neuro-Enhancement freizulegen. Ausgehend von der Darstellung des Grundgedankens der materialen Wertethik, der Realität von absoluten Werten, erläutert die Autorin anhand der Werte der Willensfreiheit bzw. Autonomie und Gerechtigkeit sowie Hartmanns Bestimmungen der Person wichtige Implikationen für das pharmakologische Enhancement. Dabei zeigt sich nach Hartmann, dass aufgrund der Autonomie als bedingender Grundwert für Personalität entsprechende Enhancement-Praktiken die Einheit der Person sowie die Möglichkeit der Heranbildung der je individuellen Persönlichkeit berücksichtigen sollten. Auch Sabine Pohl widmet sich in ihrem Artikel „Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben und die Bioethik“ dem Ziel, eine in der bioethischen Diskussion bisher vernachlässigte Ethik auf ihre Anwendbarkeit zu prüfen. Der biozentrische Zugang des von Schweitzer propagierten Prinzips der „Ehrfurcht vor dem Leben“, der eine moralische Berücksichtigung allen Lebens, aufgrund der Eigenschaft, am Leben zu sein, einfordert, erweist sich dabei als hochgradig anschlussfähig für bioethische Konfliktfälle. Die häufig gegen Schweitzers Prinzip vorgebrachte Kritik, in ein Schuld-Dilemma zu führen, insoweit jegliches Handeln des Menschen zwangsläufig anderem Leben schaden zufügt, begegnet die Autorin mit einer Analyse und Interpretation der nachgelassenen Schriften Schweitzers. Darin zeigt sich, dass das Schuld-Dilemma letztlich nicht vollständig ausgeräumt werden kann, der Mensch jedoch im Wissen um diese Schuld seine Handlungen stets so abwägen muss, dass dem Leben so wenig wie möglich geschadet wird. Gleichsam, so bilanziert die Autorin, ist dieses Schädigungsbewusstsein ein wichtiger Einleitung 27 Bestandteil, um sich als Mensch gerade im Angesicht bioethischer Konfliktfälle moralisch weiterzuentwickeln. iii.) Das Selbst Im Hinblick auf die Verhandlung der Grenzen einer autotechnischen Veränderung des Menschen ist eine Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Selbstseins unerlässlich. Damit ist nicht nur die Frage nach der Konstitution personaler Identität angesprochen, sondern auch nach den Möglichkeiten einer selbstbestimmten Entscheidung zur biotechnischen Gestaltung. Reflexionen auf diese Fragen können dabei zugleich entscheidend sein für die Beurteilung einzelner Biotechniken. Würde sich etwa zeigen, dass leistungsverbessernde Psychopharmaka die mentalen Voraussetzungen von Identität oder Authentizität berühren, schiene es gegebenenfalls angezeigt, deren Einsatz engere Grenzen zu setzen. Für die Konstitution des Selbst sind dabei insbesondere unser Gedächtnis und unsere Erinnerungen zentral. Während dieser Umstand von den meisten philosophischen Theorien personaler Identität anerkannt wird, macht Michael Jungert in „Memory, Personal Identity, and Memory Modification“ aber klar, dass der genaue Stellenwert von Erinnerungen dabei häufig unterbestimmt bleibt. Seine Analyse philosophischer und psychologischer Konzepte von Erinnerung, Gedächtnis und Identität zeigt dabei die Relevanz, die insbesondere die autobiographische Erinnerung für die personale Identität hat. Ausgehend von diesen Überlegungen wendet sich Jungert schließlich den Möglichkeiten der pharmakologischen Veränderung der menschlichen Psyche zu. Insbesondere hier zeigen sich die von ihm dargestellten Funktionen von Emotionen für das autobiographische Erinnern als anschlussfähig, um auf mögliche Risiken psychopharmakologischer Selbstgestaltungsversuche hinzuweisen. Die Sorge um das biotechnisch veränderte Selbst wird nicht nur mit Verweis auf den möglichen Verlust von Identität begründet, sondern insbesondere auch als Gefahr für die Authentizität der Person gesehen. Dieser Befürchtung geht Jon Leefmann in „Der unartikulierte Verdacht: Varianten des Authentizitätsbegriffes in der Debatte um Neuro-Enhancement“ nach. Seiner Analyse zufolge zeigen sich zwei grundsätzlich verschiedene Authentizitätsbegriffe: Ausgehend von Überlegungen Jean-Paul Sartres und Harry Frankfurts wird Authentizität mit personaler Selbstbestimmung in Verbindung gebracht. Davon unterscheidet sich eine stark normative Variante, die auf Charles Taylor zurückgeführt werden kann: Hier wird Authentizität nun als Verwirklichung eines wünschenswerten Persönlichkeitsideals gedeutet. Nach Leefmann finden sich beide Varianten der Rede von (In-)Authentizität in der bioethischen Diskussion um Neuro-Enhancement wieder. Er deutet solche Verweise allerdings als häufig unreflektierte Intuitionen über die Gefahren von Biotechniken. Diese würden stets die Befürchtung eines Be- Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff 28 ziehungsmangels zum eigenen Selbst oder der eigenen Umwelt zum Ausdruck bringen. iv.) Genetik und Reproduktion Nach dem erfolgreichen Abschluss des Humangenomprojekts und der Erfassung des menschlichen Genoms ist die Molekulargenetik mit der Jahrtausendwende in eine neue Forschungsphase eingetreten. In dieser Postgenomik werden neue Handlungsräume eröffnet und neuartige ethische Fragen aufgeworfen. Dass die vormals diskutierten Themen einer Ethik der Genetik nach diesem Wechsel aber nicht an Brisanz verlieren, sondern vielmehr noch dringlicher werden, da nun Grundlagenwissen verstärkt in die biotechnische Anwendung eingeht, darüber geben die folgenden Beiträge Auskunft. Der rasante Erkenntnisfortschritt in der Genetik und die damit verbundene Weiterentwicklung der Reproduktionstechniken haben eine internationale Dimension, wobei es aber regionale Besonderheiten zu beachten gilt. Wie Shirin Garmaroudi Naef in ihrem Artikel „Modern Reproductive Technologies in the Light of Traditional Ontologies: An Anthropological Reflection on Assisted Reproduction in Iran“ zeigt, kann die gegenwärtige Praxis moderner Reproduktionstechniken im Iran nicht losgelöst von historischen und soziokulturellen Verhältnissen verstanden werden. Anders als Deutschland nimmt der Iran eine progressive Einstellung in der Anwendung von Reproduktionstechniken ein. Dabei zeigt sich, dass diese Abweichung nicht, wie oft behauptet, auf aktuelle politische Entwicklungen zurückgeführt werden kann. Zu einem umfassenden Verständnis sind neben den politischen auch die kulturellen und religiösen Hintergründe wichtig. Ebenso erweist sich die Annahme, dass der Islam einen konservativen Machtfaktor darstellt, angesichts der intensiven Auseinandersetzungen der Schriftgelehrten mit den biologischen Fakten als haltlos. Das Verständnis der assistierten Reproduktion im Iran erfordert die Beachtung gesellschaftlicher Komplexität. Dass sich die Biologie nicht auf die Erforschung bereits vorhandener natürlicher Strukturen und somit auf eine bloß reproduktive Wissensanwendung beschränkt, zeigt der Beitrag von Leona Litterst „,Neues‘ Leben aus dem Labor? Systematische und ethische Aspekte der Synthetischen Biologie“. Da es sich bei dem innovativen und interdisziplinären Arbeitsfeld der Synthetischen Biologie nicht um ein einheitliches Forschungsfeld handelt, wird zunächst zwischen verschiedenen Ansätzen differenziert. Anhand der im Diskurs zentralen Begriffe „Leben“ und „Künstlichkeit“ werden die Objekte der Synthetischen Biologie systematisiert und Vorschläge zur Erweiterung bereits bestehender Kategoriensysteme des Lebendigen vorgebracht. Die Frage, ob es sich bei diesem Leben um neues Leben handelt, bildet dabei den Dreh- und Angelpunkt. Schließlich wird die selbstgewählte, mediale Außendarstellung der „Synthetischen Biologie als harmloses Spiel“ aufgegriffen, kritisiert und verschiedene Verantwortungsfelder und -träger differenziert herausgearbeitet. Einleitung 29 Die Verantwortung, die zukünftige Eltern für ihre Nachkommen haben, wird von Vertretern der sogenannten liberalen Eugenik diskutiert. Diese fordern nicht nur die Zulässigkeit der genetischen Auswahl von Nachkommen zum Zweck der Krankheitsvermeidung, sondern auch die Förderung spezifischer Erbanlagen ohne medizinische Indikation. In seinem Beitrag „,Du sollst das beste Kind wählen! ‘ Eine Kritik des Pflichtbegriffs von Procreative Beneficence“ stellt Robert Ranisch Theorien vor, welche darüberhinaus moralische Verpflichtungen für Kinderwunschpaare formulieren. Gemäß dem Prinzip „Procreative Beneficence“ sollten diese etwa eine assistierte Reproduktion wählen, um „die besten“ Kinder zu bekommen. Ranisch analysiert den diesem Prinzip zugrundeliegenden Pflichtbegriff und zeigt dabei dessen Scheitern in einer Reihe von Anwendungsfällen auf. Gegenteilig kann es in manchen Fällen sogar entsprechend der Prämissen von Procreative Beneficence geboten sein, auf eine genetische Auswahl von Nachkommen zu verzichten. In ihrem Artikel „Epigenetic Profiling Assays - ethische Aspekte einer neuen Technologie“ widmet sich K. Viktoria Röntgen der Epigenetik und deren Anwendungsbezügen etwa in der Diagnostik. Als Teildisziplin der Molekulargenetik untersucht die Epigenetik die Genregulation auf molekularer Ebene. Genregulatorische Prozesse spielen in der menschlichen Entwicklung eine entscheidende Rolle. Da bei ihrer Ausbildung der Umwelt eine ursächliche Rolle zugeschrieben wird, geht die Autorin auf die Veränderung der Nature/ Nurture-Debatte ein und warnt vor neuen Verantwortungszuschreibungen. Mit der Deregulation der epigenetischen Muster wird die Verursachung von Krankheiten wie Krebs in Verbindung gebracht. In diesem Zusammenhang stellen sogenannte Microassays die Kerntechnolgie diagnostischer und epidemischer Untersuchungen dar. Ausgehend von der Tatsache, dass die prognostische Bedeutung dieser Technik noch nicht hinlänglich bekannt ist, kritisiert die Autorin an der derzeitigen und zukünftig geplanten Verwendung die Zusammenführung biologischer und biographischer Daten. Auch Sebastian Schuol wendet sich der Epigenetik zu. Ausgehend von einem historischen Überblick über die Veränderung des Genbegriffs weist er im Artikel „Der Lebensstil als Biotechnik? Zur Erweiterung des Genbegriffs durch die Epigenetik“ auf einen epistemischen Wandel im genetischen Verursachungsdenken hin. Interessierte sich die Molekulargenetik vormals für strukturelle Eigenschaften des Gens, so wendet sich die Postgenomik verstärkt den funktionellen Bezügen des Gens und somit der Genregulation zu, wobei der Genbegriff prozessual ausgelegt wird. Wird infolgedessen die Umwelt als konstitutiv für das Gen betrachtet, wird aber ein vormals offensichtlicher Gendeterminismus bloß verdeckt. Auch Schuol geht auf die veränderte Verantwortungsdebatte ein. Sie wird aber nicht als verfrüht zurückgewiesen. Stattdessen zeigt die Analyse eines Fallbeispiels, wie sich medizinisches Verursachungsdenken mit der Epigenetik ändert und Schuol Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff 30 legt dar, dass der bisherige Fokus im Präventionskontext auf die Eigenverantwortung zugunsten eines komplexen Verantwortungsnetzwerks zurückzuweisen sei. v.) Mediale Thematisierung Die technischen Möglichkeiten der Selbstgestaltung des Menschen, insbesondere die dabei zahlreich mitschwingenden Verbesserungsfantasien, besitzen für die Öffentlichkeit eine hohe Anziehungskraft. Dabei ist die Wahrnehmung und auch moralische Bewertung entsprechender Techniken, Erkenntnisse und Szenarien entscheidend davon geprägt, auf welche Art und Weise diese in den unterschiedlichen Medien thematisiert werden. Entsprechend zeigt der Artikel „Zur medialen Darstellung von Neuro- Enhancement. Eine rhetorische Analyse mit einem Fokus auf (latente) Welt- und Menschenbilder“ von Jutta Krautter auf, wie in Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln über die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit durch Pharmazeutika - wie etwa Ritalin - berichtet wird. Die Autorin bedient sich dabei der sogenannten Toposanalyse. Mit dieser ist es möglich, in Texten sowohl die aus der Rhetorik bekannten persuasiven (lat. überredend) Strukturen des Autors freizulegen als auch dessen Rückgriff auf sozial und kulturell verankerte Topoi in Form von Argumentationsmustern, Metaphern oder spezifisch gewählten Ausdrücken zu beschreiben. Dabei wird herausgestellt, dass die Wahl und Verwendung dieser Topoi unterschwellig die Wahrnehmung und auch moralische Bewertung eines Sachverhalts seitens des Lesers entscheidend beeinflussen können. Anhand einer detaillierten Modellanalyse eines Zeitschriftenartikels zum Thema Neuro-Enhancement wird im Folgenden nachgezeichnet, wie die Präsentation und Verknüpfung zahlreicher derartiger Topoi auf die moralischen Überzeugungen und Urteile der Leser einwirken können. Auch Simon Ledder greift die mediale Thematisierung von Enhancement- Praktiken zur technischen Selbstgestaltung des Menschen auf. In seinem Artikel „,Ich will kein Freak werden! ‘ Die Produktion von ,Verbesserung‘ und ,Behinderung‘ in digitalen Spielen“ erfolgt eine diskursanalytische Betrachtung der dem Genre der First-Person-Shooter zuzuordnenden digitalen Spiele BioShock und Deus Ex: Human Revolution. In den Spielen ist es durch prothetische Apparaturen bzw. genaktive Substanzen möglich, die gespielte Figur im Sinne des Enhancements zu verbessern. Der Beitrag versteht die Darstellung und Verwendungsmöglichkeiten von Enhancement-Technologien in den Spielen als diskursive Aussagen und arbeitet heraus, wie diese bestimmte Vorstellungen von Normalität, Verbesserung und Behinderung konstruieren. Der Fokus liegt dabei auf der kritischen Diskussion der Beobachtung, dass diese populären Spiele Enhancement-Technologien als eine Lösung für einen als behindert wahrgenommenen Körper präsentieren, ohne dabei diese Wahrnehmung als das eigentliche Problem zu thematisieren. Einleitung 31 Der Artikel „Seelenlose Klone? Literatur als Reflexionsmedium bioethischer Fragen am Beispiel des Organ-Klons“ von Marcus Rockoff untersucht, auf welche Weise literarische Darstellungsmittel, wie beispielsweise narrative Strategien oder die Verwendung von literarischen Motiven, moralische Urteile der Leser im Zusammenhang von bioethischen Konfliktfällen beeinflussen können. Dazu wird auf den 2005 erschienenen Roman Alles, was wir geben mussten von Kazuo Ishiguro zurückgegriffen. Im Roman werden in staatlichen Heimen Klone als Organreserven gezüchtet. Ausgehend von einer ethischen Analyse, die sich auf das Nichtinstrumentalisierungsgebot menschlichen Lebens stützt, wird im Folgenden die ästhetische Aneignung dieses Szenarios im Roman beschrieben. Dabei zeigt sich, dass die moralische Rechtfertigung von Organ-Klonen von der Infragestellung ihrer Zugehörigkeit zur Spezies Mensch abhängig gemacht wird. Durch eine Offenlegung der im Roman verwendeten spezifischen narrativen Strategien sowie den Einsatz des aus der Romantik bekannten Doppelgänger-Motivs wird erläutert, wie die ästhetische Präsentation des Sachverhalts den Leser während der Lektüre in eine Unsicherheit bezüglich Fragen des moralischen Status und des Selbstverständnisses der Organ-Klone geraten lässt. vi.) Formen der Regulierung Schließlich fordern die vielfältigen Anwendungsbezüge der neuen Erkenntnisse aus den Lebenswissenschaften eine Regulierung. Abschließend wird erwogen, inwieweit eine solche sowohl von „außen“, etwa durch rechtliche Steuerung, aber auch von „innen“ heraus, etwa als Selbstverpflichtung von Unternehmen, gelingen kann. In seinem Beitrag „Regulation of Cognition Enhancement Drugs and Public Reason: Prohibition or Economic Disincentives Model? “ widmet sich Veljko Dubljević der politischen Regulierung von Neuropharmaka und stellt von einem gerechtigkeitsbasierten Ansatz ausgehend das Economic Disincentives Model als potentielle Lösung vor. Demnach könnte z. B. anhand von Steuern, Lizenzgebühren und Zusatzversicherungen sichergestellt werden, dass das individuell auftretende Risiko bei der Verwendung dieser sogenannten kognitiven Enhancer nicht auf die Gesellschaft umgelagert würde. Der soziale Druck, die kognitiven Fähigkeiten zu optimieren, wird dabei an Modellen der rationalen Wahl verdeutlicht. Durch das Abwägen der zu erwartenden Nebenwirkungen mit den Standards internationaler Kontrollgremien zeigt der Autor, dass das Economic Disincentives Model sich aber nur zur Regulierung mancher Neuropharmaka eignet, wobei der freie Zugang zu anderen, gesundheitsschädlicheren Pharmaka jedoch verboten bleiben müsste. Jochen Fehling wendet sich im Artikel „Vermarktung genetischer Tests im Spannungsverhältnis zwischen Gewinnoptimierung und Patientennutzen: Was kann eine Unternehmensethik leisten? “ den Möglichkeiten der Selbstregulierung von Unternehmen aus einer unternehmensethischen Perspekti- Robert Ranisch, Sebastian Schuol & Marcus Rockoff 32 ve zu. Ungeachtet der Tatsache, dass die Entwicklung, Erprobung und Vermarktung genetischer Tests per se profitorientiert sind, stellen sich in diesem Zusammenhang auch jenseits des politischen Regulierungsbedarfs eine Vielzahl normativer Fragen. Nach einem Überblick über die Arten der genetischen Diagnostik werden damit verbundene normative Fragen dargestellt und gezeigt, dass das deutsche Gendiagnostikgesetz nicht zu ihrer Lösung ausreicht. Auch bereits bestehende Selbstverpflichtungen von Unternehmen sind dazu nicht hinreichend. Auf der Grundlage des ethischen Kohärentismus stellt der Autor die zentrale Frage, ob Unternehmen sich überhaupt dem moralischen Diskurs stellen sollten, und leitet unternehmensethische Empfehlungen ab. Literatur Beauchamp, Tom L./ Childress, James F. (2012): Principles of Biomedical Ethics. 7. Aufl. Oxford u. a.: Oxford University Press. Ehrenberg, Alain (2008): Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Engels, Eve-Marie (2005): Ethik in den Biowissenschaften. In: Maring, Matthias (Hrsg.): Ethisch-Philosophisches Grundlagenstudium 2. Ein Projektbuch. Münster: Lit, S. 135-166. Engels, Eve-Marie (2009): Der Mensch, ein Mängelwesen? 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Roman Beck Transparenz in der Biomedizin und die Frage nach der „Selbstgestaltung des Menschen“ 1 Abstract Transparency in Biomedicine and the Issue of “Human Self-design”: Contemporary bioethics is challenged by modern biotechnological possibilities of “selfdesign”. If human traits, so far conceived as unchangeable, can be modified, it is necessary to redraw moral demarcation lines reasonably. Whereas most studies in ethics investigate the prohibition or permission of certain biotechniques (e. g. Neuro-Enhancement), the following paper focuses on empirical presuppositions of the debate. Biomedical information, especially about risks and adverse effects, has strong impacts on the outcome of ethical considerations. In biomedical research, however, “negative results” are often withheld or kept secret, thus leading to unreliable information. Considering the dramatic consequences for users of biotechnologies, “transparency” is introduced as an important regulating factor for interaction between experts and the public. With its criteria of trueness, completeness, comprehensibility and appropriateness, transparency demands the accessibility and dissemination of relevant information. 1 Das Paradigma der „Selbstgestaltung des Menschen“ in der Bioethik Seit Beginn ihrer noch jungen Karriere befasst sich die Bioethik - hier verstanden als ethische Reflexion auf den verantwortlichen Umgang des Menschen mit biomedizinischen Anwendungen 2 - mit denjenigen ethischen Problemen und Fragestellungen, die aus den aktuellen Entwicklungen der biologisch-medizinischen Forschung erwachsen. Angesichts dieser Aufgabenstellung hat sie es weitgehend mit neuartigen Handlungs- und Eingriffsmöglichkeiten zu tun, die mithilfe traditioneller begrifflicher Kategorien nur schwierig analysierbar und mithilfe traditioneller ethischer 1 Der Beitrag beruht auf Überlegungen, die ich in meiner Dissertation mit dem Titel Transparenz in der biomedizinischen Forschung (2013) angestellt und in der Reihe Tübinger Studien zur Ethik veröffentlicht habe. 2 Vgl. Reich (1998) für die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs im angloamerikanischen Raum. Roman Beck 36 nicht, dass in bioethischen Themenfeldern (z. B. der Reproduktionsmedizin oder Organtransplantation) die vertretenen Positionen pluralistisch und kontrovers sind, und zwar sowohl bezüglich der moralischen Urteile als auch bezüglich der zugrunde gelegten Moraltheorien. Dennoch konnte bislang weitestgehend zumindest von einer Konstante innerhalb des Diskurses ausgegangen werden: die Zielsetzung, dass biomedizinische Anwendungen der Diagnose, Therapie und Prävention von Krankheiten bzw. der Wiederherstellung und Erhaltung der Gesundheit des Menschen dienen. Angesichts ihrer allgemeinen Wertschätzung war diese Zielsetzung eine konsensuelle Voraussetzung der bioethischen Debatte, die lediglich in Spezialdiskursen - bei der Bestimmung etwa, was genau unter Gesundheit und Krankheit zu verstehen sei - problematisiert wurde. 3 Kontroversen entzündeten sich hingegen überwiegend bei der Frage nach der Legitimität der verfügbaren Mittel, wie etwa die Auseinandersetzung in der Stammzellforschung um den „Verbrauch“ menschlicher Embryonen zeigt. Während also die Zielsetzung, die Therapie von Krankheiten, bislang nicht zur Disposition stand, wurde die ethische Reflexionsarbeit vornehmlich auf die Frage nach der Legitimität der Mittel bezogen. Die Situation ändert sich gegenwärtig, als wir Zeugen von neuartigen biomedizinischen Herausforderungen sind, mit der sich die Bioethik beschäftigen muss. Denn im genannten Kontext werden nunmehr Zielsetzungen diskutiert, die über den traditionellen Zweck der Gesundheitswiederherstellung weit hinausgehen. Gemeint sind biotechnische bzw. biomedizinische Eingriffe in jenen Teil der menschlichen Natur, der dem Menschen „naturwüchsig“ vorgegeben ist, um die physische oder psychische Konstitution zu verbessern („Enhancement“). Die Perspektive wird dabei von der Suche nach geeigneten Mitteln für die Realisierung eines festgelegten Zwecks (restitutio ad integrum) hin zur Bewertung umstrittener Zielsetzungen (transformatio ad optimum) verlagert (vgl. Wiesing 2006). Wenngleich die Idee einer „Verbesserung“ des Menschen nicht neu ist, unterscheidet sich das Programm des Enhancements von früheren Methoden (z. B. Bildung, Übung) hinsichtlich der Reichweite und Tiefe der Eingriffe auf einer anthropologisch relevanten Ebene (vgl. Engels 2001; Engels/ Hildt 2005). Aufgrund der damit verbundenen vielschichtigen ethischen und anthropologischen Fragestellungen ist es angemessen, von einem neuen Paradigma in der Bioethik zu sprechen, von dem (positiv gewendet) eine starke Wirkkraft für die Theorienbildung ausgehen könnte: dem Paradigma der „Selbstgestaltung 3 Diese Problematisierungen werden durch das neue Paradigma der „Selbstgestaltung des Menschen“ (s. u.) stimuliert (vgl. Lenk 2002). Davon abgesehen stellt sich im ärztlichen Bereich die Frage nach dem Einsatz biomedizinischer Techniken etwa am Lebensende, wo die Zielsetzung „Therapie von Krankheiten“ zugunsten einer adäquaten Sterbebegleitung (z. B. unter Einsatz palliativer Maßnahmen) in den Hintergrund rücken kann. Theorien nur schwierig evaluierbar oder normierbar sind. Es überrascht Transparenz in der Biomedizin 37 des Menschen durch Biotechniken“. 4 In den eröffneten Handlungsspielräumen müssen moralische Grenzziehungen reflektiert und auf individueller bzw. kollektiver Ebene entschieden werden. Während in zahlreichen Beiträgen zur Enhancement-Problematik die ethische Frage nach der Zulässigkeit dieser Zielsetzung angesichts tangierter normativer Konzepte (z. B. Authentizität, fairer Wettbewerb, Autonomie) gestellt wird (vgl. Schöne-Seifert/ Talbot 2009), 5 möchte ich den Fokus auf die empirischen Voraussetzungen dieser Reflexionen lenken. Denn innerhalb des spannungsvollen Feldes der Bioethik basiert die ethische Reflexionsarbeit im Wesentlichen auf einer zuverlässigen Sachinformierung durch biomedizinische Experten. Wie genau, lässt sich mithilfe unterschiedlich komplexer Modelle der praktischen Urteilsbildung in der Bioethik veranschaulichen. 2 Biomedizinische Expertise bei der praktischen Urteilsbildung über die „Selbstgestaltung des Menschen“ Modelle der praktischen Urteilsbildung versuchen die konstitutiven Elemente der Argumentationsbzw. Begründungsstruktur zu erfassen, die einem handlungsorientierten, präskriptiven Urteil zugrunde liegt. Nach dem einfachen und allgemeinen Modell des praktischen Syllogismus entsteht ein präskriptives Urteil aus der Synthese einer deskriptiv-empirischen und präskriptiven Prämisse (vgl. Höffe 2002, 171). Aus einem präskriptiven Obersatz und einem deskriptiven Untersatz wird eine präskriptive Konklusion gewonnen, wobei ein Sachverhalt, der in der deskriptiven Prämisse beschrieben wird, als (Sonder-)Fall der präskriptiven Prämisse ausgewiesen wird. Ein Beispiel, welches sich auf das Enhancement-Paradigma bezieht, könnte lauten: Präskriptive Prämisse: Eine kognitive Leistungssteigerung des menschlichen Gehirns ist (vor einem Konzept des guten Lebens) erstrebenswert und moralisch vertretbar. Deskriptive Prämisse: Psychopharmaka bewirken eine kognitive Leistungssteigerung des menschlichen Gehirns. Urteil: Daher ist die Einnahme der Psychopharmaka zur Leistungssteigerung des menschlichen Gehirns erstrebenswert und moralisch vertretbar. Wie sich an diesem Beispiel zeigen lässt, haben Modelle der praktischen Urteilsbildung in der Bioethik mindestens zwei essentielle Funktionen, mit denen teils verschränkte, teils gegenläufige Bewegungen verbunden sind 4 So der Titel des DFG-Graduiertenkollegs Bioethik - Zur Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken, dessen Früchte in diesem Sammelband geerntet werden. 5 Vgl. auch die Beiträge von Veljko Dubljević, Jon Leefmann oder Katrin Esther Lörch- Merkle im vorliegenden Sammelband. Roman Beck 38 (vgl. im Folgenden Dietrich 2008; 2009): Sie haben einerseits eine handlungsleitende und „beschleunigende“ Funktion, indem sie den argumentativbegründenden Ablauf einer retrospektiven Handlungsrechtfertigung oder einer prospektiven Handlungsempfehlung rekonstruieren und dabei die Gültigkeit des präskriptiven Urteils versichern. 6 Es wird hierbei vorausgesetzt, dass sich praktische Urteile - wenn sie nicht überhaupt erst im Rahmen einer Handlungssituation konstituiert werden - in der Regel auf konkrete Handlungen beziehen (z. B. „Soll ich Psychopharmaka zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit meines Gehirns benutzen? “). Durch das Erfassen der Argumentations- und Begründungsstruktur machen die Modelle zugleich sichtbar, welche Elemente der praktischen Urteilsbildung einer kritischen Prüfung unterzogen werden können und gegebenenfalls einer weiteren Begründung bedürfen: Ist die empirische Prämisse zutreffend, die präskriptive Prämisse gerechtfertigt und die Schlussfolgerung korrekt? Sofern dabei die Gültigkeit eines präskriptiven Urteils in Frage gestellt wird, haben die Modelle der praktischen Urteilsbildung, zweitens, eine reflexive, „problemerschließende“ und dadurch „entschleunigende“ Funktion, die der ersten, handlungsorientierenden Bewegung durchaus entgegenstehen kann. Ich beziehe mich zunächst auf diese zweite, für die Ethik als Reflexionstheorie der Moral wesentliche Bewegung (Reflexivität), bevor ich mich der ersten, handlungsleitenden Funktion (Handlungsorientierung) zuwende, die für die nachfolgende Argumentation eine zuspitzende Wirkung hat. Wir haben festgestellt, dass präskriptive (z. B. bioethische) Urteile stets „gemischte Urteile“ sind, die auf deskriptiven und normativen Annahmen beruhen. Bei der Urteilskonstitution in lebensweltlichen Kontexten wird die deskriptive Prämisse in der Regel durch die situative Wahrnehmung und Erschließung des Urteilenden (und Handelnden) gewonnen (vgl. Dietrich 2004). 7 Dieser unmittelbare Ablauf gerät hingegen in bioethischen Zusammenhängen an seine Grenzen. Angesichts der Spezifität und Komplexität biomedizinischer Sachverhalte kann die deskriptive Komponente in der Regel nicht auf der Grundlage lebensweltlicher Erfahrungen hinreichend bestimmt werden. Der Urteilende ist auf zusätzliche Expertise angewiesen, die üblicherweise von den empirischen Wissenschaften, im Falle des „Neuro-Enhancement“ von der biomedizinischen Forschung, zur Verfügung gestellt wird. Dies betrifft sowohl die Gewinnung als auch die Überprüfung der empirischen Prämisse, was begrenzte Kontrollmöglichkeiten der verfügbaren Informationen durch den Urteilenden zur Folge hat. Wenn von der 6 Neben der handlungsrechtfertigenden Ebene des präskriptiven Urteils nennt Dietrich (2009, 231) auch eine handlungserklärende Ebene, die hier aber keine weitere Rolle spielt. 7 Wie schon angedeutet, soll in diesem Beitrag lediglich die empirische Prämisse im Fokus der weiteren Überlegungen stehen, während (berechtigte) Fragen nach der Gültigkeit der normativen Prämisse und der Schlussfolgerung vernachlässigt werden. Transparenz in der Biomedizin 39 Verfügbarkeit biomedizinischer Expertise die Rede ist, ist vor allem auch an Formen der indirekten Informationsvermittlung zu denken. Biomedizinische Informationen werden in der Regel aus einer teils langgliedrigen Kette der Informationsweitergabe gewonnen, die bei einem Beratungsgespräch mit einem Arzt oder der Lektüre eines Zeitungsartikels endet, aber auf die originäre Informierung eines oder mehrerer biomedizinischer Experten zurückgeht. Solche Informationen liegen häufig in Form von Ergebnissen wissenschaftlicher bzw. klinischer Studien vor, die eine grundlegende Informationsquelle bei der Erstellung klinischer Leitlinien und Patienteninformationen, bei der systematischen Nutzen-Schaden-Bewertung von medizinischen Maßnahmen im Health Technology Assessment und in der Arbeit von Ethikkommissionen sind (vgl. Strech 2011, 179). Das vereinfachte Modell der praktischen Urteilsbildung, bestehend aus nur einer deskriptiven und präskriptiven Prämisse, suggeriert allerdings, dass ein umfassendes ethisches Urteil auf der Grundlage einer oligofaktoriellen Problemanalyse möglich wäre. Im oben dargestellten Beispiel konstituiert sich das positive Urteil hinsichtlich der Einnahme von Psychopharmaka aus Überlegungen zum Erstrebenswerten und zur moralischen Vertretbarkeit einer Leistungssteigerung des menschlichen Gehirns. Da die Anwendung biomedizinischer Innovationen meist vielschichtige, z. B. auch soziale Auswirkungen und Probleme implizieren, die nur unter Einbezug der Expertise mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen beantwortbar sind, wurden elaborierte Varianten der praktischen Urteilsbildung mit einer weiteren Unterteilung der konstitutiven Elemente entwickelt. Ein konstruktiver Vorschlag für ein „gemischtes Urteil“, der passenderweise die Enhancement- Problematik thematisiert, geht auf Düwell (2008, 5ff.) zurück und setzt die Kenntnis folgender relevanter Details voraus: gegenwärtige naturwissenschaftlich-technische Möglichkeiten; Prognose zukünftiger Möglichkeiten und Unsicherheiten; Einfluss auf die soziale und psychische Wirklichkeit; rechtliche Regelungsmöglichkeit; Bedeutung des Krankheitsbegriffs in der Medizin; anthropologische Bestimmungen („Welche Eigenschaften sind für den Menschen wichtig? “); und moralphilosophische Überlegungen („Was sollen wir tun? “). Die unabgeschlossene Liste möglicher Faktoren verdeutlicht, dass für biomedizinische Urteile wissenschaftliche „Kenntnisse und Forschungsmethoden aus verschiedenen Disziplinen relevant sind“ (Düwell 2008, 7). Um zum Urteil zu gelangen, dass das Anbieten oder Nutzen von Enhancement-Technologien moralisch vertretbar ist, bedarf es disziplinär verantworteter Sachinformationen zu den unterschiedenen Themen, die wie folgt lauten können: „(1) Wir wissen, welche Eingriffe mit den Enhancement-Technologien möglich sind und die Folgen dieser Eingriffe sind übersehbar. Wir haben (2) keine Evidenz, dass in absehbarer Zeit gänzlich anders geartete Anwendungen dieser Technologien hinzukommen werden. Wir können (3) übersehen, dass das Angebot dieser Technologien rechtlich regelbar ist Roman Beck 40 und (4) ist es nicht ersichtlich, dass die Technologien fundamentale gesellschaftliche Veränderungen bewirken und Unbeteiligte beeinträchtigen. (5) Auf der Basis einer normativen Theorie, die sagt, dass wir so viel wie möglich Freiheitsspielräume von Menschen schützen müssen, könnte (6) das Ergebnis lauten, dass das Angebot von Enhancement-Technologien moralisch vertretbar ist.“ (Düwell 2008, 8) Wie schon beim vereinfachten wird beim elaborierten Modell der ethischen Urteilsbildung der Stellenwert wissenschaftlicher Expertise bei der Gewinnung der empirischen Teilantworten ersichtlich. In Fokussierung auf den biomedizinischen Sachstand (Teilantwort 1) 8 sind es primär biomedizinische Experten, welche die Kenntnis der einschlägigen Sachverhalte, die der empirischen Prämisse zugrunde liegen, vermitteln können. Sie beraten, ob eine Leistungssteigerung des menschlichen Gehirns durch Neuro-Enhancement tatsächlich bewirkt werden kann, d. h. ob das Ziel der „Verbesserung“ menschlicher Fähigkeiten mit den gegenwärtig oder zukünftig verfügbaren technischen Mitteln überhaupt erreichbar ist. Darüber hinaus geben sie Aufschluss über die Umstände der Realisierung, die im Modell von Düwell als „Folgen der Eingriffe“ berücksichtigt werden. Durch die Bestimmung des „ob“ und „wie“ der Realisierung der gegebenen Zielsetzung hat wissenschaftliche Expertise indes einen wichtigen Einfluss auf das Ergebnis der bioethischen Reflexion: Das Zustandekommen des präskriptiven Urteils, dass die Einnahme von Psychopharmaka zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit moralisch vertretbar ist, hängt von der Voraussetzung ab, dass Psychopharmaka tatsächlich die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns steigern und keine unübersehbaren Folgen verursachen; andernfalls würde in Abhängigkeit von der präskriptiven Prämisse sehr wahrscheinlich ein entgegengesetztes präskriptives Urteil konstituiert werden. 3 Intransparente Informationen im biomedizinischen Kontext Doch was geschieht, wenn sich die verwendeten wissenschaftlichen Informationen als unzutreffend oder fehlerhaft erweisen? Ich möchte hierbei eine theoretische und praktische Ebene unterscheiden: Sofern eine biomedizinische Informierung als Grundlage der deskriptiv-empirischen Prämisse dient, zieht ihre Fehlerhaftigkeit die Falschheit der empirischen Prämisse und infolgedessen auch des angenommenen präskriptiven Urteils nach sich. Gemäß dieses Zusammenhangs wären insbesondere ethische Studien betroffen, die vom „realen Gehalt“ der empirischen Prämisse ausgehend präskrip- 8 Wenngleich die biomedizinische Expertise im Fokus steht, könnte die Argumentation mutatis mutandis auf die anderen in Düwells Modell involvierten Wissenschaften übertragen werden. Transparenz in der Biomedizin 41 tive Urteile konstituieren, 9 wobei ihnen die Wechselwirkung zwischen der deskriptiven und präskriptiven Prämisse (vgl. Dietrich 2008, 66) zum Verhängnis werden kann. Im Anschluss an das oben genannte Enhancement- Beispiel gewinnt etwa der vermeintliche Sachverhalt der Leistungssteigerung des Gehirns durch Psychopharmaka ethische Relevanz, weil die Leistungssteigerung als erstrebenswert erachtet wird; umgekehrt wird die kognitive Leistungssteigerung als erstrebenswert angesehen, weil sie unter bestimmten Bedingungen tatsächlich hervorgerufen werden kann oder zumindest für möglich gehalten wird. Angesichts dieser Wechselwirkung ist die Fragestellung, ob die technische Realisierung der Verbesserung menschlicher Fähigkeiten überhaupt erstrebenswert ist (im Sinne des „evaluativ Guten“) oder erlaubt werden soll (im Sinne des „normativ Richtigen“; vgl. Düwell u. a. 2002, 2), nur dann sinnvoll, wenn die empirische Prämisse zutrifft und nicht fehlerhaft ist. Was auf theoretischer Ebene mindestens einem Ärgernis gleichkommt, kann auf praktischer Ebene bedenkliche bis dramatische Konsequenzen nach sich ziehen, wie sich mithilfe des handlungsorientierenden Charakters präskriptiver Urteile zeigen lässt. Sofern auf ihrer Grundlage im biomedizinischen Kontext konkrete Entscheidungen über instrumentelle Eingriffe in Leib und Leben von Personen getroffen werden, verhindert eine unzutreffende oder fehlerhafte biomedizinische Informierung nicht nur die Realisierung der Ziele, also im genannten Beispiel die Verbesserung der Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns durch Psychopharmaka, sondern bewirkt möglicherweise reversiblen oder irreversiblen psychischen oder physischen Schaden beim Anwender. Vor diesem Hintergrund werden wissenschaftliche Desinformationen, die sich insbesondere auf gesundheitliche Risiken und Nebenwirkungen beziehen, zur reellen Gefahr für die Unversehrtheit von Anwendern biomedizinischer Techniken. Vor dem theoretischen Hintergrund der ethischen Urteilsbildung und angesichts der faktischen Einflussnahme auf handlungsbezogene deliberative Entscheidungsprozesse kann der Stellenwert biomedizinischer Informationen nicht hoch genug eingeschätzt werden und sollte auf eine Stufe mit den Maßnahmen gestellt werden, die im Bereich der Biomedizin zur Anwendung kommen. 10 Angesichts der gravierenden Konsequenzen, die aus einer Fehlinformierung im Bereich der biomedizinischen Forschung resultieren können, stellt 9 Mit dieser Formulierung soll offen gehalten werden, dass die empirische Prämisse möglicherweise erst zukünftig eintritt. Denn Ethik wird immer auch als antizipierende Reflexion auf zukünftig eintretende Handlungsoptionen und Szenarien verstanden. Dennoch bedürfen auch diese Szenarien einer fehlerfreien empirischen Basis (z. B. bei der Bestimmung einer Eintrittswahrscheinlichkeit), um zu einem gültigen Urteil zu kommen. Keineswegs möchte ich damit die ethische Relevanz von Gedankenspielen und Fiktionen in Frage stellen, die weniger auf gültige Urteile abzielen, sondern der Entwicklung von Theorien dienen. 10 Diesen Stellenwert biomedizinischen Wissens betont z. B. Heubel (1999, 44f.) gegenüber wirtschaftlichen, rechtlichen etc. Wissensbeständen. Roman Beck 42 sich die Frage nach der moralischen Verantwortlichkeit der Informationsgeber. Aus epistemologischen bzw. sozialpsychologischen Gründen wird man sich mit Fehlern und Irrtümern in den Wissenschaften arrangieren müssen, ohne dass eine Absichtlichkeit oder grobe Fahrlässigkeit der jeweiligen Forscher vorliegt (vgl. Neumaier 2007). Ebenfalls gesondert zu betrachten sind wissenschaftliche Dissense und Kontroversen über interpretationsbedürftige und -freudige Forschungsergebnisse, die sowohl die Einschätzung der Erreichbarkeit neuer Zielbestimmungen mithilfe biomedizinischer Techniken (z. B. die schlechthinnige „Verbesserung“ der menschlichen Konstitution), als auch die Einschätzung der damit verbundenen Risiken und Nebenwirkungen betreffen können - wenn nicht sogar deren Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit unbekannt sind. 11 Die Fehlerhaftigkeit und Unzuverlässigkeit biomedizinischer Information gewinnt hingegen spätestens dann eine moralische Dimension, wenn sie auf die absichtliche Willkür der Informationsgeber zurückzuführen ist. In den letzten Jahren wurde deutlich, dass es weniger die manifesten Betrugsdelikte in den Wissenschaften sind (z. B. Erfinden oder Fälschen von Ergebnissen), die eine nachhaltige fehlerhafte Informationslage verursachen. Denn in vielen Fällen werden solche Verstöße frühzeitig entdeckt und publik gemacht. Quantitativ dominierend ist vielmehr das „selektive Publizieren“, d. h. das Verheimlichen und Verschleiern wichtiger Informationen in wissenschaftlichen Studien, das insbesondere in der medizinischen (klinischen und pharmakologischen) Forschung Anlass zu großer Besorgnis gibt (vgl. Fanelli 2009). Da hiervon in der Regel „negative Ergebnisse“ betroffen sind, werden der Nutzen bzw. die Wirksamkeit einer biomedizinischen Methode insgesamt überschätzt bzw. der mögliche Schaden unterschätzt (vgl. Dwan u. a. 2008). Der Nachweis einer Kausalität zwischen einer fehlerhaften bzw. fehlenden Information und einem physischen und psychischen Schaden ist indes schwierig. Dennoch konnten bei hochschwelligen Folgen eklatante Zusammenhänge hergestellt werden: Ein vieldiskutierter, spektakulärer Fall ist eine 1980 abgeschlossene Studie, die ein hohes Risiko für den plötzlichen Herztod bei einer Behandlung mit einem bestimmten Medikamententyp der Antiarrhythmika belegt, welche aber erst 1993 publiziert wurde (vgl. Cowley u. a. 1993). Durch das Unterschlagen dieser Studie wurde das Ausmaß der bereits bekannten Nebenwirkung unterschätzt und das Medikament in diesem Zeitraum zahlreichen Patienten mit Herzerkrankungen verordnet. In einer Hochrechnung wurden in den USA jährlich 20.000 bis 75.000 Todesfälle auf die Verordnung des besagten Medikamententyps zurückgeführt (vgl. Moore 1995). Es könnten noch zahlreiche weitere Fälle 11 Es ist ein Verdienst von Dascal (2000; 2006), dass Kontroversen in der wissenschaftlichen Forschung nicht mehr auf defizitäre Übergangsstadien reduziert, sondern als produktiver methodischer „Schlüssel zur wissenschaftlichen Erkenntnis“ angesehen werden (vgl. Liebert/ Weitze 2006). Transparenz in der Biomedizin 43 „selektiven Publizierens“ innerhalb der biomedizinischen Forschung benannt werden (vgl. McGauran u. a. 2010). Die genannten tragischen Fälle, die am Ende einer willkürlichen biomedizinischen Informierung stehen, lassen den Ruf nach einer ethischen Regulierung der zugrunde liegenden Kommunikationsprozesse lauter werden. Wie sich in solchen komplexen Zusammenhängen zeigt, geraten allerdings die klassischen Kommunikationsideale, die auf einen langen ethischen Begründungsdiskurs zurückblicken können, an ihre Grenzen. Beispielsweise ist es höchst umstritten, ob das Lügenverbot auch solche Äußerungen erfasst, bei denen nicht explizit die Unwahrheit gesagt wird; 12 wenn das Verheimlichen und Verschleiern von Informationen nicht als Lüge aufgefasst wird, entsteht eine bedenkliche ethische Grauzone. In meiner Studie von 2013 habe ich daher Transparenz als ein Kommunikationsregulativ eingeführt, welches die Disponibilität sachbezogener Informationen bei Interaktionen zwischen biomedizinischen Akteuren untereinander und bei Interaktionen mit der Öffentlichkeit erfasst. Es wird vorausgesetzt, dass Transparenzimperative genau in solchen Kommunikationskontexten und Kommunikationssituationen normativ einschlägig sind, in denen es um eine umfassende und verständliche Informierung im Rahmen eines individuellen oder kollektiven Entscheidungsprozesses geht. 4 Transparenz als Regulativ für biomedizinische Informierungen Mit der Wahl des Transparenzkriteriums wird freilich ein Konzept herangezogen, das gegenwärtig en vogue ist. Seit ca. 20 Jahren hat sich „Transparenz“ als Ideal für Verfahrens- und Verhaltensweisen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (z. B. in der Politik und Wirtschaft) etabliert und es wird mittlerweile als einer der „Schlüsselbegriffe der Gegenwart“ angesehen (Stehr/ Wallner 2010, 9). Doch was genau ist eigentlich gemeint, wenn wir von „Transparenz“ sprechen und damit eine Forderung verknüpfen? Dass diese Frage nicht trivial ist, zeigt sich in bislang fehlenden begriffsanalytischen Studien. Untersucht man verschiedene gesellschaftliche Kontexte, in denen Transparenz den Status einer „Leitmetapher“ (Schmidt-Aßmann 2005, 110) erworben hat, kristallisieren sich zwei grundlegende Gebrauchsweisen des Transparenzbegriffs heraus: Erstens meint Transparenz die formelle Zugänglichkeit zu ursprünglich verborgenen Sachverhalten bzw. diesbezüglichen Informationen (formelle Transparenz). Diese Semantik ist aus dem Bereich der Politik bekannt, wo Transparenz den Zugang der Bürger zu gesellschaftsrelevanten Informationen über Entscheidungsprozesse und 12 Aufschlussreich ist die Diskussion um die ethische Zulässigkeit des „geheimen Gedankenvorbehalts“ (reservatio mentalis), die seit dem Mittelalter in Folge des rigiden Umgangs der Kirche mit der Lüge immer wieder entbrannt ist (vgl. Annen 1997, 244ff.). Roman Beck 44 Handlungen der Regierenden beschreibt und als wichtiges regulatives Prinzip der guten Regierungsführung (good governance) angesehen wird (vgl. Fairbanks u. a. 2007). Zweitens bezeichnet Transparenz das kognitive Phänomen der intellektuellen Nachvollziehbarkeit eines ursprünglich unverständlichen Sachverhalts bzw. der diesbezüglichen Informationen (inhaltliche Transparenz). Beispielsweise hat der Gesetzgeber im Vertragsrecht das sogenannte „Transparenzgebot“ erlassen, welches die Verpflichtung umfasst, „die Rechte und Pflichten [e]ines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar darzustellen“. 13 Ob mit Transparenz in der einen Situation eine formelle Zugänglichkeit zu Informationen, in der anderen Situation hingegen eine inhaltliche Nachvollziehbarkeit von Informationen gemeint wird, hängt meines Erachtens von der instrumentellen Funktion ab, die eine transparente Informierung im jeweiligen Kontext erfüllen soll. Während in der Politik die bloße Zugänglichkeit zu Dokumenten als ausreichend angesehen wird, damit eine demokratische Kontrolle über die Handlungsweisen der Regierenden ausgeübt werden kann, ermöglicht aus der Perspektive der Rechtsprechung erst die individuelle Verständlichkeit der Rechtstexte eine wohlinformierte Entscheidung des Rechtssubjekts. Gegenüber der vordergründigen semantischen Differenz scheint sich auf einer basalen Ebene ein Aspekt durchzuziehen: In beiden Kontexten soll Transparenz die prinzipielle epistemische Aneigbarkeit und praktische Anwendbarkeit von Informationen gewährleisten, wenngleich eine Abstufung hinsichtlich der infrage kommenden Personengruppe vorgenommen wird. Im ersten Fall reicht die formelle Zugänglichkeit zu Informationen aus, damit eine Personengruppe von Experten die gewünschte politische Kontrollfunktion ausüben kann - diese kann die formell verfügbaren Informationen qua Expertise auch epistemisch aneignen und praktisch anwenden. Im zweiten Fall wird hingegen zusätzlich und dezidiert eine kognitiv-inhaltliche Transparenz eingefordert, um eben diese epistemische Aneigbarkeit und praktische Anwendbarkeit der Informationen für alle Rechtssubjekte zu garantieren und deren informierte Entscheidung vorzubereiten. Angesichts dieser Analysen ist es plausibel, Transparenz als ein komplexes Regulativ zu verstehen, das adressatenspezifisch die epistemische Aneigbarkeit und praktische Anwendbarkeit von Informationen verbürgen soll. Entsprechend manifestiert sich immer dann das Bedürfnis nach Transparenz, bzw. wird immer dann die Forderung nach Transparenz laut, wenn ein Wissensdefizit über relevante Sachverhalte bzw. Informationen bemerkbar wird und sich ein Entscheidungs- und Handlungsbedarf abzeichnet. Als epistemischer Idealbegriff vereint Transparenz 13 Beachte hierzu die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (BGHZ) 106, 49. Es geht konkret um Transparenzverpflichtungen für Verwender der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB). Dieses Beispiel zeigt zugleich, dass inhaltliche Transparenz formelle Transparenz voraussetzt: Nur etwas, das formell zugänglich ist, d. h. sichtbar bzw. wahrnehmbar ist, kann auch verstanden werden. Transparenz in der Biomedizin 45 konzeptuell somit beide eruierten Semantiken (formelle und inhaltliche Transparenz), wenngleich beim kontextspezifischen Gebrauch der Bedeutungsumfang pragmatisch angepasst und lediglich eine der beiden Komponenten fokussiert wird. Da die Kompensation von Wissensdefiziten über (bislang) intransparente Sachverhalte in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft in der Regel durch die Verfügbarkeit diesbezüglicher Informationen geschieht (informationelle Transparenz), die durch kundige Transparenzvermittler (z. B. biomedizinische Experten) gewährleistet wird, schließt sich die Frage an, welche Kriterien eine transparenzgenerierende Informierung - im Sinne der formellen und inhaltlichen Transparenz - erfüllen muss. Welche Qualität(en) müssen Informationen innehaben, um einen Sachverhalt transparent werden zu lassen? Eine rationale Rekonstruktion des epistemischen Idealbegriffs hat sich etymologisch und metaphorologisch an der buchstäblich physikalischen Gebrauchsform des Transparenzbegriffs zu orientieren, wie sie im deutschen Sprachraum seit dem späten 18. Jahrhundert verwendet wird: 14 Transparenz als die (Licht-)Durchlässigkeit und Durchsichtigkeit von Gegenständen, wodurch dahinter liegende Sachverhalte durchscheinen und demzufolge betrachtet werden können (perzeptive Transparenz). Ein solches Vorgehen wird vor dem Hintergrund des Okularzentrismus plausibel, der die abendländische Erkenntnistheorie bis heute bestimmt (vgl. Blumenberg 2001). Die direkte Wahrnehmbarkeit eines Sachverhaltes stellt demzufolge den Idealtyp des Wissensgewinns dar, an dem sich indirekte Formen der Wissensaneignung (z. B. qua Kommunikation) messen lassen müssen. Vor diesem Hintergrund bietet sich - angesichts der Aufgabenstellung, eine Kriteriologie transparenzvermittelnder Informationen zu gewinnen - als Ausgangspunkt der Rekurs auf das systematisch gut erfasste kommunikativ-epistemische Kriterium der Wahrheit an, das beim kommunikativen Handlungstyp der Informierung als funktionales Leitkonzept vorausgesetzt wird (vgl. Searle 1971, 49; 99f.). Eine mögliche Spannung zwischen den verschiedenen Wahrheitskriterien, auf deren Grundlage sprachliche Äußerungen bewertet werden, lässt sich dadurch auflösen, dass die Korrespondenz zur Wirklichkeit als Begründung für den Geltungsanspruch einer Aussage herangezogen werden kann, die in ein kohärentes sprachliches Rahmenwerk zu integrieren ist (vgl. Ott 1997, 335). Die transparenzgenerierenden Grenzen des sachbezogenen Wahrheitsbegriffs werden allerdings sichtbar, wenn wahre Einzelaussagen nicht notwendig alle relevanten Merkmale eines perzipierten Sachverhalts widerspiegeln können. Daher ist der Aspekt der Vollständigkeit der Informationen im Sinne der individuellen Relevanz - Relevanz wird als graduelle Bedeutsamkeit einer Information definiert, die ihr innerhalb des betreffenden Sach- oder Fachgebietes beigemessen wird - 14 Vgl. die Einträge „Transparenz“ bzw. „transparent“ im Deutschen Fremdwörterbuch (1981, Bd. 5, 399ff.), Deutschen Wörterbuch (1995, Bd. 3, 3429; 2003, Bd. 11, I.1., 1240f.) und im Duden (Bd. 7: Etymologie, 1997, 754). Roman Beck 46 zu ergänzen. Das Vollständigkeitskriterium umfasst die Möglichkeit, bestimmte irrelevante Informationen (nach Maßgabe der rezipientenspezifischen Relevanz) zu selektieren, während es hingegen eine Verheimlichung relevanter Informationen prinzipiell ausschließt. Sofern die bloße Verfügbarkeit von wahren und vollständigen Informationen nicht zum epistemischen Transparenzziel der Wissensaneignung führt, ist ferner der Aspekt der Verständlichkeit der Informationen als rezipientenbezogenes Kriterium anzuschließen. Die mit dem Kriterium der Verständlichkeit verbundenen normativen Forderungen reichen von der Berücksichtigung sprachlicher Konventionen (z. B. syntaktische, semantische und pragmatische Regeln einer Sprachgemeinschaft; vgl. Searle 1971, 29) bis zur Berücksichtigung etablierter Konversationsmaximen (z. B. die Explikation nicht- oder missverständlicher Begriffe; vgl. Grice 1993, 248). Die Grenzen des Verständlichkeitskriteriums werden darin sichtbar, dass problemlos verständliche Informationen bestimmte Merkmale eines Sachverhalts sprachlich überdecken oder verschleiern können. Die Methoden der Sprachkritik bzw. Diskursanalyse verweisen hierbei insbesondere auf Konnotationen bzw. evaluative und präskriptive Implikationen von Begriffen (vgl. Domasch 2007). Als letztes Kriterium wird daher die sprachlich angemessene Darstellung eingeführt, womit eine sprachliche Formulierungsalternative gemeint ist, die alle relevanten Aspekte des bezeichneten Sachverhalts darstellt und nur wenige oder keine normativen Implikationen zulässt. Angesichts der gewonnenen, allgemeinen Transparenzkriteriologie - bestehend aus den vier Kriterien der Wahrheit, Vollständigkeit, Verständlichkeit und sprachlichen Angemessenheit - stellt sich die Frage, wie konkrete transparenzrealisierende Handlungsnormen aussehen könnten, die für die Praxis funktional sind. Im letzten Schritt werden exemplarische und sich ergänzende Imperative als Beispiele für eine inhaltliche Spezifizierung des epistemisch-praktischen Transparenzideals genannt, die sich an der Problematik des „selektiven Publizierens“ im Bereich der biomedizinischen Forschung orientieren: - In qualitativer Hinsicht sollen biomedizinische Informationen primär auf veröffentlichten und bereits anerkannten wissenschaftlichen Methoden und Ergebnissen beruhen, die dem state of the art entsprechen. Sie beinhalten korrekte und vollständige Angaben über verwendete Methoden und erzielte Ergebnisse, was sogenannte „negative Ergebnisse“, d. h. falsifizierte Hypothesen, einschließt. - In quantitativer Hinsicht sollen biomedizinische Informationen in Abwägung zwischen der wissenschaftlichen Angemessenheit der Darstellung von oft komplexen Sachverhalten einerseits und dem Informationsbedarf des Transparenzsuchenden andererseits verfügbar gemacht werden. Der Informationsbedarf richtet sich nach der individuellen Relevanz der Informationen, wobei „objektive“ Relevanzkriterien zur Orientierung dienen können, die von vielen Transparenz- Transparenz in der Biomedizin 47 suchenden im besagten Kontext zugrunde gelegt werden. Im biomedizinischen Kontext sind es Informationen, deren Kenntnis für die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der individuellen Gesundheit von Bedeutung ist. Entsprechend sollten biomedizinische Informationen ein vollständiges Bild gravierender Risiken und Nebenwirkungen einer biomedizinischen Intervention vermitteln. - Angesichts des Vollständigkeitskriteriums kann darüber hinaus ein Rekurs auf vorläufige und bislang wissenschaftsintern unbestätigte biomedizinische Methoden und Ergebnisse geboten sein, wenn sie wichtige gesundheitsbezogene Informationen enthalten (z. B. zu Risiken und Nebenwirkungen) und für eine vollständige Darstellung des Sachverhalts relevant sind. - Um Missverständnisse und Fehlinterpretationen auf Seiten der Rezipienten zu vermeiden, ist der epistemische Status der wissenschaftlichen Informierung (probabilistisch, prognostisch, heuristisch, hypothetisch etc.) zu explizieren und zu erläutern. Die vorgeschlagenen Imperative führen deutlich vor Augen, dass Transparenz als epistemisch-praktisches Ideal hohe Anforderungen an Transparenzvermittler erhebt, die über diejenigen einzelner klassischer Kommunikationsnormen hinausgehen. 15 Sie kann stets nur in einem iterativen Prozess der Informierung objekt- und adressatenspezifisch hergestellt werden. Zugleich erinnert die Etymologie des Transparenzbegriffs (lat. trans, „(hin)durch, jenseits“; parere, „sich zeigen, erscheinen“) an die Grenzen dieses Konzepts, wonach existierende Zugangsbarrieren zu einem Sachverhalt keineswegs aufgehoben, sondern nur partiell, graduell und temporär durchdrungen werden können. 5 Fazit Transparenz wurde als Kommunikationsregulativ für den Vorgang der biomedizinischen Informierung im Rahmen einer praktischen Urteilsbildung über neue Biotechniken eingeführt. Es vereint die formelle und inhaltliche Zugänglichkeit zu einem Sachverhalt bzw. zu relevanten Informationen, welche - im Sinne eines epistemisch-praktischen Ideals - die Aneigbarkeit und Anwendbarkeit des Sachverhalts bzw. der Informationen ermöglichen soll. Sofern sich eine transparenzgenerierende Informierung an den objekt- und adressatenrelationalen Kriterien der Wahrheit, Vollständigkeit, Verständlichkeit und sprachlichen Angemessenheit orientiert, wird die Transparenzzielsetzung in jedem Falle verfehlt, wenn der zuständige Transparenzvermittler falsche Informationen über einen Sachverhalt weitergibt, wahre Informationen unverständlich vermittelt, verheimlicht oder ver- 15 Man denke an den Aspekt der Vollständigkeit einer Informierung, der etwa vom Lügenverbot unerfasst bleibt. Roman Beck 48 schleiert. Bei einer ethischen Urteilsbildung über die Anwendbarkeit bzw. Zulässigkeit biomedizinischer Techniken (hier am Beispiel des Neuro- Enhancement durch Psychopharmaka ausbuchstabiert) gewährleistet Transparenz, sofern die explizierten Transparenzimperative von biomedizinischen Informationsgebern berücksichtigt werden, die Verfügbarkeit zutreffender biomedizinischer Informationen, die für die Konstitution der empirischen Prämisse von wesentlicher Bedeutung sind. Wie wir gesehen haben, ist die Gültigkeit der empirischen Prämisse eine notwendige Voraussetzung für die Gültigkeit eines handlungsorientierenden Urteils über die Zulässigkeit der reflektierten Biotechnik. Ein fehlgeleitetes ethisches Urteil ist im biomedizinischen Kontext - und insbesondere innerhalb des Paradigmas der „Verbesserung“ menschlicher Fähigkeiten - von besonderer Bedeutung, da es möglicherweise die Anwendung einer Biotechnik nahe legt, die gravierende Risiken und Nebenwirkungen für die psychische und physische Integrität des Anwenders mit sich bringen kann. Nur unter der Voraussetzung einer transparenten Aufklärung des biomedizinischen Sachstands durch biomedizinische Experten kann eine empirisch gesicherte Reflexion der Anwendung von Biotechniken stattfinden. Wenn es letztlich darum geht, biomedizinische Interventionen reflektierend zu erfassen, sie gegebenenfalls nutzen, aber auch ablehnen zu können, bereitet Transparenz die Bühne für die genaue Eruierung der Urteilskomponenten: Ist etwa eine „Verbesserung“ menschlicher Fähigkeiten durch Biotechniken tatsächlich ohne gravierende gesundheitliche Risiken und Nebenwirkungen möglich? Bisherige Studien haben dies nicht eindeutig belegt. Und unter diesen Umständen scheint das „Enhancement“ weder erstrebenswert noch moralisch vertretbar zu sein. Literatur Annen, Martin (1997): Das Problem der Wahrhaftigkeit in der Philosophie der deutschen Aufklärung. Ein Beitrag zur Ethik und zum Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann. 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Cordula Brand „Wie Du mir so ich Dir“ Moralische Anerkennung als intersubjektiver Prozess Abstract Moral Recognition as an Intersubjective Process: Human beings live in a social world. They communicate, develop ideas, or more generally, they share meaning. Whenever they do so, a special relationship between these subjects is established: intersubjectivity. Following approaches from Husserl to Habermas, intersubjective relations are grounded within the lifeworld (“Lebenswelt”). Moral terms, a subclass of shared meanings, therefore, are also grounded in the “Lebenswelt”. Understanding, e. g., the moral term “person” as part of the “Lebenswelt” elucidates some of the theoretical problems connected with this concept. “Person” entails two aspects, a basic and a gradual one, which are here proposed to be grounded in different levels of the “Lebenswelt”. As a consequence, they entail different forms of approval and address different parts of our social interactions. However, we need both aspects to engage in society. The assignment to different levels of the “Lebenswelt” thus demonstrates how the two aspects of the term “Person” complement each other. 1 Intersubjektivität Immer dann, wenn zwei oder mehr Menschen miteinander kommunizieren, entsteht eine bestimmte Verbindung zwischen ihnen. Wenn wir uns mit unseren Mitmenschen austauschen wollen, müssen wir davon ausgehen, dass sie uns verstehen und unsere Gedanken (und Gefühle) nachvollziehen können. Wir setzen voraus, dass wir Bedeutungen mit anderen teilen können. Einerseits greifen wir auf solche geteilte Bedeutungen (z. B. „Mensa“) zurück, um uns in der sozialen Welt zurechtzufinden. Andererseits können wir auf den geteilten Bedeutungen aufbauen, um neue Ideen und Konzepte zu entwickeln. Der Austausch zwischen Subjekten schafft eine besondere Form der Verbindung. Die beteiligten Subjekte stehen in einer intersubjektiven Relation zueinander. Diese intersubjektive Relation ist mit einem Raum Cordula Brand 52 geteilter Bedeutungen verknüpft. Da die Inhalte des Raumes der geteilten Bedeutungen von vielen Subjekten geprägt wurden und werden, haben sie zwei besondere Charakteristika. Erstens sind sie sowohl historisch als auch kulturell wandelbar. Zweitens kann ihre Bedeutung nicht auf ein einzelnes Subjekt zurückgeführt werden. In diesem Sinne sind sie also irreduzibel. Mit dem Phänomen der Intersubjektivität haben sich verschiedene philosophische Traditionen auseinandergesetzt, vor allem aber die Phänomenologie (vgl. Husserl 1973; Merleau-Ponty 1974; Ricœur 1996; Buber 2009; Heidegger 2006) und die Sozialphilosophie (vgl. Schütz/ Luckmann 2003; Mead 1974; Habermas 1981a/ b) sowie der späte Wittgenstein (2008). Die diversen Ansätze unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht bzw. auf verschiedenen Ebenen voneinander (vgl. Crossley 1996, 3f.). Es wird kontrovers diskutiert, ob Intersubjektivität oder Subjektivität fundamentaler ist (ontologische Ebene), wie genau es möglich ist, zu wissen, was jemand anders denkt (erkenntnistheoretische Ebene) oder wann wir davon ausgehen können, dass ein Urteil, welches wir gemeinsam gefällt haben, wahr ist (wissenschaftstheoretische Ebene). Im Folgenden soll es um eine vierte mögliche Ebene der Betrachtung des Phänomens der Intersubjektivität gehen. Wie lassen sich moralische Begriffe im intersubjektiv geteilten Raum der Bedeutung verorten (metaethische Ebene)? Ausgangspunkt der Überlegungen stellt das Konzept der Lebenswelt dar, dass sich durch alle Untersuchungen der Intersubjektivität zieht. Die gemeinsam geteilte Lebenswelt ist das Grundgerüst für den intersubjektiven Austausch und somit die Basis des geteilten Raums der Bedeutung. Moralische Begriffe, wie z. B. der Begriff der Person, sind, so die hier vertretene These, Teil des intersubjektiven Raums der Bedeutung und daher in der geteilten Lebenswelt fundiert. Um diese These zu untermauern, wird zunächst der Begriff der Person in das Konzept der Lebenswelt integriert. Abschließend werden einige Konsequenzen der vertretenen These beleuchtet. 2 Lebenswelt Der Begriff der Lebenswelt wurde von Husserl (1996) in die philosophische Debatte eingeführt. 1 Er bezeichnet einen gegebenen, nicht-reflektierten Hintergrund, der all unseren Gedanken zugrunde liegt. Dieser Hintergrund ist zweifach konnotiert. Er beinhaltet sozial, kulturell oder evolutionär etablierte Annahmen oder Kategorien, vor denen bzw. durch die wir die Welt erleben (z. B. Kausalität). 2 Die Lebenswelt umfasst also ein System von Über- 1 Weiter ausgearbeitet haben ihn dann Schütz und Luckmann (2003), indem sie die raum-zeitliche Differenzierung sozialer Beziehungen ergänzten. 2 Diese Konzeption des Hintergrunds erinnert an die Annahmen der Gestaltpsychologie (vgl. z. B. Metzger 1999), findet sich aber auch prominent in Searles Arbeiten zur Philo- „Wie Du mir so ich Dir“ 53 zeugungen, das alle Subjekte, die die Lebenswelt teilen, selbstverständlich voraussetzen. Die zweite Konnotation bezieht ein System von grundlegenden Überzeugungen ein, das unsere Einstellungen gegenüber uns selbst und der Welt rechtfertigt. Zum Beispiel bin ich überzeugt davon und reflektiere das nur in ganz seltenen Fällen, dass meine Mitmenschen über Bewusstsein verfügen. 3 Dieses System von Überzeugungen stellt auch eine Art „Normalitätsgrad“ zur Verfügung. Es ist normal, dass Menschen über Bewusstsein verfügen. Abweichungen sind dann also entsprechend überraschend. Im Rahmen dieser Konnotation werden zudem grundlegende soziale Konventionen einer Gesellschaft verankert. Die geteilte Lebenswelt, der gemeinsame Hintergrund von Bedeutungen, Kategorien, Überzeugungen und Konventionen, liefert so die Voraussetzung für eine intersubjektiv bedeutungsvolle soziale Welt und damit für alle kulturellen Errungenschaften einschließlich der Philosophie wie aller anderen Wissenschaften. Den Zusammenhang zwischen der Lebenswelt und unserer sozialen Gemeinschaft hat Habermas (1981b, VI) intensiv untersucht. Die Lebenswelt versieht die soziale Welt mit einer Ordnung und verleiht ihr eine Struktur. Insofern sind gesellschaftliche Systeme mit sozialen Strukturen in der Lebenswelt verankert. Etabliert und vermittelt wird diese Ordnung durch kommunikative Handlungen. Sprache ist also das Medium, das die lebensweltlichen Inhalte teilbar und vermittelbar macht. Sprache ist aber auch das Medium, das diese Inhalte verändern kann. Habermas strukturiert die Lebenswelt in die drei Bereiche: Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit (vgl. Habermas 1981b, 209). 4 Der kulturelle Teil enthält den Wissenspool einer Gesellschaft. Kommunikative Handlungen vermitteln kulturelles Wissen, um gegenseitige Verständigung zu erzielen. Der gesellschaftliche Teil enthält die Ordnung, nach denen die Mitglieder ihre Teilhabe an der Gesellschaft regeln. Um soziale Integration zu erlangen bzw. zu erhalten, ist die Koordination von Handlungen erforderlich. Der persönliche Teil enthält die sophie des Geistes (1996) und zur Sozialphilosophie (2004). Die Problematik besteht auch hier darin, den genauen Gehalt des Hintergrundes bzw. das Verhältnis von Kategorien, Bedeutungen und Konzepten zu klären. 3 In dieser Überlegung findet sich die Husserl’sche Lösung für das sogenannte „Problem des Fremdpsychischen“. Per Analogieschluss gehen wir davon aus, dass andere Menschen Bewusstsein haben, da sie sich ähnlich verhalten wie wir (analoge Perzeption; vgl. Husserl 1995, § 50). Das Verhältnis zwischen den beiden genannten Konnotationen kann an dieser Stelle nicht weiter beleuchtet werden. 4 Die strukturelle Differenzierung der drei Bereiche der Lebenswelt soll ermöglichen, dass übermittelte lebensweltliche Traditionen veränderbar sind. Treten in einem Bereich Probleme auf, so kann man auf die geteilte kommunikative Basis in den anderen zwei Bereichen aufbauen, um diese Probleme diskutieren und so Modifikationen in Gang setzen. Die soziale Interaktion ist in dieser Konzeption an kommunikative Übereinstimmung gebunden, die durch die Lebenswelt ermöglicht wird. Bleiben Teile der Lebenswelt stabil, können wir unterschiedliche Überzeugungen haben und dennoch darin übereinkommen, wie wir über sie diskutieren können (vgl. Habermas 1981b, 218ff.; Crossley 1996, 121). Cordula Brand 54 Sprach- und Handlungskompetenzen der Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft. Die kommunikativen Handlungen fokussieren in diesem Rahmen auf die Sozialisation der Gesellschaftsmitglieder, damit diese mit allen Rechten und Pflichten der Gemeinschaft versehen werden können. Die Lebenswelt fundiert also auch im Habermas’schen Verständnis die soziale Gemeinschaft, indem sie geteiltes Wissen, Strukturen und Ordnungen zur Verfügung stellt. Im kommunikativen, intersubjektiven Austausch wird die Lebenswelt dabei gleichzeitig geteilt, vermittelt und geformt. Die beiden vorgestellten Ansätze zu einer Beschreibung der Lebenswelt können als gegensätzliche Konzeptionen aufgefasst werden. Der Ansatz Husserls arbeitet auf der Basis von Wahrnehmungen und unterliegt einer subjektbasierten Ontologie. Habermas (1981b, 187ff.) kritisiert diesen Ausgangspunkt und mit ihm den phänomenologischen Ansatz. Laut Habermas lässt sich der Zusammenhang zwischen verschiedenen Aspekten einer Situation und der Einbettung einer Situation in den lebensweltlichen Hintergrund anhand einer Analogie zu Wahrnehmungsprozessen und auf der Basis einer Subjektontologie nicht deutlich machen. Stattdessen fokussiert er auf die intersubjektive, sprachliche Ebene, um die „Verweisungszusammenhänge“ zu erklären: „Verweisungszusammenhänge lassen sich vielmehr als Bedeutungszusammenhänge begreifen, die zwischen einer gegebenen kommunikativen Äußerung, dem unmittelbaren Kontext und ihrem konnotativen Bedeutungshorizont bestehen. Verweisungszusammenhänge gehen auf grammatisch geregelte Beziehungen zwischen Elementen eines sprachlich organisierten Wissensvorrats zurück.“ (Habermas 1981b, 189f.) Im Gegensatz zu Husserl sieht Habermas die Lebenswelt also als sprachlich fundiert und daher prinzipiell intersubjektiv an. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die beiden Formen der Lebenswelt sich tatsächlich ausschließen oder ob sie sich nicht vielmehr ergänzen. Dieser Möglichkeit soll im Folgenden weiter nachgegangen werden. Die im Husserl’schen Hintergrund verankerten Konzepte lassen sich als grundlegender konzeptueller Rahmen verstehen, als einen lebensweltlichen Hintergrund, der eine Bedingung der Möglichkeit für die sprachlich konzipierte Lebenswelt nach Habermas darstellt. In diesem Hintergrund ließe sich diese sprachliche Lebenswelt verankern und erklären, wie es möglich ist, deren Inhalte zu erwerben bzw. zu vermitteln. Allerdings verschiebt sich das Problem der Teilhabe an der Lebenswelt - bzw. das Problem der Verweisungszusammenhänge - dann in den lebensweltlichen Hintergrund. Wenn es uns ein geteilter Hintergrund ermöglicht, die Inhalte der sprachlichen Lebenswelt zu erwerben, so stellt sich natürlich die Frage, wie wir zu Teilhabern am Hintergrund werden, ohne auf kommunikative Strukturen zurückgreifen zu können. Hierbei handelt es sich um ein Beispiel für einen epistemischen Regress, der sich auch in anderen Bereichen der Philosophie findet. Ein ganz ähnliches Problem ergibt sich z. B. bei der Frage, wie refle- „Wie Du mir so ich Dir“ 55 xives Selbstbewusstsein entstehen kann, was in der analytischen Philosophie des Geistes seit langem diskutiert wird. 5 Wie lassen sich nun moralische Begriffe in ein solches Zusammenspiel von sprachlicher Lebenswelt und lebensweltlichem Hintergrund verorten? Sind moralische Begriffe Teil der Lebenswelt? In welchen strukturellen Bereich wären sie einzuordnen? Im Folgenden sollen diese Fragen anhand des Begriffs „Person“ weiter verfolgt werden. 3 Person Der Begriff der Person kann auf verschiedene Arten verstanden werden. Im alltäglichen Sprachgebrauch verwenden wir ihn oft in einem deskriptiven Sinne als Synonym für den Begriff Mensch (z. B. „Es waren 15 Personen anwesend.“). Eine andere Form der Verwendung findet „Person“ im normativen Kontext. Der Begriff „Person“ dient - in einer bestimmten verbreiteten Lesart - dazu, Entitäten als Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft auszuzeichnen, ihnen einen moralischen Status zu verleihen. Aufgrund dieses moralischen Status haben Personen bestimmte Rechte und, in manchen Vorstellungen, Pflichten. Der Katalog der Rechte und Pflichten kann auf verschiedene Weise hergeleitet und begründet werden. Als Teil der gesellschaftlichen Ordnung ist er im Grundgesetz bzw. im Bürgerlichen Gesetzbuch manifestiert. Jedoch bleibt offen, wer genau zum Kreis der Personen zählt. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit man eine Entität als Person bezeichnen kann? Hier scheiden sich die philosophischen Geister (vgl. Birnbacher 2006). Ein Lager geht davon aus, dass „Menschsein“ die einzige Bedingung ist, die erfüllt sein muss, um zur Gruppe der Personen zu gehören. Vertreter der Äquivalenz-Theorie machen keinen Unterschied zwischen Menschen und Personen hinsichtlich ihres moralischen Status. Menschen sind in dieser Hinsicht besonders auszuzeichnende Lebewesen und als solche immer schon Personen. Daher kommen ihnen bestimmte grundlegende Rechte allein aufgrund der Tatsache zu, dass sie Menschen sind. Das andere Lager 5 Die beiden Debatten miteinander zu verbinden erscheint vielversprechend, kann aber hier nicht geleistet werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Gedanke, dass propositionale Einstellungen, wie sie die Habermas’schen kommunikativen Handlungen erfordern, auf nicht propositionalen Einstellungen basieren könnten, die in motorischen oder sensuellen Prozessen verankert sind (vgl. z. B. Vosgerau 2009). Solche Prozesse könnten wiederum von der Husserl’schen Konzeption des Hintergrundes eingefangen werden, ohne sein Konzept der Wahrnehmung übernehmen zu müssen. Debatten in der analytischen Philosophie des Geistes und den Kognitionswissenschaften verweisen seit langem auf das sogenannte Problem des „groundings“ und diskutieren in diesem Zusammenhang Theorien der „embodied cognition“ (vgl. hierzu einführend z. B. Shapiro 2011). Cordula Brand 56 macht die Zuschreibung des Person-Begriffs an bestimmten kognitiven Fähigkeiten fest. Vertreter der Nicht-Äquivalenz-Theorie gehen davon aus, dass Menschen erst im Laufe ihres Lebens bestimmte Fähigkeiten erwerben, aufgrund derer sie Rechte zugesprochen bekommen. Je nachdem, über welche kognitive Fähigkeiten Menschen verfügen, werden ihnen mehr oder weniger Rechte zugeschrieben. Somit tragen sie einen dementsprechend umfassenderen oder reduzierteren personalen Status. 6 Insofern handelt es sich um ein graduelles Verständnis des Begriffs „Person“. Der kleinste gemeinsame Nenner eines solchen Fähigkeiten-Katalogs, auf den Vertreter der Nicht- Äquivalenz-Theorie sich einigen können, umfasst Selbstbewusstsein, Rationalität, kommunikative Fähigkeiten sowie die gegenseitige Anerkennung als Person (vgl. Dennett 1997). Die Probleme beider Auffassungen zeigen sich, wenn man spezielle Stadien bzw. Situationen am Lebensanfang und Lebensende eines Menschen betrachtet. Während die Äquivalenz-Auffassung Embryonen und Koma- Patienten den vollen personalen Status zuschreibt, spricht die Nicht- Äquivalenz-Auffassung ihnen diesen Status ganz oder teilweise ab. Daraus ergibt sich dann eine widersprüchliche Situation, wenn man sich die Frage stellt, was genau der moralische Gehalt des personalen Status ist. Einigkeit unter Vertretern der Äquivalenz-Theorie besteht darin, dass z. B. das Recht auf Leben unmittelbar mit dem personalen Status verbunden ist. Das bedeutet, dass Embryonen und Koma-Patienten dasselbe Recht auf Leben haben wie erwachsene Personen. Was im Falle des Koma-Patienten einleuchtet, scheint für den Embryonen-Fall deutlich kontroverser zu sein. Hier leuchtet das Argument der Nicht-Äquivalenz-Theorie ein, dass der personale Status abgestuft verliehen werden kann, was durchaus auch das Recht auf Leben betrifft. Durch die Kopplung an kognitive Fähigkeiten bedeutet dies allerdings auch, dass man Koma-Patienten den personalen Status absprechen muss. Betrachtet man die Konsequenzen der beiden Theorien, so mag man sich zu einer zwiespältigen Haltung verführt fühlen. Bei Fragen am Lebensende (Koma-Patient) schlägt man sich auf die Seite der Äquivalenz-Theorie. Wenn es dagegen um Fragen am Lebensanfang geht, wird man zum Nicht- Äquivalenz-Theoretiker. So könnte man einerseits dafür argumentieren, dass Forschung an embryonalen Stammzellen erlaubt und das Recht auf Abtreibung bestehen bleiben soll (das bedeutet nicht, dass beides nicht unter Auflagen stehen sollte), und andererseits weiterhin davon ausgehen, dass es sich bei Koma-Patienten und Demenzkranken tatsächlich noch um Personen handelt. Eine widersprüchliche Argumentation zu verfolgen ist allerdings 6 Indem die Nicht-Äquivalenz-Theorie auf Fähigkeiten basiert, ermöglicht sie es, allen Entitäten (Tieren, Computern, Formen außerirdischen Lebens, etc.), die über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen, den personalen Status zu verleihen. Tatsächlich wird diskutiert, Primaten in die Gruppe der Personen aufzunehmen (vgl. Cavalieri/ Singer 1996). „Wie Du mir so ich Dir“ 57 nicht mit einer philosophischen Analyse vereinbar. In dieser Situation haben wir nun drei Möglichkeiten. Wir können uns, erstens, für eine der beiden vorgestellten Theorien entscheiden und entsprechend mit deren Konsequenzen leben. Möchte man diese Konsequenzen nicht akzeptieren, kann man, zweitens, den Person-Begriff an sich hinterfragen. Man kann mit Birnbacher (2006) anzweifeln, dass der Begriff der Person überhaupt eine Funktion erfüllt. Vielleicht können wir einfach auf ihn verzichten? Diese Überlegung ist verführerisch, hat allerdings einen Haken. Wenn wir uns darin einig wären, dass nicht alle Menschen im Laufe ihres Lebens den vollen personalen Status zugeschrieben bekommen sollten (z. B. als Embryonen), dann brauchen wir diesen Begriff zumindest, um diskutieren zu können, wer, wann und aufgrund welcher kognitiver Fähigkeiten welchen personalen Status und damit welche Rechte und möglicherweise auch Pflichten hat. Die dritte Möglichkeit besteht darin, genau die von Birnbacher ins Spiel gebrachte Funktion des Begriffs der Person weiter zu analysieren. Denn man kann sich einem Begriff auch von seiner Funktion her nähern. Wir benutzen den Begriff der Person immer dann, wenn wir Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft auszeichnen wollen. Dies tun wir auf zwei verschiedene Weisen: einmal grundsätzlich, wenn wir Menschen als Mitglieder unserer sozialen Gemeinschaft anerkennen, und einmal in einem graduell abgestuften Sinne, wenn wir darüber sprechen, welche Rechte in welcher Form mit dieser Mitgliedschaft verbunden sind. Gemeinsam ist beiden Verwendungsweisen, dass sie eine Funktion in unserer sozialen Welt haben. Diese soziale Welt ist nach Habermas (1981a, 107f.) in der sprachlichen Lebenswelt verankert. Die kommunikativen Handlungen fundieren das soziale Miteinander. Da es sich bei den Funktionsweisen des Begriffs Person um kommunikative Handlungen handelt, sind sie zunächst einmal beide Teil der sprachlichen Lebenswelt. Es stellt sich nun die Frage, ob sie auf dieselbe Art und Weise im lebensweltlichen Hintergrund verankert sind. Sollte sich hier ein Unterschied feststellen lassen, so könnte dies die verschiedenen kommunikativen Handlungen erklären helfen, die mit den beiden Verwendungsweisen des Person-Begriffs verbunden sind. 4 Personen in der Lebenswelt Betrachtet man den Begriff der Person aus der Perspektive der Nicht- Äquivalenz-Theorie, im Sinne der graduellen Zuordnung des personalen Status, so ist er in der Habermas’schen Systematik Teil der gesellschaftlichen Ordnung, nach der die Mitglieder ihre Teilhabe an der Gesellschaft regeln. Personale Rechte und Pflichten in diesem Sinne lassen sich verstehen als Bürgerrechte und Pflichten (vgl. z. B. Mead 1974). In diesem Rahmen ist völlig unstrittig, dass es ein gewisses kognitives Vermögen voraussetzt, nach diesen Regeln zu leben. Vermittelt und verhandelt werden die Regeln im kommunikativen Handeln, welches der sozialen Integration dient. Eine Cordula Brand 58 Voraussetzung für eine erfolgreiche Verständigung ist der Aspekt der gegenseitigen Anerkennung als moralisches Subjekt, das prinzipiell in der Lage ist die Regeln zu verstehen und anzuwenden. In der kommunikativ vermittelten gesellschaftlichen Ordnung der Lebenswelt ist der Begriff der Person also im intersubjektiv geteilten Raum der Bedeutung angesiedelt. Einen Teilaspekt des Personbegriffs - das rechtlich/ soziale Regelsystem der Gesellschaft, der forensische Begriff - lässt sich in das Habermas’sche sprachliche Verständnis der Lebenswelt also gut einordnen und mit dem Nicht-Äquivalenz-Verständnis fundieren. 7 Das löst allerdings nicht das Problem der graduellen Konzeption, nämlich zu viele menschliche Individuen aus dem Kreis der Personen auszuschließen. Im Gegenteil: Sowohl am Lebensanfang als auch in diversen Szenarien am Lebensende wird der Kreis gerade durch die hohen kognitiven Anforderungen des Anerkennungskriteriums stark eingeschränkt. 8 Dies wird durch die Betonung der notwendigen gegenseitigen Anerkennung sogar noch verstärkt. Weder Embryonen noch Koma-Patienten können sich als Personen sehen oder andere als Personen behandeln. Für unseren alltäglichen Umgang sowohl mit Embryonen als auch mit Koma-Patienten spielt diese Einsicht jedoch oft keine Rolle. Vor allem wenn wir persönlich betroffen sind, setzten wir uns nicht mit „Embryonen“ und „Koma-Patienten“ auseinander, sondern mit unserem Kind und unserem Vater. In ihnen sehen wir Personen und zwar auf eine Art und Weise, die mit dem Innehaben von bürgerlichen/ sozialen Rechten und Pflichten wenig zu tun zu haben scheint. Dieser Aspekt wird von der Äquivalenz-Theorie angesprochen. Es gibt eine Form von Anerkennung, die wir dem Menschen aufgrund seines „Menschseins“ entgegenbringen. Aus dieser Anerkennung leiten sich die grundlegenden Menschenrechte ab, die allen Menschen dieser Gemeinschaft zugestanden werden müssen. 9 Hier verschmelzen die Begriffe Person und Mensch in einer Weise, die uns im Alltag genau in den problematischen Situationen am Lebensanfang oder Lebensende einholt. Der Mensch um den es geht mag über keinerlei kognitive Fähigkeiten mehr verfügen, er bleibt dennoch ein Mensch. Letztendlich wird der Begriff der Person auf dieser Ebene obsolet, denn eigentlich geht es hier um den moralischen Status des Menschen (vgl. Brand 2010, 306ff.). Ein Mensch bleibt also sein ganzes Leben lang ein Mensch und verbringt Teile seines Lebens als Person in einem forensischen Sinne. Die Regeln zur 7 Selbstverständlich ist der Person-Begriff auch auf der von Habermas so genannten dritten, personalen sprachlichen Ebene verankert (vgl. Habermas 1981b, 209). Hier geht es um das Erlernen des Regelsystems von Rechten und Pflichten und somit um die Sozialisation der Individuen. 8 Den Auswirkungen dieses Kriteriums auf mögliche nicht-menschliche Personen kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. 9 Die Debatte zur Fundierung der Menschenrechte ist lang, kontrovers und komplex und kann hier nicht annähernd angemessen zusammengefasst werden. Einen diskursiven Überblick bieten Gosepath und Lohmann (1998). „Wie Du mir so ich Dir“ 59 Verwendung des Begriffs „Person“ finden sich in gesetzlicher Form in der sprachlichen Lebenswelt. Voraussetzung zum Verständnis und für die Anwendung des Personbegriffs ist allerdings, dass wir ein bestimmtes Verständnis des Begriffs „Mensch“ haben, welches im lebensweltlichen Hintergrund verankert ist. Es handelt sich hier nicht um den Begriff „Mensch“ im streng biologischen Sinne, sondern um ein Konzept, dass die spezifische soziale Verfasstheit des Menschen integriert. Menschen sind in diesem Sinne immer schon Mitmenschen, mit denen wir in mehr oder weniger enger sozialer Beziehung stehen. 10 Das gilt, und dies sei hier explizit betont, sowohl für Embryonen als auch für Koma-Patienten. Für den Fall des Koma-Patienten ist dies sicherlich offensichtlicher als für den Fall des Embryos. Dennoch gilt auch für letzteren, dass er, sobald seine Mutter um seine Existenz weiß, Teil eines sozialen Netzes wird. Mit dem Wissen um die Schwangerschaft wird der Embryo in die Zukunftsplanung integriert, es verbinden sich Ängste, Wünsche, Hoffnungen und Pläne mit ihm. Er steht darüber hinaus in verwandtschaftlichen Beziehungen, hat Eltern, Geschwister, Großeltern, usw. deren Lebensumstände er ebenfalls beeinflusst. In dieser Hinsicht sind also beide, Koma-Patienten und Embryonen, schon oder noch als Menschen in ein soziales Netzwerk integriert und in ein enges Geflecht von Beziehungen eingebunden. Sie sind weder „nur“ menschliche Körper noch Personen, sondern Mitglieder einer Gemeinschaft, die umfassender ist als ein staatlich-gesellschaftliches System. Wenn wir Menschen begegnen, so gehen wir automatisch davon aus, dass es sich um Mitmenschen handelt. Wir hinterfragen ihre soziale Verfasstheit ebenso wenig wie ihr Bewusstsein. Ähnlich wie das Konzept der Kausalität und des Fremdpsychischen lässt sich auch die Annahme, dass Menschen sozialfähig sind, im lebensweltlichen Hintergrund verorten. 11 Es ist diese Bedeutung des Menschseins, auf der Begriffe wie der forensisch oder bürgerrechtlich verstandene Person-Begriff aufbauen. Der lebensweltliche Hintergrund enthält also Konzepte und Kategorien, die das kommunikative Verständnis der sprachlichen Lebenswelt und damit die Struktur der sozialen Ordnung ermöglichen. Die Verankerung des Mensch-Begriffs im lebensweltlichen Hintergrund hat den Vorteil, dass auf dieser Stufe eine zunächst nur einseitige Anerkennung gleichsam mitgeliefert wird und nicht an die kognitiven Fähigkeiten der Anderen geknüpft und somit auch nicht graduell abgestuft ist. Diese Form des „Vertrauensvorschusses“ ist z. B. notwendig, um Kinder in das soziale 10 Siehe zur Betonung der prinzipiellen sozialen Verankerung des Menschen z. B. Plessner (1965). 11 Der Prozess, der uns ermöglicht den Anderen als Mitmenschen zu betrachten, führt uns an den Ausgangspunkt der Husserl’schen Überlegungen zurück. Nach Husserl ist die Annahme, dass andere Menschen über Bewusstsein verfügen und Empfindungen und Überzeugungen haben können, die unseren ähneln, ebenso Teil der Lebenswelt wie bestimmte Inhalte von Überzeugungen (vgl. Husserl 1995, § 50). Cordula Brand 60 System zu integrieren, indem sie die Regeln der sprachlichen Lebenswelt erlernen. Insofern entsteht die Möglichkeit eines intersubjektiven Raumes der geteilten Bedeutung durch die Verankerung des Mitmenschen im lebensweltlichen Hintergrund. Dieser Raum wird dann in der sprachlichen Lebenswelt mit Inhalten bzw. Regeln versehen, die allen Mitgliedern der Gemeinschaft zur Verfügung stehen. Der Begriff der Person ist also auf zweifache Weise in der Lebenswelt verankert. Die Idee des Mitmenschen (basaler Teil) ist im lebensweltlichen Hintergrund fundiert, die Idee der forensischen Person (gradueller Teil) ist in der sprachlichen Lebenswelt fundiert. In dieser Zusammenführung wird erstens deutlich, warum wir keine der beiden Teile aufgeben können. Zweitens wird deutlich, dass der forensische Begriff auf dem basalen Begriff aufbaut. 5 „Wie Du mir so ich Dir“ Der klassische Begriff der Person lässt sich als ein Hybrid aus zwei Aspekten verstehen. Die beiden konkurrierenden philosophischen Verständnisweisen bilden jeweils einen der beiden Aspekte ab. Die Äquivalenz-Theorie bezieht sich auf den Aspekt des Menschen als Mitmenschen, als sozial verfasstes Gegenüber, dem als solches bestimmte Rechte grundsätzlich zugeschrieben werden sollen. Die Nicht-Äquivalenz-Theorie bezieht sich auf den Aspekt des Menschen als Bürger einer Gesellschaft. Abhängig von kognitiven Fähigkeiten und Entwicklungsstufen können sich die Rechte und Pflichten, die Bürgern zugesprochen werden, graduell verändern. 12 Gemeinsam ist beiden Aspekten, dass sie eine Form der Anerkennung enthalten. Diese Ankerkennung, zunächst als Mitmensch und dann als Träger von Rechten und Pflichten, ist die Voraussetzung dafür, dass man sich überhaupt austauschen und Bedeutungen teilen kann. Im Sinne eines „wie Du mir, so ich Dir“ stellt das Prinzip der Anerkennung die basale Version der sogenannten „goldenen Regel“ dar. Beide Aspekte gehören zur menschlichen Lebenswelt, lassen sich aber unterschiedlichen Ebenen zuordnen. Der Aspekt des Mitmenschlichen, verstanden als grundlegende soziale Verfasstheit des Menschen, ist auf der basalen Ebene der geteilten Kategorien und Konzepte verankert, dem lebensweltlichen Hintergrund, den Husserl beschreibt. Der Aspekt des bürgerlichen Person-Begriffs, verstanden als Regelsystem für Gesellschaften, ist auf der Ebene des kommunikativen Handelns angesiedelt, der sprachlichen Lebenswelt, die von Habermas eingeführt wird. Beide Aspekte des Begriffs sind auf ihrer Ebene so fundamental, dass wir nicht auf sie verzichten können, ohne unsere gesellschaftliche Ordnung oder 12 Die beiden Aspekte des Person-Begriffs spiegeln somit die klassische Unterscheidung zwischen Menschen- und Bürgerrechten. „Wie Du mir so ich Dir“ 61 unser menschliches Selbstverständnis radikal zu hinterfragen. 13 Die beiden philosophischen Konzepte des Personbegriffs stehen sich also so lang unversöhnlich gegenüber, solange sie einen Ausschließlichkeitsanspruch erheben. Erforderlich ist eine theoretische Synthese beider Aspekte auf der Basis einer lebensweltlichen Analyse des intersubjektiven Konzepts. Für das Verständnis intersubjektiver Prozesse bzw. geteilter Bedeutungen wiederum ist der Person-Begriff ein interessantes Analysebeispiel, da er aufgrund seiner Komplexität und seiner vielen Facetten die Verknüpfungen innerhalb der intersubjektiven Ebene aufdecken kann. Bislang noch nicht angesprochen wurde die Frage, inwiefern eine solche lebensweltliche Analyse etwas zur Klärung der normativen Fragen beitragen kann, die mit dem Begriff „Person“ verknüpft sind. Anders ausgedrückt, sagt der obige Analyseansatz nichts darüber aus, wie wir das Recht auf selbstbestimmtes Leben einer Frau mit dem Recht auf Leben eines Embryos in Einklang bringen sollen. Nach dem hier vorgeschlagenen Verständnis wäre die Habermas’sche Diskurstheorie beschränkt auf Konfliktsituationen, die auf der, dem kommunikativen Handeln zugänglichen, sprachlichen Ebene auftreten. Die zur Frage stehenden Rechte sind allerdings auf einer grundlegenderen Ebene verankert. Ob sich aus historisch überlieferten sozialen Praktiken, Denkschemata und Vorannahmen normative Verbindlichkeiten ableiten lassen, wird völlig zu Recht sehr kritisch betrachtet. Versucht man sich an einer solchen Begründung, so ist jeder Schritt bedroht von den Fallstricken des naturalistischen und des genetischen Fehlschlusses. Andererseits zeigen die Arbeiten von McDowell (2009) oder Watsuji (1996), dass ein Versuch nicht grundsätzlich zum Scheitern verurteilt ist. Auf der deskriptiven Ebene lässt sich durch ein lebensweltliches Verständnis des Person-Begriffs jedenfalls zeigen, wie die zwei Aspekte des Person-Begriffs zusammenhängen. Wir haben es mit einem Begriff zu tun, der durch Anerkennungsprozesse zugesprochen und etabliert wird. Dabei enthält „Person“ zwei Konnotationen, die auf zwei verschiedenen Ebenen der Lebenswelt verankert sind und sich auch in der Form der Anerkennungsprozesse voneinander unterscheiden. Das Konzept des Mitmenschen ist im lebensweltlichen Hintergrund verortet und genügt anfänglich einer einseitigen Anerkennung („ich Dir, obwohl Du nicht mir“). Diese einseitige Anerkennung ist die Voraussetzung für den Prozess der sozialen Integration. Da es sich um eine Art von Vorschusslorbeeren handelt, ist der singuläre Anerkennungsprozess an sich kein intersubjektiver Akt, sondern eher auf der subjektiven Ebene zu verorten. Der subjektive Akt, der einen Mitmenschen schafft, ermöglicht dann die sozialen Integrationsprozesse. Diese sind wiederum die Voraussetzung dafür, die zweite Konnotation des Person- Begriffs, das forensische Verständnis, auf der Ebene der sprachlichen Lebens- 13 Nun ist dies allein natürlich nicht nur kein Grund das nicht zu tun, sondern vielmehr eine philosophische Pflicht, dem nachzugehen. Dies kann an dieser Stelle jedoch nicht erfolgen. Cordula Brand 62 welt zu vermitteln. Das damit verbundene gesellschaftliche Ordnungssystem wird dann intersubjektiv getragen von der gegenseitigen Anerkennung seiner Mitglieder als Mitglieder des Systems. Das „wie Du mir, so ich Dir“ ist als intersubjektives Element also auf dieser Ebene zentral für das Verständnis des Begriffs der Person. Darüber hinaus kann das intersubjektive Element eine Perspektive zur Verfügung stellen, die es ermöglicht, das basale und das graduelle Moment des Person-Begriffs als aufeinander aufbauend zu betrachten. Literatur Birnbacher, Dieter (2006): Das Dilemma des Personenbegriffs. In: Birnbacher, Dieter: Bioethik zwischen Natur und Interesse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 53-76. Brand, Cordula (2010): Personale Identität oder menschliche Persistenz? Paderborn: Mentis. Buber, Martin (2009): Das dialogische Prinzip. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Cavalieri, Singer (1996): Menschenreche für große Menschenaffen. München: Goldmann. Crossley, Nick (1996): Intersubjectivity. The fabric of social becoming. London: Sage Publications. Dennett, Daniel (1997): Bedingungen der Personalität. In: Bieri, Peter (Hrsg.): Analytische Philosophie des Geistes. Weinheim: Beltz Athenäum, S. 303-324. Gosepath, Stefan/ Lohmann, Georg (1998): Philosophie der Menschenrechte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1981a): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1981b): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer. Husserl, Edmund (1973): Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. In: Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935. Hrsg. von Iso Kern. Den Haag: Nijhoff. Husserl, Edmund (1995): Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie. Hamburg: Felix Meiner. Husserl, Edmund (1996): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg: Felix Meiner. McDowell, John (2009): Wert und Wirklichkeit. Aufsätze zur Moralphilosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mead, George Herbert (1974): Mind, self, and society. From the standpoint of a social behaviorist. Chicago: University of Chicago Press. Merleau-Ponty, Maurice (1974): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter. Metzger, Wolfgang (1999): Gestalt-Psychologie. Ausgewählte Werke aus den Jahren 1950-1982. Frankfurt a. M.: Kramer. 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Zum Begriff der praktischen Rationalität im Spätwerk von Philippa Foot Abstract “Why Should I? ” On the Concept of Practical Rationality in Philippa Foot’s Late Work: The following article deals with the concept of rationality in Philippa Foot’s late ethical naturalism. The main question is whether Foot succeeds in reconstructing the validity of unconditional “should” or, as Foot calls it, final “should”-statements, based on the assumptions of her ethical naturalism and the corresponding concept of rationality. In the first part I shall introduce Foot’s “natural goodness”-naturalism with particular reference to Michael Thompson’s “natural history account”. The second part considers her concept of rationality. In the first step it will be argued that, for Foot, our actions are rational only if they are motivated by the recognition of particular considerations. These considerations must be focused on the promotion of human well-being or flourishing if they are to be called right reasons. In the second step I argue that it is now possible to explain what it means when Foot claims that the requirements of practical rationality constitute a final “should”. My main objection, which will be developed in the third part, is that Foot’s account of practical rationality cannot explain what moral obligation means. Moreover, her naturalistic account fails to explain what a nonhypothetical moral requirement could be, because the final “should” necessarily implies a concept of obligation. To explain this claim I also refer to John McDowell’s argumentation in Two Sorts of Naturalism. 1 Einleitung Die Beschreibung des Menschen als Naturwesen steht in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zu unserem moralischen Selbstverständnis. Denn einerseits sind wir in der Nachfolge Darwins davon überzeugt, dass der Mensch in allen seinen Eigenschaften als Teil der Natur bestimmt werden kann, andererseits bietet diese Beschreibung keinen Raum für eine Moral, Daniel C. Henrich 66 deren Geltung nicht auf Adaptionsprozesse reduziert werden kann. Die Anwendung der Biotechniken im Bereich der Humanmedizin verschärft dieses Spannungsverhältnis, weil sie die Verfügungsgewalt über die Natur des Menschen jener über die „äußere“, nichtmenschliche Natur mehr und mehr angleicht und den Menschen damit noch stärker unter die deskriptive Perspektive der Naturwissenschaften rückt. Damit unterstützt sie, wie auch immer ungewollt, moralphilosophische Positionen, die die Ansicht vertreten, dass die zumindest phänomenal unbestreitbar vorhandenen Geltungsansprüche moralischer Urteile nur im Hinblick auf strategisches Verhalten zu rekonstruieren sind. Objektive Theorien der Moral, die den Versuch unternehmen, eine rationale Erklärung für die kategorischen Ansprüche moralischer Forderungen zu liefern, sehen sich angesichts dieser Entwicklungen einem zunehmenden Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Besonders interessant sind daher Positionen, die den Versuch unternehmen, die unbedingte Geltung moralischen Sollens mit Bezug auf die Natur des Menschen zu verteidigen. In dem vorliegenden Artikel steht ein Ansatz im Zentrum des Interesses, der genau diesen Versuch unternimmt: Der ethische Naturalismus der „späten“ Philippa Foot. Orientiert sich Foot in ihren frühen Jahren zunächst an einer wunschbasierten Theorie praktischer Rationalität, in der moralisches Handeln rational ist, weil es als Mittel zur Verwirklichung der Eigeninteressen handelnder Individuen verstanden wird (vgl. etwa Foot 1958a; 1958b), ist sie in ihrem berühmten Aufsatz Morality as a System of Hypothetical Imperatives von 1972 (vgl. Foot 2002) nicht mehr dieser Auffassung. Hier vertritt sie eine Art „Clubmoral“ 1 , in der moralisches Handeln als Mittel verstanden wird, dem „Club“ der moralischen Personen beizutreten und dessen „Mitglied“ zu bleiben. Die Antwort auf die Frage, ob man diesem Club überhaupt beitreten will, hängt für Foot zu diesem Zeitpunkt ausschließlich von der Entscheidung des Einzelnen ab: Nur wenn man moralische Ziele für wichtig und erstrebenswert hält, ist moralisches Handeln rational, weil es dann das einzige Mittel zur Verwirklichung dieser Ziele darstellt. In Natural Goodness, erstmals erschienen 2001, bringt sie fast dreißig Jahre später ihre Verwunderung über diese von ihr selbst einstmals vertretene Position zum Ausdruck: „I now wonder why, given the obvious indigestibility of the idea that morality is indeed a system of hypothetical imperatives, I should have accepted it even for a short while.“ (Foot 2003, 60f.) Der vorliegende Artikel verfolgt das Ziel einer kritischen Explikation der von der späten Foot im Rahmen ihres Naturalismus vertretenen, unbedingten Sollgeltung und des zugrundeliegenden Rationalitätsbegriffs. Die Leitfrage lautet: Welchen Begriff praktischer Rationalität entwickelt Foot, um 1 Ich übernehme den Begriff von Ludwig Siep, der ihn auf Tugendhat anwendet (vgl. Siep 1996, 238). Tugendhat selbst bezieht sich bemerkenswerterweise wiederum zustimmend auf Morality as a System of Hypothetical Imperatives (vgl. Tugendhat 1993, 46). Wieso soll ich? 67 vor diesem Hintergrund die unbedingte Geltung moralischer Anforderungen im Rahmen ihres Naturalismus zu begründen? Bevor diese Frage im dritten Teil des Artikels im Mittelpunkt steht, werden im zweiten Teil kurz die Grundzüge des ethischen Naturalismus von Philippa Foot skizziert. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Begriffe „natural goodness“ sowie „natural history judgments“ bzw. „Aristotelian categoricals“. Im dritten Teil werden dann zunächst zwei verschiedene Lesarten des Begriffs der praktischen Rationalität bei Foot unterschieden, um anschließend für eine der beiden Lesarten Stellung zu beziehen. Vor diesem Hintergrund wird dann im nächsten Schritt der Begriff des unbedingten Sollens bei Foot erläutert. Den Abschluss des dritten Teils bildet dann die Erörterung einer für objektive Theorien der Moral typischen handlungstheoretischen Herausforderung, die man auch als motivationales Problem bezeichnen kann. Im vierten und letzten Teil steht die Kritik an Foot im Vordergrund. Ich sehe mindestens zwei Gründe, sich aktuell mit dieser Form des Naturalismus zu beschäftigen: Der erste besteht in der metaethischen Diskussion über das Verhältnis normativer und deskriptiver Eigenschaften - denn in der Tat kann man keineswegs von einem Konsens hinsichtlich der Kritik am sogenannten naturalistischen Fehlschluss sprechen. Nicht nur auf neoaristotelischer Seite besteht nämlich der Verdacht, dass das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen wurde. 2 Foots Konzeption ist in diesem Zusammenhang interessant, weil sie den Begriff der menschlichen Natur verwendet, um einen Begriff der praktischen Rationalität zu entwickeln, der Raum für ein nicht-hypothetisches, moralisches Sollen eröffnet. Der zweite Grund liegt in der Aktualität bioethischer Fragestellungen. Ein zentrales Thema dieser Debatten besteht in der Bestimmung moralischer Grenzen beim Eingriff in die Natur des Menschen und der daran anschließenden Frage, ob der Begriff der menschlichen Natur eine bedenkenswerte Grundlage für eine normative Bestimmung dieser Grenzen zur Verfügung stellt. Der Ansatz von Philippa Foot verbindet beide Aspekte: Einerseits stellt er einen Beitrag zur metaethischen Debatte über das Verhältnis von natürlichen und moralischen Eigenschaften dar. Andererseits bezieht er sich auf den Begriff der menschlichen Natur, womit er auch für die bioethische Diskussion von Bedeutung sein kann. 3 2 So vertreten etwa Philosophen wie Richard Brandt (1979) und Peter Railton (1986) eine Position, nach der moralische Eigenschaften identisch mit natürlichen Eigenschaften sind und auch auf diese reduziert werden können. Im Gegensatz dazu sind die Vertreter des sogenannten Cornell Realism, wie Nicholas Sturgeon (1995), Richard Boyd (1995) und David Brink (1989) der Auffassung, dass moralische Eigenschaften zwar identisch mit natürlichen Eigenschaften sind, aber nicht auf diese reduziert werden können. Einen sehr guten Überblick über die Debatte gibt Miller (2003). 3 Foot hat sich in früheren Schriften auch explizit mit Themen der Bioethik auseinandergesetzt (vgl. Foot 1981; 1977; 1967). Zur Anwendung des natural goodness-Naturalismus der späten Philippa Foot in der Bioethik siehe auch Glover (2007, 11ff.; 88). Daniel C. Henrich 68 2 Der natural goodness-Naturalismus von Philippa Foot Grundlegend für den von Philippa Foot vertretenen ethischen Naturalismus ist die These, dass die Bewertung menschlichen Handelns im Rahmen der Bewertung von Lebensformen überhaupt vorgenommen werden muss: Demnach besteht kein kategorialer Unterschied zwischen der Beurteilung von Pflanzen und Tieren auf der einen und der Bewertung menschlicher Handlungen auf der anderen Seite. Moralisches Fehlverhalten stellt für Foot daher nur die spezifische Form eines natürlichen Defekts dar, weshalb eine der systematisch entscheidenden Fragen an Foots späte Theorie den Übergang von der nicht-menschlichen zur menschlichen Ebene betrifft. Bevor dieser Übergang thematisiert werden kann, muss jedoch erläutert werden, auf welche Weise Foot die Bewertung nicht-menschlicher Lebensformen versteht: Sie unterscheidet zunächst zwischen einer primären und einer sekundären Bedeutung des Wortes „gut“. Für die übliche Verwendung spielt ihrer Ansicht nach die sekundäre, abgeleitete Bedeutung eine größere Rolle: In diesem eher instrumentellen Sinn bedeutet „gut“, dass etwas „gut für“ ein Lebewesen ist und sich die normative Relevanz nur im Hinblick auf eine spezifische Verwendungsweise erklären lässt. In diesem Verständnis kann die Eigenschaft „gut“ auch anorganischen und artifiziellen Objekten zugeschrieben werden. Die primäre Bedeutung besteht nach Foot hingegen in der Referenz auf Qualitäten, die einer Lebensform an sich zukommen, dieser also intrinsisch zu eigen sind. In dieser Hinsicht spricht Foot von natural goodness. 4 Wichtig ist, dass diese natural goodness, wie dargestellt, als autonome Eigenschaft der jeweiligen Lebensform verstanden wird und nicht aus dem Verhältnis zu den Wünschen und Interessen anderer Lebewesen abgeleitet werden muss. „[…] [F]eatures of plants and animals have what one might call an ,autonomous‘, ,intrinsic‘, or as I shall say ,natural‘ goodness and defect that may have nothing to do with the needs or wants of the members of any other species of living thing.“ (Foot 2003, 26) Wie aber lassen sich die Eigenschaften dieser intrinsischen Qualität eines Lebewesens ermitteln? Mit welcher Methode können wir Eigenschaften eines Lebewesens das Prädikat „gut“ bzw. „schlecht“/ „defekt“ zuordnen? Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist Foots These, dass die Zuordnung vom Verhältnis eines Lebewesens zu seiner jeweiligen Spezies abhängig ist. An dieser Stelle greift sie auf einen Ansatz von Michael 4 Michael Reuter übersetzt diesen Begriff in der deutschen Fassung mit „natürliche Qualität“ (vgl. Foot 2004), was angesichts der Konnotationen, die das Wort „Güte“ im Deutschen zum Ausdruck bringt, kaum vermeidbar aber dennoch misslich ist. Denn das Substantiv „Qualität“ verweist nicht in der gleichen Weise wie „goodness“ auf das Adjektiv „gut“, sondern ist eher als Überbegriff für Bewertungen im Allgemeinen zu verstehen. Ich werde daher hier meistens den englischen Begriff verwenden. Wieso soll ich? 69 Thompson zurück, den sie natural history account nennt (vgl. ebd., 28). 5 Thompson geht von der Frage aus, wie der Begriff des „Lebens“ zu verstehen ist. Dabei ist zunächst wichtig, dass diese Frage nicht im Sinne der Suche nach einer Definition aufgefasst werden dürfe („Was ist ein lebender Organismus? “). Richtig gestellt lautet die Frage seiner Ansicht nach vielmehr: „Wie wird dieser Organismus als lebendiger Gegenstand beschrieben, d. h. sprachlich repräsentiert? “ (vgl. Thompson 2008, 62) Thompsons Antwort auf die so formulierte Frage lautet dann: in natural history judgments bzw. Aristotelian categoricals. 6 Mit anderen Worten, nach Ansicht Thompsons lässt sich ein lebendiger Organismus nur durch eine spezifische Urteils- oder Repräsentationsform als solcher bestimmen. „Our problem will then be reduced to one of isolating a particular form of general judgment or statement - a natural-historical judgment, as I will call it. What is fit to be the subject of such a thing we may call a speciesconcept or a life-form-word. A species or life-form, then, will be whatever can be conceived through such a concept or expressed by such a word […].“ (Thompson 2008, 48) Was aber ist ein naturhistorisches Urteil und worin besteht seine Besonderheit gegenüber anderen Urteilen? Allgemein gesprochen stellt das naturhistorische Urteil einen Bezug zu einem „weiteren Kontext“ („wider context“) her (vgl. ebd., 53ff.). Dieser Bezug ist nach Ansicht Thompsons für die Klassifikation bestimmter Gegenstände unumgänglich, da diese sich nicht „through abstraction from features of their particular bearers“ (ebd., 59) klassifizieren lassen. Für den Fall eines lebendigen „Gegenstands“ bedeutet dies, dass weder eine Realdefinition noch die Aufzählung unterschiedlicher Eigenschaften ausreichend sind, um sein Spezifikum zu erfassen. Vielmehr muss ein Verhältnis zu einem „weiteren Kontext“ hergestellt werden, der nach Thompson in diesem Fall der Kontext der Lebensform bzw. der Spezies des betreffenden Organismus ist (vgl. ebd., 75ff.). Um das spezifische Moment eines Organismus zu erfassen (repräsentieren), benötigen wir also eine Urteils- oder Satzform, die in natural history judgments oder Aristotelian categoricals zum Ausdruck kommt. 5 Thompson selbst spricht, soweit ich sehe, in Bezug auf seine eigene Theorie nicht von einem „natural history account“, sondern nur von „natural history judgments“. Foot bezieht sich in Natural Goodness noch auf Thompson (1998). Im vorliegenden Aufsatz wird die leicht veränderte Fassung des ersten Teils von Life and Action zugrunde gelegt (vgl. Thompson 2008). 6 Ein naturhistorisches Urteil hat die Form „S ist F“. Allerdings können diese Urteile in unterschiedlichen Sätzen zum Ausdruck gebracht werden. Daher sagt Thompson „such sentences I will call ,Aristotelian categoricals‘. Our language of course permits the same judgments to be expressed in a number of ways […]“ (Thompson 2008, 65; Herv., D.C.H.). Daniel C. Henrich 70 In grammatikalischer Hinsicht entsprechen naturhistorische Urteile generischen Sätzen, also Sätzen, deren Subjekt ein generisches Subjekt, d. h. ein Gattungsbegriff und kein Individuenterm ist. Sätze wie „Der Löwe hat eine Mähne.“ werden in diesem Sinne verstanden, wenn sich die Nominalphrase auf den Löwen als Gattung und nicht auf einen spezifischen Löwen („der Löwe Jürgen“) bezieht. 7 Thompson behauptet also, dass sich das Spezifikum eines lebendigen Organismus (wie etwa eines Löwen) nur in einer bestimmten Beschreibung, einer bestimmten Repräsentationsform, zum Ausdruck bringen lässt: Wenn man wissen möchte, was ein Löwe ist, muss man auf naturhistorische Urteile über den Löwen als Gattungswesen zurückgreifen. Foot ist nun der Ansicht, dass in Thompsons Ansatz ein enger Zusammenhang zwischen normativen und naturhistorischen Urteilen bestehe. Demnach kann für Thompson ein Organismus bereits als „defekt“ bezeichnet werden, wenn bestimmte Eigenschaften von den im naturhistorischen Urteil vorgenommenen Prädikationen abweichen. „In fact, he [Thompson] says that if we have a true natural-history proposition to the effect that S’s are F, then if a certain individual S […] is not F it is therefore not as it should be, but rather weak, diseased, or in some other way defective.“ (Foot 2003, 30) Allerdings kritisiert Foot, dass Thompson den Übergang von naturhistorischen Urteilen zu normativen Aussagen zu eng gefasst habe: Ihrer Auffassung nach kann es nämlich durchaus Abweichungen des Individuums gegenüber seiner Beschreibung in naturhistorischen Urteilen geben, die noch keinen Defekt darstellen. Thompson übersieht nach Ansicht Foots diese Möglichkeit, weil er keine Unterscheidung von teleologischen und nichtteleologischen Eigenschaften in naturhistorischen Urteilen vornimmt. „His [Thompson’s] talk of ,natural-history propositions‘ was perhaps misleading in that it did not explicitly separate out what I would like to call the teleological from the non-teleological attachment of predicates to a subject term that is the name of a species.“ (Foot 2003, 30) Nur wenn die im naturhistorischen Urteil beschriebene Eigenschaft eine teleologische Relevanz für das Lebewesen besitze, kann ihr Fehlen für Foot im Hinblick auf das Individuum mithin als Defekt bezeichnet werden. Wie aber erkennt man, ob eine Eigenschaft teleologische Relevanz für ein Lebewesen besitzt? Nach Foot zeichnen sich diese Eigenschaften bei Pflanzen und Tieren durch ihren Bezug zur Selbsterhaltung („selfmaintainance“) oder 7 Ich gehe an dieser Stelle nicht näher auf das Problem naturhistorischer Urteile und generischer Sätze ein, da Thompsons Ansatz nicht Gegenstand des Aufsatzes ist. Meines Erachtens wäre aber für eine genauere Analyse der naturhistorischen Urteile auch die Frage zu berücksichtigen, worauf das Subjekt eines solchen Satzes eigentlich referiert. Thompson geht auf dies Frage nur im Vorbeigehen ein (vgl. Thompson 2008, 67). Zur Semantik generischer Sätze vgl. etwa Chur (1993, 13ff.) sowie Zifonun (1997, 2055ff.). Wieso soll ich? 71 zur Fortpflanzung aus. Wird einer Pflanze oder einem Tier in einem naturhistorischen Urteil also eine Eigenschaft zugeschrieben, die eine dieser Funktionen im Leben einer Pflanzen- oder Tierspezies besitzt - Foot bringt das Beispiel des bunten Pfauenschwanzes -, so kann das Fehlen der Eigenschaft beim Individuum als „Defekt“ bezeichnet werden. Umgekehrt gilt: Wird einer Pflanze oder einem Tier in einem naturhistorischen Urteil eine Eigenschaft zugeschrieben, die keine dieser Funktionen besitzt - Foot nennt hier das Beispiel des blauen Flecks auf dem Kopf einer Blaumeise -, so kann das Fehlen dieser Eigenschaft beim Individuum auch nicht als „Defekt“ bezeichnet werden. Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Bewertung eines Lebewesens nach intrinsischen und autonomen Maßstäben für Foot darin besteht, ein naturhistorisches Urteil über dieses Lebewesen, das die Prädikation einer teleologisch relevanten Eigenschaft enthält, mit den Eigenschaften des betreffenden Individuums abzugleichen. 3 Der Begriff der praktischen Rationalität An dieser Stelle tritt nun die wichtige Frage auf den Plan, wie die beschriebene Konzeption des natural goodness-Naturalismus auf den Menschen anwendbar ist. Dass sie es ist, zählt zu den Grundprämissen des ethischen Naturalismus der späten Philippa Foot, denn ihrer Ansicht nach existiert kein kategorialer Unterschied zwischen der Bewertung von Pflanzen und Tieren auf der einen und Menschen auf der anderen Seite (vgl. Foot 2003, 39). Foot ist sich bewusst, dass diese These eine Provokation darstellt. Allerdings behauptet sie auch keineswegs, dass der Übergang direkt vollzogen werden könne. Dies zeige sich schon daran, dass ein physischer Defekt bei der (moralischen) Bewertung eines Menschen keine Rolle spielt: So könne etwa Infertilität zwar auch beim Menschen als „Defekt“ angesehen werden, daraus lasse sich aber nicht ableiten, dass die Entscheidung zur Kinderlosigkeit schlecht sei (vgl. ebd., 42). Damit kommt Foot auf die wichtigsten Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren einerseits und Menschen andererseits zu sprechen: den Begriff des Willens und der praktischen Rationalität. Denn im Gegensatz zu Tieren und Pflanzen spielt bei menschlichen Lebensvollzügen der Wille die zentrale Rolle: Der Mensch hat die Fähigkeit, seinen Willen auf der Basis von Gründen zu bestimmen; er kann sich entscheiden und besitzt deshalb praktische Rationalität. Aus der Frage, wie Foots natural goodness-Konzeption auf den Menschen übertragen werden kann, wird somit die Frage, auf welche Weise Foot die praktische Rationalität des Menschen in ihren natural goodness-Naturalismus integriert. Für die vorliegende Absicht ist zunächst wichtig, dass die Interpretation der praktischen Rationalität bei Foot zwei Lesarten ermöglicht: Die erste Lesart (L1) besagt, dass das naturalistische Verständnis praktischer Rationalität für Foot ausschließlich die natürliche Disposition des Menschen zur Daniel C. Henrich 72 Orientierung an Gründen betrifft (vgl. Wesche 2010). Die zweite Lesart (L2) geht davon aus, dass das naturalistische Verständnis praktischer Rationalität die natürliche Disposition des Menschen zur Orientierung an geltenden oder richtigen Gründen bedeute. Im Folgenden soll nun zunächst (a) die These verteidigt werden, dass bei der Bestimmung praktischer Rationalität für die „späte“ Foot die Orientierung an richtigen Gründen und damit auch der Begriff des Guten im Zentrum steht, dass also L2 die richtige Lesart darstellt, und (b) wie sich vor diesem Hintergrund der Begriff des unbedingten Sollens verstehen lässt. Anschließend (c) wird noch ein wichtiger handlungstheoretischer Aspekt erörtert, der für objektive Theorien der Moral eine prinzipielle Herausforderung darstellt. a) Meine erste These lautet, dass sich praktische Rationalität für Philippa Foot nicht in der natürlichen Orientierung des Menschen an Gründen überhaupt erschöpft. 8 Vielmehr gehört es für Foot zur spezifischen Teleologie der menschlichen Lebensform, sich an bestimmten Gründen zu orientieren und zwar an solchen, „die sich im Lichte einer Konzeption des Guten bewähren“ (Pauer-Studer 2010, 184). Andererseits, und dies ist ein Argument für L1, sagt Foot an keiner Stelle explizit, dass Gründe erst durch die Bezugnahme auf ein spezifisches Gut zu richtigen Gründen werden. Diese Zurückhaltung hat jedoch, so meine These, einen ganz bestimmten Grund, auf den eingegangen werden soll, nachdem gezeigt wurde, dass sich L2 anhand verschiedener Textstellen im Spätwerk von Foot als richtige Lesart erweist: Foot erläutert den Begriff der Tugend an einer einschlägigen Stelle als „recognition of particular considerations as reasons for acting“ (Foot 2003, 13; Herv., D.C.H.) und führt weiter aus, dass diese spezifischen Gründe durch den Bezug zum Wohl des Menschen als Spezies konstituiert werden. Sie verdeutlicht dies am Beispiel der Wohltätigkeit („benevolence“), von der sie sagt, dass diese deshalb als Tugend angesehen würde, weil es angesichts der Hilfsbedürftigkeit des Menschen (als Spezies) gute Gründe gebe, wohltätig zu sein. „If people did not get ill or in other trouble some at one time and some at another, and if they were not able to give aid without themselves falling into the same trouble, then there might be no good reason to consider benevolence a virtue and to perform kindly action just because of that.“ (Foot 2011, 212; Herv., D.C.H.) Demnach haben Menschen also tatsächlich gute Gründe, sich tugendhaft zu verhalten, wobei diese Qualifikation auf dem Umstand basiert, dass tugendhaftes Verhalten das menschliche Wohl fördert. Die Bestimmung dieses Wohls wird dabei weder durch statistische Erhebungen noch über utilitaristische Glücks- und Nutzenerwägungen geleistet, sondern durch den Bezug 8 Dies entspricht vielmehr der Position John McDowells und macht eines der grundlegenden Elemente seiner Kritik an Foot aus. Wieso soll ich? 73 auf Aristotelian categoricals des Menschen. Moralisches Handeln ist demnach deshalb rational, weil nur diejenige Handlung als moralisch verstanden werden kann, die durch einen Willen bestimmt wird, der an richtigen Gründen orientiert ist. „Richtig“ sind diese Gründe, weil sie ihre Geltung aus der Bezugnahme auf das Wohl des Menschen als Spezies beziehen. Zusammenfassend lässt sich moralisches Handeln daher als ein Handeln beschreiben, dem ein Wille zugrunde liegt, welcher durch Gründe bestimmt wird, die am Wohl des Menschen orientiert sind. Damit wird moralisches Handeln als ein Handeln beschrieben, das durch einen objektiv-rationalen Grund bestimmt wird, der nicht an den Wünschen oder Interessen des Handlungssubjekts orientiert ist und der auch nicht ausschließlich als Mittel verstanden werden kann, dem „Club“ der Tugendhaften beizutreten. Ich möchte mich nun noch kurz einem Gegenargument zuwenden, welches besagt, dass nach Ansicht der zweiten Lesart praktische Rationalität nicht die Bedeutung habe, die ihr Foot eigentlich zuschreibt. Demnach kann praktische Rationalität in L2 nur eine Art Abbildungsfunktion im Hinblick auf das Wohl des Menschen beanspruchen. In diesem Fall wäre bereits die Bestimmung des menschlichen Wohls bzw. des Guten eine hinreichende Bedingung für die Bestimmung tugendhaften Handelns und gute Gründe hätten nur die (inhaltsleere) Aufgabe einer Vermittlung zwischen dem Willen des Menschen und seinem objektiv bestimmbaren Wohl als Spezies. Damit wäre unklar, weshalb praktische Rationalität überhaupt eine so bedeutende Rolle in der Konzeption von Foot spielen sollte, denn die systematisch zentrale Rolle würde durch das Gute, verstanden als Wohl des Menschen im Sinne seiner Spezies, eingenommen. Hier nur zwei kurze Hinweise, weshalb ich glaube, dass L2 dennoch richtig ist: Erstens, Foot weist selbst darauf hin, dass die Bestimmung des Wohls im Fall des Menschen wesentlich komplexer ist als im Fall der Pflanzen- und Tierwelt (vgl. Foot 2003, 42ff.). Eine einfache Festlegung des menschlichen Wohls, zu dem die Gründe dann in ein Abbildungsverhältnis treten könnten, ist ihrer Ansicht nach mithin nicht möglich. Wichtiger noch ist jedoch ein anderes Argument, das auf das Wesen der praktischen Rationalität selbst verweist: Für Foot erhebt eine Situation unterschiedliche Ansprüche an den Menschen, die sich nicht unter Bezug auf ein moralisches Prinzip lösen lassen. Praktische Rationalität besteht demnach nicht in der Aufstellung eines obersten moralischen Prinzips und dessen anschließender Befolgung, sondern im Abwägen unterschiedlicher Ansprüche, die eine spezifische Situation an den Menschen stellt. Das Wohl des Menschen fungiert hier zwar immer als Referenzgröße; die Gründe, die eine Handlung tugendhaft machen, sind jedoch gleichermaßen von den Gegebenheiten der jeweiligen Situation abhängig. Gute Gründe sind damit das Produkt einer komplexen Vermittlung des menschlichen Wohls mit einer spezifischen Situationsstruktur. b) Wie sich vor diesem Hintergrund nun ein unbedingtes Sollen („final should“) verstehen lässt, erläutert Foot vor allem an zwei Beispielen, von Daniel C. Henrich 74 denen hier nur eines kurz erörtert werden soll. In diesem Beispiel vergleicht Foot die moralischen Ansprüche, denen sich eine Person in zwei unterschiedlichen Situationen gegenübersieht. Im ersten Fall ist die Person an einer starken Erkältung („fluey cold“), im zweiten Fall an einer Grippe („flu“) erkrankt. 9 Foot gesteht nun für den ersten Fall zu, dass die erkrankte Person neben der Verpflichtung, sich auszukurieren auch eine Verpflichtung haben könne, eine weitere Handlung auszuführen (hier das Einzahlen eines Schecks bei der Bank; vgl. ebd., 57ff.). Der Sollensanspruch, zu Hause zu bleiben, entspricht in diesem Fall also nur einem „relativen Sollen“. Im zweiten Fall, in dem die Person an einer tatsächlichen Grippe („flu“) leidet, ändert sich dies: Der Sollensanspruch, zu Hause zu bleiben und sich auszukurieren, ist nach Foot in diesem Fall aufgrund einer „all things considered“- Klausel eindeutig vorrangig. 10 Es handelt sich um ein „unbedingtes“ oder „absolutes Sollen“. „If he stays in, he acts as he should (final ,should‘) have acted, which implies that he did not act badly in so doing. He would rather have acted badly - imprudently - had he gone out in the circumstances as now described.“ (Foot 2003, 59; Herv., D.C.H.) Aber spricht Foot an dieser Stelle überhaupt von einem moralischen Sollen? 11 Immerhin sagen wir auch umgangssprachlich: „Robert sollte unbedingt zu Hause bleiben, denn er hat eine starke Grippe! “ Wir sind deshalb aber nicht gleich der Ansicht, dass dieses Sollen einen moralischen Anspruch erhebt, sondern eher, dass es einer Klugheitsregel geschuldet ist: „Denn andernfalls könnte er wirklich schwer krank werden. Und diesen Zustand will man doch unbedingt vermeiden.“ In diesem Verständnis ergibt sich der Verbindlichkeitscharakter des Sollens relativ zu einem Wunsch oder einem Interesse des Subjekts („nicht krank zu werden“) und wir setzen voraus, dass unter normalen Umständen jede rationale Person diesen Wunsch 9 In der deutschen Übersetzung wird für beide Situationen das Wort „Grippe“ verwendet. Foot spricht jedoch im ersten Fall von „fluey cold“, was man mit „grippeartige Erkältung“ übersetzen kann und im zweiten Fall von „flu“, also direkt von „Grippe“ (vgl. Foot 2003, 57; 59). Diese Differenz ist nicht unerheblich, um die Relevanz des Beispiels für die Unterscheidung zwischen „relativem“ und „unbedingtem Sollen“ zu verstehen. 10 Dieses Beispiel wirft ein ganzes Bündel an Fragen auf, die hier nicht verfolgt werden können. Neben der Tatsache, dass Foot wie selbstverständlich von der Existenz von Pflichten gegen sich selbst ausgeht, stellt sich die Frage, auf welche Weise die „all things considered“-Bedingung falsifiziert werden kann: Mit welcher Art bzw. Kategorie von Verpflichtung müsste ein Anspruch kollidieren, damit das Sollen einer vormals unbedingten Verpflichtung zu einem relativen Sollen wird? Dass dies möglich ist, wird deutlich, wenn Foot erklärt, dass „we can add other elements that would have made it [to gone out] the right thing to do, for instance by supposing that the prevention of an accident hung on his rising from his bed“ (Foot 2003, 59). 11 Für diesen Hinweis danke ich Robert Ranisch. Wieso soll ich? 75 hegt. Und tatsächlich spricht Foot an dieser Stelle auch nicht explizit von einem moralischen Sollen. Auf diesen Einwand lässt sich mit zwei Punkten antworten: Erstens, für Foot, wie für die meisten neoaristotelischen Ansätze, markiert das moralische Sollen gegenüber anderen Formen des Sollens keinen eigenständigen Bereich. So erklärt Foot, „that it is right to see moral judgements as belonging with other evaluations that may perhaps appear not weighty enough to merit such proximity“ (ebd., 67). 12 Nach Ansicht von Foot hat das Wort „sollen“ in moralischen Kontexten also keine besondere Bedeutung, vielmehr verweist es zunächst ausschließlich auf eine Forderung nach Gründen: Wer das Wort „sollen“ verwendet, muss Gründe für seine Verwendung angeben können und behauptet implizit, dass es im angesprochenen Fall eine falsche („defekte“) Handlung geben kann. Dabei ist die Frage, ob es sich um wichtige oder unwichtige Zusammenhänge handelt, nicht an der Verwendung des Wortes „sollen“ selbst zu erkennen, sondern hängt von der jeweiligen Situation ab. „The use of ,should‘ in such practical contexts tells us of a possible defect in action, but does not itself tell us whether or not anything of importance is involved.“ (Foot 2003, 67) Setzt man dieses Verständnis voraus, so muss Foot nicht erklären, ob es sich im Beispiel der erkälteten Person um eine moralische Frage handelt oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, ob die Frage wichtig oder unwichtig ist. Und dies hängt davon ab, in welchem Verhältnis die Handlung zum Wohl des Menschen im Sinne der Aristotelian categoricals steht. Handlungen, die dem Wohl des Menschen in diesem Sinne widersprechen, sollten unterlassen werden. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die späte Foot die Rationalität dieses Sollens jedoch nicht (mehr) im Rahmen einer wunschbasierten Theorie praktischer Rationalität erläutert, sondern durch den Bezug auf die Konzeption einer natural goodness. Daher kann man den Satz auch folgendermaßen formulieren: Handlungen, die dem Wohl des Menschen widersprechen, weisen einen natürlichen Defekt auf und sollten deshalb unterlassen werden. Allerdings, und dies leitet zur zweiten Antwort über, spricht Foot in dem angeführten Zitat explizit von einer unklugen („imprudently“) Handlung. Deutet dies nicht darauf hin, dass ihrer Theorie auch in dieser Phase eine wunschbasierte Position zugrunde liegt? Foot leugnet jedoch nicht, dass es verschiedene Gründe geben kann, eine Handlung als irrational zu bezeichnen. Im Gegenteil, sie ist sogar der Ansicht, dass „it is possible to contravene rationality in more than one way at the same time“ (ebd., 14). Damit will sie zum Ausdruck bringen, dass der Verstoß gegen Rationalität nicht immer und ausschließlich auf Gründe zurück- 12 Im fünften Kapitel von Natural Goodness widmet sich Foot ausführlich der Frage, welche Elemente jeder Bewertung der Handlung des Menschen zugrunde liegen. Daniel C. Henrich 76 geführt werden muss, die nicht am Wohl des Menschen orientiert sind. Eine Handlung kann demnach aus verschiedenen Gründen als irrational bezeichnet werden - auch deshalb, weil sie gemessen an den eigentlichen Interessen des Handlungssubjekts unklug ist. Daher kann Foot an dieser Stelle sogar eine Verbindung von unklugem Verhalten und unbedingtem Sollen konstatieren, welche für Positionen, die moralische Imperative im nichthypothetischen Sinne verstehen, untypisch ist: Die Forderung, dem Sollen zum Auskurieren der Grippe Folge zu leisten, ist demnach sowohl eine unbedingte als auch eine Klugheitsforderung. 13 Diese Möglichkeit verdankt sich einem Perspektivenwechsel, demzufolge das Sollen unbedingt ist, insofern es einer Aussage über den Menschen als Spezies entnommen wird (naturhistorisches Urteil) oder weil es (angeblich) gleichermaßen klüger für das einzelne Individuum ist, der Forderung Folge zu leisten. Die unbedingte Sollgeltung in Foots ethischem Naturalismus findet ihren Grund demnach in den objektiven Anforderungen einer Situation an die Rationalität eines Individuums. c) Konzeptionen, die eine wie auch immer gestaltete Form unbedingter Sollgeltung verteidigen, stehen vor einem vieldiskutierten handlungstheoretischen Problem, das man auch als „motivationales Problem“ bezeichnen kann. Welche systematisch zentrale Rolle dieses Problem für den Naturalismus von Philippa Foot spielt, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass erst die Antwort, die Foot im Laufe der Zeit auf dieses Problem gefunden hat, ihr die Möglichkeit eröffnete, ihre früheren Konzeptionen aufzugeben und sich dem ethischen Naturalismus zuzuwenden, den sie in Natural Goodness verteidigt. Das motivationale Problem besteht, kurz gesagt, in der Kollision einer handlungstheoretischen Grundannahme - die ich im Folgenden verkürzt als Hume’sche Motivationstheorie bezeichnen werde 14 - mit der Möglichkeit zu erklären, wie objektiv-kategorische Imperative handlungspraktisch werden. Die Hume’sche Motivationstheorie geht davon aus, dass ein Wille ausschließlich dann handlungspraktisch werden kann, wenn er durch Wünsche und Interessen dazu ermächtigt wird. Dann wäre aber die praktische Umsetzung objektiver Anforderungen, wenn es diese denn gibt, nur möglich, wenn man Interessen oder Wünsche mit der Umsetzung verbindet. Damit wäre die Geltung für sich genommen also nicht hinreichend, die praktische Umsetzung des Imperativs zu erklären. Insofern setzt die These, eine objektive Anforderung könne für sich genommen hinreichend sein, eine Handlung hervorzurufen, d. h. den Willen handlungspraktisch werden zu lassen, die Überwindung der Hume’sche Motivationstheorie voraus (vgl. Foot 2003, 53ff.). 13 An dieser Stelle kann auf diesen äußerst problematischen Punkt nicht näher eingegangen werden. Zur Kritik siehe auch Pauer-Studer (2010, 173ff.). 14 Siehe dazu auch Nagel (1978, 10f.). Foot spricht in diesem Zusammenhang von „Humes practicality requirement“ (Foot 2003, 9). Wieso soll ich? 77 Wichtig ist nun, dass Foot in Natural Goodness die Ansicht vertritt, Handlungen könnten durch verschiedene Dinge - also nicht nur durch Wünsche und Interessen, sondern etwa auch durch Überzeugungen und kognitive Zustände - ermächtigt werden (vgl. ebd., 61ff.). Demnach muss ein Handlungssubjekt nicht notwendigerweise einen bestimmten Wunsch oder ein bestimmtes Interesse (konative Elemente) verfolgen, um handeln zu können: Auch die Erkenntnis, dass eine bestimmte Handlung richtig oder falsch ist, kann dem Subjekt die Möglichkeit eröffnen, Handlungen durchzuführen. Moralische Erkenntnis sei demnach aus sich selbst heraus imstande, Handlungspraxis anzuleiten, woraus sich Foots These verstehen lässt, „that Hume’s demand is met by the (most un-Humean) thought that acting morally is part of practical rationality“ (ebd., 9). Fassen wir diesen Punkt noch einmal zusammen: Nach Ansicht moralphilosophischer Positionen, die eine Hume’sche Motivationstheorie zugrunde legen, ist es nicht möglich, eine Handlung ohne konative, d. h. wunsch- oder interessebasierte Elemente zu vollziehen. Wäre dies richtig, so wäre jede Handlung und damit auch jede moralische Handlung nur vor dem Hintergrund eines Interesses oder eines Wunsches denkbar, was die praktische Umsetzung eines unbedingten Sollensanspruches unmöglich machen würde. Geht man aber davon aus, dass Handlungen auch ohne diese konativen Elemente möglich sind, so kann man moralisches Handeln selbst als Teil der Rationalität des Menschen beschreiben und ist nicht mit Hume gezwungen, die Vernunft auf das theoretische Vermögen des Menschen zu beschränken. Unter diesen begrifflichen Voraussetzungen kann Foot also behaupten, dass Moralität ein Teil der (praktischen) Rationalität ist und dass es eine unbedingte Sollgeltung gibt. 4 Kritik Ich möchte meine Kritik hier auf den Begriff der praktischen Rationalität beschränken: Der zentrale Einwand lautet, dass Foot nicht erklären kann, woher der kategorische Verbindlichkeitscharakter des Anspruchs kommen soll, den naturhistorische Beschreibungen (Aristotelian categoricals) an ein Wesen mit praktischer Rationalität, d. h. mit Vernunft, stellen. Meines Erachtens gelingt es Foot trotz ihrer zusätzlichen Bezugnahme auf teleologische Aspekte nicht, aus der Beschreibung des Menschen als Lebensform eine imperativische Geltung moralischer Ansprüche zu begründen. Das liegt aber nicht etwa daran, dass naturhistorische Urteile nur statistische Aussagen über Lebewesen darstellten. 15 Denn abweichend von Foot besteht Michael Thompsons Anliegen zunächst nicht in einer moralphilosophischen These, sondern darin, nachzuweisen, dass die Beschreibung eines Lebewe- 15 McDowell scheint diese Annahme zugrunde zu legen, wenn er auf das Beispiel der zweiunddreißig Zähne des Menschen Bezug nimmt (vgl. McDowell 1998, 171f.). Daniel C. Henrich 78 sens als dieses Lebewesen nur unter bestimmen sprachlogischen Bedingungen möglich ist - und das scheint mir zutreffend zu sein. Allerdings ist diese generische Beschreibung nicht hinreichend, einen moralisch relevanten Verbindlichkeitscharakter zu konstituieren, den ein Wesen, das von Natur aus Vernunft besitzt, als für seinen Willen bindend anerkennen muss. Denn auch der Verweis auf Aristotelian categoricals kann für den menschlichen Willen nicht den Charakter einer moralisch verbindlichen Anforderung etablieren. Dieser Einwand lässt sich auch keinesfalls dadurch umgehen, dass man mit Tilo Wesche darauf hinweist, die Geltung einer guten Handlung sei für Foot eben „keine invariante Geltung, die undurchlässig für kontextuelle, kulturelle und historische Besonderheiten ist“ (Wesche 2010, 270). Denn auch und gerade wenn Foots Konzeption mit der These vereinbar sein mag, dass die naturhistorische Beschreibung des Menschen im Hinblick auf zeitliche Abläufe und kulturelle Kontexte variabel ist, beinhaltet der Verweis auf den Menschen als Lebensform keinen Verbindlichkeitscharakter für die praktische Rationalität des Menschen. 16 Diese Kritik lässt sich an dem quasi-Moore’schen Argument verdeutlichen, dass es immer eine offene Frage bleiben wird, weshalb der Hinweis auf eine wie auch immer gestaltete natürlich-teleologische Qualität für ein vernünftiges Wesen Verbindlichkeit konstituieren sollte. Wollte Moore mit dem „open-question argument“ allerdings die Unmöglichkeit einer (einfachen) Definition der Eigenschaft „gut“ nachweisen (vgl. Moore 1993), so verweist das Argument in diesem Kontext auf den Umstand, dass das zentrale Merkmal praktischer Rationalität in einer Freiheit besteht, der es unbelassen bleibt, ob sie (naturhistorische) Beschreibungen der Natur des Menschen als verbindlichkeitskonstituierende Gründe anerkennt oder nicht. John McDowell erläutert diese Kritik anhand des mittlerweile berühmten Beispiels vom rationalen Wolf (vgl. McDowell 1998, 169ff.): Sein zentrales Argument lautet, dass für ein Wesen (Wolf), welches Vernunft erworben hat - also zu dessen Natur es gehört, Vernunft zu besitzen -, ein über naturhistorische Urteile vermittelter Verweis auf die Spezies des betreffenden Wesens gar keine Rolle mehr spielen kann. Das liege daran, dass Rationalität bereits auf begrifflicher Ebene eine Form von Wahl- und Handlungsfreiheit impliziert, die auch durch den Hinweis auf Aristotelian categoricals nicht mit Notwendigkeit gebunden werden kann. „We cannot make sense of a creature’s acquiring reason unless it has genuinely alternative possibilities of action, over which its thought can play.“ (McDowell 1998, 170; Herv., D.C.H.) 16 Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass bei dieser Kritik die oben dargestellte motivationale Frage noch nicht betroffen ist. Denn die Frage, ob dem menschlichen Willen ein objektiver Grund ausreicht, um praktisch zu werden, kann zumindest analytisch von der Frage unterschieden werden, ob der Handlungsgrund überhaupt existiert. Wieso soll ich? 79 Für ein Wesen, das Vernunft erworben hat, besitzt der Verweis auf seine Natur - gleichgültig worin dieser besteht - demnach keine bindende Wirkung. Und damit kann auch der Hinweis auf die eigene Natur als Spezies für die Beantwortung der Frage „Was soll ich tun? “ keine Rolle mehr spielen. „So even if we grant that human beings have a naturally based need for the virtues, in a sense parallel to the sense in which wolves have a naturally based need for co-operativeness in their hunting, that need not cut any ice with someone who questions whether virtuous behavior is genuinely required by reason.“ (McDowell 1998, 173) Foots Konzeption praktischer Rationalität enthält meiner Ansicht nach also keine Begründung für die unbedingte Sollgeltung moralischer Imperative. Gleichzeitig bleibt aber ihre These richtig, dass praktische Rationalität die zentrale Eigenschaft der menschlichen Natur darstellt und Gründe eine gewichtige Rolle bei der Bestimmung der Legitimität moralischer Geltungsansprüche spielen. Die Aufgabe besteht daher darin, zu ergründen, in welcher Weise wir die praktische Rationalität des Menschen als Teil seiner Natur verstehen können, ohne dabei den kategorischen Anspruch normativer Sollgeltung aufgeben zu müssen. 5 Fazit Philippa Foots ethischer Naturalismus zieht eine Parallele zwischen Pflanzen- und Tierwelt auf der einen und der Lebensform des Menschen auf der anderen Seite. Die Bewertung von Lebewesen verläuft demnach immer nach der gleichen logischen Grundstruktur: Dem Abgleich eines Individuums mit der intrinsisch-natürlichen Qualität (natural goodness) seiner jeweiligen Lebensform (Spezies). Die normativ relevante Beschreibung dieser Lebensform kann jedoch nur unter den Bedingungen einer spezifischen Urteilsform erfolgen: den natural history judgments. Foot erweitert diesen Ansatz Thompsons um eine teleologische Komponente und stellt dann die entscheidende Frage nach der Anwendung auf den Menschen. Im Gegensatz zu anderen Lebensformen besitzt der Mensch einen Willen, der durch Gründe bestimmt werden kann (praktische Rationalität), weshalb die Anwendung der natural goodness-Konzeption auf den Menschen einen höheren Grad an Komplexität aufweist als bei anderen Lebewesen. Allerdings, so die erste These des vorliegenden Aufsatzes, gilt für Foot nicht bereits das Fehlen des Willens als solches als ein in moralischer Hinsicht relevanter Defekt des Menschen. Vielmehr stellt untugendhaftes Verhalten einen spezifischen Defekt der praktischen Rationalität dar: die Willensbestimmung durch falsche Gründe. Falsche Gründe, so die These weiter, sind für Foot solche, die nicht an einer spezifischen Konzeption der natürlichen Qualität des Menschen orientiert sind. Bezogen auf den Menschen bedeutet dies, dass nur Gründe, die sich Daniel C. Henrich 80 am Wohlergehen („flourishing“) des Menschen als Lebensform orientieren, die Grundlage für ein Verhalten bilden können, das als tugendhaft bezeichnet werden darf. Damit diese objektive Theorie der Moral aber überhaupt in die Dimension der Praxis vordringen kann, muss Foot zusätzlich die handlungstheoretische Annahme zu Grunde legen, dass auch Gründe - und nicht nur Interessen und Wünsche - hinreichende Handlungsursachen darstellen können. Doch selbst wenn man diese Form des moralphilosophischen Internalismus teilt, bleibt unklar, woher der Verbindlichkeitscharakter der Aristotelian categoricals stammen soll. Die Frage nach der Begründung moralischer Verbindlichkeit verlagert sich damit auf das Verhältnis von Natur und Vernunft im Allgemeinen. Literatur Boyd, Richard (1995): How to be a Moral Realist. In: Sayre-MacCord, Geoffrey (Hrsg.): Essays on Moral Realism. Ithaca u. a.: Cornell University Press, S. 181- 228. Brandt, Richard B. (1979): A Theory of the Good and the Right. 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One way to follow this line of argument is to examine the action-theoretical presuppositions of cooperation-based accounts. Since they rely on a dualistic conception of human action, I spell out a non-dualistic alternative that follows Ryle’s notion of “intelligent capacities”. The paper illustrates how this rearrangement on the action-theoretical level leads to a conception of morality that, to a certain extent, comprises the considered moral intuition. 1 Die Frage nach einem moralischen Maßstab zur Bewertung biotechnologischer Menschengestaltung Mit den entstehenden Biotechniken wird der Mensch sich selbst auf neue Weise verfügbar, sie eröffnen die Aussicht, dass Eigenschaften und Merkmale, mit denen wir uns bislang immer abfinden mussten, künftig mehr und mehr gestaltet werden können. So konnten wir keinen Einfluss auf die Augenfarbe, den Körperbau, das Geschlecht oder die organische und insbesondere sinnliche Ausstattung unserer Nachkommen nehmen. Das Wissen der Genetik und die damit verbundene Technisierung des Reproduktionsprozesses scheint diesen Spielraum jedoch mehr und mehr zu eröffnen. Medizinischer Fortschritt macht aber auch den eigenen Organismus zunehmend verfügbar. Über das bloße Erscheinungsbild hinaus lassen sich organische Eigenschaften wie das Geschlecht verändern und es werden immer mehr prothetische Erweiterungen der sinnlichen und körperlichen Leistungsfähigkeit denkbar. Psychopharmakologische Eingriffe machen unseren Charakter in seiner Struktur von Stimmungen und Antrieben gestaltbar und eröffnen neue Wege, unsere kognitive Leistungsfähigkeit zu steigern. Für Björn Sydow 84 viele von uns ist der Ausblick auf diese entstehenden biotechnologischen Handlungsoptionen von der moralischen Intuition begleitet, dass ihre freie Ausübung nicht moralisch sein kann. Moralische Subjekte unterliegen bei der biotechnologischen Gestaltung menschlichen Lebens offenbar Beschränkungen, wenn auch eine strikte moralische Ablehnung jedweder biotechnologischer Eingriffe in den menschlichen Organismus ebenso unplausibel erscheint. Es gibt die Tendenz, sich zur Rechtfertigung solcher Beschränkungen auf die Natürlichkeit des menschlichen Organismus zu berufen (vgl. Birnbacher 2006). Doch sofern Moral so verstanden wird, dass die Achtung vor jedem Einzelnen von uns die Quelle aller moralischen Verpflichtungen bildet, kann die Natürlichkeit nicht als grundlegender moralischer Wert aufgefasst werden. In seiner üblichen Fassung scheint dieses Moralverständnis aber nicht nur gegen die Natürlichkeit, sondern gegen jeden Versuch zu sprechen, zumindest diejenigen biotechnologischen Eingriffe, die nicht an selbstbestimmten Handlungssubjekten stattfinden oder die diese an sich selbst vornehmen, einer moralischen Beschränkung zu unterwerfen. Die übliche Deutung der Moral der Achtung vor dem Einzelnen, im Weiteren als Kooperationsmoral bezeichnet, lässt sich folgendermaßen erläutern: Moralische Beschränkungen ergeben sich aus Normen, die sich wechselseitig als Ermöglichung eines erfolgreichen Zusammenlebens rechtfertigen lassen. Ich betrachte die Kooperationsmoral als den gemeinsamen Kern kontraktualistischer und konstruktivistischer Ansätze. In ihr werden die Interessen und Wertvorstellungen eines Handelnden nur moralisch fragwürdig, wenn sie andere Handlungssubjekte in der freien Umsetzung ihrer Interessen missachten. Selbstbezügliche Veränderungen des eigenen Organismus und die Veränderung von Organismen, die nicht die von Personen sind, greifen nicht in dieses Recht der anderen ein. Ihre Begrenzung lässt sich nicht als Resultat der wechselseitigen Rechtfertigung verständlich machen, weil in diesem Prozess Beschränkungen nur aus der Beachtung anderer in der Umsetzung ihrer Interessen hervorgehen können und es nicht zu einer dazu vorgängigen Bewertung von Interessen kommen darf. Aus der Perspektive der Kooperationsmoral stehen die Begrenzungen der technischen Gestaltung menschlichen Lebens folglich unter dem Verdacht, sich auf einen Maßstab zu stützen, der als Überrest einer „heteronomen Moral“ (vgl. Tugendhat 2007, 114) zu verstehen ist, die den Einzelnen grundlos darauf festlegt, sich mit dem Gegebenen abzufinden, anstatt es nach seinen Interessen zu gestalten (vgl. Tugendhat 2008). Sofern mit den biotechnologischen Möglichkeiten Handlungssubjekte auftreten, die diese Möglichkeiten gerne nutzen möchten, zählen diese Interessen mit zu dem, was es im Rahmen der Kooperation ebenso zu ermöglichen oder zumindest zuzulassen gilt wie die Umsetzung anderer Interessen. Doch damit muss die Suche nach einer moralisch legitimen Begrenzung der biotechnologischen Veränderung von Menschen noch nicht beendet Menschsein als moralischer Maßstab der biotechnologischen Menschengestaltung 85 sein. Denn erstens könnten in der Kooperationsmoral noch moralische Verpflichtungen stecken, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind, sondern gerade mit den neuen Handlungsmöglichkeiten ans Licht treten. Und zweitens könnte die Kooperationsmoral auf problematischen Voraussetzungen beruhen, die der Moral der Achtung vor dem Einzelnen erst die Gestalt der Kooperationsmoral geben. So bleiben mit der Erforschung der in der Kooperationsmoral enthaltenen Implikationen und der Überprüfung ihrer Voraussetzungen noch zwei Wege offen, auf denen sich ausgehend von der Kooperationsmoral doch noch eine stärkere moralische Beschränkung des biotechnologischen Handelns ergeben kann. Mir scheint, dass man Habermas’ Überlegungen zur liberalen Eugenik im Sinne des ersten Weges deuten kann. Habermas rechtfertigt die moralische Beschränkung gestaltender Eingriffe in den entstehenden menschlichen Organismus damit, dass durch diese Eingriffe die spätere Person in ein asymmetrisches Verhältnis zu anderen gerät; sie muss sich auf eine Weise als abhängig erfahren, die einem selbstbestimmten und moralischen Subjekt nicht angemessen ist (vgl. Habermas 2002, 105-114). Nicht im Moment der Manipulation, aber nachträglich widerfährt der Person als selbstbestimmter Verfolgerin eigener Interessen und damit als Mitglied der moralischen Gemeinschaft Unrecht. Um ihres Status als eines selbstbestimmten Subjekts Willen darf sie nicht einfach gestaltet werden. Es ist zweifelhaft, ob Habermas sich mit dieser Überlegung noch im Rahmen dessen bewegt, was unter den von ihm eigentlich geteilten moralphilosophischen Voraussetzungen zulässig ist (vgl. ebd., 121, Anm. 70). Außerdem leuchtet es nicht recht ein, weshalb es überhaupt zu einer Beeinträchtigung der selbstbestimmten Lebensführung kommt, wenn die biotechnologischen Veränderungen den Entwicklungsspielraum des Subjekts erweitern (vgl. Knoepffler 2009). Und schließlich scheint sich Habermas’ Argumentation auf einen sehr eingeschränkten Bereich biotechnologischer Handlungen zu beziehen (vgl. Siep 2005). So folgt aus den Überlegungen nichts für die Veränderungen, die am Organismus einer Person vorgenommen werden sollen. Eine Möglichkeit, den zweiten Weg zu verfolgen, besteht darin, die handlungstheoretischen Voraussetzungen der Kooperationsmoral in den Blick zu nehmen. Die Kooperationsmoral geht offenbar davon aus, dass das Handeln sich auflösen lässt in einen vernünftig gebildeten Willen und einen äußeren, körperlichen Vorgang als Wirkung dieses Willens; dabei gilt die Ermittlung der zur Umsetzung je subjektiver Interessen und Vorstellungen des Guten dienlichen Handlung als grundlegende Form der Willensbildung, vor deren Hintergrund dann die moralische Willensbildung entwickelt wird (vgl. Gauthier 2000, 189-193; Habermas 1999, 46). Diese dualistische Handlungskonzeption wird von Ansätzen herausgefordert, die Handeln nicht als ein körperliches Verhalten mit einer besonderen Art von Ursachen bestimmen, sondern als eine eigene Art von körperlichen Vorgängen oder Aktivitäten, die körperlichen Wesen zugeschrieben werden können (vgl. Stoutland Björn Sydow 86 1989). So weist beispielsweise Gilbert Ryle die Zergliederung menschlicher Handlungen in ein äußerlich sichtbares Verhalten mit bestimmten inneren Ursachen im Sinne der Willensbildung zurück (vgl. Ryle 2000, besonders 26- 60). Vielmehr seien Handlungen als Ausübungen einer bestimmten Art von Fähigkeiten zu verstehen, die er als „intelligent capacities“ (Ryle 2000, 41) bezeichnet. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie sich aus dieser handlungstheoretischen Umstellung ein Verständnis von Moral ergibt, in dem nicht Handlungssubjekte mit ihren Wünschen, sondern Menschen in der Ausrichtung auf die Entfaltung ihres Menschseins die Grundlage der moralischen Rücksicht bilden, um dann die Konsequenzen für die moralische Bewertung der biotechnologischen Eingriffe in den menschlichen Organismus aufzuzeigen. In der moralphilosophischen Diskussion wird dieser Ausgangspunkt vor allem in tugendethischen Ansätzen ausgearbeitet. Hier wird die durch die handlungstheoretische Umstellung eröffnete Alternative zur Kooperationsmoral zunächst in Absehung von der Diskussion um das Recht und die angemessene Entwicklung eines aristotelischen Naturalismus präsentiert (vgl. McDowell 1979). Entsprechend besteht eine der offenen Anschlussfragen an die vorgestellten Überlegungen darin, wie sie sich zu dieser Diskussion verhalten. 2 Die handlungstheoretische Umstellung Die moralphilosophischen und bioethischen Konsequenzen lassen sich nicht sinnvoll darstellen, ohne zunächst einen Eindruck von der handlungstheoretischen Konzeption zu vermitteln. Im Anschluss an Ryle sehe ich die Alternative zur dualistischen Handlungstheorie wesentlich darin, Handeln als die Ausübung oder Aktualisierung einer bestimmten Art von Vermögen zu begreifen. Diese Vermögen sind solche zur Ausführung einer bestimmten Tätigkeit in einer bestimmten Situation, also zum Autofahren, Fußballspielen, Spazierengehen usw. Der Begriff der jeweiligen Tätigkeit legt dabei fest, auf welche Weise die situativen Gegebenheiten beantwortet werden müssen. Zum Autofahren gehört es, auf ein Stoppschild zu reagieren, wie es zum Fußballspielen gehört, die Spielzüge des Gegners zu stören. Im Handeln füllen wir jedoch nicht einfach die Anforderungen einer Tätigkeit aus. Erschöpfte sich unser Vermögen darin, etwas im Sinne einer Tätigkeit einfach richtig zu machen, dann würde es sich nicht von dem geschickter Tiere bzw. nicht-menschlicher Tiere unterscheiden, denn auch die sind bekanntlich in der Lage, sogar komplexe Tätigkeiten auszuführen. Die Besonderheit bei unseren Vermögen zum Vollzug einer Tätigkeit liegt darin, dass sie stets zugleich den Sinn eines sprachlichen Zuges haben, nämlich den der einlösbaren Behauptung, dass es sich um eine mehr oder weniger angemessene Antwort im Sinne der entsprechenden Tätigkeit handelt (vgl. Sydow 2013, 170-176). Damit wird das menschliche Verhalten nicht zu einem eigenen Vorgang, weil es mit einer bestimmten Art von inneren Ursa- Menschsein als moralischer Maßstab der biotechnologischen Menschengestaltung 87 chen verknüpft wird, sondern weil es an das Können gebunden ist, das Verhalten im Rahmen der ausgeführten Tätigkeit zu verorten (vgl. Annas 2011, 108f.). Diese Verortung muss dem Verhalten nicht vorausgehen, damit es zu einer Handlung wird, sie muss als Können zu einem bestimmten sprachlichen Handeln nur mit ihm einhergehen. Als reflexive Selbstvergewisserung kann sie aber auch explizit in der Ausübung der Tätigkeit durchgeführt werden. Weil diese Überlegung zur Ausübung eines Vermögens zu einer Tätigkeit gehört, endet sie nicht mit einem ausgebildeten Willen, dessen Auswirkung dann das Verhalten ist, sondern im Verhalten selbst. Das als Antwort im Rahmen einer Tätigkeit gewusste Verhalten ist nicht die Wirkung der Vernunftausübung, sondern ihr Abschluss; es ist nicht einfach ein auf eine bestimmte Weise erwirkter körperlicher Vorgang, sondern selbst eine vollzogene Folgerung (vgl. McDowell 2010). Der Effekt dieser Umstellung, auf den es mir besonders ankommt, besteht darin, dass zum Verständnis einer vernünftigen Handlung kein Prozess der vernünftigen Willensbildung vorausgesetzt werden muss. Das menschliche Handeln ergibt sich vielmehr aus der Aktualisierung unseres Handlungsvermögens: Wir entwickeln die Fähigkeit zu allen möglichen Tätigkeiten und spielen uns gewissermaßen in die lebensweltlich vorgesehenen und ermöglichten Abläufe ein, so dass wir in den richtigen Situationen in den Vollzug der richtigen Tätigkeiten geraten, also an die richtigen situativen Gegebenheiten anknüpfen. Dass zu diesem Verständnis unseres Handelns nicht der Vorgang einer vernünftigen Willensbildung gehört, bedeutet aber nicht, dass unser Handeln nicht Ausdruck von Antrieben sein kann. Es bedeutet lediglich, dass Antriebe nicht das sind, worauf wir als vernünftige Akteure wesentlich Bezug nehmen, um zu handeln. Stattdessen lässt sich die Rede von Antrieben auf die Verfassung des Handlungsvermögens beziehen. Dass ein Handelnder bestimmte Wünsche und Antriebe hat, ist dann so zu verstehen, dass er unter bestimmten Bedingungen in die Ausübung bestimmter Tätigkeiten geraten wird: Jemand handelt beispielsweise aus Eitelkeit, wenn er jede Gelegenheit zu Gesprächen über sich selbst energisch wahrnimmt. Und entsprechend besteht beispielsweise die Verfassung der Raucherin darin, dass sich ihr die situativen Gegebenheiten mehr und mehr im Sinne der Tätigkeit des Rauchens zeigen, so dass die Worte des Vortragenden nicht mehr zum Anknüpfungspunkt eigener Überlegungen, sondern mehr und mehr zu Hindernissen auf dem Weg zur nächsten Zigarette werden (vgl. Ryle 2000, 81-112; Sydow 2013, 176-184). Dem vermögenstheoretischen Ansatz wird häufig vorgeworfen, gerade mit dieser Erläuterung der Handlungsantriebe die Möglichkeit preiszugeben, das Stattfinden von Handlungen auch erklären und als wirklichen Vorgang begreiflich machen zu können (vgl. Davidson 1990). Doch dieser Vorwurf ist nur gültig, wenn die Vermögen, wie bei Ryle, nicht realistisch aufgefasst werden, wenn man sie also nicht als echte Eigenschaften körperlicher Wesen versteht, sondern sie in den gesetzesartigen Aussagen, die sie Björn Sydow 88 ermöglichen, aufgehen lässt (vgl. Ryle 2000, 115), weil dann ihre Rolle für die Handlung als einem körperlichen Ereignis verschleiert wird. Im Unterschied zu Ryle scheint mir eine realistische Konzeption von Dispositionen und spontanen Vermögen einfacher körperlicher Substanzen nicht nur durchaus angemessen; ich denke sogar, dass sich damit erst der Vorzug der handlungstheoretischen Umstellung verständlich machen lässt. Denn im Rahmen des vermögenstheoretischen Handlungsverständnisses ist es möglich, menschliches Handeln unproblematisch als einen Vorgang in der natürlichen Wirklichkeit zu begreifen (vgl. Sydow 2013, 119-161). Hinzu kommt, dass dieser Ansatz die Gründe, die wir in den meisten Situationen für unser Handeln anführen, besser aufzunehmen vermag. Denn in vielen Fällen geben wir eine Tätigkeit an, um unser konkretes Handeln verständlich zu machen; oder wir zeigen, was an einer Situation uns im Rahmen dieser Tätigkeit dazu gebracht hat, so und nicht anders zu handeln (vgl. ebd., 51f.). 3 Moral nach der handlungstheoretischen Umstellung Diese handlungstheoretische Alternative bildet einen neuen Ausgangspunkt für die Rekonstruktion unserer Moral. Um moralisches Handeln im Rahmen dieser vermögenstheoretischen Handlungskonzeption zu entwickeln, muss das Moralischsein als eine bestimmte Tätigkeit erläutert werden, als eine Weise, in der ein Mensch mit Dingen in der Welt umgeht. Von dieser Tätigkeit wissen wir, dass sie als ein Gutsein oder Gerechtwerden verständlich werden muss und dass Menschen die zentralen Bezugspunkte dieser moralischen Rücksicht sind. Ich gehe davon aus, dass diese allgemeine Charakterisierung des Moralischseins in unserem geteilten Verständnis als moralische Subjekte steckt. So bildet sie gewissermaßen den Rahmen, in dem sich angemessene moralphilosophische Konzeptionen bei der näheren Erläuterung unseres Moralischseins bewegen müssen. Diese Anforderung erfüllt auch die Kooperationsmoral, nur fasst sie diesen Gedanken so, dass wir anderen, als dualistischen Handlungssubjekten, als den vernünftigen Verfolgern ihrer Interessen und Wertvorstellungen gerecht werden müssen. Zu dieser Einschränkung gibt es jedoch keinen Grund, wenn es darum geht, Moralischsein als diejenige Tätigkeit zu erläutern, in der wir Menschen gerecht werden. Im Zuge dieser Rekonstruktion unseres Moralischsein ist nämlich vielmehr danach zu fragen, wie Menschen als ursprüngliche Bestandteile unserer Wirklichkeit auftauchen und was es bedeutet, ihnen als diesen eigenständigen Bestandteilen der Wirklichkeit gerecht zu werden. Jede der Beantwortung dieser Frage vorgängige Bestimmung der moralischen Rücksicht muss dagegen als Verkürzung ihres ursprünglichen Gehalts angesehen werden. Und dass wir als moralische Subjekte über die ursprünglichste Gestalt des Gutseins nicht einfach hinweggehen können, scheint mir in unserem moralischen Verständnis ebenfalls enthalten zu sein. Überdies wird durch diese Ursprünglichkeit der Tä- Menschsein als moralischer Maßstab der biotechnologischen Menschengestaltung 89 tigkeit des Moralischseins der mit dem moralischen Handeln verbundene Anspruch auf Objektivität rekonstruierbar. Denn wenn Menschen durch ihr bloß faktisches Wirklichsein selbst inhaltlich festlegen, wie man ihnen gerecht wird, dann ist der Gehalt des Gutseins nicht dem Einzelnen oder der sprachlichen Gemeinschaft überlassen. Vielmehr bricht sich dann das übereinstimmend für gut Gehaltene an der Wirklichkeit seines moralischen Objekts (vgl. Sydow 2014). Die Einschränkung unserer moralischen Rücksicht auf Menschen als dualistische Handlungssubjekte müsste dadurch gerechtfertigt werden, dass wir als solche Handlungssubjekte je eigenständige Bestandteile der Wirklichkeit bilden. Es besteht aber kein Anlass, die handlungstheoretische Umstellung nicht auch auf der Seite der Gegenstände der Moral durchzuführen, so dass Menschen auch hier nicht mehr als dualistische Handlungssubjekte auftauchen, sondern als körperliche Wesen mit begrifflichen Handlungsvermögen. Im Rahmen einer ontologischen Rekonstruktion unserer sinnlich zugänglichen, lebensweltlichen Wirklichkeit lässt sich überdies zeigen, dass Menschen jene Art von körperlichen Wesen sind, die durch ihre Handlungsvermögen in die Wirklichkeit eingelassen sind und ihre Eigenständigkeit in der Ausübung dieser Vermögen verwirklichen (vgl. Sydow 2013, 138- 144). So sind Menschen von sich aus auf die Entwicklung und Aktualisierung ihrer begrifflichen Vermögen ausgerichtet, darauf, sich im Vollzug von Handlungen als eigenständige Bestandteile der Welt zu verwirklichen und dieses individuelle Potential zum Menschsein zur Entfaltung zu bringen. Folglich kann moralisches Handeln grundlegend als Rücksicht auf je individuelle menschliche Wesen erläutert werden, die als Rücksicht auf die freie Ausübung ihrer begrifflichen Vermögen zu präzisieren ist, weil wir Menschen dadurch in dem gerecht werden, was sie als je eigenständige Bestandteile der Wirklichkeit sind. Menschen verpflichten uns als moralische Subjekte folglich dazu, ihnen den Raum und die Bedingungen zu lassen, aus sich heraus begriffliche Vermögen zu entwickeln und zu aktualisieren (vgl. Sydow 2014). Die Entfaltung des je konkreten Potentials zum Menschsein bildet den grundlegenden Maßstab moralischen Handelns. Nach der handlungstheoretischen Umstellung wird der Einzelne auf eine andere Weise zum Gegenstand der Moral und damit ist zumindest eine Möglichkeit eröffnet, moralische Intuitionen als legitim auszuweisen, die in der Kooperationsmoral keinen Platz finden konnten. In der skizzierten Rekonstruktion des Moralischseins wird die Kooperationsmoral im Sinne einer unparteilichen Vermittlung von Interessen unterlaufen. Das bedeutet aber nicht, dass die Verfahren und die daraus resultierenden Normen zur Vermittlung je individueller menschlicher Interessen damit aus dem Bereich der Moral verabschiedet werden könnten. Denn wenn moralische Verpflichtungen von jedem einzelnen menschlichen Wesen ausgehen, dann ist es für moralische Subjekte unerlässlich, Verfahren und Praktiken der Vermittlung dieser Ansprüche zu finden. Eine weitere zentrale Anschlussfrage besteht Björn Sydow 90 daher darin, wie dieser Übergang genau zu verstehen ist, an welchen kooperativen Praktiken ein moralisches Subjekt teilnehmen muss, um gewissermaßen die Überforderung, die daraus entsteht, jedem Einzelnen in seinem Menschsein verpflichtet zu sein, auflösen zu können. 4 Menschengestaltung in der umgestellten Moral Im Folgenden sollen nun in groben Zügen die Konsequenzen dieses Verständnisses von Moral für die moralische Bewertung der biotechnologischen Selbstgestaltung des Menschen dargelegt werden. Werfen wir zuerst einen Blick auf die Technisierung des Reproduktionsprozesses, also auf die genetische Veränderung des Embryos und die damit einhergehende Selektion von Embryonen mit bestimmten Merkmalen. In dem entwickelten Ansatz gehen moralische Verpflichtungen von Menschen aus. Dabei sind Menschen körperliche Wesen, die über begriffliche Vermögen verfügen, durch deren Aktualisierung sie diese Vermögen ausbilden und selbst Wirklichkeit gewinnen. Im Unterschied dazu sind Embryonen nicht Menschen, sondern körperliche Wesen, die sich zu Menschen entwickeln. Im Rahmen der ontologischen Konzeption, nach der Menschen durch ihre begrifflichen Vermögen je eigenständige Bestandteile der Wirklichkeit bilden, sind wir nicht mit einem biologischen Organismus als einem aus materiellen Teilen zusammengesetzten Gegenstand identisch, in dem im Austausch mit der Umgebung komplexe stoffliche Prozesse ablaufen, der mit der Entstehung eines Embryos in die Welt kommt und dessen Existenz möglicherweise weitergeht, wenn unsere schon beendet ist (zu diesem animalistischen Ansatz, vgl. Olson 1997). Menschen und Embryonen im Sinne von Gegenständen, die sich zu Menschen entwickeln, können zwar beide als komplexe und dynamische materielle Gebilde beschrieben und untersucht werden, doch dieser Organsimus ist einmal die materielle Realisierung eines sich entwickelnden menschlichen Lebens und einmal die materielle Realisierung eines vorhandenen Menschen. In beiden Fällen gilt, dass sie in der Beschreibung dieser materiellen Realisierung nicht aufgehen, weil der Begriff des Menschen zur lebensweltlichen Ordnung gehört, in der körperliche Gegenstände als Ganze in die Welt eingelassen sind und dies auf eine Weise, die sich in der Begrifflichkeit naturwissenschaftlicher Zusammenhänge nicht fassen lässt. Diese Wirklichkeit gerät aus dem Blick, wenn die Gegenstände in ihrer materiellen Zusammensetzung untersucht und beschrieben werden. (Es sei angemerkt, dass die Überprüfung und Ausarbeitung dieser ontologischen Verhältnisbestimmung von Menschen, Organismen und anderen Körpern insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um den Zusammenhang von personaler Identität und organischem Leben eine dritte zentrale Anschlussfrage bildet.) Menschsein als moralischer Maßstab der biotechnologischen Menschengestaltung 91 Wenn Moralischsein sich aus dem Umgang mit Menschen ergibt, dann gehen von menschlichen Embryonen zunächst einmal keine moralischen Verpflichtungen aus. Im Rahmen der entwickelten Erläuterung des Moralischseins ist es also zunächst einmal moralisch unverdächtig, in das frühe Stadium des Reproduktionsprozesses gestaltend einzugreifen. Handlungen werden nicht moralisch schlecht, wenn bestimmte Merkmale des späteren Menschen verändert und ausgesucht werden, weil damit nicht in einen Gegenstand eingegriffen wird, der durch einen Bannkreis moralischer Verpflichtungen geschützt ist. Der Eindruck einer moralischen Beschränkung, von dem eingangs die Rede war, scheint sich aber gewissermaßen undifferenziert auf die Verletzung menschlichen Lebens zu beziehen, also sowohl auf Menschen als auch auf Embryonen. Und damit erweist sich offenbar auch der alternative Ansatz in Bezug auf die positive Rekonstruktion dieser leitenden moralischen Intuition als enttäuschend. Doch auch in diesem Ansatz besteht die Möglichkeit, nach verborgenen Implikationen zu suchen. Ähnlich wie Habermas kann man also fragen, was es für das spätere moralische Verhältnis bedeutet, wenn ein Mensch als Gegenstand der moralischen Rücksicht das Resultat eines freien Gestaltungsprozesses ist. Mir scheint, dass durch diese freie Gestaltung das spätere moralische Verhältnis tatsächlich aufgelöst wird. Denn es besteht gerade darin, dem individuellen Potential zu seiner Entfaltung zu verhelfen, also Raum und Grundlage zu bieten und das Entfaltungsgeschehen aus dem anderen hervorgehen zu lassen. Diese Haltung des Lassens und der Sorge wird korrumpiert, wenn man zunächst einmal versucht, das entsprechende Potential auf eine bestimmte Weise zu formen. Es ist ja nicht zu leugnen, dass der menschliche Organismus doch ganz gut dazu taugt, ein menschliches Leben zu entfalten. Damit gibt es keinen Grund, in den Organismus einzugreifen, außer dem Wunsch oder der Vorliebe, dass eine bestimmte Art von menschlichem Leben stattfinde. Und genau dieser Wunsch unterläuft das moralische Verhältnis zu dem entstehenden Menschen. Folglich lässt sich der von Habermas entwickelte Gedanke, dass durch die genetische Manipulation und Selektion eine Schieflage zum späteren moralischen Gegenüber entsteht, ein Stück weit rekonstruieren. Nur wird das Problem nicht darin ausgemacht, dass diese Eingriffe das Subjekt in einer irreversiblen Weise in seiner Freiheit beeinträchtigen, sondern im Unterlaufen der Achtung vor der Entfaltung menschlichen Lebens, die sich ergibt, wenn man zunächst einmal die Haltung einnimmt, menschliches Leben, wie wir es kennen und wie es normalerweise entsteht, sei nicht wünschenswert, sondern zuvor in eine bestimmte Gestalt zu bringen. Weil diese moralische Verpflichtung gewissermaßen sekundär ist und sich nicht vom Status der Embryonen her ergibt, ist es nicht unmoralisch, embryonales Leben aus der Reproduktionspraxis herauszunehmen und zum Gegenstand der Forschung zu machen, wenn es dafür vom menschlichen Leben her Anlass gibt. Im Rahmen der Achtung für menschliche Lebewesen lässt sich Björn Sydow 92 damit verständlich machen, dass wir um des menschlichen Lebens Willen Forschungspraktiken, die humane Embryonen verbrauchen, akzeptieren, während uns Reproduktionspraktiken, die die daraus sich eröffnenden Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf den späteren Menschen freimütig in Anspruch nehmen, moralisch fragwürdig erscheinen. Kommen wir zum zweiten Typ von gestaltenden Eingriffen, zu denjenigen, die an einem Organismus vorgenommen werden, der bereits einen Menschen realisiert. Weil solche Veränderungen des Organismus zugleich Handlungen an einem Menschen sind, können sie unmittelbar daraufhin befragt werden, ob dieser darin auch auf angemessene Weise als auf seine Eigenständigkeit bezogener Bestandteil der Wirklichkeit berücksichtigt wird. Klar ist, dass eine fremdbestimmte Veränderung des Körpers mit diesem Anspruch zumindest im Fall der Umgestaltung nicht vereinbar ist. Wir können einen Menschen nicht zugleich so behandeln, dass wir ihn in der Aktualisierung seiner begrifflichen Vermögen ernst nehmen und einfach in seinen Organismus eingreifen. Zu betrachten sind also Eingriffe, zu denen andere von dem zu Verändernden legitimiert sind und damit ist danach zu fragen, welche Beschränkungen sich aus einem moralisch angemessenen Selbstbezug für die biotechnologische Selbstgestaltung ergeben. Einen moralisch angemessenen Selbstbezug wird man im Rahmen der Rücksicht auf menschliche Lebewesen nun so erläutern müssen, dass der Handelnde sich selbst Raum lässt, zu einem eigenständigen Bestandteil der Wirklichkeit zu werden, also Raum, seine begrifflichen Vermögen durch ihre Aktualisierung zu entwickeln. Im moralischen Bezug auf sich muss der Mensch sich darum kümmern, dass er in einer Umgebung steht, die ihm die Entfaltung seiner Vermögen erlaubt und er muss sich beispielsweise selbst als Autorität über die richtige Ausübung menschlicher Tätigkeiten anerkennen. Er muss dafür sorgen, dass die Ausübungen der Tätigkeit sich nicht gegen ihn wenden, dass sie nicht dazu führen, dass er sich selbst als Wesen, das auch weiter im Vollzug Wirklichkeit gewinnen muss, übergeht. Solange die technische Umgestaltung sich nun lediglich auf Eigenschaften der äußeren Gestalt aber nicht der inneren Verfassung des menschlichen Wesens bezieht, scheint mir in dieser Gestaltungstätigkeit eine moralisch unproblematische menschliche Beschäftigung zu liegen. Wenn die Eingriffe in den Organismus allerdings mit einer Umgestaltung der menschlichen Handlungsvermögen einhergehen, dann geraten sie mit der Achtung vor dem menschlichen Lebewesen in Konflikt. Denn das durch diese Vermögen und nicht durch seine Gestaltungswünsche wesentlich bestimmte Menschsein wird dann so behandelt, dass es erst noch in eine bestimmte Gestalt gebracht werden muss, bevor ihm Raum zur freien Entfaltung zugestanden wird. Umgekehrt zum Fall der technologischen Veränderung des embryonalen Organismus ist die technische Gestaltung des eigenen Menschseins also zunächst einmal moralisch fragwürdig: Wenn wir uns durch Blutdoping oder Prothesen schneller und ausdauernder machen, wenn wir uns durch Menschsein als moralischer Maßstab der biotechnologischen Menschengestaltung 93 pharmakologische Neuro-Enhancer unserer melancholischen Stimmung entledigen, um euphorisch und dauerkonzentriert eine komplexe Theorie nach der anderen zu durchschauen, wenn wir dafür sorgen, dass unsere Tätigkeiten nicht mehr von Ruhephasen und Schlaf unterbrochen werden müssen, dann gehen wir darin über jene konkrete Wirklichkeit hinweg, die das Menschsein mit uns angenommen hat und damit über die davon ausgehende moralische Verpflichtung. Es ist jedoch auch hier so, dass wir, von Fall zu Fall, gerade dieser Verpflichtung noch besser nachkommen, wenn wir uns gewissermaßen über die erste Gestalt, in der sie uns begegnet, hinwegsetzen. Denn es kann schließlich sein, dass sich für uns in unserer konkreten Beschaffenheit unter den aktuellen Bedingungen keine Entfaltungsmöglichkeit finden lässt. Auf diese Weise ließe sich der Einsatz von Konzentrations- und Gedächtnisverbesserern und von Wachmachern oder auch Geschlechtsumwandlungen rechtfertigen, zumindest solange gewährleistet ist, dass es sich lediglich um eine Modifikation des ursprünglichen menschlichen Lebewesens handelt, dass also dasjenige, um dessentwillen die Handlung unternommen wird, dabei nicht einfach verschwindet. Das ist der Fall, wenn die Veränderung die entwickelten begrifflichen Vermögen und das darin enthaltene Wissen um gelungene Verwirklichungen bestimmter Tätigkeiten nicht zerstört. Denn wenn Menschen wesentlich durch begriffliche Handlungsvermögen charakterisiert sind, dann hängt ihr Überleben als dieser bestimmte Mensch daran, dass sie mit den Lernsituationen in der Vergangenheit, in denen sie das begriffliche Vermögen ausgebildet haben, verbunden bleiben. Aus dem Begriff des Menschen als einer einfachen körperlichen Substanz mit begrifflichen Vermögen ergeben sich die Überlebensbedingungen dieser Art von Dingen als entscheidendes Kriterium zur Bewertung unserer Selbstgestaltungsvorhaben. Folglich stimmt der Ansatz mit jenen bioethischen Positionen überein, die dem Überleben bzw. der Identität eine zentrale Rolle in der bioethischen Bewertung menschlicher Selbstgestaltung beimessen (vgl. Hallich 2011). Aber die Identität ist nicht diejenige des biologischen Organismus oder der selbstbewussten oder sich selbst bewertenden Person, sondern diejenige eines körperlichen Wesens von der Art des Menschen und die moralische Relevanz dieses Überlebens lässt sich als grundlegende Weise der Berücksichtung von Menschen einsichtig machen. 5 Fazit Die handlungstheoretische Umstellung zusammen mit dem realistischen Verständnis der Handlungsvermögen erlaubt es, die Auslegung der grundlegenden Struktur der Moral als Achtung vor jedem Einzelnen, wie sie in der Kooperationsmoral gegeben wird, aufzubrechen. Die dualistische Handlungskonzeption bringt es mit sich, dass wir uns zunächst als Subjekte verstehen, die ihre je subjektiven Interessen verfolgen, Björn Sydow 94 so dass die Achtung vor jedem Einzelnen in der daran anschließenden moralischen Perspektive diese Interessen nicht unabhängig davon moralisch beurteilen kann, dass sie in das freie Handeln anderer eingreift. In der Konzeption des Handelns als einer Aktualisierung praktischer Vermögen werden Menschen nicht als andere Handlungssubjekte, sondern als eigenständige Bestandteile der Wirklichkeit zum Gegenstand der Achtung. Damit verpflichten sie uns nicht durch ihre Ausrichtung auf die Umsetzung ihrer Handlungsinteressen, sondern durch ihre Ausrichtung auf die Entfaltung ihres Menschseins. Dieser Maßstab kann sich auf die moralische Legitimität selbstbezüglicher Veränderungswünsche auswirken und er kann auch da noch moralische Beschränkungen verständlich machen, wo wir es nicht mit selbstbestimmten Subjekten zu tun haben. Dass wir bei der Gestaltung menschlichen Lebens moralische Bedenken haben, lässt sich damit so verstehen, dass wir unseren grundlegenden moralischen Verpflichtungen gegenüber Menschen, die eher etwas mit Zurückhaltung, Fürsorge und ermöglichender Anerkennung zu tun haben, dabei nicht gerecht werden, dass wir technisch auf etwas zugreifen, dem diese Art des Zugriffs unangemessen ist. Diese Unangemessenheit ergibt sich nicht daraus, dass wir beispielsweise das natürlich Gewordene für besonders wertvoll halten, sondern sie ergibt sich daraus, dass mit jedem einzelnen menschlichen Lebewesen eine Perspektive auf die Veränderungswünsche in der Welt ist. Diese Perspektive muss nicht mit der Perspektive zusammenfallen, die der Mensch mit seinen Wünschen auf sich selbst einnimmt, und genau deshalb kann sie diese Wünsche moralisch beschränken oder legitimieren. Literatur Annas, Julia (2011): Practical Expertise. In: Bengson, John/ Moffet, Marc (Hrsg.): Knowing How. 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The apparently boundless opportunities of self-design by means of human enhancement techniques evoke incertitude about our self-image as human persons. Based on the consideration that the reflection of judicial and social framework conditions alone is no adequate foundation for an assessment of human enhancement, one can infer that there is a need to renegotiate the nature of the human person, including the underpinning values. The present paper seeks to show that Nicolai Hartmann’s material ethics of value, with its conception of personality and comprehensive analysis of values (specifically autonomy and fairness), can deliver a precious contribution to contemporary bioethical issues, particularly with regard to assessing the fields and methods of human enhancement. 1 Zur Ethik Nicolai Hartmanns im Zeitalter des Human Enhancements Dass der Mensch sich und seine Umwelt aufgrund seiner besonderen Verfasstheit als Natur-Kultur-Wesen immer schon verändert und nach der steten Verbesserung seiner Fähigkeiten und spezifischen Eigenschaften strebt, ist keine neue Erkenntnis. So steht der Mensch „also im dauernden Ringen um sich selbst, dauernder Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung“ (Hartmann 1949, 104). Denn er „ist überhaupt dasjenige Lebewesen, das sich erst zu dem machen muß, was es seiner Bestimmung nach ist“ (Hartmann 1955a, 235); er muss „als Individuum sich in Zucht nehmen […], um sich auch nur auf die Höhe seiner Leistungsfähigkeit zu bringen“ (ebd., 235f.). Neben diesem Verwiesensein zur Selbstformung obliegt es, laut Hartmann, dem Menschen auch die Gemeinschaft so zu gestalten, dass sie „bestand- und lebensfähig wird“ (ebd., 242). Der rasante Fortschritt der Biotechnologien und der damit verbundene Zuwachs an Optionen, modifizierend in den Organismus einzugreifen, übertrifft die klassischen Formen der Selbstformung allerdings bei weitem Katrin Esther Lörch-Merkle 98 und konfrontiert Ethik und Anthropologie mit neuen Herausforderungen. Bereits mögliche oder zumindest antizipierte pharmakologische, chirurgische oder biotechnische Interventionen haben die „invasive“ Potenzierung physischer und psychischer Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen zum Ziel (vgl. Ach 2009, 107). Diese Praktiken des Human Enhancements sind seit einiger Zeit Gegenstand einer kontroversen fachlichen und zunehmend auch gesellschaftlichen Debatte. Neben dem genetischen Enhancement und dem Body-Enhancement (z. B. Doping) sind es gegenwärtig vor allem die Aspekte des Neuro-Enhancements, die aufgrund ihres Eingriffsorts und ihrer Eingriffstiefe unmittelbar unser Selbstverständnis tangieren und offenbar ein großes Unbehagen evozieren, insofern sie unsere allgemeine Auffassung personaler Integrität in besonderer Weise zu verändern scheinen. Die offenkundig dringend erforderliche kritische Bewertung der Selbstgestaltungsoptionen des Menschen durch Enhancement ist nun allerdings mit Unwägbarkeiten sowohl im Bereich der Praxis als auch der Theorie konfrontiert. So postuliert etwa die aus der neuzeitlichen Trennung von Ethik und Menschenbild resultierende „Minimalethik“ (Siep 1999, 11f.) laut Ludwig Siep zwar die Gewissens- und Überzeugungsfreiheit des Individuums sowie den Vorrang der privaten Lebensziele, forciert damit aber zugleich eine unumgängliche Skepsis gegenüber Werten. Aufgrund der Zuweisung der Fragen nach dem richtigen Leben und zur Erlangung von Glück in den Entscheidungsbereich des Einzelnen kann sie aber nur begrenzt zu einer allgemeinen Handreichung zum Umgang mit den neuen Möglichkeiten des Enhancements beitragen. Analog dazu basieren die Empfehlungen für die Praxis tatsächlich eher auf rechtlichen, medizinischen und sozialen Abwägungen, denn auf genuin ethischen. 1 Der oben angemerkte fachphilosophische „Pessimismus in Bezug auf Werte und Möglichkeiten philosophischer Werterkenntnis“ (Krijnen 2006, 549) wird dem menschlichen Selbst- und Weltverständnis und dem Bedürfnis nach Orientierung gegenüber den vielfältigen Herausforderungen des menschlichen Lebens jedoch sicher nicht gerecht. Das Phänomen Human Enhancement mit seinen bereits praktizierten bzw. künftig möglichen Maßnahmen und Verfahren ist von solch weitreichender Konsequenz für unser Selbst-Verständnis als Personen und das, was wir als solche für wertvoll erachten, dass ein „wachsende[s] Bedürfnis nach wertvermittelter Orientierung“ (Bohlken 2006, 118f.) und nach einer Hilfestellung bei konfligierenden Grundwerten gerade in diesem Kontext notwendig erscheint. Vor allem die mit Eingriffen ins Gehirn einhergehenden Techniken des Neuro-Enhancements machen daher die neuerliche Reflexion über die 1 Offenbar wünschen sich aber viele derjenigen, die im Rahmen ihrer praktischen oder wissenschaftlichen Tätigkeit mit der Bandbreite des Human Enhancements konfrontiert sind, eine von gesellschaftlichen Konventionen, rechtlichen Übereinkünften und empirischen Daten unabhängige prinzipien- oder wertbasierte Weisung auf einer darüberstehenden Ebene (vgl. Lieb 2010, 153ff.). Zur materialen Wertethik Nicolai Hartmanns 99 Grundlagen und Bedingungen von Personalität und die Voraussetzungen für autonomes und selbstverantwortliches Handeln notwendig. Der spezielle Bezug des Menschen als Subjekt zu Werten, gleichsam als den „Sinnkonstituenten“ der Gestaltung seiner selbst und seiner Welt (vgl. Krijnen 2006, 549), erfährt neuerdings wieder vermehrt Beachtung und findet seinen Niederschlag auch im wiedererwachenden fachphilosophischen Interesse an wertethischen Ansätzen. In diesem Kontext soll im Folgenden Nicolai Hartmanns Konzeption einer materialen Wertethik im Hinblick auf ihren möglichen Beitrag zu einer Bewertung des Human Enhancements dargelegt werden. Nach einer kurzen Einführung in Hartmanns Ethik werden diejenigen Aspekte seines Ansatzes rekonstruiert, die für eine kritische Evaluation des Enhancements und seiner Methoden als fundierend gelten können. Dabei wird zunächst Hartmanns Theorie der Werte und der Wertgesetzlichkeit unter besonderer Berücksichtigung seiner Konzeption der Werte von Autonomie und Gerechtigkeit erläutert. Im Anschluss werden seine ontologische Theorie der Person und der aus dieser Grundlage resultierende Wert der Persönlichkeit dargelegt. Ausgehend von dieser kritischen Rekonstruktion sollen die Bezugspunkte zu den jeweiligen Aspekten des Human Enhancements offengelegt und die sich daraus ergebenden Implikationen für dessen Bewertung analysiert werden. Die hier dargelegten Ergebnisse beinhalten einige Annäherungen im Rahmen eines umfassenderen Forschungsprojekts und können daher allenfalls nur in der gebotenen Kürze diskutiert werden. 2 Hartmanns materiale Wertethik im Zeitalter des Human Enhancements Hartmann entwickelt in seiner 1926 erstmals erschienenen Ethik Max Schelers Ansatz einer materialen Wertethik 2 weiter und verbindet diesen mit einer umfassenden Theorie der Willensfreiheit. Sowohl Scheler als auch Hartmann entfalten ihre Theorien in kritischer Abgrenzung gegenüber dem kantischen Formalismus und Intellektualismus (vgl. Hartmann 1935, 88- 106); darüber hinaus teilen sie die Vorstellung einer möglichen Rangordnung der Werte, die sich als a priori geltend nachweisen lassen, sowie das der Ethik inhärente Konzept von Person und Persönlichkeit, das zum Einstehen für einen ethischen Personalismus führt (vgl. Römer 2012). Der Grundgedanke der materialen Wertethik basiert auf der Idee „einer unhintergehbaren und evidenten Einsicht in das Wesen absoluter Werte, die durch die phänomenologische Methode eines ,reinen‘ Schauens ermöglicht werden soll“ (Bohlken 2006, 112f.). Werte sind für Hartmann demnach „inhaltlich-materiale und objektive Gebilde, wenn auch nicht reale Gebilde […]. 2 Scheler entwickelte die Theorie einer materialen Wertethik bereits 1916 in seinem umfangreichen Werk: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Katrin Esther Lörch-Merkle 100 Wertstrukturen sind eben ideale Gegenstände, jenseits allen realen Seins und Nichtseins“ (Hartmann 1935, 106f.). Aufgrund ihrer inhaltlichen Materialität sind sie, nach Hartmann, aber prinzipiell realisierbar und können den Inhalt sittlicher Gebote bestimmen. Um zu einer materialen Wertethik zu gelangen, die das Phänomen einer moralischen Handlung erhellen kann, muss die Phänomenologie laut Eugene Kelly (2011, 2) zum materialen Gehalt der Verpflichtung, zu den Tugenden und zum Wert der menschlichen Person hin, ausgedehnt werden. Obschon Hartmann die Ethik in seine Theorie einer neuen und kritischen Ontologie eingebettet wissen will, wird ihm oftmals zum Vorwurf gemacht, mit seiner Metaphysik der Werte deren unzulässige Substanzialisierung vorzunehmen. 3 Allerdings wird die Bedeutung seines Ansatzes vor allem in den profunden Analysen der Tugenden und der Explikation der bipolaren Ordnung unserer moralischen Bewertungen (vgl. Thies 2012, 417) wie auch im Bestreben nach einer Vermittlung zwischen Wertobjektivismus und -relativismus gesehen (vgl. Cadwallader 1984, 114f.). Die in Hartmanns gesamtem Werk zutage tretende Offenheit gegenüber allem Gegebenen und allem zukünftigen (wissenschaftlichen) Erkenntniszugewinn (vgl. ebd., 116) eröffnet die Möglichkeit, seine Ethik auch im Hinblick auf aktuelle bioethische Fragestellungen erneut zu reflektieren. Dementsprechend lässt die Axiologie Ergänzungen um solche Werte zu, wie sie gegenwärtig im Kontext der Herausforderungen des Enhancements diskutiert werden (hier etwa Natürlichkeit, Mannigfaltigkeit, Fairness). Die neuen Optionen und Techniken vor allem des Neuro-Enhancements könnten Revisionen unserer Konzepte von Autonomie und Person erforderlich machen (vgl. Quante 2010, 142). Hier wie dort kann Nicolai Hartmanns reichhaltiger Ansatz wegweisende Anknüpfungspunkte bieten, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Teilt man die grundlegende Ansicht, dass es „objektive“ Werte 4 gibt, d. h. dass Werte subjektunabhängige Gültigkeit beanspruchen, lässt sich mit Hartmanns Ansatz kritisch überprüfen, inwieweit eine materiale Ethik moralische Leitlinien bieten kann. Insofern findet die kantische Frage „Wie soll ich handeln? “, die Hartmann dem äußeren Handeln zuordnet, ihre Ergänzung in einer zweiten Grundfrage unserer inneren Stellungnahme nach dem Wertvollen. Hartmann geht es darüber hinaus also um die Fragen: 3 Hartmann postuliert aber lediglich eine „partiale Übereinstimmung idealer und realer Seinsstruktur“ (Hartmann 1935, 135). In der Replik zum Vorwurf in der zweiten Auflage der Ethik erklärt er: „Das ‚Ansichsein‘ besagt vielmehr etwas ganz Schlichtes, durchweg Nachweisbares: die Unabhängigkeit vom Dafürhalten des Subjekts - nicht mehr und nicht weniger“ (ebd., 134). 4 Dazu Krijnen (2006, 553): „Unsere Ansprüche auf Wahrheit, Gerechtigkeit usw. sind durch einen Unbedingtheitsbezug ausgezeichnet, der sich nicht auf subjektive Wertungen und reale Bedingungsverhältnisse reduzieren lässt. […] Jede Wertverwirklichung bildet ein proportionales Geltungsverhältnis, ein Verhältnis von bedingter Erfüllung und unbedingter Aufgabe. Das ist die Welt des Menschen.“ Zur materialen Wertethik Nicolai Hartmanns 101 „Wofür gilt es die Augen offen zu haben, um daran teilzuhaben? Was ist wertvoll im Leben, ja in der Welt überhaupt? Was gilt es sich zu eigen zu machen, zu begreifen, zu würdigen, um Mensch zu sein im vollen Sinne des Wortes? “ (Hartmann 1935, 8f.) 3 Nicolai Hartmanns Theorie der Werte In der Debatte um die Selbstgestaltung des Menschen, vor allem im Bereich des Neuro-Enhancements, besteht ein Dissens darüber, ob dessen Maßnahmen als wertneutral gelten können, insofern sie als „optimierte ‚Allzweckfähigkeiten‘ keinem speziellen Wertekanon verpflichtet zu sein [scheinen]“ oder ob nicht gerade in dieser Ansicht eines „Allzweck-Neuroenhancement implizit ein bestimmtes Normensystem“ (Boldt/ Maio 2009, 388) transportiert wird. Worin könnten solch implizite Wertvorstellungen bestehen? Nimmt man beispielsweise diejenigen Substanzen und Psychopharmaka in den Blick, die für den Zweck einer kognitiven Verbesserung in Frage kommen, so lässt sich feststellen, dass damit Veränderungen erstrebt werden, die allesamt auf ein Ideal von Leistung, Effizienz und Kontrolle gerichtet sind. Hier lässt sich nun kritisch nachfragen, inwieweit sich dieses auf individuelle, persönliche Ziele und Wertvorstellungen übertragen lässt. Generalisierend lassen sich die einzelnen Erwägungen wohl zwei divergierenden Fragekomplexen zuordnen: Ist mit der Selbstgestaltung des Menschen durch Human Enhancement ein Wert an sich verbunden, der womöglich ein Gebot zu Potenzierung und Optimierung rechtfertigen kann (vgl. hierzu kritisch Siep 2006, 22) oder lässt sich „ein Kanon von Werten formulieren, der durch das Enhancement verletzt werden könnte? “ (Boldt/ Maio 2009, 389). Welchen Beitrag zur Lösung dieser Fragenkomplexe kann die Axiologie von Hartmanns materialer Ethik leisten? Hartmanns Wertlehre basiert auf einer groben Unterscheidung in Güter- und Sachverhaltswerte sowie Personbzw. Aktwerte, wobei Werte für ihn „Prinzipien des Tunsollens [sind] und unverkennbar den Charakter von Geboten, von Imperativen tragen“ (Hartmann 1935, 18). Die Güter- und Sachverhaltswerte bilden gewissermaßen das Fundament für die eigentlich sittlichen Werte. Sie lassen sich als „dem Subjekt anhaftende Wertfundamente“ (vgl. ebd., 309-335) und damit als anthropologische Präsuppositionen der Ethik fassen. „Die höheren, im engeren Sinne sittlichen Werte sind ausschließlich Person- und Aktwerte. Sie haften nicht Dingen und Verhältnissen an, sondern der Handlung, dem Willen, der Absicht, der Gesinnung“ (ebd., 128). Der Ethik liegen vier Prinzipien als sittliche Grundwerte zugrunde, die von den spezifischen und nicht-moralischen Werten (vor allem technische und zweckrationale sowie ästhetische Werte) abgegrenzt sind: Beim ersten Grundprinzip handelt es sich um das im intendierenden Akt, in einer Handlungsabsicht, selbst verortete Gute. Zwar lässt sich das Gute nicht präzise definieren, es kann aber als die Teleologie des höheren Werts (vgl. ebd., 345- Katrin Esther Lörch-Merkle 102 347) bezeichnet werden - als die immer wieder neu einsetzende Präferenz eines Werts gegenüber anderen Werten oder Handlungen. Hartmann greift hier die Idee einer raison du cœur auf als „eine Ordnung eigener Art, mit eigenen Gesetzen, die sich intellektuell nicht beweisen lässt, aber ebenso sehr jeder intellektuellen Gegenargumentation spottet“ (ebd., 353f.). Das zweite normative Prinzip, das Edle, übertrifft als aristokratisches oder elitäres Ideal das Gute, insofern es sich „axiologisch gleichsetzen [lässt], dem Guten plus einem Novum“ (ebd., 359). Denn selbst „wenn alle gut sind, können wenige darüber hinaus noch edel sein“ (Thies, 2012, 422). Die aristotelischen Tugenden wie Großzügigkeit und Hochherzigkeit sind beispielsweise Merkmale des Edlen. Beim dritten normativen Grundprinzip handelt es sich um die Fülle als „die innere Haltung des allseitigen Geöffnetseins“ (Hartmann 1935, 366). Im Unterschied zum edlen Menschen, der sich an den höchsten Prinzipien orientiere, sei der an der Fülle Teilhabende, der also um die vielfältigen, im Vollzug des Lebens entstehenden Wertkonflikte weiß, an deren Synthese interessiert (vgl. Thies 2012, 422). Als letztes der vier Grundprinzipien führt Hartmann die Reinheit an, die er in direkter Opposition zur Fülle entwickelt und als „die christliche Urtugend“ (Hartmann 1935, 371) bezeichnet. Nach dieser allgemeineren Darlegung normativer Prinzipien folgt, darauf aufbauend und in Annäherung an eine systematische Tugendethik, die präzise und detaillierte phänomenologische Analyse der speziellen sittlichen Werte. Darunter lässt sich eine größere Anzahl feststellen - namentlich etwa die Werte der Demut und der Bescheidenheit, der Beherrschung, die aristotelischen Tugenden und nicht zuletzt die Fernstenliebe -, die als Folie für eine kritische Untersuchung des Enhancements in Betracht kommen. Aufgrund ihrer Einschlägigkeit für die gegenwärtige Debatte sind im vorliegenden Kontext aber sicherlich Hartmanns Bestimmungen der Persönlichkeit, der Autonomie und der Gerechtigkeit am bedeutendsten. 4 Der Wert der Willensfreiheit: Ohne Autonomie keine Ethik Hartmann widmet den kompletten dritten Teil der Ethik dem Problem der Willensfreiheit, wobei seine Auffassung hierüber in den Annahmen der Schichtenontologie gründet. So geht Hartmann bekanntermaßen von einem „Schichtenbau der Welt [aus, der] durch das Verhältnis der Kategorien (Prinzipien und Gesetze) der sich überlagernden Schichten bestimmt [ist, wobei es] Freiheit von Stufe zu Stufe in jeder höheren Schicht gegenüber der niederen [gibt]“ (Hartmann 1958, 336). Damit ist die „Willensfreiheit des Menschen als moralischer Person nur ein Spezialfall“; sie kann eben nur vom ontologischen Grundgesetz aus verstanden werden (vgl. ebd., 336f.). Als Vertreter eines deterministischen Kompatibilismus entwickelt er seine Theorie gegenüber drei Instanzen: „1. [der] Kausalität und [der] ganzen Reihe der Determinationen, 2. [dem] Sittengesetz mitsamt dem Sternen- Zur materialen Wertethik Nicolai Hartmanns 103 himmel von Werten und 3. [der] Person, die mitten im Weltlauf steht und die Entscheidungen fällt“ (Hartmann 1956, 181). Die kantische Willensfreiheit, welche der determinierten Seinsgesetzlichkeit entgegensteht (Kausalantinomie), betrachtet er dabei gleichsam als „Vorstufe“ von Autonomie, fordert darüber hinaus aber auch die Freiheit des Menschen gegenüber dem Sollen („Antinomie von Sollen und Wollen“), denn nur „das Wertentsprechen eines freien Wesens, eines Wesens, das den Werten gegenüber ‚auch anders kann‘, ist Sittlichkeit“ (Hartmann 1935, 628). Mit dem Wert der Willensfreiheit als „die dem personalen Wesen eigenartige Dignität“, sich auch gegen die ihn bestimmenden Prinzipien widersetzen zu können, legt Hartmann das Gewicht auf die besondere Potenz der positiven Entscheidung, auf die „Selbstbestimmung der Person in der Zielrichtung ihrer ethisch intentionalen Akte“ (ebd.). Autonomie ist in den gegenwärtigen Debatten der Bioethik von immenser Bedeutung. Es ist allerdings bemerkenswert, das zumeist gerade nicht der kantische Ansatz, der die Pflicht zur moralischen Selbstgesetzgebung aus Vernunft postuliert, sondern vielmehr der liberalistische Entwurf John Stuart Mills, der von der Souveränität der je eigenen Lebensführung ausgeht und daher die Nichteinmischung Dritter fordert, die theoretische Grundlage der bioethischen Argumente bildet (vgl. Talbot 2009, 168f.). Im Hinblick auf die Selbstgestaltung des Menschen durch Enhancement ist die Argumentationslinie damit insofern vorgezeichnet, als unter Rekurs auf die Autonomie dem persönlichen (und damit selbstverantwortlichen) Wunsch nach Verbesserung zu entsprechen wäre. Eine gängige Kritik am Autonomiebegriff Kants bezieht sich auf die starke Orientierung am Prinzip - damit also auf die Betonung einer „prinzipienbasierten“ und gerade nicht „individuellen Autonomie“ (vgl. O’Neill 2002, 83). Hartmanns starkes Konzept der Willensfreiheit stellt dagegen ihre individuelle, an der Person orientierte Komponente in den Vordergrund. So behauptet er gegen Kant, dass die Sollensforderungen „den Willen niemals vollständig bestimmen, […] immer nur Tendenzen bleiben“ (Tengelyi 2012, 287). Damit lässt sich die persönliche Freiheit den Sollensforderungen gegenüber als „Freiheit des Für und Wider“ (Hartmann 1935, 626) charakterisieren. Die in der jeweiligen Situation stehende sittliche Person zeichnet sich durch die Selbstbestimmung des Willens im Hinblick auf einen Sollenskonflikt, als einen „Konflikt von Wert und Wert“ (ebd., 688f.), aus. Diese Selbstbestimmung erweist sich als echte, wertbasierte „Wahlfreiheit“ (ebd., 710), als die Möglichkeit, aktiv für eine von den in dieser Situation konfligierenden Sollensforderungen einzutreten. Mit seinem Autonomiebegriff greift Hartmann also die kantische Selbstgesetzgebung auf und erweitert sie um das Moment der in der konkreten Situation mit einem Sollenskonflikt konfrontierten Person. Deren Selbstbestimmung ist allerdings nicht als reine Selbstverwirklichung zu verstehen, sondern als wertbasierte und insofern sittliche. Katrin Esther Lörch-Merkle 104 5 Der Wert der Gerechtigkeit als Konzeption der Fairness In der Debatte um Human Enhancement nehmen die Fragen von Gerechtigkeit und Fairness einen bedeutenden Platz ein. Vor allem im Zusammenhang mit dem Neuro-Enhancement erhalten sie eine besondere Brisanz, weil es hier „um die Modifikation wichtiger Schlüsselkompetenzen“ (Talbot/ Wolf 2006, 265) geht und ein gerechter Zugang hierzu ebenso für die individuelle Entwicklung und Entfaltung des Menschen wie auch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung von immenser Bedeutung ist. Kritiker eines (radikalen) Enhancements befürchten, dass dessen Optionen nicht gleichermaßen allen Bürgern zugänglich wären, hierdurch das Recht auf Chancengleichheit unterlaufen würde und schlimmstenfalls zu einer „drastischen Form der Zwei-Klassen-Gesellschaft“ (Gesang 2009, 225) führe. Dieses Szenario scheint deswegen so bedrohlich, insofern es „unseren Vorstellungen von der Gesellschaft in der wir leben wollen und auch unserem (westlichen) Selbstbild [widerspräche], weil zu beidem eine gewisse soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit hinzugehört“ (ebd., 225f.). Zwar beinhalten Erwägungen zu Aspekten der Zugangsgerechtigkeit nicht die Frage nach der moralischen Zulässigkeit von Enhancement per se, sondern setzen sich auf einer zweiten Ebene damit auseinander, „wie der Zugriff auf die Mittel zu organisieren ist“ (ebd., 266). Geht man nun aber davon aus, dass Chancengleichheit und (soziale) Gerechtigkeit gleichsam fundierende Werte darstellen, 5 so beeinflusst das Ergebnis dieser Erörterungen dennoch auch wieder die erste Ebene, d. h. die Frage nach der generellen Zulässigkeit. Ließe sich also gerechter Zugang nicht realisieren, sondern entstünden im Gegenteil weitere soziale und intellektuelle Ungerechtigkeiten, so wäre auch die erste Frage danach, ob es überhaupt einen gerechtfertigten moralischen Zugriff gibt, nur mehr abschlägig zu beantworten. Im Zusammenhang mit der Potenzierung und Optimierung individueller Leistungen sind neben der Erörterung der Fragen der Zugangsgerechtigkeit darüber hinaus auch jene den Wettbewerb betreffenden Fragen der Fairness zu verhandeln. Der intersubjektiv aufzufassende Grundbegriff der Gerechtigkeit gilt allerdings als einer der umstrittensten der praktischen Philosophie. Ein weitgehender Konsens besteht darin, dass darunter dasjenige zu verstehen ist, was wir uns gegenseitig schulden (vgl. Mazouz 2006, 371) und Gerechtigkeit 5 Hartmann verwirft gewissermaßen die platonische Konzeption der Gerechtigkeit als höchster Tugend, insofern er ihr eine Vorrangstellung gerade in ihrer Form als unterste Tugend attestiert. Dabei sei das „Wesentliche an ihr in der Rechtlichkeit des Verhaltens, d. h. in der Übereinstimmung mit den für alle Menschen gleichmäßig geltenden Einschränkungen ihres Handelns durch Recht und Sitte.“ Damit „bedeutet diese Rechtlichkeit das Mindestmaß des sittlichen Anspruchs, das zunächst einmal erfüllt sein muß und auf dem dann alle höheren Forderungen aufbauen.“ (Bollnow 1952, 86f.) So „schafft die Gerechtigkeit den Spielraum für die höheren Werte in der Wirklichkeit“ (Hartmann 1935, 384). Zur materialen Wertethik Nicolai Hartmanns 105 somit strikt reziprok ist. Das bedeutet auch, dass alle Lebewesen, die die Voraussetzung, als moralische Akteure gelten zu können, nicht erfüllen, aus einer solchen Konzeption der Gerechtigkeit herausfallen. Damit wird es auch schwer, Gerechtigkeitsforderungen gegenüber zukünftigen Generationen einzuholen. Im Rahmen der Bewertungen des Enhancements sind aber auch die Fragen von Interesse, die versuchen, die Langzeitfolgen, vor allem massiver Eingriffe in den menschlichen Organismus, im Hinblick auf zukünftige Generationen abzusehen. Hartmann interpretiert Gerechtigkeit zunächst im Zusammenhang mit Recht und Gleichheit. Dabei unterscheidet er im Rahmen seiner Axiologie Gerechtigkeit als Sachverhaltswert, als Gut für den Menschen, von Gerechtigkeit als Aktwert der Person, als sittlicher Wert (vgl. Hartmann 1935, 382). Insofern Gerechtigkeit zunächst nur ein Minimum an sittlicher Anforderung stellt, nämlich nichts Unrechtes zu tun, ist ihr Wert als elementarster, niederster Tugendwert zu verstehen. Geht Gerechtigkeit im Schutz der elementaren Güter (Leben, Eigentum, Familie) vollständig auf, „so ist sie nur Mittelwert für jene Güterwerte“. Ermöglichen diese Güterwerte wiederum „etwas moralisch Positives, die Freiheitssphäre der Person“ (ebd., 383), so sieht Hartmann darin noch etwas weit Größeres, da es das Zusammenleben sowie den solidarischen und fairen Umgang der Personen untereinander betrifft (vgl. ebd., 386-388). Die Gewährleistung der Gerechtigkeit mittels des Rechts und der Gesetzgebung „mit seiner objektiven Ordnung und Gleichheit [als] Schutzinstanz“ (ebd., 384) ist gleichsam die „Vorbedingung aller weiteren Wertverwirklichung“ und bildet das Fundament für „alle höheren geistigen, alle eigentlichen Kulturwerte, [die nur] erblühen können, wo Leib, Leben, Eigentum, persönliche Handlungsfreiheit usw. sichergestellt sind“ (ebd.). Alle Maßnahmen, die der Gerechtigkeit bereits als fundierendem Sachverhaltswert zuwiderlaufen, dürften gemäß Hartmanns Auffassung wohl kaum gebilligt werden, insofern sie darüber hinaus auch der Ausbildung eines höheren sittlichen Ethos zuwiderliefen. Im Hinblick auf die Schwierigkeit, Gerechtigkeitsforderungen zugunsten zukünftiger Generationen stark zu machen, muss der von Hartmann postulierte Wert der Fernstenliebe in seinem Verhältnis zur Gerechtigkeit erwähnt werden. Denn Hartmann bezeichnet diesen Wert als „Verantwortung gegenüber künftigen Generationen“ (ebd., 444f.). Dabei bildet die Gerechtigkeit als eine Art Vorstufe die Grundlage der Fernstenliebe. Hier gilt es zu berücksichtigen, dass Personen prinzipiell zukunftsorientierte Entitäten sind, die Annahme einer Verantwortung für die Zukunft mithin eine konstituierende Eigenschaft von Personalität darstellt (vgl. Poli 2008, 601). Eine Zulässigkeit biotechnologischer Optionen der Verbesserung derzeitiger und zukünftiger Generationen wäre damit nur im engeren Rahmen unseres personalen Selbstverständnisses zu erlauben. Denn Veränderungen, die derartig weitreichend wären, dass sich ihre Nutznießer nicht mehr als Personen verstehen können, würden das Katrin Esther Lörch-Merkle 106 Konzept der Person selbst ad absurdum führen. Ob es sich in Hartmanns Ethik hier um die Idee einer transgenerationalen Gerechtigkeit im Sinne von Nachhaltigkeit handelt, oder ob der damit in Verbindung stehende Fortschrittsgedanke überwiegt, 6 müsste eine kritische Überprüfung erweisen. 6 Die Theorie der Person als Grundlage der Ethik Wie eingangs bereits erwähnt, verursachen die Techniken des Enhancements, insbesondere des Neuro-Enhancement, Unsicherheit, insofern sie unser „gattungsethisches Selbstverständnis“ (Habermas 2001, 76) als Person und der personalen Integrität in ganz besonderer Weise zu unterlaufen scheinen. Grund hierfür ist, dass nicht länger nur die „äußere Natur oder [der] menschliche Körper Angriffspunkt der Veränderungsmaßnahmen [sind], sondern Psyche und Geist des Menschen“ (Bold/ Maio 2009, 384) und damit gewissermaßen die Wesenseinheit der Person als solche zum Gegenstand der Selbstgestaltung wird. Anders als der Rekurs auf den intrinsischen Wert der Natur des Menschen, scheint der Begriff der Person eine Brückenfunktion zwischen Anthropologie und Ethik zu bilden und damit auch die normative Aufladung der menschlichen Natur plausibel zu machen (vgl. Bohlken 2009, 433). Daher ist er als Referenzpunkt für die Bewertung von Enhancement besonders geeignet. Wie aber müsste ein konsistenter Entwurf von Person beschaffen sein? Neben der detaillierten Ausarbeitung der Wertlehre ist es vor allem Hartmanns reichhaltige Theorie der Person, die eine erneute Betrachtung gerade im Hinblick auf eine mögliche Nutzbarmachung in der Bioethik lohnt. Hartmann entwirft sie im Rahmen der neuen kritischen Ontologie als Gegenentwurf zu strikt naturalistischen sowie idealistischen und teleologischen Ansätzen (vgl. Hartmann 1955a, 216). In seinem sogenannten Schichtenmodell unterscheidet er „die Schichten des Physisch-Materiellen, des organisch Lebendigen, des Seelischen, des geschichtlich Geistigen“ (Hartmann 1958, 334). Diese Schichten überlagern sich in konkreten Seinsgebilden, die je nach Anzahl der Schichten den unterschiedlichen Stufen materielles Ding, Lebewesen, Lebewesen mit Bewusstsein und schließlich Mensch angehören. Mit Hilfe seiner „kategorialen Gesetze“ (vgl. Hartmann 1926, 201-266) verdeutlicht Hartmann die schichtenübergreifenden Dependenzverhältnisse zwischen den kategorialen Schichten (vgl. Wunsch 2012, 156f.). Für den vorliegenden Kontext von zentraler Bedeutung ist dabei das folgende Grundgesetz: „Die höheren Kategorien setzen immer eine Reihe niederer schon voraus, sind aber ihrerseits in diesen nicht vorausgesetzt“. Weiter erklärt er, dass die höhere Kategorie „also allemal die bedingtere, 6 So spricht Hartmann selbst von der Ungleichheit gegenwärtiger und zukünftiger Generationen, wenn er die Entwicklungsfähigkeit im Sinne des „Menschentumspotentials“ begreift (vgl. Hartmann 1935, 448f.). Zur materialen Wertethik Nicolai Hartmanns 107 abhängigere und in diesem Sinn schwächere“ sei (Hartmann 1926, 248). Diese Annahme der einseitigen Voraussetzung der niederen Kategorien durch die höheren lässt nun verschiedene Lesarten zu: Matthias Wunsch zufolge könnte eine starke Lesart „besagen, dass Lebenskategorien auf Geisteskategorien hin angelegt sind oder dass die Beschaffenheit der Geisteskategorien weitgehend von der der Lebenskategorien abhängig ist“ (Wunsch 2012, 158). Hartmann selbst betont: „Denn nicht einfach in reinen Kategorien des Organischen, Seelischen und Geistigen kann das spezifisch Menschliche aufgehen, sondern offenbar erst in den besonderen Formen ihres Ineinandergreifens“ (Hartmann 1955a, 220). Hartmann bestimmt dieses Ineinandergreifen, diese „Synthese von Natur und Mensch“, zweifach: im ersten Sinn als das anthropologische Grundverhältnis von Mensch und Natur und im zweiten Sinn als das „wichtigste Schichtenverhältnis von Innen- und Außenwelt im mehrschichtigen Menschenwesen“ (ebd., 220). Es ist diese doppelte Naturgebundenheit, die den Menschen aus sich selbst heraus gefährdet. Zweifelsohne ist der Mensch geistiges Wesen, er ist es aber eben nicht ausschließlich und „zwischen dem leiblichen und geistigen Leben besteht eine Wechselbeziehung eigener Art“ (Hartmann 1949, 105). Das bloße Interesse an Selbstverwirklichung und Fortschritt des Geistigen, ohne Berücksichtigung des Leiblichen führt zu „Raubbau am Leben und Selbstvernichtung“ (ebd., 105). Hartmanns Schichtenontologie - unter Berücksichtigung der kategorialen Gesetze - könnte sich in zweierlei Hinsicht als anschlussfähig für die heutige Debatte erweisen. Einerseits könnte sie in der zeitgenössischen Philosophie der Person - als Unterfütterung zur Konstitutions-Auffassung 7 - einen grundlagentheoretischen Beitrag zum Person-Körper-Problem liefern (vgl. Wunsch 2012, 165). Andererseits kann Hartmanns Konzeption im Umkreis derjenigen Ansätze ihren Stellenwert beanspruchen, die aus der Perspektive der Leiblichkeit der Person den Technologien des Enhancements kritisch gegenüber stehen. 7 In der zeitgenössischen Philosophie des Geistes und der Person ist die Frage nach der Beziehung zwischen mentalen und physischen Eigenschaften bzw. zwischen Person und Organismus von Bedeutung. Wie müsste eine Ontologie der menschlichen Person beschaffen sein, „die eine Alternative zur monistischen des Materialismus als auch zur dualistischen Descartes’ darstellt [und diese] ‚Einheit in der Verschiedenheit‘“ (Wunsch 2012, 165f.) bzw. diese „unity without identity“ (vgl. Baker 2000) zu explizieren vermag? Insofern auch in der zeitgenössischen Metaphysik wieder Positionen vertreten werden, die mit den Begrifflichkeiten von „ontological levels“ oder „ontological novelty“ (vgl. Baker 2007) operieren, kann Hartmanns „Neue Ontologie“ hierfür mit ihrem Zugang zur menschlichen Personalität über zwei grundlegende Dimensionen („naturphilosophisch […] ,von unten, d. h. den niederen Stufen her’ […] zum andern geistphilosophisch ,von der Seite her‘“) einen Lösungsansatz anbieten, wie Matthias Wunsch (2012, 251f.) überzeugend darlegt. Dabei sei es gerade dieser geistphilosophische Zugang „ausgehend von den dem personalen Geist nebengeordneten Grundkategorien des geistigen Seins, vor allem dem objektiven Geist […] [der ihn] für die Auseinandersetzung mit der ,Constitution View‘ Bakers so interessant macht“ (ebd., 252). Katrin Esther Lörch-Merkle 108 Mit dieser im Horizont der Ontologie entwickelten „anthropologischen“ Fassung der Person rekurriert Hartmann in seinen späteren Schriften (vgl. Hartmann 1955a, 221) explizit auf Gehlens Konzept des „Mängelwesens“ (vgl. Gehlen 2013). Hartmann deutet dieses aber eminent positiv, insofern der Mensch sich als seelisch-geistiges Wesen über seine organische Naturbasis erhebt und seine Welt sinnstiftend gestalten muss. Aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten vermag der Mensch schließlich in den Bereich des Sittlichen einzutreten. Aus diesem Grund ist Hartmanns anthropologische Fassung der Person für seine Ethik allerdings noch nicht ausreichend. Die kategorialen Grundbestimmungen von Zwecktätigkeit, Freiheit und Wertbewusstsein als Novum über die vierfache Schichtung des Menschen hinaus entwerfen die in der Gemeinschaft stehende Person als sittliches und verantwortungsfähiges Wesen (vgl. Hartmann 1958, 336). Damit ist die Person „kein bloß ontologisches Wesen mehr, [sondern] auch [ein] axiologisches, [insofern sie in ihrem Verhalten,] Träger sittlicher Werte und Unwerte ist“ (Hartmann 1935, 206). Die Einheit und Ganzheit des Menschen wird erst offenbar in der Person und ist erreichbar durch die Realisation von Werten. Denn erst der Wert bzw. das Ethos der Persönlichkeit als höchster Ausdruck von Personalität erfasst ihr je individuell ethisches Sein. Ihre Grundlage bildet die Erfüllung der sittlichen Forderung, wobei Wertfühlen und Handeln in eins fallen (vgl. Hartmann 1955b, 311-318). 7 Fazit Die Techniken des Human Enhancements stellen unweigerlich eine Projektionsfläche dafür dar, was uns als sozialen Wesen und als individuell autonom agierenden Personen, wertvoll und darum erhaltens- oder auch erstrebenswert erscheint. Die Konzeption eines mehrdimensionalen Wertreichs und der Bipolarität von Moral weist Hartmann als einen jener Denker aus, die einen Ausgleich des offenbar Divergierenden anstreben und dabei nach einer „Einheit der Ethik […] über der Vielheit der Moralen“, also nach einer „Synthese des an sich Antithetischen“ (Hartmann 1935, 33f.), suchen. In diesem Zusammenhang führt Hartmann die Unterscheidung von Werthöhe und Wertstärke ein, wobei beide Dimensionen durch Abstufungen gegenläufiger Rangordnung gekennzeichnet sind. Er orientiert sich dabei am moralischen Fühlen. Auf der einen Seite steigt so die Wertschätzung (nach oben hin Zunahme des Gefühls), wohingegen die andere Seite verbunden ist mit starken Gefühlen am unteren Ende der Skala (dementsprechend Abnahme des Gefühls nach oben hin). Ein Beispiel wäre etwa die negative Pflicht, Versprechen zu halten, deren Einhaltung allerdings weit weniger Anerkennung finden dürfte, als die Erfüllung positiver Pflichten wie z. B. Hilfeleistungen (vgl. Thies 2012, 424f.). Es gilt, beide hierarchische Ordnungen in der Synthese zu vereinen und damit „die niederen Werte nicht zu verletzen und Zur materialen Wertethik Nicolai Hartmanns 109 zugleich die höheren zu realisieren“ (Hartmann 1935, 608). Diese Vorstellung der bipolaren Ordnung der moralischen Gefühle lässt sich, wie ich meine, auf die aktuelle Debatte um die Zulässigkeit der Methoden des Human Enhancements übertragen und zwar im Hinblick auf die Konsistenz unserer grundsätzlichen moralischen Einstellungen und Haltungen und dem ihnen zugrundeliegenden Menschenbild. So lässt sich aus Hartmann’scher Perspektive argumentieren, dass sowohl die fundamentalen, „konservativen“ Enhancement-Gegner als auch dessen „liberale“ Befürworter irren, indem sie durch ihre jeweilige Perspektive lediglich „für die Hälfte der Moral“ (Hartmann 1935, 555) plädieren. So favorisieren die Vertreter der konservativen Richtung eine rückwärtsgewandte Ethik der Wertstärke unter Preisgabe der Werthöhe, realisieren jedoch nicht, dass sich „die Sinnerfüllung des Menschentums“ (ebd., 557) in der Höhe, mithin sich im Erheben des menschlichen Geistes zeigt (vgl. Cadwallader 1984, 119). Umgekehrt verfolgen die Vertreter liberaler Sichtweisen eine ausschließlich fortschrittsorientierte Ethik und übersehen dabei, dass Werthöhe ohne fundierende Wertstärke schlussendlich zu einer „Korrosion“ von innen heraus führen muss (vgl. ebd., 119f.). Hartmann, der „die Idee der Synthese beider Vorzugstendenzen“ verfolgte, gemahnt daher: „Das Geheimnis sittlicher Progressivität liegt darin, daß es nur ein Vorrücken auf der ganzen Linie gibt, nicht aber in Bruchstücken, - daß mit der Tendenz auf das Höchste immer zugleich auch die Tendenz auf das Elementarste wachsen muss“ (Hartmann 1935, 557). Hartmanns ganzheitlicher Entwurf der Person basiert auf seiner anthropologischen Konzeption der Person - in ihrer späteren Fassung in Auseinandersetzung mit Arnold Gehlens Mängelwesen - sowie seinen kategorialen Annahmen der Schichtenontologie und gipfelt schließlich in der Axiologie der materialen Wertethik. Die Autonomie als bedingender Grundwert für Personalität und die Mannigfaltigkeit der weiteren Persönlichkeitswerte gewährleisten zusammengenommen die Einheit der Person und ermöglichen die Heranbildung der Persönlichkeit. Die Persönlichkeit des Menschen in ihrer wertvermittelten Einheit muss mit Hartmann wohl als unverfügbar angesehen werden. Wann immer die neuen Bio- und Medizintechnologien ein zu einseitiges Bild des Menschen als einem Subjekt, das beliebig zum „Gestalter seiner Selbst“ wird, propagieren (vgl. Maio 2008, 222-225), lässt sich unter Bezugnahme auf Hartmanns Konzeption der Person in individualethischer Stoßrichtung gegen einen Konformismus der Werthaltungen argumentieren. Die Axiologie kann hierbei eine Orientierung bieten, die Person in ihrer leiblich-geistigen Verfasstheit zu schützen. Verbesserungsmaßnahmen, die mit einer Veränderung der Persönlichkeit einhergehen, wären damit aufgrund der Gefahr einer einseitigen Wertrealisation abzulehnen. 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Due to the fact that his work is extensive, these investigations were concentrated on statements he made in Cultural Philosophy, part one and two. What has been missing so far is a solid analysis of his posthumously published third part of Cultural Philosophy. This gap of investigation explains why the reception of Schweitzer’s ethics fluctuates between agreement and denial. In my essay, I fill this gap with an analysis of his special definitions and show their meanings in the context of his ethical writings. I reconstruct his ethics on these results and explain how it could be used to address specific bioethical problems. 1 Einleitung Die Ethik Albert Schweitzers nimmt in philosophischen Debatten bisher eine Randstellung ein. Daran haben auch in den letzten Jahren erschienene Artikel und Sammelbände (vgl. Hauskeller 2006; Altner u. a. 2005) wenig ändern können. Dies liegt zum Teil an der eher appellativen als wissenschaftlichen Sprache Schweitzers, die einen analytischen Zugang zu seinem Werk erschwert. Darüber hinaus sind die Schriften Schweitzers zur Ethik sehr umfangreich und ein großer Teil seiner ethischen Überlegungen ist erst in den Jahren 1999 und 2000 im Rahmen der Nachlasswerke veröffentlicht worden. An seine bekannteren Ausarbeitungen zur Kulturphilosophie, die 1923 veröffentlicht wurden, Verfall und Wiederaufbau der Kultur (Schweitzer 2007a) und Kultur und Ethik (Schweitzer 2007b) schließen sich vier Entwürfe zu einem dritten Teil der Kulturphilosophie an. Diese Entwürfe, die er in den Jahren von 1931-1945 verfasste, bezeichnet Schweitzer selbst als „chaotisch“ (Günzler 1999, 18). Er greift hier zum Teil Gedanken wieder auf, die er bereits in Kulturphilosophie I und II ausgeführt hat und weitet diese Überlegungen aus. Bisher fehlte eine solide Analyse der Nachlassschriften Schweitzers, um eine Anwendung auf die sich in der Praxis stellenden moralischen Probleme der verschiedenen Biotechnologien auf einem festen Fundament durchführen zu können. Dieses Forschungsdefizit trägt sicherlich dazu bei, Sabine Pohl 114 dass die Meinungen zur Anwendbarkeit der Ethik Schweitzers zwischen großer Begeisterung und völliger Ablehnung schwanken. Dabei bietet der biozentrische Zugang des Prinzips der Ehrfurcht vor dem Leben eine interessante Ausgangsposition, besonders in Hinblick auf bioethische Fragestellungen (vgl. M. Schüz 2005; G. Schüz 2005). Unter Ehrfurcht vor dem Leben versteht Schweitzer zusammengefasst die moralische Berücksichtigung allen Lebens aufgrund der Eigenschaft, am Leben zu sein. Sie ergibt sich aus dem Willen zum Leben, den der Mensch in sich selbst wahrnimmt. Schweitzer bestimmt daher Ethik als „Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben in mir und außer mir“ (Schweitzer 2007b, 312). Im Folgenden soll skizziert werden, ob und unter welchen Voraussetzungen Schweitzers Ethik auf bioethische Konfliktfälle anwendbar ist. 2 Historische Einordnung des Werkes Albert Schweitzers Um Schweitzers kulturkritisches Denken verstehen zu können, ist es sinnvoll, sein Werk im Kontext des Zeitgeists, in dem er seine Kulturphilosophie verfasst hat, einzugliedern. Durch die zunehmende Industrialisierung kam es im 19. Jahrhundert zu einer vermehrten Verstädterung; immer mehr Menschen verließen ihr landwirtschaftlich geprägtes Lebensumfeld. In den Städten waren sie in den Fabriken tätig; während das Leben in der vorindustriellen Zeit stark von Umweltbedingungen abhängig war, orientierten sich die Arbeitszeiten in den Fabriken nicht mehr am natürlichen Verlauf der Tages- oder Jahreszeiten. Die Verschiebung des Lebensmittelpunktes in die Städte wirkte sich aber nicht nur auf die individuellen Lebensumstände der Menschen aus, sondern hatte auch Folgen für soziale und gesellschaftliche Beziehungen (vgl. Görtemaker 1986, 154). Die während der landwirtschaftlich geprägten Epoche gepflegten Familienverbände wichen immer mehr zufälligen Lebenskonstellationen (vgl. Göhre 1979, 156f.). Da die Fabrikarbeiter nicht gewerkschaftlich organisiert waren oder von staatlicher Seite geschützt wurden, war das Arbeitspensum hoch und die Bezahlung in der Regel niedrig (vgl. Henning 1996, 285). Große Teile der Bevölkerung lebten unter schlechten Bedingungen: Die Versorgung mit Lebensmitteln gestaltete sich im städtischen Raum schwierig und durch den raschen Bevölkerungsanstieg in den Städten war zu wenig Wohnraum für die städtische Bevölkerung vorhanden (vgl. ebd., 288). Diese gesellschaftlichen Veränderungen wurden von Schweitzer kritisch beobachtet. In seiner Kulturphilosophie setzt er sich intensiv mit ihnen auseinander und analysiert die Folgen, die aus der massiven Wandlung des Lebens der Menschen - weg von der Landwirtschaft hin zur Industrie - folgten. Immer wieder spricht er in diesem Kontext von einer „Entfremdung“ des Menschen von seinem natürlichen Lebensumfeld als direkte Folgeerscheinung der Industrialisierung. So sei der Mensch immer stärker fremdbestimmt, entfremde sich von sich selbst, seinen Mitmenschen Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben und die Bioethik 115 und seiner Umwelt und verlöre infolge dessen auch die Fähigkeit, selbstständig und unabhängig zu denken (vgl. Schweitzer 2007a, 23-32). Auch in Kulturphilosophie III spielt die These des Kulturverfalls eine zentrale Rolle für Schweitzer: „Die so vielfache Abhängigkeit, in der sich der moderne Mensch im Vergleich zum früheren befindet, beeinträchtigt seine Entwicklung. Seine geistige Selbständigkeit ist vermindert. Er ist in abnormer Weise beeinflußbar. Die übermäßige Inanspruchnahme durch die Arbeit erschwert es ihm außerordentlich, die Zeit, die Sammlung, die Innerlichkeit und die Energie aufzubringen, sich auch als geistiges Wesen zu erleben. Er ist in Gefahr, an oberflächlicher Bildung Genüge zu finden und in armseliger Zerstreuung Ausruhen und Ablenkung von sich selber zu suchen. Schon fängt er an, die Mentalität einer illustrierten Zeitschrift zu haben. Wahre Kultur setzt Freie voraus. Da die modernen Verhältnisse die Verminderung wirtschaftlicher Unabhängigkeit und geistiger Selbständigkeit im Gefolge haben, hemmen sie die Kultur.“ (Schweitzer 2000, 339) Diese Beobachtungen motivieren Schweitzer, sich auf die Suche nach einer neuen Moral zu begeben. 3 Der Verfall der Kultur Weil Schweitzer von einem Verfall der Kultur spricht, muss zunächst geklärt werden, was er unter den Begriff der Kultur fasst. Er schreibt dazu: „Kultur ist nicht Literatur und Kunst - sondern der Wille zur geistigen und ethischen Vollendung der Gesellschaft und des einzelnen, aller einzelnen“ (Schweitzer 1999, 463). Kurz gesagt ist der Stand einer Gesellschaft nach Schweitzer also nicht danach zu bemessen, wie weit deren wissenschaftliche Kenntnisse, technische Errungenschaften oder die Vielfalt der Kunst ausgeprägt sind, sondern allein daran, wie diese Gesellschaft und ihre einzelnen Mitglieder ihre Moral entwickelt haben. In dieser Auffassung ist auch Schweitzers Fortschrittsgedanke enthalten: Der für eine Gesellschaft relevante Fortschritt findet auf dem Gebiet des Geistigen statt, nicht im Bereich des Materiellen. Schweitzer lehnt die zu seiner Zeit herrschende Betonung des materiellen Fortschritts ab. Zudem glaubt Schweitzer, dass es nicht notwendig ist, über eine höhere Bildung zu verfügen, um der Kultur zum Fortschritt zu verhelfen: „Kultur begreift Bildung nicht notwendig in sich. Kultur [ist] etwas Elementares. [Sie ist] der Wille des ethischen Fortschritts der einzelnen und der Gesellschaft. Das Ethische in diesem Fortschrittswillen [muss] das Dominierende [sein].“ (Schweitzer 2000, 412) Innerhalb einer Gesellschaft sind deren einzelne Mitglieder sowohl Träger und Empfänger der herrschenden Moral; der Einzelne wirkt ebenso auf die Gesellschaft wie diese wiederum auf ihn zurückwirkt. Daher müssen an Sabine Pohl 116 einer solchen Moral alle an einer Gesellschaft beteiligten Akteure mitwirken, seien dies einzelne Menschen, komplexe Institutionen wie Regierungen oder auf globaler Ebene sogar verschiedene Völker. Für Schweitzer ist es wichtig, seine Ethik so zu begründen, dass sie für jeden Menschen nachvollziehbar ist, unabhängig von seiner gesellschaftlichen Rolle, seiner Herkunft, seiner Ausbildung und seiner Religion. Er sucht ein universalisierbares Prinzip, dass eine Partizipation aller an einer einzigen Moral ermöglicht. 4 Eine neue Ethik Dem Verfall der Kultur, den Schweitzer kritisiert, setzt er ein ethisches Konzept entgegen. Er möchte eine andere Vorgehensweise etablieren, die einen direkten Zugang zur Moral erlaubt, ohne den Umweg über eine weltanschauliche Begründung von Moral zu gehen, die ersetzbar ist. Sein ethisches Grundprinzip muss fest im Menschen verankert sein und darf sich nicht wandeln, wenn sich die Erkenntnisse der Naturwissenschaften oder religiöse Ansichten ändern. Er stellt fest, dass die bisherigen Begründungen von Moral alle auf eine ähnliche Weise vorgenommen wurden: Aus einer bestimmten Weltanschauung wurde bisher eine Lebensanschauung abgeleitet, die als normative Grundlage der Moral galt. Dieses Vorgehen hält Schweitzer für überholt und kehrt das Begründungsverhältnis um. Dies erklärt er damit, dass eine Weltanschauung schwanken kann und nicht für alle Menschen gleichermaßen nachvollziehbar ist. Liegt einer Moral etwa eine rein religiöse Weltanschauung zugrunde, so ist diese für Atheisten oder Andersgläubige nicht zugänglich und für sie entsprechend auch nicht praktikabel. Er schlägt vielmehr vor, dass die Lebensanschauung die Grundlage für eine normative Weltanschauung sein müsse, die dann wiederum zu einer universellen Moral führe. Zunächst ist es an dieser Stelle unerlässlich zu analysieren, was Schweitzer unter den Begriffen der Weltanschauung und der Lebensanschauung versteht. Bereits dabei treten erste Probleme auf. Gibt er für den Begriff der Weltanschauung eine Definition vor, findet sich hingegen keine Erklärung dafür, was er unter einer Lebensanschauung versteht: „Was ist Weltanschauung? Der Inbegriff der Gedanken, die die Gesellschaft und der Einzelne über Wesen und Zweck der Welt und über Stellung und Bestimmung der Menschheit und des Menschen in ihr in sich bewegen. Was bedeuten die Gesellschaft, in der ich lebe, und ich selber in der Welt? Was wollen wir in ihr? Was erhoffen wir von ihr? Die Antwort, zu der die vielen Einzelnen auf diese Grundfragen des Daseins gelangen, entscheidet über den Geist, in dem sie und ihre Zeit leben.“ (Schweitzer 2007a, 59) Beginnt demnach ein Mensch, nach dem Sinn seines Daseins zu suchen, entwickelt er eine Weltanschauung, deren Resultat zum Ausgangspunkt Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben und die Bioethik 117 seines Handels wird. Findet er die Antwort darauf etwa in den Naturwissenschaften, ist es möglich, dass er sein moralisch richtiges Handeln ganz anders definiert als jemand, der die Antwort in einer Religion findet. Beide normativen Weltanschauungen wären dabei nicht auch notwendigerweise kompatibel. Für eine gemeinsame Moral ist also entscheidend, dass sie denselben Ausgangspunkt hat. Diesen findet Schweitzer in der Lebensanschauung. Sie bietet zwar einen subjektiven Zugang zur Welt, der aber für alle Menschen gleichermaßen erfahrbar ist. Während eine Weltanschauung von außen vorgegeben wird und damit zwischen verschiedenen Personenkreisen variieren kann, liegt in dem subjektiven Zugang zur Welt die Möglichkeit, nicht auf ein Wissen oder ein Glauben Bezug zu nehmen, um eine Moral begründen zu können, sondern eine persönliche Erfahrung als Basis der Weltanschauung zu nutzen. Der Mensch erlebt sich selbst und kann dieses persönliche Erleben - die Lebensanschauung - dann auch in anderen Lebewesen erkennen, die um ihn herum existieren. 4.1 Der Wille zum Leben Dass der Mensch fähig ist, sein eigenes Dasein zu erleben, ist damit eine der Grundvoraussetzungen der Ethik Schweitzers. Die Art und Weise, wie wir uns zu unserem Leben verhalten, spielt eine entscheidende Rolle für seine weitere Argumentation. Der wahrscheinlich bekannteste Ausspruch von Albert Schweitzer besagt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (Schweitzer 1974, 169f.). Der erste Teil dieses prägnanten Satzes, „Ich bin Leben, das leben will“ beinhaltet die bedeutsame Annahme, dass wir unser Leben bejahen. Dies ist für Schweitzer evident, da sich nur wenige Menschen das Leben nehmen, ja der Mensch im allgemeinen sogar einen „instinktive[n] Widerwillen gegen diese Tat“ (Schweitzer 2007b, 278) in sich verspürt. Damit ist für Schweitzer zugleich verbunden, dass wir unser Leben subjektiv als etwas Wertvolles erleben, das wir erhalten wollen. Dieses subjektive Erleben des eigenen Lebens kann auf andere Lebewesen erweitert werden, denn wir können beobachten, dass auch andere, seien es Menschen oder Tiere, versuchen, ihr Leben zu erhalten und zu fördern. Diese Erweiterung kommt durch den zweiten Teilsatz zum Ausdruck, „inmitten von Leben, das leben will.“ Wenn wir die Welt auf diese Weise erleben und den Willen zum Leben in anderen Lebewesen erkennen, erweitern wir unsere eigene Lebensbejahung auf die Welt außer uns (vgl. Schweitzer 2000, 31). Eine solche Erfahrung weist nicht notwendig ein verbindliches, normatives Element auf, das ausreicht, um eine Moral zu begründen. Dennoch bildet dieser Ansatz die Grundlage für Schweitzers weiteres Vorgehen: Er ersetzt ein von außen vorgegebenes Weltbild, eine außer uns liegende Weltanschauung, durch einen direkt erlebbaren Zugang zur Welt, nämlich unsere persönliche Erfahrung des Willens zum Leben in uns und die Erkenntnis, dass auch andere Lebewesen leben wollen. Diese Lebensanschauung stellt Sabine Pohl 118 einen unmittelbaren Zugang zur Welt dar, der es dem Menschen ermöglicht, darauf eine normative Weltanschauung aufzubauen. An dieser Stelle ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass Schweitzer die Ursachen für den Verfall der Kultur auch darin sieht, dass der Mensch sich immer mehr von der Natur entfremdet und von seiner Arbeit so sehr eingenommen ist, dass ihm ein Nachsinnen über die Welt beinahe nicht mehr möglich ist. Dieses Nachdenken über die Welt ist jedoch unersetzlich, wenn der Mensch moralisch werden möchte. Dem modernen Menschen fällt dies nach Schweitzer sehr schwer. Woran soll er sich orientieren, wenn er selbst nicht mehr nachdenkt und von anderen Menschen umgeben ist, die auf gleiche Weise von ihrer einst natürlichen Umwelt entfremdet sind? Und wie ist der unmittelbare Zugang zur Moral möglich, wenn das eigene Dasein nicht mehr im Kontext der Lebensanschauung erlebt und erfahren wird? Für die Antwort auf diese Frage ist es interessant, dass sich in seinem umfangreichen Werk zahlreiche Hinweise auf einen starken pädagogischen Impetus Schweitzers finden lassen, der bislang nur selten untersucht worden ist (vgl. Günzler 1996, 31). Dies verwundert nicht nur deshalb, weil zahlreiche Bildungseinrichtungen nach Schweitzer benannt wurden, sondern auch, weil hier ein wichtiger Baustein für seine Ethik zu finden ist. 4.2 Erziehung Der Aspekt der Erziehung spielt bei Schweitzer eine wichtige Rolle. Er kritisiert mit starken Worten in einer Predigt, dass die Eltern ihrer Erziehungsaufgabe häufig nicht gerecht werden: „Von einem Wirken des Vaters auf die Kinder ist fast keine Rede mehr; die Mutter sorgt nur darum, daß in den Momenten, wo die Kinder mit den Eltern zusammen sind, nichts vorfällt. Wie viel von dem Elend unserer Zeit liegt nicht darin, daß die Eltern sich nicht mit den Kindern beschäftigen können! Wie arm sind unsere Kinder! “ (Schweitzer 2001, 1135) Auch hier sieht er die Ursachen darin, dass sich Eltern und Kinder aufgrund der immer größeren Vereinnahmung durch die Arbeit und die zunehmenden Möglichkeiten, sich in der Freizeit vom Alltag abzulenken, voneinander entfremden (vgl. ebd.). Die Erwachsenen dienen nicht mehr als ein verlässliches moralisches Vorbild für ihre Kinder und finden keinen Zugang mehr zu ihnen. Eben weil die Herausforderungen der Moderne so sehr gewachsen sind, ist es aber vonnöten, dass die Erzieher hier nicht aufgeben, sondern sich umso mehr um die Kinder bemühen. Über einen erfolgreichen Erzieher schreibt Schweitzer: „Das, worauf es zuletzt allein ankommt, ist dies, ob dieser Mensch zuerst sein eigener Erzieher wurde und es jeden Morgen wieder wird, ob er die Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben und die Bioethik 119 geistige Kraft in sich in Spannung gesetzt hat wie einer, der die Feder des Uhrwerks aufzieht.“ (Schweitzer 2001, 1137) Die Selbsterziehung ermöglicht es, zu einem Vorbild für andere zu werden! Somit ist es einem jeden Menschen möglich, einen anderen in Fragen der Moral anzuleiten und ein moralisches Vorbild zu sein. Dies ist vor allem deshalb notwendig, weil der Mensch aufgrund der oben beschriebenen Entfremdung von seiner Umwelt und seinen Mitmenschen nicht mehr nachdenkt und Schweitzer die herrschende Moral äußerst kritisch bewertet. Der unmittelbare Zugang zur Moral besteht nicht mehr; der Mensch hat verlernt, eigenständig zu denken und orientiert sich an falschen Idealen. Daher bedarf es neuer moralischer Vorbilder, die zum Denken anleiten. Dafür ist es umso wichtiger, sich selbst entsprechend zu verhalten. 4.2.1 Ethische Selbstvervollkommnung Wer sich selbst zur Moral erzieht, kultiviert seine Moralfähigkeit und wird so zu einem in moralischer Hinsicht vollkommeneren Menschen. Der Aspekt der ethischen Selbstvervollkommnung dient in der Ethik Schweitzers nicht nur dazu, anderen ein moralisches Vorbild sein zu können. Vielmehr trägt er auch dazu bei, dass wir wirklich moralisch handeln. Das bedeutet, dass unser Tun nicht nur von außen bewertet moralisch scheint, sondern wir aus einer inneren Überzeugung moralisch handeln. Es reicht für Schweitzer nicht aus, nur moralisch tätig zu sein oder sich nur mit sich selbst auseinanderzusetzen. Beide Aspekte wirken zusammen, um eine moralische Handlung zu ermöglichen: „Ethik der Selbstvervollkommnung, das heißt ethisches Streben, in dem der Mensch nur mit sich selbst beschäftigt ist, und die Ethik des Wirkens, die nur in der Betätigung der Hingebung besteht, sind beide gleich unvollständig.“ (Schweitzer 1999, 174) Schweitzer stellt fest, dass die Moral dem Menschen „naturhaft“ gegeben ist (vgl. Schweitzer 2000, 33): Er lebt in sozialen Gemeinschaften und erlebt in sich den Drang, sich um die Mitglieder seiner Gemeinschaft zu kümmern und für sie zu sorgen. Die Fähigkeit, anderen Gutes zu tun, ist aber für Schweitzer nicht ausreichend, um wirklich moralisch zu sein. Dazu ist es notwendig, dass wir auch uns selbst Gutes tun. Wenn ein Mensch „Lug und Trug, Verstellung und Hinterlist“ (ebd., 131) als nicht mehr mit sich selbst vereinbar erlebt, dann hat er den ersten Schritt zu einer wirklichen Moral getan. Ein solcher Mensch folgt dem Bedürfnis, vor sich selbst Achtung haben zu können. Damit finden sich bei Schweitzer zwei Motive, um moralisch zu handeln: zum einen die Hingabe an andere und zum anderen die Selbstachtung. Beide Handlungsmotive ergänzen sich gegenseitig und sind für sich allein unvollständig. Daher ist es notwendig, dass wir unser Handeln stetig reflektieren und uns selbst dazu anhalten, uns moralisch weiterzuentwickeln. Sabine Pohl 120 4.2.2 Die Wahrhaftigkeit gegen sich selbst Wenn ein Mensch den beiden oben genannten Handlungsmotiven folgt, dann handelt er gemäß seiner eigenen moralischen Überzeugung. Daraus leitet Schweitzer eine „innere Nötigung“ (Schweitzer 2007b, 83) ab, die dazu führt, dass wir uns moralisch verhalten wollen. Tun wir dies nicht, verlieren wir unsere Selbstachtung. Schweitzer schreibt hierzu: „Daß Kant Wahrhaftigkeit gegen sich selbst so in den Mittelpunkt der Ethik rückt, zeugt für die Tiefe seines ethischen Empfindens. Aber weil er in dem Suchen nach dem Wesen des Ethischen nicht bis zur Ehrfurcht vor dem Leben vordringt, kann er den Zusammenhang von Wahrhaftigkeit gegen sich selbst und tätiger Ethik nicht erfassen. Tatsächlich geht die Ethik der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst unmerklich in die der Hingebung an andere über.“ (Schweitzer 2007b, 313) Die Wahrhaftigkeit gegen sich selbst findet sich bereits bei Kant, bezieht sich aber in seinem Sinne auf das „Widerspiel der Wahrhaftigkeit“ (Kant 1907, 429), d. h. auf die Lüge, die er als „größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ (ebd.) bezeichnet. Für Schweitzer bedeutet der Aspekt der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst aber mehr als das: Es geht ihm darum, dass der Mensch versucht, gemäß seiner eigenen Erkenntnisse zu handeln. Hier entsteht der Übergang vom Denken zum Handeln. Wir entwickeln aufgrund unserer Lebensanschauung ein entsprechendes Denken und Überzeugungen. Um vor uns selbst wahrhaftig sein, vor uns selbst Achtung haben zu können, müssen wir entsprechend dieser Überzeugungen handeln: „Das Intimste tätiger Ethik, wenn es auch als Hingebung erscheint, kommt also aus der Nötigung der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst und erhält in ihr seinen wahren Wert. Die ganze Ethik […] fließt rein nur dann, wenn sie aus dieser Quelle kommt. Nicht aus Gütigkeit gegen andere bin ich sanftmütig, friedfertig, langmütig und freundlich, sondern weil ich in diesem Verhalten tiefste Selbstbehauptung bewähre. Ehrfurcht vor dem Leben, die ich meinem Dasein entgegenbringe, und Ehrfurcht vor dem Leben, in der ich mich hingebend zu anderm Dasein verhalte, greifen ineinander über.“ (Schweitzer 2007b, 314) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das eigene Erleben des Willens zum Leben und die Beobachtung anderer Lebewesen bei Schweitzer dazu führen, dass wir einen Willen zum Leben in jedem Leben entdecken. Das Leben als solches besitzt für Schweitzer einen intrinsischen Wert. Schweitzer begründet diesen Wert nicht, sondern geht den umgekehrten Weg, indem er feststellt: „Wir haben keinen wirklichen Maßstab, um zwischen höherem und niedrigerem, wertvollerem und weniger wertvollem Leben zu unterscheiden. Alles Leben bedeutet einen geheimnisvollen Wert. Dieser Subjektivität und Relativität des von uns gemachten Unterschiedes müssen wir uns bewusst bleiben, um ja nicht in den unter den Menschen so verbreiteten Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben und die Bioethik 121 Irrtum einer Unterscheidung von wertvollem und wertlosem Leben zu verfallen.“ (Schweitzer 2003, 166) Für Schweitzer gibt es kein geeignetes Kriterium dafür, einem Leben mehr oder weniger Wert zuzuweisen: „Das Unternehmen, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen zu statuieren, läuft darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserm Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen, was ein ganz subjektiver Maßstab ist.“ (Schweitzer 1991, 157) Es geht nicht darum, uns von anderen Lebewesen abzugrenzen, sondern im Gegenteil darum, einzusehen, was wir mit ihnen gemeinsam haben und uns mit ihnen verbunden zu fühlen. Das Leben ist der gemeinsame Nenner aller Lebewesen. Und dieses Leben hat einen impliziten Wert. Aus diesem Grunde soll jedes Leben auch moralisch berücksichtigt werden. Hier zeigt sich auch der Biozentrismus Schweitzers: Das Kriterium, das erfüllt sein muss, um moralisch berücksichtigt zu werden, ist hier die Eigenschaft, am Leben zu sein. Verletzten wir einen solchen Wert trotz unseres Wissens um den Willen zum Leben, handeln wir nicht wahrhaftig. Gegen die eigene Überzeugung zu handeln, ist für Schweitzer riskant: „Aus Ehrfurcht vor meinem Dasein stelle ich mich unter den Zwang der Wahrhaftigkeit gegen mich selbst. Zu teuer wäre mir alles erkauft, das ich erlangte, indem ich gegen meine Überzeugung handelte.“ (Schweitzer 2007b, 313) 5 Schuld Verletzten oder töten wir anderes Leben, so ergibt sich hieraus bei Schweitzer Schuld: „Das wahre Wissen besteht darin, von dem Geheimnis, daß alles um uns herum Wille zum Leben ist, ergriffen zu sein und einzusehen, wie schuldig wir fort und fort an Leben werden. Von Pseudoethik betört, taumelt der Mensch wie ein Trunkener in der Schuld herum. Wissend und ernst geworden, sucht er den Weg, der ihn am wenigsten in Schuld hineinführt.“ (Schweitzer 2007b, 324f.) In der Rezeption von Schweitzers Ethik war dieser Schuldbegriff häufig Gegenstand von harscher Kritik (vgl. Brock 1924, 268; Groos 1974, 528). Schweitzers schreibt: „Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erkennt keine relative Ethik an. Als gut läßt sie nur die Erhaltung und Förderung von Leben gelten. Alles Vernichten und Schädigen von Leben, unter welchen Umständen es auch erfolgen mag, bezeichnet sie als böse.“ (Schweitzer 2007b, 316) Sabine Pohl 122 An dieser Stelle kann die intensive Auseinandersetzung mit dem Problem der Schuld bei Schweitzer nur sehr vereinfacht wiedergegeben werden (ausführlich vgl. Pohl 2014, 221-241). Dennoch halte ich es für besonders wichtig, das Vorurteil, Schweitzers Ethik sei unpraktikabel, auszuräumen. Groos schreibt beispielsweise: „In der Tat würde es, wenn jedes Handeln, das die Tötung von Leben voraussetzt oder bewirkt, als böse zu verurteilen wäre, die einzig wirklich folgerichtige Handlungsweise sein, alles Handeln einzustellen, damit aber das eigene Leben aufzugeben.“ (Groos 1974, 528) Genau diese Kritik wird Schweitzer nicht gerecht. Richtig ist die Feststellung, dass wir anderes Leben schädigen müssen, um uns selbst am Leben zu erhalten. Wir kommen beispielsweise nicht umhin, uns zu ernähren und selbst wenn wir vegetarisch oder vegan leben, schädigen wir (pflanzliches) Leben. Bei der Behauptung, wir müssten unser eigenes Leben aufgeben, um kein Leben zu schädigen, wird jedoch übersehen, dass wir auch dann Leben schädigen, nämlich unser eigenes. In diesem Zusammenhang spreche ich von einem Schuld-Dilemma: Egal, wie ich handle, ich schädige Leben - mein eigenes oder das eines anderen Lebewesens (vgl. Pohl 2014, 233ff.). Schweitzer schreibt, dass in der Natur ein Geschehen stattfindet (Geschehen sind nichtmoralisch), der Mensch hingegen handelt (eine Handlung kann moralisch oder unmoralisch sein). Er sagt jedoch auch ganz deutlich, dass der Mensch über Anteile verfügt, die in den Bereich des Nichtmoralischen gehören. Daher sind Situationen möglich, in denen das Schädigen anderen Lebens nicht mehr in den Bereich des Moralischen fällt. Wir können moralisch bewerten, wie sich jemand ernährt, nicht aber, dass er sich ernährt. Erhalten wir unser eigenes Leben und entscheiden uns dafür, genau zu reflektieren, wie wir handeln können, um anderem Leben dabei möglichst wenig Schaden zuzufügen, dann handelt es sich um eine moralische Handlung. Wir können unserer Natur nicht entkommen, die es notwendig macht, dass wir uns ernähren. Schuld folgt hieraus dann, wenn wir nicht darüber nachdenken, wie unser Handeln möglichst wenig Leid verursacht und wenn wir Leid verursachen, obwohl wir die Möglichkeit haben, es zu vermeiden. Verantworten müssen wir diese Entscheidung vor uns selbst; haben wir unserer Überzeugung gemäß gehandelt und uns daran gehalten, den geringsten Schaden zu verursachen, der uns in einer konkreten Situation möglich war, bleiben wir uns selbst gegenüber wahrhaftig und verlieren auch nicht die Achtung vor uns selbst. Im Gegenteil: wir entwickeln uns auf diese Weise moralisch weiter. Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, anstatt von Schuld den Begriff des Schädigungsbewusstseins zu verwenden. „Das sinnlose Zerschlagen eines Kristalls […] und das gedankenlose Brechen einer Blume sind Taten der Unsittlichkeit, die darum nicht minder unsittlich sind, weil kein Bewußtsein ihres Charakters vorhanden ist. Einen Wurm auf der Straße von der Sonne sterben zu lassen, wo wir ihm Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben und die Bioethik 123 mit einer einzigen Bewegung ins Gras und auf weiche Erde helfen könnten, ist eine Verfehlung gegen das Leben. An der unnötigen Vernichtung eines Tieres, die wir mit ansehen, ohne für es einzutreten, sind wir mitschuldig.“ (Schweitzer 2005, 194) Sind wir uns darüber im Klaren, dass unser Handeln für andere gravierende Konsequenzen haben kann, gibt uns dieses Denken die Möglichkeit, genau zu reflektieren, ob wir eine bestimmte Handlung ausführen, sie unterlassen oder ob es vielleicht eine andere, weniger schädliche Alternative gibt. Auf diese Weise lässt sich der Handlungspessimismus aufbrechen, dessen Resultat die Aufgabe des eigenen Lebens wäre. Der Schuldbegriff impliziert letztlich eine Alternativlosigkeit für das Handeln, denn egal, wie ich handle, ich werde dabei schuldig. Schweitzers Intention war es aber nicht, den Menschen passiv werden zu lassen, er fordert vielmehr eine tätige Ethik. Die hier ausgeführte Interpretation Schweitzers bietet die Möglichkeit, dem Schuld- Dilemma zu entkommen und moralisch handeln zu können, auch wenn dabei ein anderes Leben geschädigt wird. 6 Moralische Entscheidungen treffen Um eine moralische Entscheidung treffen zu können, müssen einzelne Situationen bewertet werden. Schweitzers Ethik ermöglicht es nicht, eine einmal getroffene Entscheidung auf eine andere Situation zu übertragen - Handlungen müssen immer wieder überprüft und neu bewertet werden. Hierzu bedarf es Kriterien, die es ermöglichen, eine Abwägung zwischen den verschiedenen Interessen vorzunehmen. Bisher wurde in der Schweitzer- Forschung das Vorliegen eines solchen Kriteriums häufig übersehen. So schreibt Baranzke: „Zwar spricht Schweitzer von der Ehrfurcht vor dem Leben als seinem ethischen Grundprinzip, verweigert aber zugleich jede Konkretisierung in Handlungsnormen, die über den Satz: ‚Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen‘ hinausgeht. Insofern bleibt Schweitzers Ethik wesentlich appellativ und bietet kein Kriterium zur Prüfung der sittlichen Richtigkeit von Handlungen im Konfliktfall.“ (Baranzke 2006, 39) Es ist richtig, dass Schweitzers Einstellung als eine „individualistischliberale“ bezeichnet werden kann, „nach der eine allgemeine moralische Normierung die Souveränität des sittlichen Subjekts unterlaufen würde“ (ebd.). Bei Schweizer findet sich jedoch der Begriff der Notwendigkeit, der als ein Entscheidungskriterium in konkreten Situationen herangezogen werden kann und der die moralische Entscheidungsfindung dennoch dem Handelnden überlässt. So schreibt er etwa: „Mit der Notwendigkeit gibt uns die Natur das Recht, niederes Leben dem höheren zu opfern. Aber indem wir davon Gebrauch machen, haben Sabine Pohl 124 wir uns unsere Verantwortung immer gegenwärtig zu halten. Nur da, wo es durch einen ausreichenden Zweck gerechtfertigt ist, dürfen wir eingreifen.“ (Schweitzer 2005, 195) Daraus ergibt sich, dass wir anderes Leben dann schädigen dürfen, wenn hierfür eine Notwendigkeit vorliegt. Wir müssen uns dabei aber immer vor Augen halten, dass wir ein anderes Leben schädigen oder gar beenden, etwa wenn wir uns ernähren. Daher müssen wir uns je nach unserem Lebenskontext für die Möglichkeit entscheiden, dem anderen Leben so wenig Schaden und Leid zuzufügen wie möglich. Gehe ich aufgrund aktueller Forschungsergebnisse davon aus, dass eine Pflanze kein Schmerzempfinden und kein bewusstes Erleben hat, ein Tier, das für den Verzehr gezüchtet und geschlachtet wird, aber hierüber verfügt, ist es für mich die moralisch richtige Entscheidung, die Pflanze zu essen. Das bedeutet nicht, dass die Pflanze einen geringeren Wert besitzt als das Tier, denn beide teilen sich die für moralische Berücksichtigung notwendige Eigenschaft zu leben. Vielmehr wird hier bewusst auseinandergesetzt, welche Handlung weniger Leid verursacht. Ein jeder muss für sich selbst und je nach Situation entscheiden, welche Handlungen er nach dieser Abwägung vor sich selbst verantworten kann. Diese persönliche Entscheidung fordert Schweitzer ein. Somit ist Schweitzers Ethik als eine Wertethik zu verstehen, die sich am absoluten Wert des Lebens orientiert, es aber uns selbst überlasst, wann wir ihr und wie weit wir ihr folgen können (vgl. Pohl 2014, 270). Aufgrund der biologischen Notwendigkeit der Ernährung muss der Mensch anderes Leben schädigen, aber er ist in der Lage, die Mittel hierzu zu wählen und abzuwägen, was er moralisch vertreten kann. Er hat die Möglichkeit, Alternativen zu erwägen. Ihm muss dabei aber immer bewusst sein, dass an dieser Stelle seine Interessen mit den Interessen anderer Lebewesen kollidieren, nämlich der Erhalt des eigenen Lebens und das Interesse anderer Lebewesen am Erhalt ihres Lebens. Eine Güterabwägung zwischen dem eigenen und fremden Leben wird in der Regel so ausfallen, dass das Interesse an der eigenen Existenz gegenüber dem Interesse anderen Lebens als notwendiger betrachtet wird. Sie ist aber immer davon abhängig, welche äußeren Umstände herrschen, denn diese geben unseren Handlungen ihren Rahmen. So ist es ein moralischer Unterschied, ob ein Tourist in Alaska aus kulinarischer Neugier Walfleisch probiert oder ob sich die dort Lebenden davon ernähren. Für letztere besteht keine Handlungsalternative, sondern eine Notwendigkeit, sich dadurch selbst am Leben zu erhalten. Dies ist nicht kulturrelativ zu verstehen: Hier könnte die Frage aufgeworfen werden, ob dies nicht zu einem moralischen Gefälle zwischen verschiedenen Gesellschaften führt. Dies tut es aber nicht, wenn Schweitzer ernst genommen wird. Er möchte, dass die Menschen sich mit ihren Handlungen und den Alternativen, die sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten hierzu haben, auseinandersetzen und ihnen die Augen dafür öffnen, dass ihre Handlungen in der Welt Folgen, auch für andere, haben. Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben und die Bioethik 125 Wir haben ein Verständnis davon, was um uns herum passiert, können darüber nachdenken und in die Welt eingreifen. Wir sollen uns unserer moralischen Verantwortung bewusst sein und bei unseren Handlungen den Willen zum Leben anderer berücksichtigen. Wir können das Leid, das wir verursachen, begrenzen und sollten in diesem Wissen unsere Entscheidungen treffen (vgl. Pohl 2014, 217-225). Schweitzer formuliert kein allgemeines Sittengesetz, das immer und in jeder Situation anwendbar ist, sondern fordert ein, dass wir uns mit unserer Umwelt, anderem Leben und unserer Verantwortung auseinandersetzen, um dann moralische Entscheidungen treffen zu können. 7 Fazit Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass moralische Entscheidungen nach Schweitzer im engen Rahmen der Notwendigkeit anhand einer Güterabwägung getroffen werden können. Hierfür ist es zunächst notwendig festzustellen, ob für eine geplante Handlung eine Notwendigkeit vorliegt. Besonders für Fragen, die sich im Bereich der Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken stellen, ergeben sich hieraus große Schwierigkeiten. So muss abgewogen werden, wer von den Ergebnissen einer bestimmten Anwendung profitiert, wie sich die Ausgangssituation darstellt und wie groß die Nachteile sind, die anderen durch die Forschung und Anwendung der Technologie entstehen. Auch sind an derartigen Forschungen Personen verschiedenster Fachbereiche beteiligt, die einen jeweils völlig anderen Zugang zum bestehenden Problem haben. Ein Mediziner sieht dabei möglicherweise eher den Patienten, ein Biologe die mannigfaltigen Anwendungsmöglichkeiten, ein Betroffener erhofft sich ganz konkret Hilfe für sein Problem und dergleichen mehr. Insbesondere, wenn die Forschungsergebnisse ausschließlich dem Menschen und seiner Selbstgestaltung dienen, ist es daher notwendig, die Interessen der verschiedenen beteiligten Parteien sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Häufig werden Tiermodelle eingesetzt, um die theoretischen Forschungsergebnisse praktisch zu erproben, bevor sie für eine Anwendung am Menschen zugelassen werden. Auch Tierversuche und das durch sie verursachte Leiden müssen daher gemäß Schweitzer in einer solchen Güterabwägung berücksichtigt werden. Weiterhin ist zu berücksichtigen, ob es bereits Alternativmethoden gibt, die für das sich stellende Problem als Lösung infrage kommen. Dieser Text hat aufgezeigt, dass der Handelnde bei Schweitzer nicht immer zugleich auch schuldig wird; das Schuld-Dilemma lässt sich ausräumen, weil wir unser eigenes Leben ebenfalls unter den Schutz der Ehrfurcht vor dem Leben stellen müssen. Das ermöglicht es, unter bestimmten Voraussetzungen auch so zu handeln, dass wir anderes Leben schädigen. Damit geht nicht zugleich immer Schuld einher. Aus unserer Verantwortung entlässt uns Schweitzer damit aber nicht; wir müssen uns immer vor Augen halten, Sabine Pohl 126 dass wir anderem Leben Schaden zufügen, um uns selbst am Leben zu erhalten. In diesem Schädigungsbewusstsein müssen wir unsere Handlungen abwägen und vor uns selbst rechtfertigen. Umso mehr wir uns damit auseinandersetzen, desto mehr entwickeln wir uns zu moralischen Persönlichkeiten. Schweitzers Ethik wird dann anwendbar, wenn das Kriterium der Notwendigkeit unter Einbeziehung der Handlungsalternativen für einen konkreten Einzelfall betrachtet wird. Allgemeine Aussagen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit bestimmter Biotechnologien können mit ihr hingegen nicht getroffen werden. Es muss zunächst untersucht werden, wer die Betroffenen sind, wie stark sie leiden, ob es bereits geeignete Möglichkeiten gibt, dieses Leiden zu vermindern oder ob eine Notwendigkeit besteht, auf andere Weise einzugreifen. Erst dann ist es möglich, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob ein Vorgehen moralisch vertretbar ist oder nicht. Festzuhalten ist, dass es eine sinnvolle Vorgehensweise wäre, bestehende Alternativen innerhalb der Forschung für ein konkretes Problem zu untersuchen, bevor die Forschung etwa mit invasiven Eingriffen in Lebewesen beginnt. Damit könnte die Anzahl der Tierversuche beschränkt werden. Vor diesem Hintergrund ist es von großer Bedeutung, dass sich die einzelnen Forschungsdisziplinen immer besser miteinander vernetzen und austauschen - das Wissen und der Zugang anderer Fakultäten erweitern die Möglichkeiten, Alternativen zu entwickeln und sich über sinnvolle, bereits existierende Eingriffe auszutauschen. Literatur Altner, Günter/ Frambach, Ludwig/ Gottwald, Franz-Theo u. a. (Hrsg.) (2005): Leben inmitten von Leben. Die Aktualität der Ethik Albert Schweitzers. Stuttgart: Hirzel. Baranzke, Heike (2006): Ehrfurcht vor dem Leben. Säkularisierte Ehrfurcht bei Kant, Goethe, Ballnow und Schweitzer. In: Hauskeller, Michael (Hrsg.): Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph. Kusterdingen: Graue Edition. Brock, Erich (1925): Rezension zu Albert Schweitzers „Kultur und Ethik“. In: Logos 13, S. 264-269. Göhre, Paul (1979 [1891]): Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. 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Although the importance of memory seems to be evident, there is a strong negligence of the role of memory and remembering in theories on personal identity. In this chapter, I will demonstrate that this is mainly due to three factors: 1.) the missing differentiation between various kinds of memory; 2.) the one-sided focus on diachronic identity in the philosophical debate on personal identity; and 3.) the lack of integration of psychological research on memory into philosophical theory. I will discuss how each of these problems should be approached, and outline possible implications for the debate on memory modification and enhancement. 1 Introduction Memory is, without any doubt, among the most important features of human beings. Its importance becomes especially apparent in cases of severe amnesia or dementia, where loss of memory often seems equal to loss of identity. Although memory is a key element in many theories of personal identity from John Locke to Derek Parfit, the exact role that memory plays for the constitution and preservation of identity remains largely unclear. In this chapter, I will show that this negligence is due to diffuse concepts of memory, the one-sided focus on diachronic identity in the philosophical debate on personal identity, and the lack of implementation of psychological knowledge into philosophical theory. For each of these concerns, I will shortly sketch a solution and finally show how these findings could be applied to the debate on human self-design and especially to the discussion of memory modification. Michael Jungert 130 2 The Many Faces of Memory Human memory is a complex, multifaceted phenomenon. Although philosophers and psychologists have elaborated on the characteristics of and variation in memory and remembering for a long time (see, e. g., Martin/ Deutscher 1966; Squire 2004; Bernecker 2010), the required differentiation of types of memory is widely missing in the debate on personal identity. This results both in conceptual confusion and in the absence of comprehensive philosophical answers to the questions of why, how, and through which qualities memories are so important for the identity of persons. Accordingly, Marya Schechtman states: “Analysis of identity has more or less stopped at the fact that it is constituted by memory, and we are left with no account of why memory connections are so important” (Schechtman 1994, 3). In order to approach this problem, it is helpful to consider the most prominent psychological classification of memory systems, introduced by Larry Squire in the 1980s (see Squire 1987; 2004). 1 Squire starts by separating declarative memory from non-declarative memory. While declarative memory is defined as “the capacity for conscious re-collection about facts and events” (Squire 2004, 173), non-declarative memory includes, among others, skills, habits, and different forms of learning and is characterized “through performance rather than recollection” (ibid.). 2 Although both systems are relevant for personal identity, I will limit the following discussion to declarative memory and especially to autobiographical memory 3 as one of its subsystems. In contrast to semantic memory, the other subsystem of declarative memory, autobiographical memory is not memory for pure, neutral facts and knowledge. Moreover, it contains significant, emotionally charged memories about important events in the unique history of a person. Autobiographical memories can be remembered over a long period, they often include a high level of detail, and they enable the specifically human ability to mentally reexperience episodes from one’s own past. 4 By doing so, it becomes possible for human beings to evaluate and anticipate current and future actions based on experiences, personal preferences, and decisions from the past. This represents an anthropologically central capacity to desist from always 1 The notion of “memory systems” as well as its theoretical implications are being controversially discussed by psychologists and philosophers (see, e. g., Bennett/ Hacker 2003, 156; Danziger 2008, 174; Cubelli 2010, 39; Jungert 2013, 29-40). 2 For a critical discussion on the extension of the concept of memory to skills and habits, see Moyal-Sharrock (2009). 3 The term “episodic memory” is sometimes used interchangeably with “autobiographical memory”. However, many psychologists argue that autobiographical memory is a subsystem of episodic memory that is characterized by the personal and emotional importance of the memories that result from it (see, for discussion, Welch-Ross 1995, 339; Williams et al. 2008, 21ff.). 4 See Tulving (1983, 127), for his related concept of “mental time travel“. Memory, Personal Identity, and Memory Modification 131 having to react immediately to tasks or challenges. Instead, autobiographical memory enables persons to reflect critically on past thinking and behavior and to base current actions on the results of this reflection. 3 The Identities of Persons As in the case of memory, personal identity is not a unitary concept either. In fact, it can be divided into four different categories: 1.) criteria for personhood; 2.) synchronic identity; 3.) diachronic identity; and 4.) biographical identity. In what follows, I will shortly outline dimensions 1 to 3 and then show that biographical identity is the central object of interest as regards the connection between memory and personal identity. The debate on the criteria for personhood centers on the question of which qualities can be considered necessary for attributing the status of a person to a (human) being. There is an extensive list of proposals for such “personmaking characteristics” (Quante 2007, 17), as for example: rationality, selfconsciousness, faculty of speech, moral autonomy, or power of judgment. 5 Depending on the particular approach, one or more of these characteristics are considered necessary or sufficient for constituting the status of a person. The debate on the criteria for personhood is mostly situated in normative contexts like the permissiveness of abortion (see English 1975) or the moral status of non-human primates (see DeGrazia 1996; Hursthouse 2000). However, one can also ask questions about the criteria for personhood in a primarily descriptive way, e. g. in order to explore the existence of non-human persons (without analyzing the moral implications). In both cases, the analysis aims at finding criteria for attributing the status of a person from a thirdperson perspective. The second set of questions concerns the synchronic identity of persons. Simply put, it poses the question of what makes a person one person at a certain time and asks for the unitary conditions of persons. While this might seem to be a philosophical question without any relevance for real world issues at first glance, the case of multiple personality disorder shows that there are in fact situations where there might be serious doubts about whether to speak of one distinct person at a given time (see Gunnarsson 2010). Synchronic identity can be judged from the third-person perspective as a way to determine the identity of a certain person at a certain time from the outside. Alternatively, one can approach the issue from the first-person perspective by analyzing the conditions of a unitary self-consciousness and asking what binds the multiple strings of consciousness together to enable the subjective feeling of being one distinct person. The third and philosophically most famous dimension of personal identity is diachronic identity. It tackles the question of what constitutes the identity 5 See Dennett (1997) for a much-debated account of the criteria of personhood. Michael Jungert 132 of a person over time and which factors guarantee this identity despite the many changes that occur during a lifetime. The most prominent theories on diachronic identity can be roughly divided into those which focus on physical criteria (“Somatic Approach”, see, e. g., Williams 1970; Mackie 1999) in order to explain identity over time and those which are based on psychological criteria (“Psychological Approach”, see, e. g., Shoemaker 1970; Parfit 1984; Noonan 2003). One of the most important psychological criteria is memory, meaning the ability to remember the personal past. The idea that memory somehow constitutes the identity of persons over time is mostly ascribed to John Locke. 6 In his Essay Concerning Human Understanding, Locke writes: “This being premised, to find wherein personal identity consists, we must consider what person stands for; which, I think, is a thinking intelligent being, that has reason and reflection, and can consider itself as itself, the same thinking thing, in different times and places; which it does only by that consciousness which is inseparable from thinking, and, as it seems to me, essential to it: it being impossible for any one to perceive without perceiving that he does perceive. When we see, hear, smell, taste, feel, meditate, or will anything, we know that we do so. Thus it is always as to our present sensations and perceptions: and by this every one is to himself that which he calls self; it not being considered, in this case, whether the same self be continued in the same or divers substances. For, since consciousness always accompanies thinking, and it is that which makes every one to be what he calls self, and thereby distinguishes himself from all other thinking things, in this alone consists personal identity, i.e. the sameness of a rational being: and as far as this consciousness can be extended backwards to any past action or thought, so far reaches the identity of that person; it is the same self now it was then; and it is by the same self with this present one that now reflects on it, that that action was done.” (Locke 1959, II/ 27/ 9) This passage from the Essay is often interpreted as evidence for the claim that Locke defined and defended a memory criterion for personal identity: as far as one can mentally travel backwards and remember events from his past, these events belong to the person’s identity. By contrast, the events hidden behind the border of conscious memory do not count as a part of the personal history. This interpretation of Locke’s account, however, is far from being unchallenged (see Strawson 2011) and there are many points of criticism brought forward by his contemporaries like Thomas Reid and Joseph Butler as well as by present philosophers (see Noonan 2003, 46-62). Despite these discussions about the details and problems of Locke’s account, his reflections show that memory somehow seems to play a crucial role for the constitution and sustainability of personal identity. In what follows, I 6 However, Locke was not the first proponent of this idea. For example, there is evidence that Spinoza anticipated Locke’s idea some 20 years before the publication of the Essay Concering Human Understanding (see Lin 2005). Memory, Personal Identity, and Memory Modification 133 will argue that the lack of explanation of this role in philosophy is due to the neglect of a fourth dimension of personal identity, namely biographical identity. The concept of biographical identity is much closer to many common sense ideas and everyday intuitions about personal identity and personality than the aforementioned, more technical philosophical debates. David DeGrazia, who uses the congeneric concept of narrative identity, elaborates on the differences between those debates: “When philosophers address personal identity, they usually explore numerical identity: What are the criteria for a person’s continuing existence? When nonphilosophers address personal identity, they often have in mind narrative identity: Which characteristics of a particular person are especially salient to her self-conception? ” (DeGrazia 2005, i) “Narrative identity […] is the sense of human identity that most concerns people in everyday life […].” (DeGrazia 2005, 113) In contrast to the search for the right way of identifying persons over time by defining conditions for the stability or disappearance of identity, theories of biographical identity are concerned with the characterization of persons and their life. They attempt to explain how persons are able to form a unique life story, to develop a specific personality, and to reflect, plan, and act on the basis of this life story and personality concept. This shift of perspective also leads to a new understanding of the importance of memory for persons; while theories of diachronic identity consider memories primarily as countable units and as vehicles for transporting information over time, theories of biographical identity ask for how (autobiographical) memories constitute complex and dynamic biographies and how the features of memory enable persons to develop abilities like self-reflection, long-term planning, and personality development (see Jungert 2013, 62-70). In the next paragraph, I will sketch some of these features and their contribution to the constitution of biographical identity. 4 Memory and Biographical Identity We will start with the assumption that autobiographical memories are at the basis of what Richard Wollheim (1984) calls “the thread of life”. By this term he implies that autobiographical memories not only contain important information about the life of a person, but also that they are a necessary precondition for experiencing one’s life as a coherent, meaningful and ongoing process, as they connect and organize remembered events in a way that allows for threading these different parts and that results in the ability of seeing one’s life as a whole. It is this concept of autobiographical memory as a “transmitter of influence” (ibid., 101) that is missing in theories of diachronic identity where memory is primarily seen as an information carrier. Michael Jungert 134 One key to understanding this feature of autobiographical memory lies in its narrative structure. “Narrative” here relates to a specific form of psychical organization that enables a person to make sense of her past and to understand her traits, preferences, and volitions as the result of a complex personal history (see Jungert 2013, 78). In order to conceive of the mechanisms of this narrative structure in detail, it is necessary to expand classical philosophical analysis by empirical results about the actual functioning of memory. In what follows, this will be demonstrated by reference to the importance of emotions for autobiographical memory as well as to the role of implicit memories for the constitution of biographical identity. As it was already mentioned in the characterization of autobiographical memory, this kind of memory is not memory for pure semantic knowledge and brute facts. On the contrary, autobiographical memories are often highly emotionally charged. Emotions are central for the process of autobiographical remembering at many different levels, beginning with the encoding and retention of memories, as emotionally charged memories are encoded more often than emotionally neutral memories and can be retained for a very long time in many cases (see Schacter 2001, 163). The emotional index attached to a certain memory at the time of encoding can become a part of the person’s biographical identity. However, this emotional index might also be subject to change over time, which can be caused by a new evaluation of the emotion and memory in question. If, for example, someone has changed his attitude toward smoking over the years, he might end up attaching his current aversion against smoking to his former memories, although at the time of encoding he had been a passionate smoker and therefore attached positive emotions to these memories originally. Such cases demonstrate the reverse direction of influence from (current) self to (former) emotion and memories: “Not only is our sense of self based on memories of past experiences, […] but our retrieval, recollection, and reconstruction of the past is, reciprocally, influenced by the self” (Schacter/ Chiao/ Mitchell 2003, 227). This modification of memories through the current self-image of a person usually happens without conscious awareness, resulting in an implicit harmonization of remembered past and experienced presence. 7 Another important aspect of autobiographical memory is the subjective evaluation and interpretation of correctly remembered past emotions 8 from a present point of view. Following Dorothea Debus, there are two main functions of a subject’s concern with “autobiographically past-directed emotions”, so-called APDs (Debus 2007, 758). First, “non-empathetic APDemotions” (ibid., 773) enable persons to evaluate their own past emotions based on their current personality. By assessing one’s own past in this way, 7 See Levine (1997); for an account of the epistemological consequences of implicit bias, see Gendler (2011). 8 “Correctly remembered“ here refers to emotions whose remembered content corresponds to the content at their encoding. Memory, Personal Identity, and Memory Modification 135 it becomes possible to compare former and present emotions and attitudes and to discover and evaluate differences and developments in the course of life. Second, “empathetic APD-emotions“ (ibid., 774) facilitate the empathic understanding of one’s past emotions and the comprehension of why one felt about certain things in a certain way at a certain time and why this way of feeling might have changed over time. Both functions are connected with two different perspectives in autobiographical memory that have been explored in detail by psychology and neuroscience in the last years. The first one is the so-called “field perspective” (Nigro/ Neisser 1983, 467). As a first-person perspective it includes the mental reliving of the respective past situation from the inside as if one were experiencing the original situation again. By contrast, the “observer perspective” (ibid.) enables the remembering person to take a third-person perspective on the past episode in order to experience it from the outside. Interestingly, both perspectives can alternate even during one and the same memory, as a study by psychologists Berntsen and Rubin shows: “I see myself dancing at the university. I remember my clothes and my legs (the way they moved). Suddenly, I am ‘inside my own body’ looking out. A guy I know a little walks by me and says as he passes: ‘You look good today’.” (Berntsen/ Rubin 2006, 1193) By taking the “observer perspective”, one can step back from the immediate first-person reliving of the episode and instead observe his own behavior from a distance, enabling him to evaluate critically or to understand parts of his personal history. Both perspectives in autobiographical memory are important factors for the development of a “narrative sense of self” (Goldie 2003, 313), as they help to discover and understand coherences and disruptions in the life story of a person. After having sketched some aspects of the role of emotions for autobiographical memory and biographical identity, we will now turn to the importance of implicit memories. Many theories of personal identity, mostly based on (more or less strong) rationalistic assumptions (e. g. Locke and Parfit), focus on conscious memories and on how persons deal consciously with their memories. In contrast, another important way in which the past influences the present and future of persons is mostly ignored. In many cases, the impact of the past does not happen through memories that are consciously reflected on by the person, but through a practical conduct of life that is based on implicit knowledge about the past (see Jungert 2013, 174-186). The implicitness of this knowledge often results from a complex process that starts with the conscious learning of skills or the conscious acquisition of knowledge and ends with the implicit usage of knowledge and the “automatic” handling of skills. This implicit knowledge is not restricted to skills or semantic facts. It also entails many experiences, principles of action, and preferences of a person, which build an essential part of this person’s specific conduct of life and establish an embodied personality structure (“leibliche Michael Jungert 136 Persönlichkeitsstruktur”) (Fuchs 2007, 75). Furthermore, implicit memories are able to emotionally affect persons, leading to emotional reactions without the subject being aware of the causes of this reaction. Most people know the kind of situation, where a familiar sound, taste, or smell evokes emotional reactions - e. g. associated with childhood experiences - while the reason for this reaction remains unclear in the first place. Later, one might get an idea of where the reaction could have come from and even remember the specific past situation from which the emotion originated. This shows that implicit memories and explicit autobiographical memories are closely connected and can merge into each other. Instead of being strictly separated, the different kinds of memory form a dynamic interacting system that is able to keep and adapt memories in diverse ways and facilitates multiple types of access to the own past (see Jungert 2013, 50-51; 174-186). Based on these reflections, we can now shortly consider some aspects of memory modification and their relation to biographical identity. 5 Memory Modification and Human Self-Design The previous thoughts on autobiographical and implicit memory, emotions, and biographical identity also allow for some remarks on the debate about memory modification as a (future) form of human self-design. These remarks are mostly descriptive in nature and do not aim at the ethical debate about the permissiveness of memory modification (see, for an overview, Erler 2011). However, by linking the findings on the features of autobiographical memory and their relation to biographical identity to different kinds of memory modification, it becomes possible to understand in greater detail the potential effects of such modifications on the psychology of persons. One highly debated form of memory modification in therapeutic contexts is the use of beta-blockers (especially propranolol) and other drugs for the treatment of people suffering from posttraumatic stress disorder (see Pitman et al. 2002; Liao/ Wasserman 2007; Donovan 2010). This therapy intends to weaken the emotionality of certain memories in order to help patients to deal better with traumatic events in their past. “Modification” here does not relate to the factual content of the respective memories, but to their emotional impact. As we have seen during the discussion of the connection between (autobiographical) memory and biographical identity, it is exactly this emotional impact of memories that explains much of their importance for the constitution and development of a person’s identity. Emotions are an essential key to understanding one’s own past by enabling persons to compare past and present attitudes, preferences, and values and to make sense of the development of the individual life story. This is true both for positive and negative emotions. Therefore, the attempt to alter specifically certain negative emotions connected with certain memories could have consequences for Memory, Personal Identity, and Memory Modification 137 the biographical identity of a person. By weakening the emotional index of autobiographical memories, one might also reduce the person’s ability to make sense of the respective past episode, as the integration of this episode into the self-image and life story might become more difficult or even impossible. Also, because of the intimate correlation among different autobiographical memories and between explicit and implicit memories, the attempt to modify just one or a few specific memories could affect larger parts of a person’s mental life and reduce the person-specific ability to act and plan on the basis of profound knowledge of her own past. A second debate centers on the use of cognitive enhancement in nontherapeutic contexts, sometimes labeled “cosmetic neurology” (see Chatterjee 2004) or “cosmetic psychopharmacology” (see Kramer 1993). The enhancement of memory is a core topic in this multifaceted discussion (see Lynch 2002; Dekkers/ Rikkert 2007). In most cases, the idea of “memory enhancement” aims at the improvement of human memory in terms of a higher capacity for long-term memory and the ability to remember things very quickly when needed, which is consistent with the common-sense idea of wishing for a “better memory”. Based on the reflections on memory and biographical identity, we can evaluate some possible consequences of enhancing human memory in the way described above. Clearly, the everyday desire for a better memory is based on the subjective impression that most of us all too often seem to forget many things (names, birthdays, deadlines, and so on) that would be important to keep. In this respect, forgetting seems to be a defect in memory and human cognition. However, this is just the semantic side of forgetting. In contrast, autobiographical forgetting seems to be of high importance for the stability of biographical identity. To elaborate on this importance, let us shortly consider the case study of Jill Price who came to be known as the first official case of persons suffering from “hyperthymestic syndrome” (see Parker et al. 2006, 35), i. e. a hyperfunction of memory. While Price has no extraordinary memory for facts (as it is the case with so-called “mnemonists” who are able to remember extremely long lists of data), her autobiographical memory is quite exceptional, as she is able to remember every single day in her life from the age of seven. Her memory of her past does not only include facts. Instead, she is able to relive mentally most of the events in her life, including mental images and strong emotions connected with these past events. This reliving of the past happens involuntarily, continuously, and in an uncontrolled fashion: “I think about the past all the time […]. It’s like a running movie that never stops. It’s like a split screen. I’ll be talking to someone and seeing something else. […] I run my entire life through my head every day and it drives me crazy! ! ! ” (Parker et al. 2006, 35) Price’s memory is very different from “normal” human memory as her autobiographical memories are more or less complete, remain firm over time, and do not fade. “Fade” here does not just relate to the factual content, but Michael Jungert 138 also to the emotional quality of her memories, which are absorbing a large part of her time and attention and prevent her from living fully in the present: “Normally people do not dwell on their past but they are oriented to the present, the here and now. Yet [Jill Price] is bound by recollections of her past” (ibid., 46). The case of Jill Price shows that an “enhanced” memory might have serious negative consequences for the biographical identity of a person. The selectivity of human memory, i. e. the ability to keep just a few of the many experiences in mind and the ability to organize autobiographical memories within the framework of a life story, could be disturbed by an enhanced memory that makes it hard to select and forget experiences and to focus on the present and future instead of constantly dealing with the past. Of course, these possible consequences very much depend on the exact way in which memory is being “enhanced”. As we have seen in the case of Jill Price, it is not primarily the amount of memories that one is able to remember, but the way in which memories take control of one’s mental life and the emotional influence of memories that could impair the development of the “thread of life” (see Jungert 2013, 162-174). 6 Conclusion In this chapter, I have demonstrated how the role of memory for personal identity can be elaborated by shifting the philosophical focus from diachronic to biographical identity. By analyzing the way in which humans are able to lead the life of a person and the way in which memories help to build the structure for this personal life, it becomes possible to characterize the relation between memory and personal identity instead of trying to define criteria for identifying persons and their identity over time. The integration of psychological findings on memory into philosophical theory is an essential key for understanding the connection between personhood and memory. This is especially true for the role of emotional memories and implicit memories that has just begun to be understood. As we have seen, the results of a detailed analysis of memory’s influence on biographical identity might also be helpful for understanding the functionality and consequences of memory modification and enhancement. Therefore, further enquiry into the constitution and development of biographical identity by means of (autobiographical) memory seems to be necessary and promising both for the debate on personal identity and for the discussion of (future) human selfdesign. Memory, Personal Identity, and Memory Modification 139 Literature Bennett, Maxwell R./ Hacker, Peter M. S. (2003): Philosophical Foundations of Neuroscience. Malden (MA): Blackwell. Bernecker, Sven (2010): Memory. A Philosophical Study. Oxford: Oxford University Press. Berntsen, Dorthe/ Rubin, David C. (2006): Emotion and Vantage Point in Autobiographical Memory. In: Cognition and Emotion 20(8), pp. 1193-1215. Chatterjee, Anjan (2004): Cosmetic Neurology. The Controversy Over Enhancing Movement, Mentation, and Mood. In: Neurology 63(6), pp. 968-974. Cubelli, Roberto (2010): A New Taxonomy of Memory and Forgetting. In: Della Sala, Sergio (ed.): Forgetting. Hove: Psychology Press, pp. 35-47. Danziger, Kurt (2008): Marking the Mind. 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While speaking of “authenticity” in bioethics seemingly expresses a discrete worry about self-realization, a closer look reveals that problems discussed here resemble the concern that neuro-enhancement might impair central conditions of personal autonomy. Scrutinizing both semantic properties of “authenticity” and arguments from the bioethical debate, it is shown that the term often refers to implicit standards for personal identity, which differ with regards to normative strength. Disclosing these hidden normative assumptions, the reference to concepts of authenticity in the debate on neuro-enhancement can be understood as a call for a more precise articulation of moral intuitions. 1 Einleitung Die Rede von der „Authentizität“ der Person ist aus der ethischen Debatte über Möglichkeiten des sogenannten Neuro-Enhancements (NE) 1 nicht wegzudenken (vgl. zuletzt Elliott 2011; Erler 2011). Seit langem wird die Sorge geäußert, dass die Veränderung und Gestaltung der Persönlichkeit mithilfe 1 Unter NE verstehe ich alle potentiell wirksamen biomedizinischen Interventionen in das Gehirn und Nervensystem eines Menschen, die nicht der Vorbeugung oder der Vermeidung von Krankheit im Sinne von dysfunktionaler Normabweichung und subjektivem Leiden und/ oder Inkompetenz gelten und die einer kontroversen Alltagsverwendung unterliegen. Unter diese Definition fallen beispielsweise die Einnahme von Antidepressiva, Antidementiva und Psychostimulanzien zur Beeinflussung mentaler und kognitiver Prozesse, nicht aber der Genuss von Kaffee oder Energydrinks. Auf die anhaltende Kontroverse um derartige Definitionen kann im Rahmen dieses Aufsatzes leider nicht eingegangen werden. Jon Leefmann 142 neurotechnischer Innovationen die Authentizität der Person verletzen, untergraben oder behindern könnte. 2 Allerdings ist bisher umstritten, in welcher Hinsicht die Referenz auf die Begriffe „Authentizität“ und „authentisch“ für ethische Debatten relevant ist. Während manche Autoren die Sorge um Authentizität nämlich als gleichbedeutend mit der Sorge um die Beeinträchtigung entscheidender Bedingungen personaler Autonomie verstehen (vgl. DeGrazia 2005, 77-114), sehen andere in der Authentizität der Person eine wichtige Bedingung eines guten Lebens (vgl. Kipke 2011, 157- 161; 209-218). Obgleich sich beide Sichtweisen nicht ausschließen, sprechen sie jedoch offensichtlich unterschiedliche Intuitionen an. Dieser Aufsatz zeigt, dass sich hinter der Sorge um die Authentizität von Personen nicht nur derartige, unterschiedliche Intuitionen, sondern zwei grundsätzlich verschiedene Begriffsvarianten verbergen. Um diese aufzudecken, analysiere ich zunächst die Möglichkeiten der sprachlichen Zuschreibung von Authentizität an Personen. Dabei stelle ich heraus, dass jede Rede von Authentizität eine Bezugnahme auf Maßstäbe beinhaltet, die der so beschriebenen Person immanent sind. Anschließend gehe ich auf drei Modelle ein, die erklären, wie sich diese immanenten Maßstäbe theoretisch fassen lassen. Die ersten beiden Modelle konzipieren diese Maßstäbe grundsätzlich als Gegenstand einer Wahl, unterscheiden sich aber untereinander gravierend in ihren Annahmen über die Bedingungen dieser Wahl. Das dritte Modell dagegen versteht die Maßstäbe nicht als Gegenstand, sondern selbst als Bedingung der Möglichkeit einer Wahl. Daher handelt es sich bei den ersten beiden Modellen um normativ neutrale bzw. schwach normative Varianten des Authentizitätsbegriffes, beim dritten Modell dagegen um eine stark normative Variante. Durch Bezugnahme auf den bioethischen Diskurs um NE lässt sich wiederum zeigen, dass unterschiedliche Aspekte der Sorge, NE könne ein selbstbestimmtes Leben gefährden, als Ausdruck der Verwendung schwach normativer oder stark normativer Varianten des Authentizitätsbegriffes gedeutet werden können. Der erste Aspekt der Sorge betrifft die Einschränkung der Kompetenz, selbstbestimmt wählen und handeln zu können. Ihm liegt immer eine schwach normative Variante des Authentizitätsbegriffes zugrunde. Der zweite Aspekt der Sorge betrifft die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die das Erkennen der zu wählenden, eigenen Ziele allererst ermöglichen. Er kann überzeugend nur mithilfe der stark normativen Variante verdeutlicht werden. 2 Im Folgenden beziehe ich mich vornehmlich auf die Intuition, dass die Anwendung von NE die Authentizität einer Person gefährden könnte. Theoretisch ließe sich ebenso gut untersuchen, inwieweit die Anwendung von NE die Authentizität erst ermöglicht. Der unartikulierte Verdacht 143 2 Sein, wie man sollte Beginnen wir mit einer allgemeinen Bemerkung über das Wort „authentisch“: Die meisten Adjektive lassen sich attributiv verwenden. Allerdings sind die logischen Konsequenzen, die sich aus dieser Verwendungsweise ergeben, nicht für alle Adjektive gleich. 3 Während sich bei der attributiven Verwendung von „blau“ der Übergang von „x ist ein blauer Picasso“ und „x ist ein Gemälde“ zu „x ist ein blaues Gemälde“ logisch problemlos bewerkstelligen lässt, ist dies bei der attributiven Verwendung von „authentisch“ nicht der Fall. Aus „x ist ein authentischer Picasso“ und „x ist ein Gemälde“ folgt logisch nicht „x ist ein authentisches Gemälde“. Denn die Kriterien, die x erfüllen muss, um als authentisches Gemälde zu gelten, sind verschieden von jenen Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit x als authentischer Picasso gelten kann. Authentische Gemälde müssen nicht unbedingt von Pablo Picasso gemalt worden sein. Vielmehr kommt es darauf an, dass sie im Unterschied zu allen anderen Arten von Kunstwerken überhaupt als Gemälde erkennbar sind. Ein Gemälde ist authentisch im Gegensatz zu allen Nicht-Gemälden. Ebenso ist ein Picasso authentisch im Gegensatz zu allen Kunstwerken, die nicht aus der Hand von Pablo Picasso stammen. Es ist daher notwendig, bei der Zuschreibung von „authentisch“ im Auge zu behalten als was etwas authentisch ist. Dies gilt nicht für ein Adjektiv wie „blau“. „Blau“ bedeutet einfach blau, egal ob es einem Picasso, einem Gemälde oder einem Kunstwerk attribuiert wird. Von etwas aber zu sagen es sei authentisch, setzt die Bezugnahme auf einen Maßstab voraus, der semantisch nicht im attribuierten Adjektiv selbst enthalten ist. Die Bedeutung von „authentisch“ hängt deshalb teilweise von der Bedeutung des Wortes ab, dem es zugeschrieben wird. Auf menschliche Personen lassen sich diese Gedanken folgendermaßen übertragen: Ein sehr einfaches Verständnis einer authentischen Person verweist darauf, dass jede Person bestimmte Eigenschaften hat, die sie zu einem Individuum machen. Weil das Adjektiv „authentisch“ seine Bedeutung teilweise aus dem Substantiv schöpft, dem es attribuiert wird, wäre die authentische Person in diesem Fall einfach jede Person, die man als solche bezeichnet: Der authentische Peter beispielsweise wäre niemand anderer als Peter selbst. Die Feststellung der Authentizität einer Person ist in diesem Fall tautologisch: Das Adjektiv „authentisch“ fügt der Beschreibung von Peter offensichtlich keinen neuen Aspekt hinzu. Dennoch erscheint es für gewöhnlich nicht trivial, die Authentizität von jemandem zu konstatieren. Es soll mehr gesagt werden als „Peter ist Peter“, wenn behauptet wird, dass Peter authentisch ist. Diese Intuition weist auf die Funktion hin, die der Attribuierung von „authentisch“ zukommt. Die Zuschreibung richtet sich gegen den Verdacht des Sprechenden, dass die Person, die er für Peter hält, möglich- 3 Auf diesen Umstand hat zuerst Peter Geach in einer logischen Analyse des Wortes „gut“ hingewiesen (vgl. Geach 1956, 33-35). Jon Leefmann 144 erweise jemand anderes ist. Die Aussage „Peter ist authentisch“ ist affirmativ - der Sprecher bestätigt sich selbst, sich nicht zu täuschen und die vor ihm stehende Person richtig wiederzuerkennen. Und umgekehrt: Peter wäre inauthentisch, wenn es so schiene, als ob die wahrgenommene Person mit der Vorstellung von Peter in keinem sinnvollen Zusammenhang stünde, obgleich paradoxerweise daran festgehalten wird, dass es sich bei dieser Erscheinung um niemand anderen als Peter handelt. Daher ist die Feststellung von Inauthentizität offensichtlich nicht gleichbedeutend mit der Feststellung von Nicht-Identität. Wenn behauptet wird, dass Peter inauthentisch sei, dann ist gemeint, dass er anders erscheint als er tatsächlich ist. Wenn dagegen behauptet wird, dass Peter keine andere Person ist, dann wird keine Vorstellung darüber vorausgesetzt, wie Peter tatsächlich ist oder wie er sein sollte. Es werden dann einfach zwei Personen verglichen und es wird festgestellt, dass sie unterschiedlich sind. Im Gegensatz zur Behauptung von (In-)Authentizität ist die Behauptung von (Nicht-) Identität daher weder affirmativ noch evaluativ. 4 Die in dem Satz „Peter ist authentisch“ ausgedrückte Affirmation verweist dagegen auf eine implizite Bewertung. Wenn mir Peter authentisch erscheint, dann sehe ich ihn so wie er in Wahrheit ist. Ich sehe dann den unverfälschten, den richtigen und wahren Peter. Wer Authentizität mit Identität gleichsetzt, verkennt daher, dass es sich bei der Zuschreibung von Authentizität nicht um die Feststellung einer Tatsache, sondern um eine Wertung handelt (vgl. Menke 2011, 223-224). 5 Peter erscheint mir authentisch, weil er meiner Auffassung darüber, wie er tatsächlich ist, gerecht wird. Mit diesem „tatsächlich ist“ ist also eigentlich „sein sollte“ gemeint. Dies ist ein Grund, weshalb die Rede von Authentizität und Inauthentizität manchmal mehr über die Vorstellungen und Werte des Sprechers verrät als über die so bezeichneten Personen oder Dinge. Denn mit diesem Attribut wird zumeist evaluativ auf eine bestimmte normative Vorstellung rekurriert, die der Sprecher in Bezug auf die beschriebene Person hat. Hieran anschließend lässt sich fragen, ob ein Maßstab für einzelne Personen existiert und wie er zustande kommt. Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre beispielsweise, dass Gott jedem Menschen eine bestimmte Aufgabe in der Welt zugewiesen hat. Dann ließe sich behaupten, dass jene Menschen, die sich der Erfüllung ihrer Aufgabe verweigerten, nicht so sind, wie sie sein sollten. Dieses Modell ist als Antwort auf die Frage nach der Authentizität allerdings problematisch, weil man niemals wissen kann, worin 4 Dies gilt zumindest für den Fall der numerischen und der qualitativen Identität. Für den Fall der narrativen Identität, bei dem zur Disposition steht, ob eine Person sich als identisch mit ihrem Selbstkonzept erlebt, ist dagegen ähnlich wie bei der Attribuierung von Authentizität eine Evaluation ihres Zustandes nötig. 5 Dies gilt nicht nur im Fall von Personen, sondern generell für die Attribuierung von Authentizität. Dass jemand oder etwas „authentisch“ sei, ist in fast allen Diskursen ein impliziter Ausdruck der Wertschätzung. Der unartikulierte Verdacht 145 so ein göttlicher, unabhängiger Maßstab bestünde und folglich auch nicht sagen kann, ob jemand sich in Bezug auf diesen Maßstab (in)authentisch verhält. Es fehlt diesem Modell schlicht eine Theorie des Irrtums, welche die Frage beantwortet, wann man sich in Bezug auf das, was man für den objektiven, göttlichen Maßstab hält, täuscht und wann nicht. Es gibt aber andere Möglichkeiten, einen solchen Maßstab zu konzeptualisieren: Beispielsweise könnte er durch Gewohnheiten und soziale Übereinkünfte festgelegt werden. Wenn Peter anders ist, als er sein sollte, dann besagt dies in diesem Verständnis nicht mehr, als dass er nicht so ist, wie es unseren Erwartungen entspricht. Diese Erwartungen speisen sich aus einem konstruierten Idealbild der Person. Peter erscheint demnach umso authentischer, je näher er diesem konstruierten Idealbild kommt. In Bezug auf Personen werfen solche Idealbilder allerdings zwangsläufig die Frage auf, ob diese den konstruierten Maßstab überhaupt erfüllen möchten. Wenn die Möglichkeit, authentisch zu sein nämlich offen gehalten werden soll, dann darf nicht festgelegt werden, wie Peter sein sollte, ohne in den Blick zu nehmen, wie Peter überhaupt sein kann und sein will. Wer sinnvoll von personaler Authentizität reden will, muss anerkennen, dass jeder durch sein Verhalten an der Konstruktion solcher Idealbilder teilnimmt. Der Maßstab, nach dem Authentizität beurteilt wird, muss deshalb ein für Peter angemessener Maßstab sein. Wenn der Maßstab dafür, wie jemand sein sollte, als ein intersubjektiv konstruiertes Idealbild verstanden wird, werden sogleich einige Möglichkeiten deutlich, wie NE die Authentizität einer Person beeinflussen könnte: Gleichgültig, ob man zwischen einer therapeutischen Wiederherstellung eines Zustandes und einem Enhancement unterscheidet oder nicht, kann ein erfolgreicher neurotechnischer Eingriff zu einer Veränderung der Person führen. Wenn diese Veränderung Merkmale betrifft, die relevant für das Idealbild der Person sind, dann kann die durch den Eingriff herbeigeführte Abweichung vom Idealbild offensichtlich dazu führen, dass die veränderte Person in Bezug auf den idealen Maßstab inauthentisch wird. 6 Nun stellt sich allerdings die Frage, worauf die Beurteilung einer veränderten Person als inauthentisch überhaupt abzielt. In Anbetracht dessen, was oben über das Wort „authentisch“ gesagt wurde, scheint diese Beurteilung nur mehr eine Missbilligung der Person auszudrücken. Eine Missbilligung, die fraglich bleibt, bis geklärt ist, ob ihr überhaupt ein angemessener Maßstab zugrunde liegt. Denn dass ich finde, dass Peter nicht so ist, wie er sein sollte, mag zwar meine Verwendung dieses missbilligenden Ausdru- 6 Genau diese Sorge wird von vielen Autoren in der Debatte um Neuro-Enhancement geäußert, z. B. von Schöne-Seifert (2009, 360-361). Das einschlägigste Gedankenexperiment in dieser Richtung liefert Parens (2005, 39) mit der Idee einer „intimacy pill“, welche die Empfindung von Intimität fingiert, ohne dass eine derartige Beziehung zu der Person bestünde, auf die sich diese Empfindung richtet. Es ist anzunehmen, dass das Verhalten eines Anwenders einer solchen Pille extrem inauthentisch wäre, wenn es ohne medikamentöse Unterstützung zuvor niemals aufgetreten ist. Jon Leefmann 146 ckes erklären, aber es erklärt nicht, mit welchem Recht ich Peter überhaupt meinen Maßstab vorschreiben darf. Fraglich ist also, wer überhaupt legitimiert ist, Vorschriften dieser Art zu machen. Wenn meine Meinung darüber, wie Peter sein sollte, nicht auf Anerkennung durch andere und vor allem nicht auf Anerkennung durch Peter selbst hoffen kann, dann ist mein Vorwurf der Inauthentizität allenfalls eine Überheblichkeit. Ein gravierendes Problem dieser an Konventionen orientierten Interpretation des Authentizitätsbegriffes besteht offensichtlich in der Frage nach dem richtigen Verhältnis von individuell Gewünschtem und gesellschaftlich Erwünschtem. Wie jemand sein sollte, hängt in dieser Interpretation vor allem davon ab, welche Werte in einer Gesellschaft jeweils Geltung beanspruchen und wer die Orientierung an diesen Werten einfordern darf. Damit wird das, was für eine Person als Maßstab jeweils angemessen ist, historisch wie kulturell relativ. In der akademischen Debatte über NE, die vor allem in Publikationen westlicher Fachverlage geführt wird, dominiert dagegen das liberale Ideal des autonomen Subjekts. Wie eine Person sein sollte, bemisst sich dieser Auffassung zufolge vor allem daran, wie sie unter der Voraussetzung größtmöglicher innerer wie äußerer Freiheit sein will und weniger an den jeweiligen sozialen oder kulturellen Gepflogenheiten. Dieses liberale Ideal verkörpert die dominierende, aber natürlich nicht die einzige Perspektive auf die Frage nach dem angemessenen Maßstab für eine Person. Letzteres zeigen Einwände, welche die konstitutive Abhängigkeit des Subjekts von der Anerkennung durch die Gemeinschaft betonen und darlegen, dass das, was man selbst als angemessen erachtet, nicht unabhängig von sozialen Bedingungen ist (vgl. Taylor 1999a). Beispielsweise taucht im Diskurs über NE im Zusammenhang der Verwendung von Antidepressiva häufig die Frage auf, welche Verhaltensweisen jeweils angemessen sind. Während in manchen asiatischen Kulturen eher angepasste Persönlichkeiten geschätzt werden und ein rücksichtsvolles Verhalten als angemessen gilt, würden wahrscheinlich viele Europäer und US-Amerikaner ein vergleichbares Verhalten als überangepasst oder sogar als behandlungswürdige, soziale Phobie interpretieren (vgl. Elliott 2004, 70-76). Ebenso kann man bezüglich der Benutzung von Psychostimulanzien zur Steigerung kognitiver Leistungen fragen, welche geistigen Leistungen überhaupt als angemessen gelten sollten. Insbesondere für die Frage, ob eine Person durch NE inauthentisch werden könnte, bietet daher das Verhältnis von liberalem und konventionalistischem Ansatz reichlich Diskussionspotential. 3 Sein, wie man will Die liberale Auffassung, das „sein sollte“ als ein „sein will“ zu interpretieren, ist deshalb so attraktiv, weil sie den Blick auf ein Feld wendet, das in der bisherigen Betrachtung der Verwendung der Worte „authentisch“ und „Authentizität“ noch unterbelichtet geblieben ist. Gewöhnlich wird nicht Der unartikulierte Verdacht 147 nur gefragt, ob Personen so sind wie sie sein sollten, sondern auch, wie wir selbst diese Frage auf uns bezogen beantworten würden. Bevor man fragt, wie man Alles-in-allem sein sollte, fragt man aus liberaler Perspektive, wie man überhaupt sein will. Wenn die Frage nach Authentizität so verstanden wird, dann wiederholt sich in gewisser Weise die Struktur der Probleme, die im vorangegangenen Abschnitt bereits erörtert wurde - nun allerdings im Hinblick auf das individuelle Selbstverständnis. Denn auch hier hängt die Möglichkeit zu fragen, ob ich so bin, wie ich will, zunächst von der Voraussetzung ab, dass ich prinzipiell auch anders sein wollen könnte. Wenn (In)authentizität daher eine Alternative für die Bewertung meines Zustandes bleiben soll, dann muss ich voraussetzten, dass ich frei bin mich zu dem, was ich will, zu verhalten. Um von mir selbst in dieser Perspektive sagen zu können, ob ich authentisch bin oder nicht, darf ich also nicht einfach tun, was ich ohnehin will, sondern ich muss in der Lage sein, darüber nachzudenken, ob ich das, was ich will, auch tatsächlich wollen sollte. Kurz: Ich muss über etwas verfügen, was sich mit Quante (2007, 29) als evaluatives Selbstverhältnis bezeichnen lässt. Wenn es bei der Selbstbeurteilung als authentisch darum geht, ob man so ist wie man sein will, und wenn die Freiheit dabei eine so entscheidende Rolle spielt, dann ist es erst einmal naheliegend, das „sein, wie ich will“ zu verstehen als „sein, wie ich zu sein wähle“. Das ist die Position von Jean- Paul Sartre (1991, 195-196). Ihm zufolge ist der Mensch in existentieller Weise frei und kann gar nicht davon absehen, sich zu sich selbst und zu der Frage, wie er sein will, zu verhalten. Er ist dazu verurteilt, das, was er sein will, permanent wählen zu müssen (vgl. Sartre 1994, 127). Sartre drückt das dadurch aus, dass er den Menschen ontologisch zugleich als Transzendenz und als Faktizität bestimmt. Diese Unterscheidung besagt, dass es für Menschen prinzipiell unmöglich ist, ihr Bewusstsein in der gleichen Perspektive zu erfassen wie ihre Bewusstseinsinhalte. Da also niemand, wenn er sich selbst denkt, mit seinem Bewusstseinsinhalt - der Faktizität - identisch ist, erschöpft sich seine Existenz nicht in der Faktizität, sondern transzendiert sie. Als problematisch bewertet Sartre daher Versuche, diese Tatsache zu verdecken. Sie führen zu Unaufrichtigkeit oder - wie man auch sagen könnte - zu Inauthentizität. Wenn man versucht, sich mit seinen Bewusstseinsinhalten zu identifizieren und sein zu wollen, was man als Faktizität ist, dann ist es unvermeidlich, dass man sich selbst etwas vormacht. Der Mensch, der in Sartres (1991, 139-140) berühmtem Beispiel versucht, ein guter Kellner zu sein, verfehlt sich als Kellner, weil ihm in seiner Fixierung sein unmittelbares Handeln entgeht. Authentisch könne daher nur werden, wer den Versuch aufgibt, allein Faktizität sein zu wollen, und anerkenne, dass er gezwungen ist, sich in jedem Moment von neuem zu transzendieren. Und das bedeute, sich in jedem Moment ohne Rückgriff auf irgendeinen Maßstab für einen Selbstentwurf zu entscheiden. Man könne daher authentisch nur im Handeln sein (vgl. Sartre 1994, 130). Jon Leefmann 148 In dieser Interpretation von Authentizität kommt es also auf das Wollen überhaupt an. Nicht die Frage, ob wir so sind, wie wir sein wollen, steht zur Debatte, sondern die umgekehrte Frage: Wollen wir so, wie wir sind, auch in Zukunft sein? Weil es in dieser Interpretation also vor allem um einen engagierten Standpunkt dem eigenen Leben gegenüber geht, wird aus der Frage, ob NE die Authentizität einer Person gefährden könnte, die Frage, ob die anwendende Person das Enhancement tatsächlich gewollt hat. Die Frage nach der Authentizität einer veränderten Person reduziert sich damit auf die Frage, inwiefern die Entscheidung, die zu der Veränderung führte, auf einer freien Wahl beruhte. Dass ein solcher Voluntarismus die entscheidende Perspektive auf individualethische Fragen des NE sein sollte, ist mit mehr oder minder direkter Referenz auf Sartre verschiedentlich argumentiert worden, 7 allerdings meist um den Preis, die Rede von Authentizität im Zusammenhang des NE gänzlich aufzugeben und stattdessen lieber von personaler Autonomie 8 zu sprechen. Dass manche Autoren die Möglichkeit einer Gefährdung der Authentizität verneinen, liegt oftmals also schlicht daran, dass sie Authentizität voluntaristisch interpretieren. Wenn es bei der Authentizität nur darauf ankommt, eine rückhaltlose Entscheidung zu treffen, dann reicht es, die Frage zu bejahen, ob die Entscheidung für ein Enhancement das Ergebnis einer freien Wahl gewesen ist. Im Grunde ist das die einzige Frage, die man mit dieser Interpretation überhaupt stellen kann. Denn schon die Frage, ob die Entscheidung etwa selbst- oder fremdbestimmt gewesen sei, lässt sich wegen der Unterbestimmtheit des Ausdruckes „Selbst“ in Sartres Ansatz nicht mehr wirklich thematisieren. 9 Allerdings unterschätzt diese Perspektive die Tatsache, dass jede Wahl immer eine Entscheidung zwischen Alternativen ist, die man wiederum nicht selbst gewählt haben kann (vgl. Taylor 1999b, 29f.). Was ich überhaupt wählen kann zu sein, ist natürlich davon abhängig, welche Möglichkeiten ich in der Welt, in der ich lebe, überhaupt habe. Es scheint, dass Sartre die Freiheit zu wählen, wie man sein will, gänzlich auf ontologischer Ebene verortet und so biologische, psychische und soziokulturelle Faktoren nicht berücksichtigt. 7 Beispielsweise von Levy (2007, 103-108); in einer neueren Arbeit lehnt dieser allerdings die eigene Position ab und erklärt den Streit um das richtige Verständnis von Authentizität für die Debatte um NE aus pragmatischen Gründen für irrelevant (vgl. Levy 2011). 8 Nun ist das, was man in der Philosophie unter dem Begriff der personalen Autonomie diskutiert, ähnlich breit gefächert wie die verschiedenen Interpretationen von Authentizität (vgl. Kühler/ Jelinek 2013). Es wäre daher sicherlich lohnend zu untersuchen, ob es sich bei der Rede von Authentizität und personaler Autonomie im Grunde lediglich um eine terminologische Unterscheidung handelt. 9 Konsequenterweise vermeiden einige Autoren in ihren Analysen neurotechnischer Selbstgestaltung jeden Bezug auf das evaluative Selbstverhältnis der Person und fragen nur nach den Entscheidungskompetenzen des Akteurs. Das erlaubt es ihnen dann auch, die Rede von Authentizität insgesamt aufzugeben (vgl. Bublitz u. a. 2009). Der unartikulierte Verdacht 149 Anders verhält es sich mit der breit rezipierten Theoriealternative von Harry Frankfurt, die kein entscheidungsbasiertes, sondern ein strukturelles Modell der Authentizität entwirft. Frankfurt versteht das, was jemand sein will nicht als das, was er wählt, sondern als das, womit er nicht anders kann, als sich zu identifizieren (vgl. Frankfurt 1988; 1999; 2006). Anders als Sartres Theorie der existentiellen Wahl geht dieser Ansatz von einer kompatibilistischen Interpretation der Willensfreiheit aus: Das, was ich will, wird in dieser Perspektive durch subjektive Dispositionen des Willens bestimmt, die sich meiner bewussten Beeinflussung entziehen. Dabei nimmt Frankfurt an, dass jede Person nicht nur in Handlungen wirksame Bedürfnisse und Antriebe - kurz: Wünsche - hat, sondern auch die Fähigkeit, sich wertend zu diesen Wünschen zu verhalten. Diese Bewertung der Wünsche wird dabei durch sogenannte Wünsche zweiter Stufe geleistet, die sich auf die basalen Wünsche erster Stufe beziehen. Frankfurt entwirft ein hierarchisches Stufenmodell, in welchem ein Wunsch zweiter Stufe in der Lage ist, einen handlungswirksamen Wunsch erster Stufe als authentischen Wunsch zu autorisieren. Das heißt, was ich will, bemisst sich nicht daran, worauf meine unreflektierten Wünsche abzielen, sondern daran, ob mein Wunsch zweiter Stufe meinen Wunsch erster Stufe bejaht. Ich muss nicht nur wünschen etwas zu tun, sondern ich muss außerdem auch wünschen, was ich zu tun wünsche. Anders ausgedrückt: Ich muss mich mit meinem Wunsch erster Stufe identifizieren. Dieses Modell steht allerdings u. a. in der Kritik, weil es Frankfurt bisher nicht gelungen ist plausibel zu machen, woraus sich die Autorität der Wünsche zweiter Stufe speist (vgl. Betzler 2001). Denn weder möchte er sie einfach setzen - dann könnte er gleich das existenzphilosophische Modell übernehmen - noch will er den Akteur psychisch dadurch überfordern, dass er eine Vielzahl weiterer Wunschstufen annimmt, welche ihrerseits die Wünsche auf der jeweils niedrigeren Stufe autorisieren müssen. Seine Antwort läuft darauf hinaus, die Autorität der Wünsche zweiter Stufe - und damit den Prozess der Identifikation - durch eine weitgehende Kohärenz der Wünsche auf dieser Stufe zu begründen. Denn die Notwendigkeit nach einer weiteren Begründung der Wünsche zweiter Stufe zu suchen besteht nur, solange es überhaupt möglich ist, in Bezug auf seine Wünsche zweiter Stufe unentschieden zu sein. Deshalb kommt die Kohärenz der Wünsche zweiter Stufe gerade in der Freiheit von Ambivalenz zum Ausdruck. Ist diese Kohärenz innerhalb und zwischen den Wunschstufen erreicht, gibt es für die Person keine Notwendigkeit mehr weiter zu fragen, ob sie das, was sie zu wünschen wünscht auch tatsächlich wünscht. Sie hat sich entschieden und stimmt „aus ganzem Herzen“ mit ihrem Wunsch erster Stufe überein. Dieses passive Moment innerhalb einer Entscheidung „aus ganzem Herzen“ tritt in den neueren Arbeiten Frankfurts mehr und mehr in den Vordergrund, wobei die Grundidee darin besteht, dass genau dann keine Notwendigkeit mehr für die Person besteht weiter danach zu fragen, Jon Leefmann 150 ob sie das, was sie will auch tatsächlich will, wenn sie gar nicht anders kann als das zu wollen, was sie will (vgl. Frankfurt 1999; 2006). Damit ist das, was jemand „aus ganzem Herzen“ will und womit er sich identifiziert in diesem Modell davon abhängig, welche grundlegenden volitionalen Bindungen er hegt. Der Maßstab für die Authentizität der Person besteht dementsprechend in der Übereinstimmung ihrer handlungswirksamen Wünsche erster Stufe mit ihren volitional unverfügbaren Willensdispositionen der zweiten Wunschstufe. Wer jemand tatsächlich ist, zeigt sich daran, was er „wollen muss“ und nicht wie bei Sartre daran, wofür er sich entscheidet. Insofern ist der in volitionaler Hinsicht essentialistische Ansatz von Frankfurt für die Frage nach der Gefährdung der Authentizität einer Person durch NE anschlussfähiger, weil er diese Vorstellung präzisieren kann. Denn wenn „authentisch“ als „wollen wie man will“ verstanden und die Identifikation mit Wünschen erster Stufe als Kohärenz des Willens interpretiert wird, dann ist es möglich zu fragen, ob Versuche neurotechnischer Selbstgestaltung - beispielsweise der Versuch, seine Willensdispositionen zu verändern - nicht die Möglichkeit der Kohärenz des Willens untergraben. Und tatsächlich ist genau dies eine nicht selten unter Bezugnahme auf Worte wie „Authentizität“ oder „authentisch“ diskutierte Sorge (vgl. Merkel u. a. 2007, 338-343; Krämer 2013, 488-493). Deren Berechtigung hängt allerdings nicht nur davon ab, welche Veränderungen der Fähigkeiten, das „eigene“ Wollen zu erkennen und darauf Bezug zu nehmen, die Anwendung eines konkreten Neuro-Enhancers nach sich zieht. Ebenso wichtig ist die Aktualisierung der psychischen Fähigkeit einer Person, infolge solcher Veränderungen die Kohärenz des Willens wiederherzustellen. 10 Zumindest kann also die in diesem Sinne verstandene Sorge um Inauthentizität den wichtigen Hinweis geben, dass die Möglichkeit, sich mit seinen Wünschen erster Stufe identifizieren zu können und einen möglichst wenig ambivalenten Willen zu haben, eine wichtige Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln darstellt. Inwiefern hängt aber nun das, was jemand wünschen will, am Ende davon ab, wie er sein sollte? Ist es notwendig neben der in diesem Abschnitt angesprochenen Einschränkung existentieller Freiheit durch nötigende Willensdispositionen noch weitere Bedingungen des Wollens anzunehmen, um sinnvoll über Authentizität sprechen zu können? 10 Darauf, dass allein schon die Wiederherstellung eines Kohärenzgefühls eine große Herausforderung darstellt, ist im Zusammenhang therapeutischer Anwendungen von Neurotechnologien bereits mehrfach hingewiesen worden (vgl. Krämer 2011; 2013; Müller u. a. 2010). Der unartikulierte Verdacht 151 4 Wollen, wie man sollte Die Vermutung, dass möglicherweise weitere Bedingungen notwendig sein könnten, ergibt sich aus der Kritik, dass auch in Frankfurts Ansatz die Entstehungsbedingungen der unverfügbaren Willensdispositionen ungeklärt bleiben. Sicherlich ist davon auszugehen, dass sie eine Entstehungsgeschichte haben und damit selbst Bedingungen unterliegen, mit denen sich die Person möglicherweise nicht identifizieren kann. Erweiterungen des Frankfurt’schen Modells, welche die biographische und soziokulturelle Situierung der Person und ihre intersubjektive Konstitution berücksichtigen und damit weitere Ermöglichungsbedingungen für Authentizität einführen, sind von unterschiedlichen Autoren vorgelegt und weithin diskutiert worden (vgl. Christman 2009; Mackenzie/ Stoljar 1999). Sie können aber im Rahmen dieses Aufsatzes nicht angemessen diskutiert werden. Allgemein lässt sich allerdings feststellen, dass in diesen Ansätzen unter Berücksichtigung der spezifischen sozio-kulturellen Situiertheit einer Person die Frage nach der Adäquatheit ihrer authentizitätverbürgenden Wünsche vermehrt in den Vordergrund rückt. Wenn diese von subjekttranszendenten Bedingungen abhängig gemacht wird, dann gewinnt die Frage, wie jemand sein sollte, gegenüber der Frage, wie jemand sein will, an Gewicht. Für Authentizität reicht es dann nicht mehr aus, dass die Wünsche einer Person durch strukturelle Bedingungen des Willens, wie nötigende Willensdispositionen oder der Kohärenz mit einer individuellen Selbstnarration, autorisiert werden. Zur Debatte steht dann vielmehr, ob die Willensdispositionen oder die Selbstnarration der Person bestimmten inhaltlichen Standards gerecht werden. Welche inhaltlichen Bedingungen erfüllt sein müssen, um das Wollen einer Person als authentisch einstufen zu können, hängt dann aber von gesellschaftlichen Festlegungen ab. Über diese Idee einer intersubjektiven Konstitution der Person hinausgehend hat Charles Taylor (1989, 62-75) die Position vertreten, dass die Frage, wie jemand sein sollte nicht allein mit Verweis auf intersubjektive Anerkennungsrelationen, sondern besser unter Bezugnahme auf einen Raum moralischer Güter beantwortet werden sollte. Taylors Ansatz weicht von den beiden anderen hier dargestellten Modellen in dem entscheidenden Punkt ab, dass sich das evaluative Selbstverhältnis von Personen nicht allein durch Rückgriff auf bloße Wünsche und Affekte bestimmen lässt. Vielmehr lassen sich nach Taylor die meisten menschlichen Motive überhaupt nicht verstehen, wenn sie nicht bereits auf externe moralische Güter bezogen wären. Affekte und Wünsche mögen zwar Grundbegriffe zur Erklärung des Antriebs eines Akteurs sein, aber sie reichen nicht aus, um ihm eine Vorstellung davon zu vermitteln, was für sein Selbstverständnis von Wichtigkeit ist. Affekte, Motive und Wünsche müssen unter Zuhilfenahme einer wertenden Begrifflichkeit interpretiert werden, die nicht schon durch sie selbst gegeben ist, sondern die durch die sprachliche und lebensweltliche Verankerung der Jon Leefmann 152 Person in einer bestimmten Kultur und ihre Vorstellung des guten Lebens vorgegeben wird. Das für ein evaluatives Selbstverhältnis entscheidende Element des Wertes ist daher bei Taylor nicht im Wollen der Akteure zu suchen, sondern ist ihnen durch die strukturellen Bedingungen ihrer Lebensform gegeben. Diesen Unterschied zu den zuvor erörterten Varianten des Authentizitätsbegriffes formuliert Taylor (1999b, 16-27) in der für sein gesamtes Philosophieren grundlegenden Unterscheidung zwischen starken und schwachen Wertungen. In dieser als Erweiterung des Frankfurt’schen Ansatzes eingeführten Unterscheidung hängt das, was jemand wünschen will, nicht von der Kohärenz der Wünsche zweiter Stufe ab, sondern davon, ob ein Wunsch zweiter Stufe aufgrund seiner Beziehung zum Guten als kategorial verschieden und höher stehend wahrgenommen wird als ein konkurrierender Wunsch. Starke Wertungen beziehen ihre Rechtfertigung im Gegensatz zu schwachen Wertungen, die nur die Intensität gleichwertiger Wünsche vergleichen, aus der in die narrativen Selbstbeschreibungen des Akteurs verwobenen Erfahrung des Guten. Taylor vertritt die Auffassung, dass in Situationen, in denen jemand wählt, wie er sein will, diese Person von Erfahrungen geleitet wird, die sie zunächst in wertenden Begriffen deuten und dann in einer Öffentlichkeit artikulieren muss. Diese Deutungen sind einerseits durchsetzt mit kulturell angebotenen Deutungsmustern und andererseits mit Maßstäben des Guten, die diese Person als von außen an ihre Wünsche anzulegende erfährt. Entscheidend für Taylor (1999a) ist nun, dass Personen diesen Horizont des Guten nur dann wirklich erkennen, wenn es gelingt, die bestmögliche Artikulation der eigenen Wünsche zu erreichen. Die in der Öffentlichkeit vorherrschenden Deutungsmuster können diese Artikulation unterstützen oder behindern, womit die Perspektive eröffnet ist, inwiefern auch soziale Institutionen zu einer Orientierung am Guten - und das heißt zu Ermöglichung von Authentizität - beitragen können. In der Tat ist auch die Perspektive, die externe Bedingungen, wie beispielsweise soziale Anerkennung oder einen transzendenten Horizont des Guten, als konstitutiv für die Möglichkeit erachtet authentisch sein zu können, in der Debatte um das NE vertreten worden. So thematisieren einige Autoren die Gefährdung personaler Authentizität im Hinblick auf eine durch NE angestoßene soziale Dynamik, die in eine Verringerung der Akzeptanz jener Menschen münden könnte, die das Gute in anderen als in den gesellschaftlich vorherrschenden Werten erblicken. Wo Menschen aus der Öffentlichkeit ausgegrenzt werden, weil ihr Wollen unter den vorherrschenden Normen keine Anerkennung findet, oder wo soziale Institutionen unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Wertneutralität eine Orientierung am Guten verunmöglichen, wird ihre Möglichkeit ein authentisches Leben zu führen, in dem sie wünschen, was sie wirklich wollen, in Frage gestellt. So ist beispielsweise mehrfach betont worden, dass besonders das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung in einer vornehmlich Der unartikulierte Verdacht 153 an der Leistungsfähigkeit und Individualität ihrer Bürger orientierten Gesellschaft von den Marketingstrategen des medizinisch-industriellen Komplexes für ihre Zwecke instrumentalisiert wird. So werde die Orientierung an anderen, jenseits einer kapitalistischen Leistungsideologie zu verortenden Gütern unterminiert (vgl. Elliott 2004, 119-128; 2011, 3-8). Der Mangel an sozialer Anerkennung schaffe überhaupt erst das Bedürfnis, physische oder mentale Eigenschaften technologisch zu verändern. In dieser Perspektive kann Inauthentizität also als ein strukturelles Merkmal der Leistungsgesellschaft interpretiert und die Forderung nach Authentizität zu einer Form der Entfremdungskritik werden. Dieser Durchgang durch einige für die Diskussion des NE relevante Interpretationen von Authentizität hat gezeigt, dass die Sorgen über die Authentizität einer Person umso drängender werden, je stärker die Möglichkeit der Person, sich mit ihrem Willen zu identifizieren, als von internen und externen Bedingungen abhängig betrachtet wird (vgl. Bolt 2007). Bot der Sartre’sche Ansatz ein Bild der Person als kompetentem Entscheider an, reicherte Frankfurts Ansatz den Begriff der Person um nötigende und unverfügbare Willensdispositionen an, durch deren Existenz es überhaupt erst möglich wird, sich zu verfehlen. Die Einbettung der Person in soziale Beziehungen bzw. in einen Horizont des Guten stellt schließlich weitere Dimensionen der Abweichung von Authentizitätsmaßstäben bereit. Je reichhaltiger daher das Bild, das im jeweiligen Modell von der Person gezeichnet wird, desto diverser werden auch die Möglichkeiten, den Bezug zu konstitutiven Bedingungen des Wollens zu verlieren und inauthentisch zu werden. In Anbetracht der Diversität der zugrundeliegenden Modelle und Interpretationen kann die in der Debatte um NE vorgebrachte Sorge um die Authentizität der Person am besten als unartikulierter Ausdruck des Unbehagens über die Möglichkeiten biotechnischer Selbstgestaltung verstanden werden. Dabei steht der Verdacht im Mittelpunkt, sich im Hinblick auf einen jeweils näher zu bestimmenden Maßstab zu verfehlen. Die Verwendung des Gegensatzpaares authentisch und inauthentisch zeugt vom Zweifeln über die richtige Bestimmung dieses Maßstabs und suggeriert so ein Autonomiebzw. Anerkennungsdefizit. 5 Konklusion Obgleich die Rede über (In)authentizität in der Debatte um das NE auf ganz unterschiedlichen Ebenen ansetzt, kann konstatiert werden, dass sie in allen Varianten dazu dient, den Verdacht eines Beziehungsmangels zu artikulieren. Sie kann die Sorge zum Ausdruck bringen, dass unter dem Einfluss von NE stehende Personen den Kontakt zu ihren Wünschen und Antrieben verlieren, wenn sie in ihrer Fähigkeit eingeschränkt werden, sich mit ihnen zu identifizieren. Das Ergebnis wäre - so das negativ besetzte Szenario - Ambi- Jon Leefmann 154 valenz und Orientierungslosigkeit; sichere Merkmale eines Mangels an Selbstbestimmung und Selbstkontrolle. Auf einer intersubjektiven Ebene kann die Sorge um Authentizität dagegen als Beziehungsmangel zur Umwelt gedeutet werden. Hier stellt sich die Frage, inwiefern die Legalisierung und Verbreitung neuer technologischer Möglichkeiten der Selbstgestaltung zu einem Wandel sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Normen beiträgt. Dies hätte Konsequenzen für die Art wie Menschen ihr In-der-Welt-Sein erleben sowie für die Ausprägung mehr oder weniger wünschenswerter Persönlichkeitsmerkmale. Ein solcher, durch die Verbreitung neuer Möglichkeiten der neuronalen Selbstgestaltung beförderte Wandel sozialer Normen könnte nicht nur eine Gefahr für das Selbstverständnis der Anwender von NE, sondern auch für die Authentizität derjenigen bedeuten, die sich einer Anwendung verweigern. Beide Formen des Verdachtes drücken deshalb die Sorge aus, Personen könnten ihre Persönlichkeit unter dem Einfluss eines Neuro-Enhancers nur auf eine defizitäre Weise realisieren. Je nach der zugrunde gelegten Variante des Authentizitätsbegriffes besteht das Defizit dabei entweder eher in der verminderten Kompetenz der Personen sich selbstbestimmt mit ihren durch vielerlei Einflüsse sich ändernden Persönlichkeitsmerkmalen zu identifizieren oder eher in ihrem Irrtum darüber, welche die für sie wünschenswerten Persönlichkeitsmerkmale sind. Die Forderung nach Authentizität kann von ihnen offenbar sowohl verlangen, sich mit ihrer Persönlichkeit zu identifizieren als auch sich mit ihrer Persönlichkeit zu identifizieren. Dieser Aufsatz hat gezeigt, dass der Kern des Problems der Rede von Authentizität in der bioethischen Debatte darin besteht, diese unterschiedlichen Varianten des Begriffes auseinanderzuhalten. Die erste Variante, für die Sartre und Frankfurt prominente Vertreter sind, versteht Authentizität als eine normativ weitgehend neutrale Form personaler Selbstbestimmung (sein, wie man will). Die zweite exemplarisch von Taylor vertretene Variante versteht Authentizität als Verwirklichung eines als wünschenswert erachteten, normativen Persönlichkeitsideals (sein, wie man sollte). Allerdings werden diese unterschiedlichen Lesarten im bioethischen Diskurs nicht immer ausreichend expliziert und differenziert. Dadurch entsteht der Eindruck, als ob es sich bei der Referenz auf Ausdrücke wie Authentizität und Inauthentizität vor allem um erste, noch unreflektierte Intuitionen bezüglich der Möglichkeiten und Gefahren technischer Selbstgestaltungen handelt. Natürlich bedeutet dieser Eindruck nicht, dass alle diese Intuitionen notwendigerweise fehlgeleitet sein müssen. Sie bedürfen jedoch einer genaueren Reflexion und einer Offenlegung ihrer impliziten Annahmen, um nicht als unartikulierte Verdachtsmomente im moralischen Diskurs übergangen zu werden. 11 11 Für kritische Kommentare zu früheren Versionen des Manuskripts danke ich Solveig Lena Hansen und den Herausgebern dieses Bandes. Der unartikulierte Verdacht 155 Literatur Betzler, Monika (2001): Bedingungen personaler Autonomie. In: Betzler, Monika/ Guckes, Barbara (Hrsg.): Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte. Berlin: Akademie-Verlag, S. 17-49. Bolt, L. L. E. (2007): True to Oneself? Broad and Narrow Ideas on Authenticity in the Enhancement Debate. In: Theoretical Medicine and Bioethics 28(4), S. 285-300. Bublitz, Jan Christoph/ Merkel, Reinhard (2009): Autonomy and Authenticity of Enhanced Personality Traits. In: Bioethics 23(6), S. 360-374. Christman, John (2009): The Politics of Persons. Individual Autonomy and Socio- Historical Selves. Cambridge u. a.: Cambridge University Press. DeGrazia, David (2005): Human Identity and Bioethics. Cambridge u. a.: Cambridge University Press. Elliott, Carl (2004): Better than Well. American Medicine Meets the American Dream. New York: Norton. Elliott, Carl (2011): Enhancement Technologies and the Modern Self. 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At the same time, the laws and regulations regarding its appropriate use have mainly been influenced by Shia juridical moral concerns, particularly with regard to questions of the ontological status of the human embryo as well as conceptions and relations of kinship. This article is an analysis of the moral reasoning embedded in the Shia theological legal discourse on reproductive technologies, and how this tradition interprets assisted reproduction. Prolog: “It is God’s will” There are two women standing in the hallway of an IVF clinic in front of the laboratory, talking to each other. They represent two different images of Iranian women in the society: Tahereh is wearing a black veil and a colored scarf underneath that matches her shoes and handbag. Azadeh is the other woman with her perfect nose job and heavy make-up; she is wearing red lipstick, a sheer scarf that shows off her dyed blonde hair from under the scarf and a white coat and denim pants. Tahereh is speaking, as I get involved in their conversation: Tahereh: “Now I have come to see what will happen.” Azadeh: “It is only God’s will! Do you think it will work? When did you freeze [the embryos]? How long ago? ” Tahereh: “It is God’s will. Without His will, I would not have had my son either.” Azadeh: “Did you freeze [for him too]? ” Shirin Garmaroudi Naef 158 And I interfere and ask Tahereh whether she has a frozen embryo: Tahereh: “Yes, I have.” Shirin: “Are they yours? ” Tahereh: “Yes, they are.” Shirin: “I mean were the egg and sperm yours? ” Tahereh: “No, they were donated. The embryos were donated. My husband does not have sperm. We finally received donated embryos. My son was born through the same way. I have a son now.” Azadeh: “Lucky you […]. How many did you freeze? ” Tahereh: “Well, at the time, we froze two of them but one of them is very weak and I do not think it will work at all. But the other one is a good embryo and today I have come here for implant. We will see how it goes.” Azadeh: “I bet it will work.” Tahereh: “It will at God’s will.” Shirin: “You mean the embryos were like brother and sister? Were they from the same couple? ” Tahereh: “Brother and sister? I do not know if that is the right way of describing them; but yes they were from the same couple, a single donor.” Shirin: “Do you want this one to be a girl? ” Tahereh: “I don’t think about such things. As long as it is born healthy, it does not matter if it is a boy or girl. We have to see what God intends for us. Well, anyone would like to have a boy and a girl. I have a son now. But whatever this one turns out to be, it will be God’s will. I like to have a baby girl but that is not what I am thinking about right now. Just being healthy [is important].” Shirin: “Did it work at the first donation? ” Tahereh (replies with laughter): “No dear, we have been doing the treatment for fifteen years. At that time we couldn’t freeze, I mean, there was not a chance of freezing. Maybe if it had been possible I would have done it; but it was not possible. Then I learned that this clinic has the means to freeze embryos. When we got donated embryos for my pregnancy with my son, we froze the rest of the embryos.” Shirin: “Are they yours? ” Tahereh: “For sure […] they are our children […], the frozen embryos are ours; I mean they are under our name. Here they made it clear that they are no longer related to the donor and the remaining embryos were frozen under our name.” Azadeh: “How promising! ” 1 1 This account is extracted from my field and participant observation notes and records from an IVF clinic in Tehran in 2010, and shows a conversation between two women Modern Reproductive Technologies in the Light of Traditional Ontologies 159 1 Introduction As studies have shown (see, e. g., Inhorn/ Tremayne 2012, 100-217; Aramesh 2009), Iran has very permissive regulations and laws on many bioethical issues - especially in the areas concerning reproductive technologies such as egg donation, in vitro fertilization (IVF), embryo transfer and surrogacy - and generally holds a so-called “liberal” stance on a number of major questions of bioethics. 2 Whereas in most controversies surrounding bioethics in the Western countries there is clearly a contradiction between conservative religious groups and liberal scientists, in the Iranian bioethical debates the efforts in determining the moral and legal framework of these technologies appear dynamic, particular and highly interconnected; and religion (in its juridical domain) has provided an important moral resource in shaping the individual and institutional attitudes in a variety of cultural ways and traditional values and norms. This Iranian approach involves all stakeholders - religious and secular, state and private - including religious authorities, physicians, philosophers, legal scholars, experts in social sciences and policy makers. As I have described elsewhere (see Garmaroudi Naef 2013), it is specifically manifested in a unique combination of religious-juridical deliberations and secular-ethical principles, of autonomy and paternalism, and of forbidding and allowing; and it has mainly been influenced by the Shia normative tradition of juridical discourse (fiqh). Thus, legal opinions of Shia religious authorities are the foundation from which the state policies and laws regarding bioethical issues in Iran are constructed. At the same time, the interconnection between religious and secular arguments - whether appearing to shape or dictate the legal framework, or in the social context of the clinic - forms a moral background within which the appropriate use of reproductive technologies is determined, contested and negotiated; a background in which religion, as I will show in this article, within the frame of its traditional visions, concepts and ontological principles has a significant role in interpretations of technological advances. In light of this context, this article has the aim to explore some aspects of religious legal hermeneutic strategies that have shaped the Iranian approach towards assisted conception. It describes some prevalent Shia juridical moral values and reasoning surrounding conception, kinship relations and sexuality that are influential in the context of the Iranian regulations and legislation. about frozen embryos and assisted reproduction. I interviewed and took notes in Persian, then translated them into English. I am grateful to Azadeh Torabi for her help in English translation and editing. I have changed the names of interlocutors to protect their privacy. 2 Iranian scholars have chosen the term “akhlāq-e zisti” as an appropriate equivalent in Persian to “bioethics”. In general, the term “akhlāq” - literally meaning “character” or “one’s nature” in Arabic - is used to refer to both “ethics” and “morality” in Islamic thought. The term “zist” derives from the Persian verb “zistan”, which means “to live”. Shirin Garmaroudi Naef 160 The so-called permissive Shia attitudes toward assisted reproductive technologies, as I shall argue in this article, reflect a coexistence of traditional ontologies within modern technologies. By “traditional ontologies” I mean a collection of viewpoints and definitions of our basic conception of the nature of the entities and the world and their relations to each other which have come together during historical, cultural and religious experiences and meanings. The cornerstone of this viewpoint is based on the constant presence of the divine order. By “Shia” I do not refer to the Shia communities and populations around the world. The term embodies the specific conceptual as well as objective characteristics which have formed by means of the Shia Islam in Iran. This article draws on a larger research project that examines Shia attitudes towards assisted reproductive technologies and looks at the regulations and the social uses of these technologies in Iran. 3 The methodological approach for this research is a combination of extensive ethnography (2005- 2011) and textual analysis of important contemporary academic and religious seminary publications in Iran, from Shia jurisprudence and Persian histories to the analysis of laws and verdicts. 2 Assisted Reproduction and Shia Tradition The following section describes and analyzes some moral and traditional values, principles and structures that form the basis of the justification for allowing the use of assisted reproductive technologies (e. g. gamete donation, embryo transfer and freezing, surrogacy and embryonic stem cell research) in Iran. Juridical deliberations and legal writings of Shia religious scholars (fuqaha) 4 who have the authority to decide what is permissible and what is not permissible under Shia jurisprudence (fiqh) are the most obvious basis. These debates and legal opinions (fatwas) 5 have had a direct impact on IVF practices as well as regulations and legislations pertaining to technologies of assisted conception in Iran and played a prominent role in the enactment of the embryo donation law, 6 as has been addressed by scholars who 3 This project was funded by the German Research Foundation (DFG) as part of the Research Training Group “Bioethics” at the International Centre for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW) at the University of Tuebingen. I am very grateful for their generous support. Many thanks also to Sebastian Schuol, Robert Ranisch and Marcus Rockoff for their insightful comments on versions of this article. All errors remain my own responsibility. 4 Plural of “faqih”, a religious scholar and an expert in Islamic law (sharia) and jurisprudence (fiqh). 5 A fatwa is a nonbinding but authoritative legal opinion issued by a religious scholar in response to a question posed by individuals or institutions. 6 This law, formally entitled the Act Concerning Embryo Donation to Infertile Couples - which was passed by the Iranian parliament (majles) on July 30, 2003 and came into effect in 2005 - makes transfer and donation of embryos as well as surrogacy arrange- Modern Reproductive Technologies in the Light of Traditional Ontologies 161 have worked on assisted reproductive technologies in Iran (see Tremayne 2009; Inhorn/ Tremayne 2012, 100-217; Garmaroudi Naef 2013). Of course, as I mentioned elsewhere (see Garmaroudi Naef 2013), the role of legal experts (hoquqdānān) - whether from secular or religious backgrounds - and their juridical and philosophical interpretations of these legal normative reasoning and opinions are too overt to neglect. Indeed, what has given the Shia and Iranian bioethical deliberations so much more flexibility compared to their Western and Sunni counterparts is this legalistic hermeneutic or interpretative approach - very similar to Jewish tradition (see Seeman 2010) - embodied in Shia juridical tradition. Whereas Western debates on reproductive technologies have turned to the nature versus culture distinction, discussions in Shia debates are mainly focused on the theme of legitimacy and illegitimacy (see Clarke 2009, 4), concerning the primacy of juridical moral permissibility of an action over an ethical approach that focuses on goodness of an action. Fiqh - literally meaning “deep understanding” and “insight” - is the Islamic science of jurisprudence, and like any other system of jurisprudence it is local, contextual and subject to change in its premises. In matters of doctrine and law the most important sources used in Shia jurisprudence include Quran, the Sunna (traditions and sayings attributed to Prophet Mohammad and the twelve Shia Imams) and the ‘aql (meaning “intellect” - the process of reasoning to deduce the law). In general, in Shia jurisprudence (fiqh), considering the wide-ranging viewpoints dedicated to each subject taking place at a specific time (zamān) and place (makān) of its own, the use of reproductive technologies in order to maintain the unity and foundation of families as well as offering medical solutions to infertile couples - albeit only for heterosexual married couples - has been authorized. However, there is no monolithic, centralized and authoritative Shia approach to new reproductive technologies. Rather, Shia scholars’ responses to the appropriate uses of these technologies have been very complex and controversial. What is remarkable is the extreme conceptual and pragmatic flexibility of the majority of Shia religious authorities in issuing fatwas allowing the use of these technologies, while preserving traditional structures and principles of kinship at the same time. They range from the juridical permissibility and acceptability of artificial insemination by the husband’s sperm to the permissibility of embryo donation, pre-implantation genetic diagnosis (PGD), sex selection, egg donation and surrogacy - forbidden in many Western and Sunni Muslim countries. Yet, a minority of Shia scholars, comprising the most high-ranking authorities (see Garmaroudi Naef 2012, 165), in the case of the husband’s infertility permit artificial insemination by thirdparty donor (sperm donation), as long as no forbidden act (fe’el-e haram), ments for the purposes of infertility treatment permissible, stipulating that they must take place in specialized and authorized centers for infertility treatment (see Garmaroudi Naef 2013). Shirin Garmaroudi Naef 162 such as gaze or touch, has taken place. 7 This flexibility even goes further to the point that some Shia scholars (like Ayatollah Sane’i) believe that the donor’s relinquishment (e‘rāz) of his or her gamete and donating it in the form of an anonymous donation to a sperm, egg, and embryo bank is an indication of obliterating the ties of nasab (legal filiation) from the gamete owners. Others, such as Ayatollah Ma’refat, compare egg donation with organ donation and state that transferring one woman’s egg to another woman’s uterus is allowed; and the act of transferring the egg from one woman’s body and implanting it in another woman’s uterus reassigns the acknowledgment of maternity from the woman who contributed the egg to the woman who gestates and gives birth to the child (ibid., 190). However, this Shia flexibility rests on some basic principles: the attempt is based on the need to define kinship relations resulting from the use of reproductive technologies, to ensure the sanctity of kinship - as a grammar of social proximity - and, at the same time, to guarantee social continuity. One might say that Shia jurisprudence - divergences of opinion notwithstanding - tends to consider assisted reproductive technologies as supportive of preserving kinship ties in both agnatic and uterine terms, and as the reinforcement of traditional moral values and ideas (ibid., 163-175). In fact, as Shai Lavi (2010, 93) brilliantly argues, “as long as reproductive technologies can be put in use without altering traditional life-world structures and traditionalist worldviews there is no source of tension between progress and tradition.” Let us look at some of these traditional principles and structures. 3 Matrimonial Union and Physical Touch At the core of the debate surrounding assisted reproduction is the question of zina 8 (here: “adultery”). Generally, in Sunni Islam, as shown by Marcia Inhorn (e. g. 2003), the use of donor gametes and surrogacy is unacceptable and is regarded as analogous to zina. In contrast, the Shia view radically differs from the Sunni consensus regarding assisted reproduction. Many Shia authorities follow the reasoning that assisted reproduction does not involve the physical act of sexual intercourse, and do not regard assisted reproduction involving a third party as analogous to zina. This distinction between the “physical” and the “biological” act of adultery has been also addressed in rabbinic arguments concerning assisted reproduction (see Kahn 2000, 96f.). However, in legal and theoretical terms, the essential prin- 7 As a result of this permissibility, sperm donation is practiced in some clinics in Iran. Many clinics also offer infertility treatment using donated eggs; only the regulation of each clinic is different. 8 In Islamic family law, zina refers to all varieties of illegitimate sexual intercourse between a man and a woman, applicable to married and unmarried persons. It stands also as analogy to “adultery”, “fornication”, “incest” and “incestuous adultery” as well as “rape”. Modern Reproductive Technologies in the Light of Traditional Ontologies 163 ciple that emerges is that from a Shia perspective, as I have argued elsewhere (see Garmaroudi Naef 2012, 161-175), the definition of the act of adultery and incest does not depend on the contact and transfer of bodily sexual fluids. It depends (rather) on the illegitimate physical act that happens through illicit sexual intercourse and not on the act of conception itself, that is, on physical contact rather than the mixing of reproductive substances. Many leading Shia authorities have given permissibility to embryo donation and surrogacy. A minority of Shia authorities, however, regards it as impermissible. Though, one should know that most of these permissible and impermissible legal opinions (fatwas) have been issued in response to questions posed by IVF physicians, infertile couples, donors, legal and medical institutions, policy-makers and others who are dealing with bioethical issues. This traditional question-and-answer form of discourse - the istiftā’fatwa discourse 9 - plays an important role in the development of legal and practical responses to bioethical questions in Iran. The significant role of istiftā’ - particularly in the questions posed by medical scholars - in such development cannot be denied. As mentioned above, such legal opinions are then often used as the basis for regulations in the IVF clinics and legislative actions by the Iranian parliament. These respective questions and answers have usually appeared either as a separate section or included in the appendix section of the books that address the legal, juridical and ethical concerns surrounding the assisted reproductive technologies. Indeed, this form of discourse continues to reflect the underlying Shia ethical principles and legal reasoning on a case-by-case basis. For instance, in 1999, Avicenna Research Institute - one of the leading and well-known reproductive biotechnology research centers in Iran - in cooperation with the Faculty of Law and Political Sciences of Tehran University organized a conference - a first of its kind in Iran - called “Jurisprudential and Legal Issues Concerning Embryo Donation”. One outcome of the conference was the publication of the book Modern Human Reproductive Techniques from the View of Jurisprudence and Law (Various authors 2003). The last section of the book (appendix) embodies a collection of istiftā’āt (plural of istiftā’) and fatwas (legal opinions) of some leading Shia authorities as well as the opinions of Sunni Islamic scholars and representatives of other monotheistic religions. The following is a summary of an example of istiftā’-fatwa discourse concerning embryo donation to infertile couples (ibid., 392-398; trans. S.G.N.). Question, required by the Avicenna Research Institute: “In vitro fertilization (IVF) is one of several techniques available to help infertile couples to conceive a child. The procedure starts by taking the eggs from the wife and fertilizing it with her husband’s sperm. The resulting embryo will be transferred to the woman’s uterus in order to start her 9 In the Islamic legal tradition istiftā’ - literally meaning “to inquire” - stands for submitting a request for obtaining a legal opinion (see Masud 2009). Shirin Garmaroudi Naef 164 pregnancy and eventually give birth. It should be noted that embryos get transferred within 24-48 hours of fertilization, at the 4to 8-cell stage of development. Sometimes the number of embryos conceived exceeds the desired amount. In such cases, the extra embryos are frozen. Later, after the pregnancy and delivery, the embryos are thrown away with the consent of the married couple. On the other hand, there are married couples who, due to their medical condition, cannot conceive at all. For some of these couples, there is a possibility of receiving one of these extra embryos. What is the stance of sharia [Islamic law] on transferring those extra embryos to the uterus of another woman, in order for her to get pregnant, deliver the child, breastfeed and raise the child? ” Responses from some leading Shia authorities and scholars: Ayatollah Tabrizi: “The transfer of this embryo to another woman’s uterus is not permissible.” (ibid., 393) Aytollah Mosawi Ardebili, founder of the Mofid University in Qom - an academic center for humanities studies and research with a new academia-Islamic seminary (hawzavi-dāneshgāhi) approach: “There is no problem if it is carried out with the permission of the third woman or her request, and with the consent and request of her husband in the case she is married.” (ibid., 395) Ayatollah Yusef Sane’i, known for his moderate religious views for reform: “Implanting the Petri dish fertilized egg (from a man and his wife) in another woman’s uterus as indicated in the question is not prohibited by itself and is permissible.” (ibid., 396) Ayatollah Naser Makarem Shirazi, known as a conservative cleric: “The act in itself is not prohibited by sharia; however, there are [possible] haram (prohibited) lateral issues involved such as touch and gaze. It is not considered haram if it is done by the husband; for instance, he can get his sperm as well as the egg from one of his two wives, mixing them together and have it implanted in the uterus of his other wife (even if they have agreed on a temporary marriage for the act); otherwise, in order to make haram lateral issues [such as touch and gaze] legitimate, it should be comprehended whether the act [embryo transfer] is of necessity or not.” (ibid., 397) Ayatollah Khamene’i: “The act of transferring this embryo to the uterus of another woman is not forbidden by sharia; however, any act of touch or gaze is prohibited.” (ibid., 397) In all these deliberations, however, stress is laid on the juridical moral meaning ascribed to bodily substances and physical contact and not on the biogenetic principles of descent. Moreover, a clear Shia distinction can be made between the act of placing sperm directly into the female’s uterus, which according to the majority of religious scholars is not allowed, and the act of implanting an embryo into the womb of a woman - whether a surrogate or Modern Reproductive Technologies in the Light of Traditional Ontologies 165 intended mother - for which there is religious moral permissibility. Embryo transfer does not entail physical contact between the two parties; therefore, no illicit and impure sexual act takes place in reproduction through such procedures. Thus, following this line of reasoning, transfer and donation of embryos as well as surrogacy arrangements for the purposes of infertility treatment for married couples unable to produce a child is, according to the majority of Shia scholars, permissible. The in vitro embryo in this context is the result of a legal union, and not the result of an illicit or impure (nāpāk) sexual act. 4 Filiation and Dual Seed Another relevant subject for this discussion is the less male-biased Shia (and to a larger extent Iranian) representations of lineage (nasab) and legitimacy. I have argued elsewhere (see Garmaroudi Naef 2012, 166-175) that Shia notions of nasab take a more gender-balanced structure and recognize a bilateral filiation, under which maternal and paternal filiation are clearly distinguished and in many regards symmetrical, whereas Sunni notions of nasab place more importance on the male line. A majority of Shia authorities give identical emphasis to both the maternal and paternal seed in the procreation of a child; so a male’s sperm and a female’s egg, in this model, play equivalent roles in the conception and subsequently in establishing both maternal and paternal filiations. They argue that maternity just like paternity is solely determined at takkawon (literally meaning “coming into existence” and “formation”). In other words, the mother of the child is considered to be the woman whose egg has generated life (motewakken) in the embryo (see Hamdelahi/ Roshan 2009, 398). Thus, the emphasis in this model is on the condition that is about bringing into existence (ertebat-e takwini) and not on the cause which manifests as gestation and birth (ertebat-e hamli wa weladati). This line of reasoning leaves room in Shia thought for the legal permissibility of third-party donation and surrogacy, and ascribing the maternity - according to the majority’s opinion - to the producer of the egg and not to the woman who gives birth. These underlying principles also explain why many Shia scholars - in legal and theoretical terms - consider the clone as offspring and not a sibling (see Moeinifar/ Azimzadeh 2012), and define a lineage - either parental or maternal - for the clone. For instance, in his article on cloning, Ayatollah Mo’men, a prominent Shia religious authority, who views cloning as a new form of reproduction, 10 provides the following explanation: “A cell is extracted from the body of a woman and then is implanted into the removed nucleus egg [either her own egg or a donated egg]; the cell 10 I have incorporated the views of Ayatollah Mo’men regarding assisted reproduction elsewhere (see Garmaroudi Naef 2012, 170-175). Shirin Garmaroudi Naef 166 substitutes the nucleus and starts to grow. Under this particular circumstance where the cell is extracted from the woman and no man, whether her husband or else, has been involved in the procedure, the resulting child is considered the woman’s child and she is recognized as the child’s mother; it is because the child has originated from her body; therefore, she has completely been involved in bringing the child into existence and the child does not have a father, and as stated in our previous discussions if a child lacks a father, since it has a mother or vice versa, it will not raise any problem [in establishing a filiation].” (Mo’men 2006, 111; trans. S.G.N.) As such, this epistemology takes place within a historical legal framework and it is based on the phenomenological experience of human life, and not by recognition of scientific discoveries in genetics to define maternal or paternal identity. I should add here that in the ancient Iranian thinking, wherever the seed is discussed, it has referred to both the male and female seed - that of humans as well as animals and plants. For instance, in the Middle Persian (Pahlavi) Book of Primal Creation, the Bundahishn, one of the principal sources of ancient Iranian cosmology and traditions, there are several references to the biological and morphological characteristics of both sperm and egg: 11 “The female seed is cold and humid, is flowing from the loins, and the color is red and yellow; and the male seed is hot and dry, is flowing from the brain of the head, and the color is white and clayish. The female seed is always emitted first, and goes into the uterus [zehdān], and the male seed settles above it, and fills the uterus; […].” (Bahar 2006, 84) Avicenna regarded the fluid of both man and woman as substances (gohar - meaning “gem”, “essence” or “nature”). He believed that the nature of male substance was of fire and the nature of female substance of earth; hence, the mixture of the two was responsible for the creation of human beings (Various authors 1988). The close similarities of these contemporary Shia approaches (like the one of Ayatollah Mo’men’s) to the Galenic (see Boylan 1986) and ancient Iranian view of conception are evident here. 5 Formation of the Fetus and its Ontological Status However, another key factor in understanding the internal logic of the Iranian approach is related to the issue of the status of the embryo. The Iranian view regarding the moral status of the embryo is also grounded in Shia tradition on the idea of gradual respect that does not view the human embryo as a fully developed person from the beginning, and so acknowledges it as a 11 In my study of Bundahishn, I have used the Persian translation by Mehrdad Bahar (2006), Iran’s prominent Iranologist. The English translation is adopted from Anklesaria (1956, chapter 15) and West (1880, chapter 16). Modern Reproductive Technologies in the Light of Traditional Ontologies 167 full person at birth and not at the time of conception. The newly formed fetus in this tradition does not have the same moral status as a person, and gradually increases in moral status depending on its physical maturation during the pregnancy. According to legal opinions of many Shia religious authorities, if the mother’s life is at stake, or the fetus is diagnosed with birth defects in a way that caring for it will burden the mother with extreme hardships, abortion is permissible before the ensoulment that is said to happen when the embryo is at its fourth month of age (Various authors 2007, 512; Aramesh 2009). This attitude is reflected in the regulation of abortion in Iran as well. According to the Therapeutic Abortion Act, passed in June 2005, it is possible to grant authorization for “therapeutic abortion” under the above circumstances. To complete the process of therapeutic abortion, it is necessary for the mother to submit her request, which will be examined at least by three gynecological specialists and consequently confirmed by the Legal Medicine Organization given that the age of pregnancy is less than four months after conception. In the new law, the consent of the mother is sufficient enough to grant her the permit to have therapeutic abortion done (see Atighetchi 2007, 100-121). According to this position, which is the result of theological interpretations of Quranic references to the stages of human embryonic development (see Eich 2008), human life starts with the infusion of the soul (ruh) into the fetus in the fourth month of pregnancy; hence, the ensoulment makes a distinction between the biological life that begins at conception and human life that begins at ensoulment. Bundahishn (Bahar 2012, 38) also describes the development of the embryo as a gradual process that begins with the intermixture of blood and semen and finishes the embryonic stage (dashtak) after the first movement (chandesh). However, Shia scholars, in general, do not permit abortion under unnecessary conditions and ascribe a moral juridical status to human embryos from the moment of the conception as well. From their legal standpoint, when abortion takes place during any stages of an embryo’s development, a diyya (the monetary compensation; the blood price) is determined for it depending on the embryo’s growth and the stage it was in. For example, Iran’s current Penal Code (Article 487) considers six stages of development for human embryos (Various authors 2007, 478-479). 12 Although abortion taking place during any of these stages is considered a criminal act and calls for punishment, only after ensoulment is killing the embryo considered a murder; however, it does not call for qisās (equal retaliation); it requires diyya to be paid in full. In other words, the embryo has a nature sui generis from the current legal viewpoint in Iran and personhood comes into existence at birth, and not at the time of conception (see ibid., 12 Which includes: 1) nutfah (mixed semen) residing in uterus; 2) ‘alaqah or clotted blood; 3) muzagha or blood clot that has turned into tissue; 4) a fetus during the stage of bone formation; 5) a fetus whose bone and flesh growth has been completed but still lacks soul; 6) an ensouled fetus. Shirin Garmaroudi Naef 168 479). Here, the sacred meaning ascribed to the embryo takes a central value in the debates around the moral status of a human embryo. Thus, following the same reasoning, the majority of Shia religious authorities consider the embryonic stem cell research for therapeutic purposes permissible only in pre-ensoulment stages of fetus development, that is before the fourth month of pregnancy is over. For example, according to the legal opinion (fatwa) of the Ayatollah Khamenei in 2002, “the destruction of the left-over embryos from in-vitro fertilization cycle in order to collect stem cells for research” is allowed (Miremadi et al. 2013, 55). Currently, under Iranian regulations - with the full support of the government - all forms of stem cell research are permissible with the exception of human cloning for reproductive purposes (see ibid.). 6 The First Heartbeat Turning to my ethnographic data, it shows that “the first movement” and “the ensoulment” of the embryo can be analogically adapted to “the first heartbeat” that appears in the embryo. As I could observe during my fieldwork in several IVF clinics in Iran, whether women had used IVF and their own transferred embryo to become pregnant or they had sought motherhood through donated egg or embryo or even surrogacy, and even the women who had donated egg or embryo or had become surrogate mothers, they all shared the same belief about the life of the embryo: it had come to life for them as soon as they learned its heart had formed. Obviously, by forming the heart, they mean hearing the baby’s heartbeat through ultrasound that is performed in the first trimester between the 12th and 14th week of pregnancy. For those who longed for motherhood, it was the most beautiful and precious moment in the long process of IVF, embryo formation and transfer. It was the kind of news that upon receiving, they could share with others, or start picking names, shopping for the baby, and throwing parties in its honor. For the women who had donated egg or embryo, or had become surrogate mothers, hearing the news of the embryo’s heart formation meant that the embryo they had contributed to its formation or the one they were carrying and delivering for another woman had started its life. Of course, the worst news they had to hear was when after the embryo transfer they were informed of the lack of heart in the embryo. The news was often followed by a wave of depression and a seemingly endless time gap until the next IVF procedure. Modern Reproductive Technologies in the Light of Traditional Ontologies 169 7 The Non-Transferable Embryo However, there are other challenging positions I came across in my ethnographic studies like the one that becomes evident in the following. In one of my interviews with a biologist who had a long history of cooperating with one of the IVF centers in Iran, I asked him about the beginning of human life. He said: “Even before conception, each cell is alive and respectable. However, there are weak sperms as well as weak eggs. During IVF procedure, we even set aside the sperms that show better quality; but when the embryo forms, answering this question becomes difficult.” I asked him about the way to choose between a good embryo and a bad one. He shared with me that in the beginning of his profession he had thought it would be better not to transfer the “low quality” embryos. He then recalled an encounter, which made a deep impression on him. He remembers the incident: “In the early days of the clinic, we had come up with one single embryo through ICSI (intracytoplasmic sperm injection) from a couple whose egg and sperm showed very low quality. Upon examining the embryo, my colleagues and I recognized that the embryo did not withstand the quality criterion, and thus called it non-transferable.” Speaking with the couple, it was explained to them that it was better to throw out the embryo and they were advised to get ready for another round of IVF. However, the couple did not agree to it and insisted on transferring the embryo nonetheless. Years later, a woman accompanied by a 13-year-old boy came to see the biologist. She told him that the boy was from the same embryo they had recognized as a low quality embryo and had tried to convince her to throw out. After the incident, choosing between a good or bad embryo has become one of the most ethical challenges and queries he is dealing with. 8 A Concluding Comment As we have seen, Iran seems to have very progressive regulations and laws in the area of reproductive technologies. This approach that involves all stakeholders - religious and secular, state or private - is based on religious, traditional and cultural values and norms and should be understood within a traditional ontological framework in which the nature of things and their relations is interpreted and appears within our everyday cultural experiences and meanings and not in terms of the modern scientific worldview and biological thinking. In fact, the descriptions of natural entities and phenomena, within this framework, are not separated from descriptions of the sym- Shirin Garmaroudi Naef 170 bolic and juridical meanings ascribed to them. In this context, religion appears as being capable of “reinterpretation and appropriation of scientific knowledge” (Kahn 2006, 479) without adopting the modern scientific worldview and medical framework. Thus, it is on the basis of this traditional and phenomenological understanding of natural entities that Shia religion adopts its progressive approach to reproductive technologies. According to anthropologist Marilyn Strathern (1995), assisted reproductive technologies tend to challenge previously held normative assumptions about kinship, family and human origins, and bring about radical cultural transformations and structural changes in society. In this respect, one might critically examine the applicability of this argument to the Iranian cultural context and Shia tradition. Indeed, in the Iranian case, as we saw, this is a kinship system whose morality and norms are rooted in deep history, but one where the “pragmatics of face-to-face” (Gregory 2011, 179) relations between people gives these ancient terms and values a modern twist. Literature Anklesaria, Behramgore Tehmuras (ed. and trans.) (1956): Zand-Akasih. Iranian or Greater Bundahishn. Bombay: Rahnumae Mazdayasnan Sabha. 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Second, the objects of synthetic biology are categorized within the scope of a differentiated examination of “life” and the “artificial”. Third, the ambivalent character of synthetic biology as pure and/ or hazardous game is explicated and different areas of responsibility, referring to the various stakeholders in the field of synthetic biology, are carried out. 1 Einleitung Unterschiedliche Fachbereiche wie die Gentechnologie, die Systembiologie und die Informationstechnologie bereiteten in den letzten Jahren die Grundlagen für die Etablierung eines neuen wissenschaftlichen Teilbereiches der Biologie: die Synthetische Biologie. Obwohl diese Wissenschaft ein sehr junges Forschungsfeld ist, wurden die konzeptionellen Grundsteine schon vor längerer Zeit gelegt. Bereits im Jahre 1912 führte Stéphane Leduc mit seinem Werk La Biologie Synthétique erstmals den Begriff „Synthetische Biologie“ ein. 1 Als eigenständiges Fachgebiet besteht die Synthetische Biologie 1 Leducs Verständnis von „Synthetischer Biologie“ basierte allerdings auf seinen Untersuchungen zur Osmose sowie zu kristallinem Wachstum von pflanzenartigen Gebil- Leona Litterst 174 seit ungefähr dem Jahr 2000 und hat als neue wissenschaftlich-technische Fachrichtung die Zielsetzungen des Nachbaues bereits vorhandener und des Konstruierens völlig neuartiger biologischer Strukturen, die so in der Natur nicht vorkommen. Sie kann demnach auch als Bioingenieurwissenschaft aufgefasst werden (vgl. Köchy 2012, 137-161; Billerbeck/ Panke 2012). Für den Forschungsbereich der Synthetischen Biologie sind, nach Köchy (2012, 33-49), eine Vielzahl an Kennzeichnungen auszumachen, darunter die interdisziplinäre Ausrichtung, die Vernetzung mit den Ingenieurwissenschaften, die Eingriffstiefe, die Entfernung von natürlichen Vorbildern sowie die systemische und konstruierende Ausrichtung. Im Bereich der medialen Darstellung scheint die neue Qualität der Synthetischen Biologie daher unstrittig. Potthast (2009, 43) hält es jedoch aufgrund der Übergangsphase, in der sich die Synthetische Biologie derzeit befindet, noch nicht für abschätzbar, ob mit dem Aufkommen des neuen Feldes tatsächlich ein Paradigmenwechsel eingeleitet wird oder ob vielmehr die Vorgabe eines solchen lediglich dazu dient, das Interesse der Öffentlichkeit und der zahlungskräftigen Förderer zu wecken, ohne dabei grundsätzlich Neues zu betreiben. Im Folgenden stelle ich die heterogenen Herangehensweisen und Implikationen verschiedener Forschungsrichtungen der Synthetischen Biologie differenziert heraus. Dabei beschreibe ich die fünf Hauptforschungszweige und beleuchte deren Technik, Ziele und Visionen. Zudem zeige ich auf, ob mit der Methode „neues“ Leben generiert werden kann. Im Rahmen einer differenzierten Betrachtung des Lebensbegriffs und der Biofakt-Typologie nach Karafyllis (2003; 2006) gelange ich zu einer möglichen Kategorisierung der Objekte der Synthetischen Biologie nach den Kriterien „künstlich“ bzw. „natürlich“ sowie „nichtlebend“ bzw. „lebend“. Im Anschluss führe ich den ambivalenten Charakter der Synthetischen Biologie als bloßes und/ oder gefährliches Spiel aus und stelle die verschiedenen Verantwortungsbereiche unterschiedlicher Akteure im Wissenschaftsfeld der Synthetischen Biologie in das Zentrum meiner Betrachtungen. 2 Hauptforschungszweige der Synthetischen Biologie 2.1 Minimalorganismen Bei der Forschung an Minimalorganismen soll das native Genom eines Bakteriums auf die zum Überleben notwendigen Gene reduziert werden. Das Forscherteam des J. Craig Venter Instituts (JCVI) begann im Jahre 1995 mit der Arbeit am Minimalgenom von Mycoplasma genitalium (vgl. Glass u. a. 2006). Im Bereich der Grundlagenforschung dient dieser Ansatz zur Identifizierung essentieller Gene im Sinne einer Minimalanforderung für das Funkden in „chemischen Gärten“ und ist aufgrund dessen nicht identisch mit heutigen Begriffsauffassungen. „Neues“ Leben aus dem Labor? 175 tionieren eines Organismus. In der Anwendung sollen Minimalzellen zukünftig als sogenanntes „Chassis“ (Hülle) mit zusätzlichen genetischen Elementen ausgestattet werden und so industrielle Chemikalien und Medikamente erzeugen, therapeutisch eingesetzt werden oder Umwelttoxine vernichten. Das Unternehmen Scarab Genomics bietet derzeit schon eine Escherichia coli-Zelllinie an, bei der über 20% der 4300 Gene eliminiert wurden (vgl. Scarab Genomics 2014). Das Wissen über die essentiellen Gene soll es ermöglichen Lebewesen zu normieren, im Sinne einer Vereinheitlichung von Zellen durch standardisierte Genome, und Lebensformen mit neuen Eigenschaften zu konstruieren. Dennoch wird bei dieser Technik nur auf bereits bestehende Strukturen von Organsimen zurückgegriffen und es wird kein „neues“ Leben, im Sinne einer de novo Herstellung von Lebendem aus Nichtlebendem, erzeugt. 2.2 Neusynthese von Genomen Die Neusynthese eines vollständigen, funktionsfähigen Genoms gelang Venter im Mai 2010 durch die Herstellung des Bakteriums Mycoplasma mycoides JCVI-syn1.0 (vgl. Gibson u. a. 2010). Das Erbgut des Bakterienstammes Mycoplasma mycoides wurde dabei von Grund auf synthetisiert und in eine Empfängerzelle von Mycoplasma capricolum übertragen. Die technische Leistung der Synthese eines Komplettgenoms ist zwar bislang einzigartig, trotzdem wird auch bei dieser Technik kein „neues“ Leben hergestellt, sondern lediglich die DNA nachgebaut und in eine bereits existierende Zelle eingefügt. 2.3 Artifizielle genetische Schaltkreise und BioBricks Ein wesentlicher Anspruch der Synthetischen Biologie ist es, Lebensprozesse gezielt zu kontrollieren. Die Genaktivität in Zellen wird über genetische Schalter und Regelmechanismen gesteuert. Kombinationen verschiedener Schalter führen zu komplexen Regelsystemen, sogenannten artifiziellen genetischen Schaltkreisen (vgl. Elowitz/ Leibler 2000; Weber u. a. 2008), die eine immer präzisere Kontrollierbarkeit der Genexpression ermöglichen. Sogenannte BioBricks sind künstlich hergestellte genetische Elemente, die aufgrund ihrer Normierung und Modularisierung beliebig miteinander kombinierbar und untereinander austauschbar sind (vgl. Knight 2003). Diese Eigenschaften begründen den häufig herangezogenen Vergleich der Bio- Bricks mit Legobausteinen. Beim jährlich am Massachusetts Institute of Technology (MIT) stattfindenden studentischen iGEM-Wettbewerb (international Genetically Engineered Machine competition) werden BioBricks völlig neu konzipiert oder bereits in einer Datenbank bereitgestellte genetische Elemente verwendet, um Organismen mit neuen Eigenschaften auszustatten. Jedoch wird auch bei diesem Forschungszweig auf bereits bestehende Leona Litterst 176 biologische Strukturen zurückgegriffen und daher kein „neues“ Leben erzeugt. 2.4 Orthogonale Biosysteme und Xenobiologie In die Zelle eingebrachte, künstlich veränderte, biologische Teilsysteme mit gleichen oder ähnlichen biologischen Funktionen wie bereits bestehende, zelleigene Systeme bilden unabhängig voneinander funktionierende, parallele bzw. orthogonale Biosysteme. Beispielsweise werden veränderte Ribosomen in die Zelle eingebracht, die statt der üblichen Tripplet-Codons nun Quadruplett-Codons ablesen (vgl. Neumann u. a. 2010). Möglich ist auch die künstliche Erzeugung neuer Aminosäuren, die mittels modifizierter tRNA in Proteine eingebaut werden (vgl. Xie/ Schultz 2005; Wang Q. u. a. 2009). Mittels orthogonaler Biosysteme wird unter anderem die Herstellung von neuen Materialien oder die Erzeugung therapeutischer Wirkstoffe angestrebt. Die sogenannte Xenonukleinsäure (XNA) unterscheidet sich von der natürlichen DNA bezüglich ihrer molekularen Struktur, da die Desoxyribose durch beispielsweise eine Hexose ersetzt wird. XNA ist anschließend sogar zur Replikation fähig (vgl. Pinheiro u. a. 2012). Xenonukleotide enthalten künstliche Basen, wie beispielsweise Aminoadenin, welches eine zusätzliche Aminogruppe trägt (vgl. Yang u. a. 2011). Peptidnukleinsäure (PNA) ist ein Konstrukt aus Nukleinsäure und einem peptidartigen Rückgrat. Sie kann sich an DNA anlagern und so die Genregulation beeinflussen. Zukünftig soll sie über den Blutstrom in Körperzellen transportiert werden, um hier therapeutisch zu wirken (vgl. Nielsen/ Egholm 1999). Trotz der Modifikation, die eine Herstellung nicht natürlich vorkommender biologischer Teilsysteme ermöglicht, werden auch bei diesen Techniken bestehende biologische Strukturen benötigt und daher kein „neues“ Leben hergestellt. 2.5 Protozellen Der Protozellansatz ist ein bottom-up Verfahren, das die de novo Synthese von lebenden Zellen von Grund auf, aus nichtlebenden Stoffen, zum Ziel hat. So ist es möglich Lipidvesikel herzustellen, die molekulare Komponenten, wie Nukleinsäurestränge enthalten (vgl. Noireaux/ Libchaber 2004). Allerdings können derzeit noch keine komplexen Lebensformen synthetisiert werden. Protozellen können bislang vielmehr als Brücke zwischen Lebendigem und Nichtlebendigem begriffen werden (vgl. Rasmussen u. a. 2008). Aufgrund des dem Protozellansatz zugrundeliegenden Anspruchs einer de novo Synthese ganzer Zellen aus nichtlebenden Stoffen, wird bei diesem Ansatz nicht auf bestehende biologische Strukturen zurückgegriffen. Wenngleich es auch in diesem Bereich derzeit noch nicht möglich ist komplexe Zellen herzustellen, ist die Forschung an Protozellen der bislang aussichtsreichste Ansatz zur Herstellung von „neuem“ Leben. „Neues“ Leben aus dem Labor? 177 2.6 Weitere Ansätze Weitere Forschungsansätze befassen sich unter anderem damit, die Evolution beschleunigt ablaufen zu lassen. Zurzeit liegen zahlreichen Varianten des sogenannten „Evolutionsbeschleunigers“ vor, beispielsweise MAGE (Multiplex Automated Genomic Engineering; vgl. Wang H. u. a. 2009). Mit dieser Technik kann, über das zeitgleiche Herstellen zahlreicher Mutanten, ein Mikroorganismus in kürzester Zeit in die gewünschte genetische Richtung verändert werden. Ferner wurde die DNA als Baumaterial entdeckt, das sogenannte DNA- Origami (vgl. Rothemund 2006). Mit dieser Technik wurde beispielsweise ein DNA-Lineal entwickelt, mit welchem Abstände zwischen Molekülen gemessen werden können, um hochauflösende Mikroskope zu eichen (vgl. Steinhauer u. a. 2009) oder DNA-Kästchen angefertigt, die Medikamente an ihren spezifischen Wirkungsort im Körper transportieren sollen (vgl. Andersen u. a. 2009). Mittels dieser Ansätze stehen zwar schnellere Techniken und neuartige Baumaterialien zur Verfügung, jedoch werden auch hierbei natürlich vorkommende biologische Strukturen und natürliche Biosysteme künstlich verändert und somit wird kein „neues“ Leben generiert. 3 Systematische Aspekte der Synthetischen Biologie 3.1 „Neues“ Leben aus dem Labor? Die Ansprüche der Synthetischen Biologie, neue Lebensformen zu kreieren und darüber hinaus Lebewesen von Grund auf neu herzustellen, zeigen, dass Leben in diesem Kontext als vom Menschen herstellbar, kontrollierbar und generell verfügbar begriffen wird. Im Rahmen einer differenzierten Betrachtung wird deutlich, dass der Lebens- und der Naturbegriff im Forschungsfeld der Synthetischen Biologie von besonderer Bedeutung sind, jedoch nicht eindeutig definiert werden können, da sie Reflexionsbegriffe sind und keine Objekte oder Attribute. Auf der Objektebene wird eine Definition von „Leben“, aufgrund der Komplexität des Lebensbegriffs, der zahlreichen Implikationen sowie den weitreichenden Folgen auf vielfältigen Ebenen, trotz des offensichtlichen Bedarfs, zur Unmöglichkeit. Für Töpfer kann es: „[…] von ‚Leben‘ nur eine Pluralität von Wissenschaften geben, die erst zusammen dem Gegenstand gerecht werden“ (Töpfer 2011, 468). Hierbei wird deutlich, dass nicht nur die Frage nach dem „was Leben ist“ vordergründig ist, sondern zudem eine starke Ungewissheit darüber besteht, was eine mögliche Antwort auf diese Frage eigentlich bedeutet. Bezüglich des Naturbegriffs besteht eine Vielzahl von Bedeutungen, die mit dem jeweiligen Kontext variieren können (vgl. Heiland 1992, 3-5). Weitgehend ist zur Bestimmung des Naturbegriffs jedoch Leona Litterst 178 das Heranziehen eines Komplementärbegriffs üblich, häufig auch „der Mensch“ selbst (vgl. Birnbacher 2006, 1-7). Für Objekte der Synthetischen Biologie werden in Diskussionen und Publikationen häufig Begriffe wie „künstliches Leben“, „synthetischer Organismus“ oder „living machine“ verwendet. Methodische Reduktionismen, wie beispielsweise technomorphe Deutungen, sind einerseits sinnvoll und notwendig für Kausalerklärungen der Naturwissenschaften, sie sind aber andererseits von einem umfassenden Lebensbegriff zu unterscheiden (vgl. Gorke 2010, 91-92). Die Gegenbegriffe Lebewesen und Maschine rücken im Kontext der Synthetischen Biologie ebenso in das Zentrum der Betrachtungen, wie das Gegensatzpaar Natürlichkeit und Künstlichkeit. Nach Gorke (ebd., 64) ist bei einem graduellen Verständnis der beiden entgegengesetzten Pole Künstlichkeit und Natürlichkeit eine Reinform, zumindest bei Artefakten 2 , nicht auszumachen. Hieraus folgt, dass es unmöglich ist, zumindest auf der materialen Ebene des „Produkts“, zwischen Artefakten und Naturwesen eine klare Grenze zu ziehen. Oftmals wird jedoch eine qualitative von einer genetischen (herkunftsbezogenen) Dimension der Natürlichkeit bzw. Künstlichkeit unterschieden (vgl. Birnbacher 2006, 7-9). Ich zeige im Folgenden, dass sich wesentliche Unterschiede auf weiter entfernten Punkten des graduellen Kontinuums herausarbeiten lassen, wenn der künstliche bzw. natürliche Anteil nicht nur material, sondern auch vom Herstellungsprozess her verstanden wird. Natürlichkeit bzw. Künstlichkeit sind vornehmlich in lebensweltlichen Zusammenhängen gebräuchlich. Die synchronen Begriffe nichtlebend bzw. lebend hingegen finden häufig im biowissenschaftlichen Kontext Verwendung. In beiden Verständnissen von „Leben“, sowohl im lebensweltlichen als auch im biowissenschaftlichen, wurde Lebendiges bislang primär mit dem Natürlichen identifiziert. Schon am Namen der neuen Fachrichtung lässt sich allerdings erkennen: Die Synthetische Biologie sieht sich im Begriff den Bereich des Künstlichen nun auch dem Lebendigen zu eröffnen. So wird ein wesentlicher Anspruch der Synthetischen Biologie, über die technische Veränderung von Lebewesen hinaus zu gehen, insbesondere am Ansatz der Erzeugung von Protozellen deutlich. Ziel hierbei ist es, Leben von Grund auf herzustellen, das heißt komplexe Zellen aus nichtbelebten Stoffen de novo zu synthetisieren. Zwar ist es bislang auch in diesem Bereich (noch) nicht möglich Lebensformen im Ganzen zu erzeugen; derzeitige Protozellen können vielmehr als künstliche Systeme zwischen Leben und Nichtleben aufgefasst werden (vgl. Rasmussen u. a. 2004; 2008). Dennoch ist die Forschung an Protozellen der bislang aussichtsreichste Ansatz zur vollständigen, künstlichen Erzeugung von Lebewesen. 2 Ein Artefakt ist „[…] stets durch Fertigkeiten und Techniken Menschengemachtes und […] Sammelbegriff für so unterschiedliche, künstlich geschaffene Dinge wie Bauwerke, Kunstwerke und Maschinen“ (Karafyllis 2003, 12). „Neues“ Leben aus dem Labor? 179 Wie Boldt u. a. (2009, 57-59) in Anlehnung an Birnbacher argumentieren, können teilweise bzw. komplett synthetisierte lebendige Objekte der Synthetischen Biologie nicht als „künstliche Organismen“ aufgefasst werden, denn sie bleiben qualitativ „natürlich“. Vielmehr können sie herkunftsbezogen als „künstlich hergestellte Organismen“ begriffen werden. In meiner bisherigen Analyse konnte ich aufzeigen, dass bei allen top-down und bottom-up Ansätzen der Synthetischen Biologie - außer dem Protozellansatz - eine Modulierung von bestehenden Organismen bzw. eine Synthese einzelner Zellbestandteile von bestehenden Zellen vorgenommen wird. Folglich werden künstliche Eingriffe an Organismen durchgeführt, bei denen lediglich einzelne Bestandteile verändert oder neu synthetisiert werden. Diese bestehenden Organismen mit „künstlichen Veränderungen“ bzw. „künstlich hergestellten Bestandteilen“ sind jedoch deutlich zu unterscheiden von vollständig „künstlich hergestellten Organismen“ die gänzlich de novo synthetisiert wurden. Eine de novo Synthese, im Sinne einer „Komplettherstellung“ eines ganzen Organismus, ist aus heutiger Sicht einzig beim Protozellansatz als zukünftig zu erreichen denkbar. Nur bei einer möglichen, zukünftig gelungenen de novo Komplettsynthese eines Organismus kann von einem „künstlich hergestellten Organismus“, bzw. metaphorisch von „neuem“ Leben gesprochen werden. Der Begriff „neues“ Leben bezeichnet somit eventuell zukünftig mögliche, gänzlich durch de novo Synthese „künstlich hergestellte“ lebende Objekte der Synthetischen Biologie, im Sinne einer genetischen (herkunftsbezogenen) Künstlichkeit. 3.2 Typisierung der Biofakte Auch der „Biofakt“ Begriff von Karafyllis verdeutlicht, dass Lebewesen durchaus als künstlich verstanden werden können, denn Biofakte nehmen eine Mittelstellung zwischen Artefakten und Lebewesen ein (vgl. Karafyllis 2003, 16; 2006, 548). Sie entwickelte eine Systematik, in der drei Typen von Biofakten unterschieden werden: Biofakte Typ I sind Lebewesen, die vor ihrem Dasein technisch zugerichtet werden; Biofakte Typ II sind existierende Entitäten, die nach bzw. in ihrem Wachstum technisch verändert werden; bei Biofakten Typ III werden schließlich Modellierungen des Gewächses vorgenommen, mit Blick auf dessen Vermehrung. Unter Biofakte Typ I fallen beispielsweise transgene Pflanzen, die mittels Aussaat von gentechnisch verändertem Saatgut an bestimmten Orten wachsen. Zu Typ II werden mit Wachstumshormonen versetzte Tiere oder mit leistungssteigerndem Doping behandelte Sportler gezählt. Bei Typ III werden Reproduktionstechniken angewandt, die die Typen I und II kombinieren, beispielsweise die Fusion eines genetischen Prototyps, also eines für optimal befundenen „Programms“ (Biofakt Typ I), mit einem Inkubator, beispielsweise einer entkernten Eizelle (Biofakt Typ II) (vgl. Karafyllis 2006, 554). Es zeigt sich, dass eine Vielzahl vormaliger Lebewesen, die innerhalb ihres Wachstums einem menschlichen Eingriff unterzogen werden, als Biofakte zu bezeichnen sind. Leona Litterst 180 Der phänomenologisch entwickelte Wachstumsbegriff, der dem Biofaktbegriff zugrunde liegt, nimmt zwar auf lebensweltlich bekannte vielzellige Eukaryonten Bezug, aber nicht auf alle Organismen im Sinne der Biologietheorie. Im Gegensatz zu den meisten mehrzelligen Organismen weisen Prokaryonten, wie sie aktuell in der Synthetischen Biologie hauptsächlich in der Forschung verwendet werden, eine Vermehrung durch Zellteilung auf. In diesem Kontext ist von Wachstum nur dann die Rede, wenn sich die Bakterienzellen aktiv teilen. In Bakterien fällt demnach eine Modellierung „nach“ bzw. „vor dem Wachstum“ zusammen, da sie als Zellen gleichzeitig erwachsen, als auch zu weiterem Wachstum befähigt sind. Im Falle von einzelligen Organismen ist es daher möglicherweise sinnvoll von einem Biofakte Mischtyp I/ II zu sprechen. Da bei Bakterien zudem Wachstum mit Zellteilung bzw. Reproduktion gleichgesetzt werden kann, wird deutlich, dass sie grundsätzlich als Biofakte Typ III zu kategorisieren sind. Es zeigt sich, dass bei einzelligen Organismen ein sehr schneller Übergang zwischen den Typen I-III, in Abhängigkeit des Versuchsstadiums, vonstattengeht. Dieser rasante Wechsel stellt in Frage, ob eine Kategorisierung in die bereits vorgeschlagenen Biofakte Typen I-III für einzellige Organismen generell anwendbar ist. Der Biofaktbegriff scheint daher in diesem Kontext zunächst praktisch wenig zweckmäßig zu sein. Möglicherweise sollten für einzellige Organismen weitere Kriterien zur Spezifizierung herangezogen werden. Allerdings ist der Versuch mit dem Biofaktbegriff scharf abgegrenzte, eineindeutige Definitionen vorzunehmen, aufgrund des phänomenologisch entwickelten Ansatzes auch nicht entscheidend. In diesem Sinne ist der Biofaktbegriff ausgesprochen instruktiv zur Einordnung der Objekte der Synthetischen Biologie. Für sinnvoll und notwendig erachte ich darüber hinaus die Einführung eines neuen Biofakte Typs IV, der eventuell zukünftig mögliches „neues“ Leben kennzeichnet. Hierdurch kann deutlich herausgestellt werden, dass diese Organismen nicht nur modelliert wurden, sondern auf de novo Synthese zurückzuführen sind. 3.3 Systematik der Objekte der Synthetischen Biologie Auf Basis einer erweiterten Typisierung der Biofakte nach Karafyllis lässt sich eine Systematik der Objekte der Synthetischen Biologie aufstellen. Ich unterscheide, auf einem biowissenschaftlichen Verständnis des Lebensbegriffs basierend, die Objekte der Synthetischen Biologie in die beiden Kategorien „Nichtlebende Objekte der Synthetischen Biologie“ (A) sowie die Kategorie der „Lebenden Objekte der Synthetischen Biologie“ (B). Die weitere Aufspaltung der von mir unterschiedenen Kategorien habe ich mit den entsprechenden Techniken und Beispielen im Folgenden tabellarisch dargestellt. „Neues“ Leben aus dem Labor? 181 Kategorie Objektart Technik Beispiele Entität A Nichtlebende Objekte der Synthetischen Biologie Genetischnatürlich Ausgangsbasis verschiedener Techniken DNA; Aminosäuren; Ribosomen; Viren natürliche Gegenstände Genetischkünstlich Neusynthetisierte Genome; Artifizielle gen. Schaltkreise; BioBricks; Xenobiologie; Orthogonale Biosysteme; Protozellen BioBricks; Neusynthetisierte DNA; Neue Aminosäuren; Neue Ribosomen; XNA/ PNA; Derzeitige Protozellen Artefakte B Lebende Objekte der Synthetischen Biologie Genetischnatürlich Ausgangsbasis verschiedener Techniken, wie Minimalorganismen; Neusynthese von Genomen; Orthogonale Biosysteme Natürlich vorkommende Prokaryonten, wie E. coli, M. mycoides, M. capricolum; Zukünftig natürlich vorkommende Eukaryonten Lebewesen Top-down: Teilweise genetischkünstlich Minimalorganismen Minimalorganismen mit Minimalgenom Biofakte Typ I-III Bottom-up: Teilweise genetischkünstlich Minimalorganismen; Neusynthese von Genomen; BioBricks; Artifizielle genetische Schaltkreise; Xenobiologie; Orthogonale Biosysteme Zellen und Minimalorganismen mit neuen Proteinen, Ribosomen, XNA/ PNA, artifiziellen genetischen Schaltkreisen oder neusynthetisiertem Genom Biofakte Typ I-III Bottom-up: De novo genetischkünstlich Protozellen Zukünftige de novo synthetisierte lebende Zellen Biofakte Typ IV Tab. 1: Objekte der Synthetischen Biologie; in dieser Tabelle wird der Begriff „genetisch“ ausschließlich als „herkunftsbezogen“ verstanden. 4 Ethische Aspekte der Synthetischen Biologie 4.1 Synthetische Biologie - ein Spiel? Von den in der Öffentlichkeit stark vertretenen sogenannten visible scientists sowie in Berichten und in Publikationen der Synthetische Biologie wird häufig die spielerische und leichte Durchführbarkeit der Techniken der Synthetischen Biologie betont. Begriffe wie „Spiel“, „spielerische Vorgehenswei- Leona Litterst 182 se“ und „Spaß“ werden vielfach im Kontext des neuen Feldes verwendet. Beispielhaft hierfür ist die von dem Synthetischen Biologen Tom Knight häufig angeführte Analogie von BioBricks und Legobausteinen sowie der durchaus gewollte Spaßfaktor und die Kreativität der teilnehmenden „undergraduates“ bei der Durchführung der Projekte des iGEM-Wettbewerbs. Die Techniken der Synthetischen Biologie scheinen dabei zum „Kinderspiel“ zu geraten. Engelhard (2011, 52-54) beschreibt in diesem Zusammenhang einen „Wechsel in der Forschungskultur“ der Synthetischen Biologie im Vergleich zur klassischen Gentechnologie und hält die „spielerische Komponente“ für ein eigenes Wesensmerkmal der Synthetischen Biologie. Insbesondere in den neuen Biotechnologien, in denen an den Grenzbereichen des Lebens agiert wird, werden jedoch gravierende ethische Fragen und Fragen zu potentiellen Risiken aufgeworfen. In diesem Kontext untersuche ich im Folgenden den ambivalenten Charakter der Synthetischen Biologie als bloßes und/ oder gefährliches Spiel. Merkmale des Spiels, wie Zwecklosigkeit, Freiheit, Nicht-Notwendigkeit und Lust, machen eine Unterscheidung der Welt des „Spiels“ von einer in Raum und Zeit abgegrenzten Welt des „Nichtspiels“ sinnvoll. Die Sichtweise, ob Spiel der Moralfreiheit oder einer partikularen Sondermoral unterliegt wird kontrovers diskutiert (vgl. u. a. Apel 1988, 110ff.; Güldenpfennig 1996, 313ff.). Spiel ist jedoch immer in einen moralischen Rahmen der Nichtspielwelt eingebettet und findet somit im Raum moralischer Gegebenheiten der Nichtspielwelt statt. Im Kontext von Spiel in der Wissenschaft wird nach Huizinga (1987, 219) deutlich, dass Wissenschaft den Kontakt mit und die Gültigkeit für die Wirklichkeit sucht und daher nicht als Spiel gelten kann. Trotzdem wird zeitlich und räumlich begrenztes spielerisches Vorgehen in der Wissenschaft als Methode des Erkenntnisgewinns praktiziert, wenn auch meist nicht bewusst oder explizit. Diese spielerische Herangehensweise ist den Wissenschaften durchaus förderlich und aus dem wissenschaftlichen Alltag nicht wegzudenken. Dabei bleibt sie immer eingebettet in die Welt des Nichtspiels, der universalen Moral, in der sich der Forscher auch für spielerisch durchgeführte Forschungshandlungen verantworten muss. Zwei Modi wissenschaftlicher Erkenntnis sind hierbei relevant: erstens das spontane, kaum kontrollierte, improvisierte „Ideenspiel des Forschers“ (Lorenz 1983, 83-84). Der Forscher folgt dabei intuitiv bestimmten Richtungen, ist aber in jedem Moment dazu bereit, von seinen Zielen abzulassen und sich anderen Zielen zuzuwenden (vgl. Künsting 1990, 31-35). Zweitens die „bricolage“, die Haltung des Bastelns, in welcher Lévi-Strauss (1968, 29- 48) das Mittel jeden Fortschritts sah. Der Bastler sammelt Gegenstände, die er vorfindet, ohne zu wissen, was er daraus herstellen wird. Aus diesen gesammelten Dingen macht er brauchbare Gegenstände, die jedoch in den meisten Fällen nicht Bestandteil eines Gesamtplans sind (vgl. Jacob 1983, 50- 55). Beim Basteln ist zwar die Tätigkeit an sich vordergründig, dennoch „Neues“ Leben aus dem Labor? 183 stellt es auch ein (schwach) zweckgebundenes Handeln dar. Die „bricolage“ ist daher im engeren Sinne kein Spiel. Dennoch kann sie in der Wissenschaft als ein kreatives Mittel zum Zweck dienen, neue Dinge zu gestalten. Neben dem „Ideenspiel des Forschers“ fließt, je nach Forschungsansatz, auch die „bricolage“ in den Erkenntnisgewinn der Synthetischen Biologie ein. So zeigt sich insbesondere an Experimenten in nichtkommerziellen Laboren, die ohne finanzielle Gebundenheit der Laienforscher und somit nahezu zweckfrei durchgeführt werden können, eindrucksvoll die Verbindung zwischen dem Konzept des „Do-it-yourself“ und der „Bricolage“. Der in diesem Bereich spezifisch geförderte und gewollte spielerische Charakter der Herangehensweise trägt dazu bei, das Interesse von Nachwuchswissenschaftlern und einer breiten Öffentlichkeit an der Wissenschaft zu fördern. Wenngleich die Forschung in diesem Bereich einen eher geringen Anteil der Wissenschaft der Synthetischen Biologie darstellt, kann Spiel in der Synthetischen Biologie in diesem Kontext dazu beitragen, neue wissenschaftliche Möglichkeiten und Potentiale zu eröffnen. Mit Blick auf die professionelle Synthetische Biologie wird jedoch deutlich, dass vordergründig ein Forschungsideal des Planbaren und Kontrollierbaren angestrebt wird. Meist werden in langfristig geplanten Projekten lösungsorientiert vordefinierte Zwecke verfolgt. Die Synthetische Biologie wird daher auch überwiegend als Bioingenieurstechnik begriffen (vgl. Köchy 2012, 137-161; Billerbeck/ Panke 2012). Im Ingenieurwesen ist jedoch ein stark kontrollierter und zweckorientierter Anwendungsbezug vordergründig. Der Ingenieur arbeitet nach einem vorgefassten Plan, um Objekte herzustellen. Die Herangehensweise des Ingenieurs ist an konkreten Zielen und Ergebnissen orientiert und daher stark kontrolliert und zweckgebunden. Diese Zweckgebundenheit des Ingenieurs steht dem Kriterium „Zweckfreiheit“ des Spiels entgegen. Zwar befinden sich die meisten Forschungszweige der Synthetischen Biologie noch im Stadium der - scheinbar „spielerischen“ - Grundlagenforschung, dennoch sind zugleich meist langfristig die Anwendungen von Interesse, die von den Wissenschaftlern eigens gegründeten Unternehmen auf den Markt gebracht werden sollen. Prominentes Beispiel hierfür ist Craig Venter, der sich in der Öffentlichkeit nicht nur als „legospielender“ Wissenschaftler präsentiert, sondern auch als Ökonom agiert, der seine Forschungsergebnisse lukrativ zur Anwendung bringen möchte. Wissenschaft unterliegt insofern dabei zunehmend der Kommerzialisierung. Meine Untersuchungen zeigen, dass der Spielbegriff, im Kontext der Synthetischen Biologie, ein Akteurskonzept darstellt, das eine nicht zweck- oder zielorientierte Ausrichtung vorgibt. Jedoch ist diese augenscheinliche Zweckfreiheit nicht gegeben. Der Anwendungsbereich der Wissenschaft ist kein Bereich eines zweckfreien Spiels, denn insbesondere in den neuen Biotechnologien können die wissenschaftlichen Ergebnisse zur wirtschaftlichen Nutzung seitens der Forschenden selbst eingesetzt werden. Dabei gerät mit Leona Litterst 184 Hilfe des Spielkonzepts die voranschreitende Ökonomisierung der Wissenschaft aus dem Blick. Die Konnotation von „Spiel“ als „harmlos“ und „arglos“ die dem Spielcharakter der Synthetischen Biologie unter anderem zugrunde liegt, vermittelt zudem ein Bild spielerisch-unbedenklicher und risikofreier Forschung. Nach Hampel und Renn (1999, 7-15) gehört die Gentechnik, eine der Grunddisziplinen aus welcher die Synthetische Biologie heraus entwickelt wurde, jedoch zu den umstrittensten Techniken unserer Zeit. Und eine Studie von Gaskell u. a. (2010, 29-35) zeigt auf, dass eine Unterstützung der Synthetischen Biologie von der deutschen Bevölkerung größtenteils abgelehnt wird. Tatsächlich sind die möglichen Risiken für den Menschen und seine Umwelt im Bereich der Synthetischen Biologie derzeit noch nicht ausreichend untersucht und daher nicht vollständig abschätzbar oder auszuschließen. Auch die potentiellen Risiken der Synthetischen Biologie werden dabei mit Hilfe des Spielkonzepts aus dem Fokus gerückt. Das Akteurskonzept „Spiel“ ist demzufolge verbunden mit einer inadäquaten Darstellung der Forschung der Synthetischen Biologie in der Öffentlichkeit, da hierbei die Orientierung auf akademischen und finanziellen Profit sowie die potentiellen Risiken aus dem Blick geraten. Insbesondere potentiell risikoreiche Biotechnologien wie die Synthetische Biologie sollten jedoch in einem besonderen Maße von ethischer Reflexion und Verantwortungsbewusstsein getragen werden und dürfen nicht zum sorglosen Spiel mit den Möglichkeiten werden. Risiken sollten hierbei weder herunter „gespielt“ werden, noch sollte es zu überzeichneten Nutzenversprechungen von Seiten der Forschenden kommen. Für besonders wichtig halte ich daher den Appell an das Verantwortungsbewusstsein der Forschenden der Synthetischen Biologen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich einer transparenten Aufklärung der Öffentlichkeit über die Risiken und Chancen der Synthetischen Biologie (vgl. Grunwald 2012, 96-99) und der Selbstverpflichtung der Wissenschaftler, sich nicht ausschließlich und nicht primär von finanziellen Karriereinteressen leiten zu lassen. 4.2 Zur Verantwortung im Wissenschaftsbereich der Synthetischen Biologie Im Folgenden stelle ich die verschiedenen Verantwortungsbereiche unterschiedlicher Akteure im Wissenschaftsfeld der Synthetischen Biologie in das Zentrum meiner Betrachtungen. Allgemein wird der Verantwortungsbegriff als mindestens vierstelliger Relationsbegriff verstanden. Es kann daher sinnvoll von Verantwortung gesprochen werden, wenn Jemand (Subjekt) für etwas (Objekt) vor oder gegenüber jemandem (Instanz) aufgrund bestimmter normativer Standards (Normhintergrund) verantwortlich ist (vgl. Werner 2002, 522). Im Verantwortungsbereich des individuellen Wissenschaftlers kann eine berufliche Verantwortung angeführt werden. Im Sinne des „wissenschaftli- „Neues“ Leben aus dem Labor? 185 chen Ethos“, als normativer Inbegriff der in einer gegebenen Gruppe von ihr für verbindlich gehaltenen Moral sowie als sittlicher Charakter des einzelnen Handelnden (vgl. Honnefelder 2002, 492), ist verantwortliches Handeln gegenüber anderen Wissenschaftlern sowie der Öffentlichkeit für den individuellen Synthetischen Biologen verbindlich. Darüber hinaus bestehen moralische bzw. gesellschaftliche Verantwortungen des Synthetischen Biologen. Selbstregulierungen können die Forschungsfreiheit auch in der Synthetischen Biologie sinnvoll begrenzen. Grunwald (2012, 96-99) sieht eine Verpflichtung für Synthetische Biologen, aufgrund ihrer Sachkenntnis, frühzeitig Informationen in der Öffentlichkeit transparent zu machen und somit an gesellschaftlichen Debatten und politischen Konsequenzen mitzuwirken. Hinsichtlich der voranschreitenden Ökonomisierung in den Wissenschaften kann ein finanzieller Anreiz durchaus belebende Auswirkungen auf den wissenschaftlichen Konkurrenzkampf ausüben. Allerdings sollten Wissenschaftler die Selbstverpflichtung eingehen, nicht ausschließlich nach finanziellem Gewinnstreben zu handeln, sondern auch wissenschaftliche und gesellschaftliche Interessen in Entscheidungen einbeziehen. Eine Verantwortung, in Form von prosozialen Haltungen und Wohlverhaltenspflichten (vgl. Frankena 1994, 32ff.), ist auch für Synthetische Biologen von Bedeutung, denn sie tragen beispielsweise Verantwortung aufgrund ihres hohen gesellschaftlichen Status und nehmen eine Vorbildfunktion in der Öffentlichkeit ein. Ferner sind über den individuellen Wissenschaftler hinaus weitere Akteure in den Kreis der Verantwortungsträger mit einzubeziehen. Nach Grunwald trägt die mediale Information der Öffentlichkeit dazu bei, Dialoge zur Synthetischen Biologie in der Gesellschaft anzuregen. Neben den Wissenschaften sollten auch politische und gesellschaftliche Institutionen diese Diskurse fördern (vgl. Grunwald 2012, 96-99). Forschungsexperimente werden auch im Bereich der Synthetischen Biologie meist im Rahmen von Gemeinschaftsprojekten durchgeführt, welche wiederum in Korporationen eingebettet sind. Nach Lenk (1992, 40) darf es dabei jedoch nicht zu einer Verantwortungsdiffusion kommen. Nida-Rümelin (2011, 130-141) konstatiert, dass die einzelnen Mitglieder eine je individuelle Verantwortung für korporative Entscheidungen tragen, die, je nach Einflussmöglichkeit des Mitglieds, unterschiedlich groß ist. Von Seiten der Forschungsförderer werden Drittmittel in der Grundlagenforschung häufig nur gewährt, wenn eine bevorstehende Anwendung in Aussicht gestellt werden kann. Die wissenschaftliche Verantwortlichkeit kann durch interne Entwicklungen bedroht sein, wenn beispielsweise weniger wissenschaftlich verlässlich gestützte Empfehlungen, als vermehrt das Wohlwollen wirtschaftlich einflussreicher Akteure im Vordergrund steht (vgl. ebd., 165-169). Auch in der Synthetischen Biologie sind daher vom Grundsatz her weniger die populären und profitablen, sondern die wissenschaftlich relevanten Projekte stärker zu fördern. Da der freie Bezug von Informationen zum Aufbau pathogener Leona Litterst 186 Organismen und der Erwerb der Genomsequenzen bei Unternehmen auch von Nichtwissenschaftlern umgesetzt werden kann, ist eine unkontrollierte Herstellung pathogener Organismen denkbar. Hierdurch nimmt das Risiko einer missbräuchlichen Verwendung der Techniken der Synthetischen Biologie bis hin zu bioterroristischen Bedrohungen deutlich zu. Auf rechtlicher Ebene könnten, neben bestehenden Regularien, weitere Regeln für beteiligte Unternehmen eingeführt werden sowie die Abgabe und der Besitz des notwendigen technischen sowie chemischen Bedarfs zur Herstellung von Organismen kontrolliert werden (vgl. Boldt u. a. 2009, 66-73). Auch Selbstverpflichtungen der Unternehmen stellen Möglichkeiten zur Kontrolle und Wahrung der Sicherheit dar. So gründen Synthetische Biologen vermehrt selbst junge Unternehmen, um ihre Anwendungen gewinnbringend zu vermarkten. Die Corporate Social Responsibility (vgl. Göbel 2006) ist eine Selbstverpflichtung von forschenden Unternehmen zur freiwilligen gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme über gesetzliche Vorschriften hinaus. Sie kann im Bereich der privatwirtschaftlichen Forschung zu einem verantwortlichen unternehmerischen Handeln im Bereich der anwendungsorientierten Synthetischen Biologie beitragen. 5 Fazit und Ausblick Zu Beginn habe ich die heterogenen Herangehensweisen und Implikationen der Hauptforschungszweige der Synthetischen Biologie beschrieben und diskutiert ob und in welcher Weise mit der jeweiligen Methode „neues“ Leben generiert wird. Derzeit kann von der künstlichen Erzeugung „neuen“ Lebens noch nicht die Rede sein, allerdings kommt der Protozellansatz dem am nächsten. Im Anschluss daran erstellte ich im Rahmen einer differenzierten Betrachtung des Lebensbegriffs und der Biofakt-Typologie nach Karafyllis (2003; 2006) eine mögliche Kategorisierung der Objekte der Synthetischen Biologie nach den Kriterien „künstlich“ bzw. „natürlich“ sowie „nichtlebend“ bzw. „lebend“. Schließlich führte ich den ambivalenten Charakter der Synthetischen Biologie als bloßes und/ oder gefährliches Spiel aus und arbeitete verschiedene Verantwortungsbereiche unterschiedlicher Akteure im Wissenschaftsfeld der Synthetischen Biologie heraus. Insgesamt ist eine sachliche und transparente mediale Information und Einbeziehung der Öffentlichkeit zu den Vorgehensweisen, den tatsächlichen und den nur vielleicht künftig möglichen Ansätzen, den potentiellen Risiken und möglichen Perspektiven der Synthetischen Biologie notwendig - zwar nicht nur, aber auch - von Seiten der Synthetischen Biologen selbst. Dialoge zwischen Zivilgesellschaft, Institutionen, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft fördern das Vertrauen in einen verantwortungsvollen Umgang mit den neuen Biotechnologien, wie der Synthetischen Biologie. Dieses Vertrauen ist eine grundsätzliche Voraussetzung für eine gemeinsam verantwortlich gestaltete Zukunft unserer Welt. „Neues“ Leben aus dem Labor? 187 Literatur Andersen, Ebbe S./ Dong, Mingdong/ Kjems, Jørgen u. a. (2009): Self-Assembly of a Nanoscale DNA Box with a Controllable Lid. In: Nature 459(7243), S. 73-76. Apel, Karl-Otto (1988): Die ethische Bedeutung des Sports in der Sicht einer universalistischen Diskursethik. In: Franke, Elk (Hrsg.): Ethische Aspekte des Leistungssports. Clausthal-Zellerfeld: Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaften, S. 105-143. Billerbeck, Sonja/ Panke, Sven (2012): Synthetische Biologie. Biotechnologie als eine Ingenieurwissenschaft. In: Boldt, Joachim/ Müller, Oliver/ Maio, Giovanni (Hrsg.): Leben schaffen? Philosophische und ethische Reflexionen zur Synthetischen Biologie. Paderborn: Mentis, S. 19-40. Birnbacher, Dieter (2006): Natürlichkeit. Berlin: de Gruyter. Boldt, Joachim/ Müller, Oliver/ Maio, Giovanni (2009): Synthetische Biologie. 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Robert Ranisch „Du sollst das beste Kind wählen! “ 1 Eine Kritik des Pflichtbegriffs von Procreative Beneficence Abstract “You should select the best child! ” A critique of Procreative Beneficence’s Concept of Obligation: According to liberal eugenics, couples should be free to determine the genetic condition of their future offspring. The most famous position in this debate is Procreative Beneficence (PB). PB is a maximizing principle which states that, albeit the right to reproduction autonomy, couples have a moral obligation to select the best child of the possible children they could have. Thus, reproducers have moral reasons to undergo assisted reproduction in order to genetically profile embryos to fulfill this obligation. By analyzing PB’s concept of “moral obligation”, I argue that in decisive cases PB fails to show that parents have significant reasons to select for the best. Furthermore, it might be obligatory to conceive naturally, even if this does not lead to the best possible child. 1 Einleitung Mit der Novellierung des Embryonenschutzgesetzes ist die genetische Präimplantationsdiagnostik (PID) im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation (IVF) in Deutschland begrenzt erlaubt. Der 2011 nach langem Ringen vom Gesetzgeber eingeführte Paragraph §3a legt fest, dass die PID nicht rechtswidrig ist, wenn die vorgeburtliche Diagnostik etwa der „Feststellung einer schwerwiegenden Schädigung des Embryos“ dient, „die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird“ (§3a(2) EschG). Ein Blick in die USA und Großbritannien zeigt dagegen eine weitreichende Freigabe und zunehmende Ausweitung des Indikationsspektrums für den Einsatz der PID. In Großbritannien ist die PID derzeit für mehr als 1 Für den anregenden Austausch zu früheren Fassungen des Manuskripts danke ich meinen Betreuern Prof. Dieter Birnbacher und Prof. Thomas Potthast. Leonie Bossert, Lisa Schöttl sowie meinen Mitherausgebern danke ich für hilfreiche Rückmeldungen. Robert Ranisch 192 300 Faktoren zugelassen (vgl. HFEA 2014), darunter etwa auch für Genmutationen, die für Brustkrebsvarianten verantwortlich sind. Auch die Auswahl von Merkmalen, welche keinen medizinischen Nutzen für Nachkommen haben müssen, etwa Geschlecht oder deren Eignung als Gewebespender, gehören bereits zur Praxis. Private Reproduktionskliniken werben zudem damit, die Entwicklung von Testverfahren begonnen zu haben, die Paaren den Zugriff auf weitere gewünschte Eigenschaften geben können. Die Ausweitung dieser Testverfahren kann aus deutscher Perspektive Unverständnis hervorrufen: Sowohl der öffentliche Diskurs als auch die hiesige professionalisierte Ethik ist von ausgesprochener Zurückhaltung geprägt, wenn es um die Bewertung und schließlich Auswahl von ungeborenem menschlichen Leben geht. „Selektion“ ist ein Reizwort (vgl. Birnbacher 2006) und nicht wenige erinnert die genetische Merkmalsplanung an grausame eugenische Praktiken vergangener Jahrzehnte. Im englischsprachigen Ausland zeigt sich dagegen eine zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz (vgl. Shulman/ Bostrom 2014, 88), wobei die Fürsprecher des erweiterten Einsatzes von vorgeburtlichen Testverfahren insbesondere in Kreisen der institutionalisierten Bioethik zu finden sind. Schon lange wird dort nicht mehr die Frage des „Ob“ der genetischen Merkmalsplanung diskutiert, sondern Fragen des „Wie“ (vgl. Habermas 2005, 128). Die prominentesten Positionen, welche die Zulässigkeit der vorgeburtlichen Merkmalsplanung von Nachkommen befürworten, werden unter dem provokanten Stichwort der liberalen Eugenik diskutiert. Fürsprecher einer liberalen Eugenik setzen sich für die Erweiterung der reproduktiven Autonomie von Paaren ein. Diese sollten nicht nur entscheiden dürfen, wann und wie viele Nachkommen sie zur Welt bringen wollen. Sie hätten auch ein Recht auf selektive Reproduktion: „the attempt to create one possible future child rather than a different possible future child“ (Wilkinson 2010, 2). Ausgehend von diesen, insbesondere in der angelsächsischen Bioethik vertretenen Positionen, wird sich der Aufsatz einer kritischen Analyse des bekanntesten Prinzips der liberalen Eugenik 2 zuwenden: dem Prinzip Procreative Beneficence (PB). PB fordert, dass Kinderwunschpaare eine moralische Verpflichtung haben, die „besten Nachkommen“ auszuwählen. Der erste Teil des Aufsatzes wird sich einer kurzen Bestimmung der liberalen Eugenik zuwenden (Abs. 2) und dabei drei Modelle vorstellen (Abs. 3). Der zweite Teil widmet sich Maximierungsmodellen der liberalen Eugenik, wobei PB als paradigmatisches Beispiel vorgestellt wird (Abs. 4). Im Zentrum steht hier die ethische 3 Auseinandersetzung mit dem Pflichtbegriff von PB. Eine Diskussion von Fallbeispielen (Abs. 5) soll schließlich die Plausibilität der behaupteten Verpflichtung zur Auswahl der „besten Kinder“ prüfen. 2 Zur Kritik an der liberalen Eugenik siehe den Überblick von Potthast (2012) und Goering (2014) sowie die einschlägigen Arbeiten von Habermas (2005) und Sandel (2007). 3 Ich folge der philosophischen Konvention und bezeichne „Ethik“ als Theorie der Moral und „Moral“ als System von Normen, Werten, Regeln usf. „Du sollst das beste Kind wählen! “ 193 2 Zur Bestimmung der liberalen Eugenik Die Bezeichnung „liberale Eugenik“ wird erst seit kurzer Zeit in der bioethischen Literatur diskutiert. In der englischsprachigen Debatte wird der Begriff häufig mit einem Aufsatz von Nicholas Agar (1998) sowie seinem gleichnamigen Buch Liberal Eugenics: In Defence of Human Enhancement (2004) verbunden. In Deutschland hat insbesondere Jürgen Habermas mit Die Zukunft der menschlichen Natur: Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik (2005) zur Popularisierung des Begriffs beigetragen. In den letzten Jahren haben sich in der angelsächsischen Bioethik eine Reihe von Autoren zu Ideen der liberalen Eugenik bekannt (vgl. Buchanan u. a. 2001; Gavaghan 2007; Glover 2006; Harris 2007; Wilkinson 2010). Gemeinsam ist diesen Positionen, dass sie sich als Kontraposition zur autoritären Eugenik verstehen (vgl. Agar 1998). Während letztere durch Zwang, kollektivistische Zwecksetzung und das Ziel einer genetischen Uniformität gekennzeichnet war, betonen Vertreter der liberalen Eugenik Freiwilligkeit, Individualismus und Pluralismus (vgl. Goering 2014; Potthast 2012). Damit könne die liberale Eugenik sich von den autoritären Praktiken der Vergangenheit abgrenzen: „the addition of the word ‚liberal‘ to ‚eugenics‘ transforms an evil doctrine into a morally acceptable one“ (Agar 2004, 135). Liberale Eugenik wird dabei im Rahmen eines politischen Liberalismus verortet, der die Autonomie des Individuums als entscheidend erachtet (vgl. Wilkinson 2010, 10-14). Demnach müsse ein Gemeinwesen in einer Art geordnet sein, dass es neutral gegenüber Vorstellungen des Guten ist und Freiheitseinschränkungen nur zur Verhinderung von Fremdschädigung legitimiert (vgl. Ranisch 2013). Dieses Neutralitätsgebot wird ausdrücklich von Agar hervorgehoben: „the distinguishing mark of the new liberal eugenics is state neutrality“ (Agar 1998, 137). Daher sollten Kinderwunschpaare auf Grundlage ihrer Vorstellung des Guten über die genetische Ausstattung ihrer Nachkommen entscheiden dürfen. Ein solches Recht auf reproduktive Autonomie (vgl. Buchanan u. a. 2000, 206-213), wie es Vertreter der liberalen Eugenik fordern, wird nicht nur als ein Erlaubnisrecht verstanden, d. h. die Abwesenheit einer Verpflichtung eine (bestimmte) Auswahlentscheidung zu unterlassen. Es drückt vielmehr ein Freiheitsrecht aus, demzufolge Dritte eine Verpflichtung haben, Kinderwunschpaare nicht an einer selektiven Reproduktion zu hindern. Ein solches Freiheitsrecht wird allerdings als vereinbar erachtet mit der Überzeugung, dass manche reproduktiven Entscheidungen besser seien als andere. 3 Drei Modelle der liberalen Eugenik Während alle Vertreter der liberalen Eugenik die Ausweitung der reproduktiven Autonomie fordern, zeigt sich auf moralischer Ebene Uneinigkeit, wie diese Freiheitsspielräume von Wunscheltern genutzt werden sollten. Darf Robert Ranisch 194 eine selektive Reproduktion nur zur Verhinderung von Krankheiten oder auch zur Förderung bestimmter Eigenschaften dienen? Ist die selektive Reproduktion bloß moralisch zulässig, wünschenswert oder gar geboten? Idealtypisch lassen sich hier drei Modelle der liberalen Eugenik unterscheiden: Präferenz-, Schwellenwert- und Maximierungsmodelle. Häufig wird behauptet, dass Vertreter der liberalen Eugenik die „Ziele merkmalsverändernder Eingriffe“ ausschließlich „den individuellen Präferenzen von Marktteilnehmern“ überlassen (vgl. Habermas 2005, 39). Liberale Eugenik käme demnach einem genetischen Supermarkt gleich, wie er bereits von Robert Nozick in Anarchy, State, and Utopia (1974, 315 Anm.) skizziert wurde: die Auswahl der genetischen Güter ist hier dem Belieben und der Kaufkraft der Kinderwunschpaare anheimgestellt. Präferenzmodelle haben in der Bioethik allerdings nur wenige Anhänger gefunden (vgl. etwa Gavaghan 2007; Bennett 2009). Vertreter solcher Modelle betonen, dass „choices about the genetic composition of future children should, in almost all cases, be left to prospective parents“ (Gavghan 2007, 4). Wunscheltern dürfen demnach ihren Präferenzen bezüglich des Geschlechts, Spenderkompatibilität oder gar Dispositionen zu Beeinträchtigungen nachgehen. Solange die zukünftigen Nachkommen ein Mindestmaß an Lebensqualität haben, sei die Entscheidung moralisch indifferent (vgl. Bennett 2009). Die meisten Vertreter der liberalen Eugenik fordern dagegen, dass Kinderwunschpaare moralische Gründe haben nicht nur ein Minimum, sondern eine angemessen hohe Lebensqualität ihrer Kinder sicherzustellen (vgl. etwa Herrissone-Kelly 2006; Parker 2007). Bei der selektiven Reproduktion sollten sie Nachkommen auswählen, die über ein bestimmtes Maß an wünschenswerten Eigenschaften wie Gesundheit usf. verfügen. Wir können daher von einem Schwellenwertmodell sprechen. Diesem Modell liegt die Idee einer Satisfizierung zugrunde: eine reproduktive Entscheidung ist (moralisch) „gut genug“, wenn sie zu Nachkommen führt, die über ein hinreichendes Maß der relevanten Eigenschaft(en) verfügen. Ist dies erfüllt, kann keine alternative reproduktive Entscheidung (moralisch gesehen) „besser“ sein. Insbesondere diese letzte Überzeugung wird von Vertretern von Maximierungsmodellen abgelehnt. Sie behaupten, dass Kinderwunschpaare vielmehr moralische Gründe haben, die Handlung zu wählen, welche zur Zeugung der „besten Kinder“ 4 führt. Maximierungsmodelle unterscheiden sich dabei sowohl bezüglich der Intensität, mit der die Auswahl der „besten Kinder“ gefordert wird, als auch hinsichtlich ihrer Reichweite des Guten. Schwache Maximierungsmodelle fordern lediglich, dass „wenn alle anderen Dinge gleich sind, es moralisch gesehen besser ist, ein Kind mit höherem genetischen Potential zu zeugen als mit einem niedrigeren“ (Chadwick 2006, vivii). Starke Maximierungstheorien fordern dagegen mitunter ein hohes Maß an Opferbereitschaft der Wunscheltern bis hin zum Verzicht auf Nachkom- 4 Diese Rede vom „besten Kind“ bezieht sich nicht auf dessen moralischen Status, sondern inwieweit es die wünschenswerte(n) Eigenschaft(en) realisiert. „Du sollst das beste Kind wählen! “ 195 men (vgl. Benatar 2006). Theorien mit einer geringen Reichweite des Guten betonen, dass reproduktive Entscheidungen dem Wohl des Kindes dienen sollen (vgl. Harris 2001; Savulescu 2001). Maximierungstheorien mit großer Reichweite fordern auch die Berücksichtigung von Geschwistern, der Familie oder der Gemeinschaft (vgl. Douglas/ Devolder 2013; Elster 2011). 4 Ein Maximierungsmodell der liberalen Eugenik: das Prinzip Procreative Beneficence Das wohl bekannteste Maximierungsmodell der liberalen Eugenik ist das von Julian Savulescu (2001) vorgeschlagene Procreative Beneficence (PB). Demnach sollten Kinderwunschpaare nicht nur die „besten Kinder“ auswählen, sie sind dazu verpflichtet. Obgleich sich in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Autoren um eine Verteidigung oder Weiterentwicklung von PB bemühten (vgl. etwa Douglas/ Devolder 2013; Elster 2011; Saunder 2014), ist es selbst unter moderaten Vertretern der liberalen Eugenik stark umstritten (vgl. Bennett 2009; Herrison-Kelly 2006; Parker 2006). Das kann kaum verwundern, halten doch die meisten von ihnen axiomatisch an der Überzeugung fest, dass „parents might be permitted but not obliged to enhance their future children“ (Agar 2001, 87; Herv., R.R.). Dagegen betont PB gerade Verpflichtungen bei reproduktiven Entscheidungen und diese zudem zur Auswahl der „bestmöglichen“ Nachkommen. Im Folgenden wird hieran anschließend eine Auseinandersetzung mit dem behaupteten Maximierungsgebot bei reproduktiven Entscheidungen gesucht. Dabei soll PB nicht, wie von den meisten Rezipienten, aus Sicht konkurrierender Moraltheorien kritisiert werden. Vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, ob und unter welchen Bedingungen ein Maximierungsprinzip überhaupt Pflichten für Kinderwunschpaare zur Auswahl der „besten Nachkommen“ rechtfertigt. 4.1 Procreative Beneficence In einer Reihe von Arbeiten hat Julian Savulescu Procreative Beneficence entwickelt. Seine Überlegungen formulierte er erstmals 2001 in einem gleichnamigen Aufsatz. Neben zahlreichen Konkretisierungen und Verteidigungen (vgl. insbesondere Savulescu 2007; 2014) ist die 2009 mit Guy Kahane überarbeitete Fassung von PB hervorzuheben. Dort heißt es: „If couples (or single reproducers) have decided to have a child, and selection is possible, then they have a significant moral reason to select the child, of the possible children they could have, whose life can be expected, in light of the relevant available information, to go best or at least not worse than any of the others.“ (Savulescu/ Kahane 2009, 274) Robert Ranisch 196 PB wird explizit als Maximierungsprinzip präsentiert (vgl. ebd., 283): Wenn Kinderwunschpaare die Möglichkeit zur selektiven Reproduktion haben, sollten sie das „beste Kind“ auswählen. Das Werturteil bezieht sich dem individualistischen Anspruch der liberalen Eugenik entsprechend auf das Wohl (well-being) oder die Lebensqualität (quality of life) des Kindes (vgl. ebd., 278f.) - im Vergleich zu anderen möglichen Nachkommen des Paares. 5 Das entsprechende Kind wird dabei kurz als „most advantaged“ oder „best child“ bezeichnet. Ich werde im Folgenden vom +Kind sprechen, um auf das (mögliche) Kind zu verweisen, das eine höhere (oder keine geringere) Lebensqualität hat als andere mögliche Nachkommen eines Paares. 6 Aus der Bestimmung von PB wird deutlich, dass das Prinzip bedingte Normen postuliert. Es bringt zum Ausdruck, dass unter bestimmten (situativen) Bedingungen, wie dem Vorliegen eines Kinderwunsches und der Möglichkeit zur selektiven Reproduktion, etwas getan werden sollte. Wenn ein Paar sich für Nachwuchs entscheidet und wenn eine Auswahl möglich ist, dann haben sie moralische Gründe das +Kind auszuwählen. Savulescu sieht hierzu die PID nach IVF als paradigmatisches Beispiel (vgl. ebd., 275f.). Die Auswahl des +Kindes würde demnach im Rahmen einer assistierten Reproduktion erfolgen. Dabei ist freilich die Annahme zentral, dass genetische Faktoren einen Einfluss auf die Lebensqualität haben, dass dieser Zusammenhang bekannt ist, Testverfahren verfügbar sind und eine Auswahl nach PID, zumindest in manchen Fällen, zu einem +Kind führt. Bezüglich der Frage, welche genetisch bedingten Eigenschaften nun einen Einfluss auf die Lebensqualität hätten und eine selektive Reproduktion leiten sollen, bleibt Savulescu, wie auch die meisten Autoren der liberalen Eugenik, vage. Deutlich macht er allerdings, dass die Auswahl nicht spezifisch auf die Vermeidung von Erbkrankheiten zielen sollte, sondern auf alle möglichen genetischen Eigenschaften und Befähigungen, die einen positiven Einfluss auf die Lebensqualität der Nachkommen hätten: „In so far as a nondisease gene such as a gene for intelligence impacts on a person’s well-being, parents have a reason to select for it“ (Savulescu 2001, 423). Savulescu adressiert damit auch nicht bloß genetisch belastete Kinderwunschpaare, sondern tendenziell jedes Paar, insofern angenommen werden kann, dass ihre Nachkommen durch eine Förderung von Eigenschaften wie Intelligenz, Erinnerungsvermögen, Impulskontrolle oder Empathie eine gesteigerte Lebensqualität haben (vgl. Savulescu 2007, 284). 5 PB bezieht sich auf mögliche biologische Kinder eines Paares (vgl. Savulescu/ Kahane 2009, 274f. Anm. 3) und schließt eine Fremdspende von Samen- oder Eizellen sowie Adoption aus (vgl. hierzu kritisch Sparrow 2011, 36). 6 Bei der selektiven Reproduktion haben wir es mit Entscheidungen zu tun, die Bedingungen für die Existenz von (verschiedenen, möglichen) Personen sind. Aus diesem Grund wurde gegen PB eingewandt, dass dieses gar nicht klären könne, für wen die Auswahl des „besten Kindes“ eigentlich besser sei (vgl. Bennett 2009). Während diese Frage zentral für eine Ethik der reproduktiven Entscheidung ist, kann sie in diesem Aufsatz nicht behandelt werden (vgl. Ranisch 2012). „Du sollst das beste Kind wählen! “ 197 4.2 Zum moralischen Gehalt von PB PB versteht sich als Prinzip zur Entscheidungsfindung für Kinderwunschpaare. Es hat offenkundig einen normativen Gehalt, gibt es schließlich an, was getan werden sollte. Modalverben („sollen“) haben aber ebenso wie evaluative Begriffe („gut“) eine ganze Reihe von Verwendungsweisen und werden bei moralischen als auch bei nicht-moralischen Aussagen gebraucht. Der illokutionäre Sinn der Sollens-Aussage ist somit nicht eindeutig, zumal Savulescu (2001, 415) in früheren Ausführungen das Urteil „Paare sollten das +Kind auswählen“ mit Sätzen wie „Ich sollte nicht rauchen“ vergleicht. Gemäß verbreitetem Verständnis handelt es sich bei der Frage des Rauchens aber nicht um ein genuin moralisches, sondern vielmehr um ein prudentielles Urteil. Bezeichnenderweise sprechen wir gewöhnlich auch nicht von einer Pflicht mit dem Rauchen aufzuhören. Hat PB demnach überhaupt die Geltung eines moralischen Urteils? 7 Savulescu hat sich in jüngster Zeit darum bemüht, den spezifischen moralischen Gehalt von PB hervorzuheben. Dieser ergebe sich durch den Bezug auf Dritte: „Since the actions of parents in procreation are not purely selfregarding but affect others (that is, the child born of their actions), they fall in the moral, not prudential, realm“ (Savulescu 2014, 171). Eine solche Bestimmung ist allerdings zu unspezifisch. Auch die Entscheidung, ob Eltern ihr Kind „Daniel“ oder „Thomas“ nennen, betrifft das Kind, muss allerdings keine moralische Dimension haben. Naheliegend ist, PB als ein moralisches Prinzip zu verstehen, insofern es Bezug auf das Wohl der Nachkommen nimmt. Eine solche inhaltliche Bestimmung des Moralischen ist aus der Philosophie vertraut und ein geeigneter Kandidat, moralische von nichtmoralischen Urteilen zu unterscheiden (vgl. Williams 1972, 73ff.). 4.3 Praktische Gründe und der deontische Anspruch von PB Normative Urteile sind eng mit praktischen Gründen verknüpft. Wir sehen dies deutlich bei Savulescu, der die Sollensforderung von PB mit „guten Gründen“ übersetzt: „By ,should‘ in ,should choose‘, I mean ,have good reason to‘“ (Savulsecu 2001, 415). In moralischer Hinsicht haben wir demnach Gründe so zu handeln, dass wir das Wohl unserer Kinder fördern. Es scheint nun, dass wir Gründe haben, ceteris paribus mehr von einem Gut zu realisieren als weniger. Das Maximierungsgebot bei reproduktiven Entscheidungen folge demnach aus den Bedingungen der praktischen Vernunft: „The claim that we should select the best option available is simply the application of a general constraint on practical reason, a constraint that applies to both moral and prudential choice. […] Roughly, we have rea- 7 Die Frage ist hier also nicht, ob PB ein (moralisch) richtiges oder gut begründetes Prinzip ist. Es geht hier zunächst um die Frage, ob es gemäß verbreiteter Auffassung überhaupt als ein moralisches Prinzip verstanden werden kann. Robert Ranisch 198 son to choose what is good, and we have more reason to prefer what is better.“ (Savulescu/ Kahane 2009, 280) Während wir im Bereich des Prudentiellen etwa davon sprechen, dass die Wahl einer Handlung vernünftig oder klug ist, für welche die stärksten Gründe sprechen, ist nach Savulescu im Bereich des Moralischen die Wahl verpflichtend, für die es ausschlaggebende Gründe (significant reasons) gibt (vgl. ebd., 278). Von daher kann er Moral, respektive das moralisch Gebotene, mit dem identifizieren, „what we have most reason to do“ (Savulescu 2001, 415). Die Rede von „Pflicht“ hat für Savulescu also eine Auszeichnungsfunktion: sie gibt an, was wir im Lichte der Handlungsoptionen tun sollten. Aus moralischer Perspektive ist die beste Handlung die, welche das meiste Wohl verwirklicht. Daher kann gemäß PB die Auswahl des +Kindes eine moralische Pflicht für Kinderwunschpaare sein. Wie die meisten Vertreter der liberalen Eugenik zieht Savulescu hier allerdings eine scharfe Grenze zwischen legalen und moralischen Pflichten. Das Maximierungsgebot nach PB möchte er demnach als moralische Verpflichtung (moral obligation) verstanden wissen (vgl. ebd., 414; 2014, 170-172; Savulescu/ Kahane 2009, 277). Obgleich Paare die „besten Nachkommen“ auswählen sollen, dürfe diese Norm keine juridische oder gar strafrechtliche Dimension haben. Vielmehr sei PB „compatible, at the legal level, with […] the right to make procreative choices which foreseeably and avoidably result in less than the best child“ (Savulescu/ Kahane 2009, 278). 4.4 Zur Stärke der moralischen Pflicht „die besten“ Kinder auszuwählen Die genannten Überlegungen machen deutlich, dass gemäß PB die Auswahl des +Kindes nicht zulässig, sondern verpflichtend ist, wenn ausschlaggebende Gründe dafür sprechen. Deutlich wird hier, dass es sich bei PB demnach nicht um eine absolute Verpflichtung handelt, welche unter allen Umständen gilt (vgl. Savulescu 2014, 170). Vielmehr drückt PB prima facie oder pro tanto Pflichten oder Gründe aus. Solche nicht-absoluten Pflichten können im Falle eines Konfliktes mit anderen Gründen oder Pflichten ihre Kraft verlieren. Während prima facie Verpflichtungen im Falle eines Normenkonflikts unwirksam werden, können pro tanto Verpflichtungen untergeordnet werden. Haben wir einen Konflikt zwischen verschiedenen Gründen, müssen wir in Anbetracht aller Umstände (all-things-considered) abwägen, welche Gründe die ausschlaggebenden sind und die Geltung einer moralischen Pflicht haben. Gibt es keine widerstreitenden Gründe, gilt die Pflicht zur Auswahl des +Kindes absolut: „When the obligation to have the most advantaged child is not overridden by sufficiently strong opposing moral reasons, it will be true that parents ought, all things considered, to select the most advantaged child“ (Savulescu/ Kahane 2009, 278). „Du sollst das beste Kind wählen! “ 199 Welche widerstreitenden Gründe könnte es aber diesbezüglich geben? PB als Prinzip der reproduktiven Entscheidungsfindung spezifiziert dies nicht. Zwar diskutiert Savulescu an einigen Stellen mögliche Folgen der Ungerechtigkeit als Resultat der selektiven Reproduktion, räumt diesen Bedenken aber kein starkes Gewicht ein (vgl. Savulescu 2001, 422ff.). Naheliegender ist, gemäß dem rekonstruierten moralischen Gehalt von PB, dass Einschränkungen des Wohles Dritter Gründe gegen die Auswahl des +Kindes darstellen können (vgl. Savulescu/ Kahane 2009, 278). 5 PB und die Grenzen der Maximierungspflicht Die Frage der Abwägung von PB mit widerstreitenden Gründen ist zentral, um zu bestimmen, wie stark die behauptete Pflicht zur Auswahl eines +Kindes ist. Verfechter von PB adressieren diese Frage allerdings selten. Dies muss verwundern, sind schließlich die mit der selektiven Reproduktion verbundenen medizinischen Maßnahmen stets mit psychischen und physischen Belastungen für die Wunschmutter sowie mit Risiken für die Nachkommen verbunden. Es gibt daher stets pro tanto Gründe, welche gegen den Einsatz einer künstlich assistierten Reproduktion sprechen. Für die Wunschmutter sind insbesondere die Belastungen und Risiken zu nennen, die mit der Gewinnung und Entnahme von Eizellen, dem anschließenden Embryonentransfer und dem erhöhten Risiko einer Mehrlingsschwangerschaft verbunden sind. Mit der oft dauerhaften Hormonbehandlung sind zahlreiche Nebenwirkungen verbunden - bis hin zu einem ovariellen Überstimulationssyndrom, welches in schweren Fällen lebensbedrohlich sein kann. Die Entnahme der Eizellen ist ein invasiver Eingriff mit Verletzungs- und Infektionsrisiken und erfolgt in der Regel unter Vollnarkose (vgl. Deutscher Ethikrat 2011, 22ff.). Aufgrund der geringen Schwangerschaftsrate von etwa 30% pro Embryonentransfer und einer noch geringeren Geburtenrate (vgl. DIR 2013, 12; Moutou u. a. 2014) muss die Prozedur häufig wiederholt werden - ein Umstand, der eine starke psychische Belastung darstellt. Auch für die Nachkommen ist die künstliche Befruchtung verglichen mit einer natürlichen Zeugung mit erhöhten Risiken verbunden (vgl. Pandey u. a. 2012) und im Rahmen der PID ist mit einer Fehldiagnose zu rechnen. Hinsichtlich der Zielsetzung der genetischen Auswahl zeigen sich die größten Erfolge bei der Vermeidung von monogenen Erbkrankheiten oder Chromosomenstörungen. Eine gezielte Steigerung wünschenswerter Fähigkeiten wäre selbst bei zuverlässigen Methoden der Diagnostik nur in moderatem Maße denkbar. 8 8 Wäre es möglich befruchtete Eizellen hinsichtlich ihrer genetischen Veranlagung für Intelligenz, gemessen als IQ, auszuwählen, bräuchte es gemäß der Berechnungen von Schulman und Bostrom (2014, 86) bei einer Normalverteilung mit Standardabwei- Robert Ranisch 200 Solche von Vertretern einer liberalen Eugenik häufig vernachlässigten Befunde über Risiken von Reproduktionstechnologien sind für eine Analyse im Sinne einer Ethik in den Wissenschaften zentral. Die Bewertung reproduktiver Entscheidungen hängt auch von der Bewertung der, mitunter unvermeidbaren, empirischen Faktoren ab. Bei einer bioethischen Analyse haben wir es mit gemischten Urteilen zu tun (vgl. Potthast 2008), in die sowohl evaluative als auch empirische Elemente einfließen müssen. Ohne weitere Bemühungen einer Verhältnisbestimmung von moralischen und empirisch-wissenschaftlichen Aspekten scheint Savulescu dieser Forderung zumindest implizit bei der Bestimmung der Grenzen von PB nachzukommen. So meint er: „women should not undergo risky fertility treatments in order to be able to select an embryo whose expected well-being is only negligibly greater than that of the child they expect to have naturally“ (Savulescu/ Kahane 2009, 281; Herv., R.R.). Es kann demnach Fälle geben, in denen die Pflicht zur Auswahl des +Kindes außer Kraft gesetzt wird. Wir müssen allerdings klären, wie dies plausibel gemacht werden kann und was dies für die Geltung von PB in anderen Fällen bedeutet. 5.1 Die opferbereite Wunschmutter Wie lässt sich Savulescus Forderung verstehen, dass sich die Wunschmutter nicht für das +Kind entscheiden sollte? Betrachten wir folgenden Fall: (i) Die opferbereite Wunschmutter: Eine Frau möchte ein Kind bekommen. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass ein auf natürlichem Wege gezeugtes Kind ein durchschnittliches Maß an Lebensqualität hätte (LQ=50), hat sie ganz besondere Absichten: Überzeugt von PB wählt sie eine IVF mit anschließender Embryonenselektion, um das „bestmögliche“ Kind auszuwählen. Obwohl es keine Anhaltspunkte gibt, dass ihr künstlich gezeugter Nachkomme eine signifikant höhere Lebensqualität hätte (LQ=55), ist die Wunschmutter bereit sich den Belastungen des Verfahrens auszusetzen (LQ=-10), um das +Kind auszuwählen. Ein solcher Fall stellt Savulescu vor Schwierigkeiten. Die Bemühung der Frau das +Kind auszuwählen, scheint ja gemäß PB moralisch geboten. Wie kann Savulescu aber, wie angedeutet, zu dem Schluss kommen, dass sie nicht auswählen sollte? Man könnte annehmen, dass die Auswahl des +Kindes zu viel von ihr verlangt wäre; die Auswahl würde demnach über ihre Pflicht hinausgehen. Dies kann aber gemäß PB nicht sein: als Maximierungsprinzip hat es keinen Begriff von Supererogation, d. h. Handeln, das über das Gebotene hinausgeht. Wenn die beste Handlung ohnehin moralisch geboten ist, kann keine Handlungsoption moralisch besser sein. 9 chung von 7.5 eine Auswahl aus 100 Embryonen, um eine Steigerung des IQ von 18.8 zu erzielen und 1000 Embryonen für eine Steigerung von 24.3. 9 Lediglich wenn mehrere Optionen den gleichen Wert realisieren, aber eine ein größeres Opfer vom Handelnden verlangt, könnte diese als übergebührlich gelten. „Du sollst das beste Kind wählen! “ 201 Wahrscheinlich ist, dass Savulescu dem Wohl der Frau hier das entscheidende Gewicht einräumt. Er wird jedoch keine prima facie Pflicht fordern, nach der Paare nur +Kinder auswählen sollen, außer dies ginge auf Kosten der Wunschmutter. Dies würde PB so gut wie immer außer Kraft setzen. Vermutlich berücksichtigt er die Belastung für die Frau als pro tanto Grund gegen die Auswahl des +Kindes. So wäre es für die opferbereite Frau unter Betrachtung aller Umstände besser, wenn sie sich nicht für das +Kind entscheidet. Ex post ließen sich folgende Szenarien rekonstruieren: erwartete LQ Kind Mutter gesamt natürliche Zeugung 50 ±0 50 Auswahl des +Kindes 55 -10 45 Die Entscheidung der opferbereiten Wunschmutter wäre nun aber nicht einmal mehr wünschenswert. Die Auswahl des +Kindes wäre pflichtwidrig, insofern die Frau mit der Aufgabe ihres eigenen Wohls eine Handlung verfolgt, die, gemäß Maximierungstheorie, zu einem suboptimalen Ergebnis (45<50) führte. Alternativ kann das verringerte Wohl der Mutter auch als nicht-moralischer Grund gegen die Auswahl des +Kindes gedeutet werden. Entgegen der häufig behaupteten Vorrangigkeit (overridingness) moralischer vor nicht-moralischen Gründen behauptet Savulescu, dass auch Klugheitsgründe bei reproduktiven Entscheidungen moralische Gründe unterordnen können (vgl. Savulesu 2001, 425; 2014, 171). 10 Die opferbereite Frau hätte dann zwar nicht pflichtwidrig gehandelt, aber unklug. Für die weitere Argumentation ist nicht entscheidend, ob Savulescu das Wohl der Frau als moralischen oder prudentiellen Grund versteht. Entscheidend ist, dass das Wohl der Mutter bei der Abwägung der Stärke von PB Berücksichtigung erfährt. Vor diesem Hintergrund werden wir uns weiteren Fällen zuwenden, um die Grenzen der Maximierungspflicht zu diskutieren. 5.2. Der Standardfall eines Kinderwunschpaares Der Fall der opferbereiten Wunschmutter mag nicht ausschlaggebend für die Bestimmung des Geltungsbereichs von PB sein. Savulescu scheint schließlich andere Fälle vor Augen zu haben, in denen das +Kind eine solch hohe Lebensqualität hat, dass es die Belastung für die Wunschmutter aufwiegt. Stellen wir uns hierzu den folgenden Fall vor: (ii) Der Standardfall eines Kinderwunschpaares: Ein Paar möchte ein Kind bekommen. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein natürlich ge- 10 Savulescu (2014, 178) meint, dass Gründe, welche Personen und nicht nur mögliche Personen betreffen, stärker ins Gewicht fallen. Zudem legt er nahe, dass (profane) nicht-moralische Gründe gegen die Auswahl sprechen können: „If self-interest […] motivate a choice to select less than the best, then there may be no overall reason to attempt to dissuade a couple“ (2001, 425). Würde dies zutreffen, hätte PB gar keine ausschlaggebende Kraft, sofern Paare nicht ohnehin das +Kind auswählen wollten. Robert Ranisch 202 zeugtes Kind ein durchschnittliches Maß an Lebensqualität hätte (LQ=50). Dank eines neuen genetischen Testverfahrens könnte das Paar nach IVF aus einer Reihe befruchteter Eizellen diejenige auswählen, welche die genetische Prädisposition hat, sich zu einem Nachkommen mit überdurchschnittlicher Lebensqualität zu entwickeln (LQ=70). Für die Auswahl muss sich die Wunschmutter einer IVF unterziehen (LQ=-10). Was sollte das Paar tun? Rufen wir in Erinnerung, dass PB nicht spezifisch genetisch belastete Paare adressiert, sondern jedes Kinderwunschpaar. Wir sahen zudem, dass die erhoffte Steigerung der Lebensqualität der Nachkommen signifikant sein muss, sodass die Belastung für die Frau (-10) aufgewogen wird. Diese scheint im Standardfall gegeben: Das +Kind wäre das Ergebnis einer assistierten Reproduktion und die Steigerung der Lebensqualität wiegt die Belastung für die Mutter auf. Unter Anbetracht aller Umstände scheint es im Standardfall die Pflicht des Paares das +Kind auszuwählen. Dies ist aber nicht die einzige mögliche Interpretation eines Maximierungsprinzips. Gemäß PB haben wir pro tanto Gründe das +Kind auszuwählen. Die beste Handlung wird schließlich mit der Realisierung des besten Zustandes identifiziert. Sofern keine gewichtigeren pro tanto Gründe, etwa das Wohl der Mutter, gegen die Auswahl des +Kindes sprechen, ist die Auswahl für das Kinderwunschpaar verpflichtend. Nun haben wir im Falle einer assistierten Reproduktion allerdings ein Handeln unter Unsicherheit. Wir haben gesehen, dass die IVF und PID nicht nur das Wohl der Mutter betreffen können, sondern auch Risiken für das Kind bergen. In solchen Entscheidungen unter Unsicherheit kann der Versuch, den besten Zustand zu erreichen, zu schlechteren Folgen führen als andere Handlungsoptionen. Ein Gedankenexperiment, welches Derek Parfit im Rahmen der Analyse moralischer Begriffe formuliert hat, macht einen solchen Fall deutlich: „A hundred miners are trapped underground, with flood waters rising. We are rescuers on the surface who are trying to save these men. We know that all of these men are in one of two mine shafts, but we don’t know which. There are three flood-gates that we could close by remote control.“ (Parfit 2011, 159) Wir haben nun drei Handlungsoptionen um die Arbeiter zu retten. Wir können Schleuse 1 schließen, dann gilt: - Befinden sich die Arbeiter in Schacht A, retten wir alle 100; - Befinden sich die Arbeiter in Schacht B, retten wir niemanden. Oder wir können Schleuse 2 schließen, dann gilt: - Befinden sich die Arbeiter in Schacht A, retten wir niemanden; - Befinden sich die Arbeiter in Schacht B, retten wir alle 100. Oder wir können Schleuse 3 schließen, dann gilt: - Egal ob sich die Arbeiter in Schacht A oder B befinden, wir retten 90. Die bestmögliche Handlung ist die, welche alle 100 Arbeiter rettet. Befänden sie sich in Schacht A, sollten wir Schleuse 1 schließen. Befänden sie sich in „Du sollst das beste Kind wählen! “ 203 Schacht B, sollten wir Schleuse 2 schließen. Wir haben aber keine Anhaltspunkte, wo sie sich befinden. Was ist in dieser Situation zu tun? Ein Maximierungsprinzip, wie es Savulescu vorschlägt, kann bei solchem Handeln unter Unsicherheit nur helfen eine Handlungsoption auszuschließen: nämlich die Wahl von Schleuse 3 (vgl. Schroeder 2011, 173ff.). Diese würde nämlich nicht zu den besten Folgen führen, denn es wäre besser, wenn 100 und nicht 90 Arbeiter gerettet würden. Wir sollten daher nicht Schleuse 3 schließen. Ein solcher Schluss ist allerdings unplausibel, denn gerade diese scheint bei einer derart risikobehafteten Situation die angemessene Option zu sein. Die Anwendung von PB auf den beschriebenen Standardfall eines Kinderwunschpaares ist insofern ähnlich 11 zu dem von Parfit beschriebenen Szenario, als wir die Grenzen dieses Maximierungsprinzips bei Handeln unter Unsicherheit erkennen können. Das +Kind wäre Ergebnis einer künstlichen Zeugung und gemäß PB die beste Handlungsfolge, d. h. moralisch geboten. Es ist schließlich „the best child, of the possible children, a couple could have“ (Savulescu 2001, 424). Darauf folgt, dass im Standardfall auf eine natürliche Zeugung verzichtet werden sollte, ähnlich wie auf das Schließen von Schleuse 3 im genannten Beispiel. Auch wenn das natürlich gezeugte Kind eine gute Lebensqualität hätte, ist die Entscheidung pflichtwidrig, d. h. verboten, da andere Handlungsoptionen bessere Folgen haben könnten. Ähnlich wie in Parfits Beispiel ist die Option, welche auf das beste Ergebnis (das +Kind) zielt, allerdings riskant: es kann zur Geburt des „bestmöglichen“ Kindes führen, kann den Nachkommen und die Wunschmutter aber auch in der Lebensqualität einschränken. 12 Dagegen kann eingewandt werden, dass ein Maximierungsprinzip modifiziert werden könne, sodass nicht die Handlung moralisch verpflichtend ist, welche den objektiv besten Zustand realisiert, sondern den voraussehbar besten Zustand. Aber auch dies kann bedeuten, dass es im Standardfall geboten ist, auf die assistierte Reproduktion zu verzichten und die natürliche Zeugung zu wählen. Zwar wäre das +Kind Ergebnis einer genetischen Auswahl im Rahmen einer IVF. Die damit verbundene Belastung für Frau und Risiken für Kind können aber zu Folgen führen, welche suboptimal wä- 11 Der Standardfall weicht in einer Hinsicht ab: Im Fall der Mienenarbeiter haben wir es mit einer Entscheidung unter Risiko zu tun. Wir wissen um die Wahrscheinlichkeit des Aufenthaltsortes der Arbeiter (0.5) und das Maß an möglichen Schäden. Im Fall der PID dagegen haben wir es mit Ungewissheit zu tun, insofern wir keine vollständigen Informationen bezüglich Wahrscheinlichkeit und Art der Folgen haben. Dennoch liegt keine vollständige Ungewissheit vor. Es ist im Standardfall (bestenfalls) mit moderaten Steigerungen, verglichen zu einer natürlichen Zeugung, zu rechnen (vgl. Anm. 8), aber dafür mit einer höhere Wahrscheinlichkeit auf größere Schäden für Mutter und Kind. 12 Anders kann es sich verhalten, wenn wir es nicht wie im Standardfall mit einem gesunden Paar zu tun haben, sondern eine genetische Disposition vorliegt, welche ein hohes Risiko für eine schwere Erbkrankheit des Kindes bedeutet. Es ist nun aber gerade nicht die These von PB, dass genetisch belastete Paare versuchen sollten, ein gesundes Kind zu bekommen, sondern dass alle Paare, das „bestmögliche“ Kind wählen sollten. Robert Ranisch 204 ren, verglichen mit einer natürlichen Zeugung. Die Handlung, welche zu den voraussehbar besten Folgen führt, kann demnach gerade diejenige sein, welche nicht versucht, die objektiv besten Folgen zu erzielen. Während dieser Einwand nicht die Gültigkeit von Maximierungsprinzipien bei reproduktiven Entscheidungen widerlegt, erzeugt er doch erhebliche Zweifel an der Plausibilität von PB im Standardfall. Bei Handeln unter Unsicherheit scheint nicht die objektiv beste Folge die moralisch gebotene Handlung zu bestimmen. Moralisch geboten kann auch eine Handlungsoption sein, die objektiv suboptimale Folgen erzielt, deren Eintrittswahrscheinlichkeit aber höher ist als die der bestmöglichen Folgen. Es scheint mit einem Maximierungsprinzip vereinbar, dass im Standardfall die natürliche Zeugung geboten ist und nicht die Auswahl des +Kindes. 5.3 Das unfruchtbare Kinderwunschpaar Wir haben es im Standardfall mit einer Situation zu tun, in der die Auswahl des +Kindes im Vergleich zu einer natürlichen Zeugung mit Belastungen für die Wunschmutter und erhöhtem Risiko für den Nachkommen verbunden ist. Vertreter von PB könnten einwenden, dass dies von Fällen abweicht, in denen das Maximierungsprinzip seine größte Plausibilität zeigt, nämlich: „When there is absolutely no cost to selecting the best option“ (Savulescu/ Kahane 2009, 281). Zumindest sollten wir doch ceteris paribus mehr von einem Gut realisieren als weniger. Ein solches schwaches Maximierungsprinzip wurde eingangs bei der Diskussion von Chadwick bereits angesprochen. Kann PB zumindest beanspruchen, dass Kinderwunschpaare ohne widerstreitende Gründe zur Auswahl des +Kindes verpflichtet sind? Fälle, die einer solchen ceteris paribus Situation am nächsten kommen, sind die, in denen Paare ohnehin auf eine IVF und PID angewiesen sind, um ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Stellen wir uns hierzu vor: (iii) Das unfruchtbare Kinderwunschpaar: Ein unfruchtbares Paar möchte ein Kind bekommen. Hierzu war die Wunschmutter mehrfach bereit sich einer IVF zu unterziehen, die allerdings erfolglos blieb. Zur Erhöhung der Erfolgsrate entscheidet sich das Paar schließlich für eine PID. Nach der genetischen Untersuchung der befruchteten Eizellen die gute Nachricht: einige der befruchteten Eizellen sind entwicklungsfähig und werden sich zu Nachkommen mit einer durchschnittlichen Lebensqualität (LQ=50) entwickeln. Eines der möglichen Nachkommen hat sogar die Prädispositionen zu einer überdurchschnittlich hohen Lebensqualität (LQ=70). Was sollte das Paar in dieser Situation tun? Gemäß PB ist es zur Auswahl des +Kindes verpflichtet. Mag die beschriebene Situation konstruiert wirken, scheint es aber einer der Fälle zu sein, von denen sich Savulescu die höchste Plausibilität für PB verspricht: „where couples are already undergoing IVF for infertility or risk of genetic disorder, there are no significant further costs to selecting the most advantaged child“ (ebd., 283). „Du sollst das beste Kind wählen! “ 205 Deutlich wird hier, dass der Geltungsbereich von PB bereits entscheidend eingeschränkt ist: Wurde bisher gefordert, dass alle Wunscheltern das „beste Kind“ auswählen sollten, scheint PB hier nur noch bereits behandlungssuchende Paare zu adressieren. PB scheint die stärkste Geltung in Situationen zu haben, in denen ein Paar für die Erfüllung ihres Kindeswunsches ohnehin Belastungen auf sich nehmen muss. Der Vorwurf des Zynismus, dass gerade Paare, die unter einem erhöhten Leidensdruck stehen, zusätzlich „in die Pflicht genommen“ werden, liegt hier nahe. Während dieser Einwand nicht weiter verfolgt werden soll, gilt es die Plausibilität des Maximierungsgebots in ceteris paribus Situationen wie dem Fall des unfruchtbaren Kinderwunschpaares zu prüfen. Kann hier davon gesprochen werden, dass unter gleichbleibenden Bedingungen das +Kind ausgewählt werden soll? Es scheint ein Gebot der praktischen Vernunft, wie Savulescu immer wieder betont, dass: „If A and B are identical in all regards except one, and A is superior in that regard to B, we have a reason to choose A.“ (ebd., 280f.) In solchen Situationen wäre es „irrational to aim at submaximization“ (Savulescu 2014, 176), d. h. nicht das +Kind auszuwählen. Während die Grenzen von Maximierungsstrategien in Debatten um praktische Gründe breit diskutiert werden (vgl. Byron 2004), sollten wir uns an dieser Stelle in Erinnerung rufen, dass die Frage nicht ist, ob es rational oder gut wäre, ceteris paribus die bessere Handlungsoption zu wählen. Die Frage ist, ob es sich hierbei um eine Pflicht von Kinderwunschpaaren handelt. Dies kann zumindest in einigen Fällen angezweifelt werden. Ein entsprechendes Beispiel diskutiert Matthew Liao (2008, 977f.) in einem fantasiereichen Gedankenexperiment, welches wir in abgewandelter Form auf den Fall des unfruchtbaren Kinderwunschpaares übertragen können: Stellen wir uns vor, das besagte Paar steht nach PID vor der Auswahlentscheidung zwischen möglichen Nachkommen mit einer durchschnittlichen Lebensqualität (LQ=50). Ein neuartiges Testverfahren hat zudem ergeben, dass eines der Nachkommen ein Gourmet wird. Im Vergleich zu den anderen möglichen Nachkommen würde er einen großen Genuss aus den besten Weinen ziehen, sodass eine geringfügig höhere Lebensqualität zu erwarten ist (LQ=52). Gemäß PB hat das Paar die Pflicht, sich für das Gourmet-Kind zu entscheiden. Liao sieht hier das Scheitern des Pflichtbegriffs von PB: es ist für ihn schlicht unplausibel, dass die Auswahl des Gourmet-Kindes verpflichtend ist, die des anderen Kindes aber pflichtwidrig. An diese Kritik anknüpfend hat Saunder (2014) kürzlich versucht, PB nicht als Pflicht, sondern als supererogatorisches Prinzip zu verteidigen: Die Auswahl des Gourmet- Kindes wäre zwar nicht moralisch geboten, aber wünschenswert. Die genannten Einwände scheinen plausibel. Während die Zurückweisung des Pflichtbegriffs sicherlich von vielen Autoren geteilt wird, können Liao und Saunder aber nicht aufzeigen, dass der Begriff der Pflicht nicht in einer Art genutzt werden kann, dass bei Entscheidungen zwischen zwei Handlungsoptionen, ceteris paribus die geringfügig bessere verpflichtend ist. Robert Ranisch 206 Beispiele wie das Gourmet-Kind scheinen dennoch weitere Zweifel an der Plausibilität der Verpflichtung zur Auswahl des +Kindes sogar in Fällen, in denen keine weiteren Kosten für das Paar entstehen, zu unterstützen. 6 Fazit Wir haben uns in der Analyse der liberalen Eugenik dem wohl bekanntesten und kontroversesten Prinzip reproduktiver Entscheidungsfindung zugewandt: Procreative Beneficence. PB ist ein Maximierungsprinzip, nach dem Kinderwunschpaare das „beste Kind“ wählen sollten. Daher haben sie Gründe sich einer IVF mit PID zu unterziehen, um auf Grundlage der genetischen Informationen das Kind auszuwählen, welches, verglichen mit anderen möglichen Nachkommen, die höchste Lebensqualität hat. Wir haben gesehen, dass PB die gebotenen Handlungen mit der reproduktiven Entscheidung identifiziert, welche das meist Wohl für mögliche Nachkommen realisiert. Der Begriff der moralischen Pflicht wird dabei in Anlehnung an den Begriff von praktischen Gründen entwickelt: geboten ist, was unter Abwägung aller Umstände die beste Handlung darstellt. PB gibt damit nicht an, was Kinderwunschpaare unbedingt und absolut tun sollen, sondern fordert eine pro tanto Pflicht zur Auswahl des +Kindes. Während Vertreter von PB meinen, dass die Auswahl eines +Kindes häufig verpflichtend ist, wurden hier dagegen insbesondere die Belastung für Wunschmütter und die Risiken für Nachkommen hervorgehoben. Entgegen PB zeigte sich, dass eine Pflicht zur Auswahl des +Kindes in den meisten Fällen nicht gerechtfertigt werden kann oder auf Kosten der Plausibilität des Pflichtbegriffs geht. Wir sahen, dass (i) in Fällen, in denen die Lebensqualität der Nachkommen nur geringfügig höher ist als die der natürlichen Nachkommen, Kinderwunschpaare nicht versuchen sollten ein +Kind auszuwählen. Dies konnte sogar als pflichtwidrig gedeutet werden. Der (ii) diskutierte Standardfall zeigt, dass es selbst unter Annahme eines Maximierungsprinzips geboten sein kann, eine Handlung zu wählen, die nicht auf die Erzeugung des +Kindes zielt. In (iii) Fällen, in denen mit der Auswahl keine zusätzlichen Kosten oder Risiken verbunden sind, zeigte sich PB am stärksten. Es blieb allerdings offen, ob in einigen Fällen noch sinnvoll von einer Pflicht zur Auswahl des +Kindes gesprochen werden kann. Während manche Verfechter von PB versuchen, einige dieser Probleme zu vermeiden, indem sie PB als supererogatorisches Prinzip deuten (vgl. Saunder 2014), scheint diese Strategie für ein Maximierungsprinzip fragwürdig. Eine Trennung von gebotenem und übergebührlichem Handeln ist mit PB schließlich nicht vereinbar. Vergleichbare Ansätze in der Moraltheorie, die folgeorientiere Ethiken mit der Möglichkeit von Supererogation versöhnen wollen, lehnen bezeichnenderweise Maximierungsgebote ab und sprechen sich offen für eine Satisfizierung aus (vgl. Slote 1989). Ein solcher Versuch würde PB aber zugunsten eines Schwellenwertmodells aufgeben. „Du sollst das beste Kind wählen! “ 207 Attraktiver kann für Vertreter von Maximierungstheorien wie PB dagegen die Aufgabe von deontischen Begriffen wie „geboten“ oder „verpflichtend“ zugunsten von evaluativen Begriffen wie „gut“ oder „besser“ erscheinen (vgl. Norcross 2006). Während Savulescu (2014) in seinen jüngsten Ausführungen zu PB begonnen hat von „schwachen moralischen Pflichten“ zu sprechen, hat die Analyse schließlich gezeigt, dass PB häufig zu schwach erscheint. Während es plausibel machen kann, warum manche reproduktive Entscheidungen „besser“ sind als andere, konnte es nicht überzeugend zeigen, dass Kinderwunschpaare zur Auswahl des +Kindes verpflichtet sind. Literatur Agar, Nicholas (1998): Liberal Eugenics. In: Public Affairs Quarterly 12(2), S. 137-155. Agar, Nicholas (2004): Liberal Eugenics. In Defence of Human Enhancement. Malden (MA): Blackwell. 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Viktoria Röntgen Epigenetic Profiling Assays - ethische Aspekte einer neuen Technologie Abstract Epigenetic Profiling Assays - Ethical Aspects of a New Technology: Epigenetic processes act like a dynamic interface between genes and environment. They change expression patterns of DNA, without changing the DNA sequence. Evidence of interand transgenerational effects is rising, providing a new understanding of inheritance. The media discusses possible risks and chances connected to epigenetic effects in humans. The hyped debate is characterized by premature proposals, turning phenotype into a lifestyle problem. Epigenetic Microassays are the key technology in the field, utilized in diagnostics, but also in epidemiological studies to investigate widespread diseases. Linked to associated biological data, information about the environment and the history of the subject’s life, a new type of datasets is created for analysis via bioinformatics. The predictive value of results is not yet known. Considering the analogous development of genetic testing, an interdisciplinary discourse about epigenetic testing should start. This paper starts that debate by providing an overview of epistemic and ethical issues related to Epigenetic Microassays. 1 Einleitung Dieser Überblicksartikel gibt anfangs eine Einführung in das Forschungsfeld der Epigenetik und beschäftigt sich danach mit den Impulsen, die von diesem auf die klassische „Nature/ Nurture“-Debatte ausgehen. Dies ist relevant für das Verständnis des populärwissenschaftlichen Diskurses zur Epigenetik in den Medien, dessen wesentliche Aspekte anschließend angesprochen werden. Epigenetische Microassays sind die Schlüsseltechnologie, die sowohl in der epigenetischen Diagnostik als auch in der epigenetischen Grundlagenforschung Anwendung findet. Analog zu genetischen Testverfahren wirft ihre Anwendung viele Fragen, sowohl bezüglich der Durchführung und Interpretation als auch hinsichtlich medizinethischer und forschungsethischer Problemstellungen, auf. Der Umgang mit den erhobenen Daten und ihre Speicherung in Verbindung mit personenbezogenen, assoziierten Informationen stellt eine weitere Herausforderung dar, deren ethische Dimension zum Abschluss aufgezeigt wird. K. Viktoria Röntgen 210 2 Epigenetik als Schlüssel zur Plastizität der Genaktivität Historisch betrachtet beschrieb das Wort „Epigenetik“ Ereignisse in der Entwicklung eines spezifischen Organismus, die nicht durch Prinzipien der genetischen Vererbung erklärt werden konnten. Conrad Waddington, der als Begründer des Terms „Epigenetik“ gilt, verstand sie als den Zweig der Biologie, der die kausalen Interaktionen zwischen Genen und ihren Produkten, welche den Phänotyp begründen, untersucht (vgl. Waddington 1968, 9f.). Moderne Definitionen präzisieren dies weiter als Langzeitregulation der Genfunktion oder auch als erbliche Effekte, die nicht mit Genmutationen in Verbindung gebracht werden können (vgl. Gottschling 2009). Das Konzept „Epigenetik“ befindet sich nach wie vor im Wandel (vgl. Jablonka/ Lamb 2002). Betrachtet man den stofflichen Aspekt, sind es vor allem die die Desoxyribonukleinsäure (DNA) direkt umgebende Moleküle, wie Histone, kurze nicht-proteinkodierende RNAs und an die DNA angelagerte Methylgruppen, die zu Forschungsobjekten der Epigenetiker werden und die als Modifikatoren zum „Epigenom“, der Gesamtheit der epigenetischen Modifikationen eines Zelltyps, die die Aktivität der DNA steuern, gezählt werden. Das Epigenom nimmt keinen direkten Einfluss auf die DNA- Basenpaarsequenz, stattdessen verändert sich die dreidimensionale Struktur der DNA im Zellkern und so die räumlichen Gegebenheiten für die Transkriptionsfaktoren, die das Ablesen der DNA in aktiven Bereichen des Chromatins 1 übernehmen. Unser Epigenom repräsentiert so eine dynamische Schnittstelle zwischen Umwelt und Genom. Es wird durch zellspezifische Reaktionen auf Umwelteinflüsse gebildet. Zellen in Entwicklung unterliegen Differenzierungsprozessen, die durch komplexe Interaktionen zwischen Epigenom und Genom moduliert werden. Die Ausprägung und Veränderung des individuellen Epigenoms trägt dadurch zum Phänotyp des Organismus bei und ermöglicht individuelle Anpassungen. Es kann aber auch die Entwicklung von Gesundheitsstörungen begünstigen. Im Gegensatz zur DNA unterliegt das Epigenom Modifikationen im Verlauf des Lebens. Diese können durch substantielle Veränderungen der Umwelt, wie physikalische und chemische Umwelteinflüsse, eingeleitet werden, aber auch durch biologische, soziale oder psychische Faktoren (vgl. Jirtle/ Tyson 2013). Veränderungen des Epigenoms können sich in Geweben etablieren und sich stabilisieren, da sie bei jeder Zellteilung weitergegeben werden. Unter den verschiedenen epigenetischen Mechanismen werden insbesondere DNA-Methylierungs- und Chromatin-Modifikationen in Verbindung gebracht mit der zunehmenden Verbreitung der sogenannten 1 Chromatin liegt in der Zelle als Komplex aus DNA und umgebenden Proteinen vor und ist zu Chromosomen organisiert. Lineare Bereiche werden als Euchromatin bezeichnet, sie können von Transkriptionsfaktoren abgelesen werden. In kondensierten Bereichen, d. h. dem Heterochromatin, ist dies nicht möglich. Epigenetic Profiling Assays - ethische Aspekte einer neuen Technologie 211 Volkskrankheiten, wie Diabetes und Stoffwechselerkrankungen (vgl. Wood 2013). Deren Erforschung genießt in der Epidemiologie aus sozialen, politischen und ökonomischen Gründen hohe Priorität. Aber auch in der onkologischen Diagnostik wird den Veränderungen des Epigenoms, wie tumorassoziierten Methylierungsveränderungen, eine immer größere Bedeutung eingeräumt (vgl. Carmona/ Esteller 2013). Zunehmend existieren Hinweise, dass epigenetische Effekte auch transgenerational von Bedeutung sind. Das bedeutet, dass sich Modulationsmechanismen der Genregulation in Folgegenerationen auswirken, obwohl sie nicht in der DNA-Sequenz verankert sind. Bisher konnte dies insbesondere in Experimenten mit Tiermodellen mit rascher Generationenfolge und zahlenmäßig großer Nachkommenschaft, wie der Labormaus (vgl. Morgan u. a. 1999) oder dem Zebrafisch (vgl. Ho/ Burggren 2012), nachgewiesen werden. Das Epigenom und bestimmte Funktionsmechanismen sind jedoch artspezifisch, so dass eine einfache Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen nicht infrage kommt. Aufgrund der zeitlichen, finanziellen und ethischen Anforderungen für Langzeitstudien gestaltet sich der Nachweis der inter- und transgenerationalen Effekte beim Menschen als bedeutend schwieriger, so dass man zunächst retrospektiv auf bestehende Kohortenstudien und deren Datenmaterial zurückgriff, um Hinweise auf analoge Mechanismen zu finden (vgl. Pembrey u. a. 2006). Dieses retrospektive Vorgehen ist jedoch methodologisch umstritten. Die erzielten Ergebnisse müssen weiter durch prospektive Studien, die auch Erklärungsansätze für molekulare Zusammenhänge liefern, bestätigt werden. 3 Erbe und Umwelt Dennoch wird den bisher vorliegenden Ergebnissen eine hohe Bedeutung eingeräumt. Das Spektrum ihrer Interpretationen reicht von der Möglichkeit, die Epigenetik als Dimension jenseits der „genetischen Programmierung“ zur menschlichen Selbstgestaltung zu begreifen, bis zum genauen Gegenteil, nämlich der Determination durch die unvermeidliche epigenetische Prägung des Embryos im Mutterleib. Gerade in der Betrachtung des Verhältnisses zwischen biologischen Eltern und Kindern erhält so die „Nature/ Nurture“-Debatte neuen Schwung. Eine wesentliche Strömung lässt sich als Gegenbewegung zur jahrelangen Dominanz der Genetik in den Biowissenschaften - als Frage nach dem Grad der Freiheit zur Selbstgestaltung jenseits der Determinierung des Organismus durch das Erbgut - beschreiben. Es geht darum, ob die Erkenntnisse zur Epigenetik die angenommene Dichotomie zwischen der unvermeidlichen Merkmalsausprägung durch die Expression der Gene und der Entwicklung des Menschen durch Umwelteinflüsse aufheben. Seit Francis Galtons Arbeit English Men of Science (1874), in der erstmals versucht wurde, die von alters her vorgebrachte Vermutung einer unabän- K. Viktoria Röntgen 212 derlichen „Natur“ des Individuums wissenschaftlich zu untermauern, konnte eine deterministische Vorstellung der Entwicklung zumindest von bestimmten Eigenschaften des Menschen weder in den Naturwissenschaften noch in den Geisteswissenschaften komplett überwunden werden. Ein modernes Beispiel dafür ist das interdisziplinäre Forschungsfeld der Verhaltensgenetik, welches unter Berufung auf das zentrale Dogma der Molekularbiologie - nach dem die Übertragung von Information innerhalb der Zelle grundsätzlich von der DNA über die RNA zum Protein, aber nicht umgekehrt erfolgen kann 2 - Untersuchungen zur Erblichkeit zentraler Komponenten der menschlichen Persönlichkeit, wie der Intelligenz, anstellt. Die zum Beispiel von Overton (2004) oder Lewontin (2000) angebotenen Auflösungen der Dichotomie gehen dagegen über die DNA-zentrierte Vererbungslehre hinaus und integrieren Umwelteinflüsse und soziale Interaktionen in systemische Entwicklungsmodelle. Dennoch konnten sie sich bisher nicht allgemein durchsetzen. Das mag daran liegen, dass die Erkenntnisse der Epigenetik bisher erst im Ansatz die nach der klassischen naturwissenschaftlichen Vorstellung erforderliche, stoffliche Verbindung zwischen den Komponenten des Entwicklungsprozesses erklären (vgl. Szyf 2013). So trägt dieser Erkenntnisfortschritt bisher nicht entscheidend zur Lösung der klassischen „Nature/ Nurture“-Debatte bei. Tatsächlich erscheint es eher so, dass argumentativ neue Schwerpunkte in der Zuordnung gesetzt werden, während die grundlegende Dichotomie des Problems erhalten bleibt. Die Sichtweise der angenommenen Determination des Individuums durch seine biologische Beschaffenheit bleibt; sie verschiebt sich lediglich von der DNA zur Determination durch die epigenetisch gesteuerte DNA- Umwelt-Interaktion. Von einem „Sieg über die Gene“ (Der Spiegel 2010) im Sinne einer bewussten Selbstgestaltung des Menschen anstelle eines Gendeterminismus kann im Rahmen dieser Interpretation tatsächlich nicht die Rede sein. Denn schließt man sich der Vorstellung an, dass die Epigenetik ein entscheidendes Bindeglied zwischen der „Natur“ des Menschen und seinen Umweltbedingungen ist und dass dieses Bindeglied die individuelle Entwicklung des Menschen entscheidend beeinflusst, muss man ebenso akzeptieren, dass selbstbestimmte Entwicklung nicht möglich sein kann, da sich molekulare Vorgänge des Organismus in ihrer Komplexität letztlich der Kontrolle durch das Individuum entziehen. 2 Das von Francis Crick (1958) eingeführte, ursprüngliche, zentrale Dogma der Molekularbiologie bezieht sich nur auf den molekularen Zusammenhang zwischen DNA, RNA und Protein. Erst durch seine Tradierung ergab sich die Erweiterung auf den Phänotyp. Epigenetic Profiling Assays - ethische Aspekte einer neuen Technologie 213 4 Neue Verantwortungszuschreibungen im medialen Diskurs Insbesondere der Wissenschaftsjournalismus und verschiedene Akteure der „Gesundheitsindustrie“, die den derzeitigen Kenntnisstand in plakative Szenarien umsetzen, um epigenetische Effekte zu erläutern, und auch zugleich Handlungsempfehlungen für Patienten und werdende Eltern generieren, kreieren neue Anforderungen an das Individuum. Im Subtext vermittelt der Diskurs erweiterte, lebensstilabhängige Selbstgestaltungsmöglichkeiten und verknüpft diese mit Aufforderungen, die wenig evidenzbasiert sind. So weisen Autoren im medialen Diskurs immer wieder auf die epigenetische Prägung des Kindes während der Schwangerschaft hin, mit ausdrücklichen Ratschlägen zu angenommenen aktiven Einflussmöglichkeiten der Mutter auf dessen Epigenom durch „richtiges“ Verhalten. Während dies teilweise noch unter der positiven Konnotation der Prävention beschrieben wird (vgl. Spork 2009, 144ff.), analysiert Die Zeit die intrauterine und frühkindliche epigenetische Prägung als mögliches Problemfeld für die Beziehung zwischen Eltern und Adoptivkindern. Im Rahmen der Reihe zum Titelthema Mein fremdes Kind geht der Artikel Schwere Geburt auf naturwissenschaftliche Veröffentlichungen zu Entwicklungsstörungen ein, die durch verschiedene Formen der Prägung schon intrauterin verursacht sein könnten und suggeriert, dass diese nach einer Adoption nicht mehr kompensiert werden könnten (vgl. Otto 2013). Es entwickelt sich daraus eine erweiterte Verantwortungszuschreibung an biologische Eltern, alles dafür zu tun, die optimale epigenetische Entwicklung des werdenden Lebens und des Kleinkinds zu ermöglichen. Auf der anderen Seite erfolgt dadurch eine Entlastung der Adoptiveltern, die sich im Zweifelsfall auf die „schwere Geburt“ ihres Schützlings berufen können. Diese biologisierende Verantwortungszuschreibung vor dem Hintergrund epigenetischer Prägung wird von Akteuren des Diskurses übergangslos an den späteren Erwachsenen als erweiterte Selbstverantwortung für den Gesundheitszustand weitergereicht. Parallel dazu werden jedoch soziale Ungleichheit, Gefährdungen am Arbeitsplatz und Stress im Hinblick auf ihren möglichen negativen Einfluss auf das Epigenom diskutiert. Dabei handelt es sich um Faktoren, auf die viele Menschen selbst nur wenig Einfluss nehmen können, ebenso wie auf physikalische und chemische Umweltgefährdungen. In diesem Zusammenhang ergeben sich sowohl Fragen bezüglich juristischer Verantwortung als auch nach (Umwelt-)Gerechtigkeit (vgl. Rothstein u. a. 2009). Dennoch verbreiten Massenmedien und populärmedizinische Ratgeber für Patienten und Ärzte bereits Handlungsempfehlungen zum epigenetisch „richtigen“ Lebensstil. 3 3 Beispielsweise schreibt Kruse-Keirath im Magazin MamazoneMAG (2011, 2) Patienten könnten ihr Epigenom aktiv umprogrammieren, so dass es „Gesundheit lernt“, während Kappler Hinweise auf eine angeblich geeignete „Methylierungsdiät“ gibt (ebd., 28-29). K. Viktoria Röntgen 214 Der öffentliche Diskurs um die Epigenetik ist von Hoffnungen, aber auch von Risikobeschreibungen geprägt und verarbeitet den vorläufigen wissenschaftlichen Kenntnisstand auf seine eigene Weise. Der Einsatz der Fakten in der Argumentation ist dabei wesentlich vom ethisch-moralischen Vorverständnis der Diskurs-Teilnehmer und deren persönlichen Haltung zu Themenkomplexen wie Freiheit und Verantwortung abhängig. Im Vergleich zum derzeit gesicherten Erkenntnisstand in der „scientific community“ erscheinen einige der entworfenen Szenarien getränkt von überzogenen Erwartungen oder auch dramatisierten Bedenken. Es ist allerdings festzuhalten, dass diese Überzeichnung kein hinreichender Grund dafür ist, das Stimmungsbild des öffentlichen, populärwissenschaftlichen Diskurses zu ignorieren, denn dieses kann durchaus epistemische Wirkung entfalten. Schon der Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck beschrieb in seinem Buch Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1980) die enorme Bedeutung des Wissenstransfers zwischen „Denkkollektiven“ (hier: zwischen der scientific community einerseits und Gruppierungen des öffentlichen, populärwissenschaftlichen Diskurses andererseits). Durch ihren Gedankenaustausch, ihre gemeinsamen Interessen und ähnliche Ausbildung entwickeln die Mitglieder eines Denkkollektivs eine gerichtete Wahrnehmung und damit einen Denkstil, der den von ihnen ausgehenden Wissenstransfer zwangsläufig beeinflusst (vgl. Fleck 1980, 54f.). Fleck wies auf den Zusammenhang zwischen Stimmungen, die durch Denkstile erzeugt werden, und der weiteren Entwicklung von Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Leitaspekten hin. Als junger Forschungszweig, dessen Ergebnisse große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren und dessen Anwendungsgebiete derzeit stark expandieren, könnte die Epigenetik für den Einfluss solcher Stimmungen besonders empfänglich sein. Umgekehrt ist eine Instrumentalisierung der bisher vorliegenden Erkenntnisse durch bestimmte Akteure nicht ausgeschlossen. 5 Epigenetische Microassays als Schlüsseltechnologie Die Entwicklung des Forschungsfeldes der Epigenetik und seine medizinische, wirtschaftliche und gesundheitspolitische Nutzbarmachung ist eng mit der Erhebung, Verarbeitung und Speicherung epigenetischer Daten verknüpft. Das entscheidende Instrument der Datenerhebung und Analyse in der epigenetischen Forschung und Diagnostik ist die Microassay-Technologie. Dabei handelt es sich um ein molekularbiologisches Hochdurchsatzverfahren, das mit relativ geringem zeitlichen und finanziellen Aufwand die Analyse der genetischen und epigenetischen Ausstattung einer biologischen Epigenetic Profiling Assays - ethische Aspekte einer neuen Technologie 215 Probe ermöglicht. 4 Bei einem Microassay wird eine große Anzahl verschiedener Proben in winzigen Mengen chemisch auf Objektträger oder in Mikrotiterplatten gebunden. Die Auswertung und die damit verbundene Generierung großer Datenmengen erfolgt maschinell. Diese Technik etablierte sich zunächst in der genetischen Forschung und später in der Diagnostik zur Analyse großer Genomabschnitte und wurde zur Untersuchung des Epigenoms weiterentwickelt. Für das Individuum existenzbedrohende Ergebnisse genetischer Tests können zu einer erheblichen psychosozialen Belastung für die betreffenden Personen und ihre Angehörigen führen. 5 Sie beeinflussen das Selbstbild und sehr häufig auch die Lebensplanung und den Kinderwunsch entscheidend. Werden Ergebnisse unerwünscht öffentlich bekannt, birgt dies weiteres Konfliktpotential, zum Beispiel im Umgang mit Versicherungen oder Arbeitgebern. Zur Ethik genetischer Tests und des richtigen Umgangs mit den erhobenen Daten entwickelte sich ein Diskurs, der gesetzgeberische Aktivitäten initiierte. 6 Das Gendiagnostikgesetz (GenDG), das nach lebhafter öffentlicher Diskussion um zentrale gesellschaftliche Werte wie Menschenwürde, Autonomie, informationelle Selbstbestimmung und Schutz vor Diskriminierung 2010 in Deutschland in Kraft trat, ist auf epigenetische Daten per definitionem (§3) nicht anwendbar. Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Zukunft der genetischen Diagnostik (2013) expliziert zwar die unterschiedliche Bedeutung der Genetik und der Epigenetik, beschäftigt sich allerdings weiterführend nicht mit prädiktiven epigenetischen Tests und ihrer Problematik, sondern weist lediglich auf mögliche prognostische epigenetische Tests bei gegebener Diagnose hin (vgl. Deutscher Ethikrat 2013, 8ff.). Die ethischen Fragestellungen im Zusammenhang mit prädiktiven epigeneti- 4 Sie kann als Weiterentwicklung des sogenannten Southern Blot betrachtet werden, eine Technik bei der fragmentierte Einzelstrang-DNA unbekannter Sequenz an ein Substrat gebunden wird und auf eine Übereinstimmung mit einer vorher bekannten DNA- Zielsequenz überprüft wird. Die Zielsequenz wird zunächst in einer Polymerasekettenreaktion (PCR) vermehrt und entweder durch radioaktive Isotope oder durch Fluoreszenzfarbstoff markiert. Durch Erhitzen wird die nach einer PCR doppelsträngig vorliegende Zielsequenz-DNA in Einzelstränge aufgetrennt, welche anschließend an die am Substrat gebundenen Einzelstrang-Sequenzen der unbekannten DNA- Abschnitte hybridisieren können. Nur wenn ein markiertes Molekül ein passendes (d. h. komplementäres) Gegenstück auf dem Substrat „findet“, kann es dort hybridisieren und markiert so in der unbekannten DNA-Probe die entsprechende Stelle. Die Weiterentwicklung dieses Verfahrens ermöglicht es, mittels Hybridisierung DNA- Proben auch auf bestimmte epigenetische „Kennzeichen“, wie methylierte Genabschnitte, zu testen. 5 Zur schwierigen Familiensituation nach positivem prädiktivem Testbefund, vgl. Brüninghaus/ Porz (2012). 6 Aus der Vielzahl der Publikationen vor der Gesetzgebung herausgegriffene Beispiele sind Kollek (2004; 2008), Propping u. a. (2006). K. Viktoria Röntgen 216 schen Testverfahren bezüglich Datenschutz und Aufklärung sind jedoch nicht minder brisant. Es bestehen große Parallelen zwischen den Anwendungsgebieten und in der Zielrichtung prädiktiver genetischer und epigenetischer Tests, zum Beispiel in der Krebsdiagnostik. Es kann davon ausgegangen werden, dass Patienten, die möglicherweise belastende, die Lebensplanung beeinflussende Ergebnisse erfahren, einen ähnlichen Beratungsbedarf haben, wie Patienten, die mit Ergebnissen genetischer Diagnostik konfrontiert sind. Und doch ergibt sich ein entscheidender Unterschied in der Interpretation. Denn während eine genetische Disposition oft als „schicksalhaft“ und unveränderlich empfunden wird, ist dies bei epigenetischen Befunden nicht immer der Fall. Die Plastizität des Epigenoms und seine Beeinflussung durch die Umwelt legt die Suche nach einem „Grund“ für das Ergebnis nahe, eine Suche nach Verantwortlichkeit oder sogar Schuld. Dies kann dem Testergebnis für den einzelnen Patienten eine andere psychosoziale Bedeutung verleihen. Im Rahmen epidemiologischer Forschung werden epigenetische Testergebnisse mit assoziierten Daten zu Umwelteinflüssen, Lebenssituation und Gesundheitsstatus der Testpersonen verknüpft und können so zu Indikatoren für die Folgen unserer gesellschaftlichen Entwicklung werden. 6 Die Bedeutung der Prädiktivität Genetische Microassays gelten als diagnostische Testverfahren mit hoher Vorhersagekraft. Inwieweit diese Prädiktivität epigenetischer Testverfahren ähnlich hoch ist, muss sich in vielen Fällen erst noch erweisen. Entscheidende statistische Werte zur Bestimmung der Prädiktivität sind die Sensitivität und Spezifität des Tests. Sie sind feste, von der Durchführung des Testverfahrens unabhängige Größen und beruhen auf dem Anteil der „kranken“ oder „gesunden“ Individuen in der Testpopulation und dem Potential des Testverfahrens, diese zuverlässig zu unterscheiden. Dabei bezeichnet die Sensitivität die als „richtig positiv“ eingestuften Fälle und die Spezifität die als „richtig negativ“ eingestuften Fälle. Bezugsgröße ist die tatsächliche Prävalenz, das Test-unabhängige a priori Auftreten des Bezugsereignisses. Der prädiktive Wert bezeichnet die a posteriori Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Ereignis eintreten wird. 7 Die mathematische Prädiktivität bestimmt also, welche Vorhersagekraft in einem bestimmten Testverfahren steckt und damit seine Zuverlässigkeit und Kosteneffizienz. Die weiter oben zitierte Sichtweise mit einem eher starren Konzept zum direkten Zusammenhang zwischen DNA und Phänotyp wird inzwischen 7 Mathematische Grundlage zur Berechnung der Prädiktivität ist das Bayes-Theorem, mithilfe dessen durch Ereignisse bedingte Wahrscheinlichkeiten berechnet werden. Die Begriffe a priori und a posteriori beziehen sich auf die Wahrscheinlichkeitsverteilung vor und nach dem Bezugsereignis (vgl. Joyce 2008). Epigenetic Profiling Assays - ethische Aspekte einer neuen Technologie 217 jedoch durch Erkenntnisse der Epigenetik modifiziert. Dies lässt auch die Prädiktivität der Testverfahren in einem neuen Licht erscheinen. Das Genaktivitätsmuster zu einem bestimmten Testzeitpunkt t1 kann sich unterscheiden vom Genaktivitätsmuster zu einem Zeitpunkt t2, abhängig von epigenetischen Effekten, deren Ursache nicht ohne Weiteres zu bestimmen ist. Epigenetische Microassays werden sowohl als Screening-Testverfahren als auch zum gezielten Biomarker-Nachweis angeboten. In epidemiologischen Studien werden zusätzlich zu genetischen Daten Methylierungsmuster erfasst und gespeichert (vgl. Wozniak u. a. 2013). Während die Prädiktivität spezifischer Testverfahren für den Patienten in der individuellen Diagnostik eine entscheidende Rolle spielt, hängen von der Prädiktivität bestimmter Studien in der Epidemiologie unter Umständen folgenreiche politische und wirtschaftliche Entscheidungen ab. Die im Rahmen epigenetischer Fragestellungen erhobenen Daten sind wie auch genetische Daten stark an die Person geknüpft. Sie können in einen konkreten und einen assoziierten Bereich eingeteilt werden. Als „konkret“ werden hier „Fakten“, wie der Nachweis eines bestimmten Biomarkers oder die Demethylierung definierter DNA-Abschnitte in einer Blutprobe, bezeichnet, also Daten, die mithilfe labortechnischer Anwendungen aus biologischen Proben gewonnen werden können. Als assoziierte Daten werden darüber hinaus erhobene Informationen zum Individuum und seinem Umfeld, wie die geografische Herkunft oder der Beruf, betrachtet. Weiterhin assoziiert sind durch bioinformatische oder statistische Verknüpfung empirisch erhobener Daten gewonnene Auswertungen, die mit der Epigenetik verknüpfte Aussagen, zum Beispiel zu gesundheitlichen Risiken bestimmter Bevölkerungsgruppen, erlauben. Ihre Anzahl nimmt im Rahmen der systemmedizinischen Forschung zu. Aufgrund der in Abschnitt 1 beschriebenen Problematik der noch fehlenden prospektiven Langzeitstudien beim Menschen, ist die Prädiktivität dieser Aussagen bisher wenig untersucht. Mittelfristig wird die Bioinformatik durch die Verknüpfung epigenetischer Daten mit regionalen, aktuellen oder historischen Umweltbedingungen sowie Verhaltensmustern von einzelnen Probanden oder auch Populationen weitere Interpretationsspielräume schaffen, die sich deutlich von der herkömmlichen Verarbeitung und Bewertung laborchemischer Werte oder genetischer Daten des Patienten unterscheiden. Dies ist ein bedeutender Unterschied im Vergleich zur Auswertung und Interpretation genetischer Tests, bei der die Einbeziehung assoziierter Daten eine deutlich geringere Rolle spielt. Die Vernetzung epigenetischer Daten mit Informationen zum sozialen oder physikalischen Umfeld entfaltet sowohl neue soziale als auch politische Dimensionen. Es ist deshalb wichtig, die Vorannahmen der Datenverknüpfung einer ethischen Bewertung zu unterziehen. Die erkenntnistheoretische Ausgangslage der Datenanalyse und ihre Motivation kann unter Umständen entscheidend für ihr Ergebnis sein. K. Viktoria Röntgen 218 7 Problemfelder und Interessenkonflikte Abb. 1: Die Verwendung epigenetischer Daten unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Leitaspekte: An der Verwertung epigenetischer Daten sind unterschiedlich motivierte gesellschaftliche Gruppen interessiert, deren Erwartungen und Ziele vielfach divergieren. Zu berücksichtigen sind dabei weiterhin die Ebene der technischen Durchführung und die sich überlagernde Ebene, der sich ergebenden ethischen Fragestellungen. 8 8 Eigene Darstellung; Quelle der Hintergrundgrafik: Epigenetics 8(10), S. 1114-1122. © 2013 Landes Bioscience licensed under a Creative Commons Attribution 3.0 Unported License. Epigenetic Profiling Assays - ethische Aspekte einer neuen Technologie 219 Abhängig von Art und Ziel des Einsatzes epigenetischer Microassays sowie der Rolle, die den beteiligten Akteuren im Zusammenhang zufällt, werden unterschiedliche ethische Problemfelder berührt. So kann eine Person als Vertreter des wirtschaftlichen oder politischen Aspekts auftreten, jedoch gleichzeitig zum Patienten werden. Unter diesen unterschiedlichen Gesichtspunkten sind ihre Interessen weit gefächert und können sich widersprechen. Als Patient besteht beispielsweise ein besonderes Interesse am Datenschutz und informationeller Selbstbestimmung. Dem gegenüber kann es aus gesundheitspolitischen Gründen interessant sein, möglichst umfassende Informationen über ganze Bevölkerungsgruppen zu erheben, um Risikobewertungen zu ermöglichen oder zukünftige Kosten im Gesundheitswesen besser planen zu können. Die ethische Bewertung der Verwendung epigenetischer Daten wird dadurch komplexer, als ein erheblicher Unterschied zwischen der Nutzung und Auswertung individueller Patientendaten und der Erforschung bestimmter Krankheitsbilder mithilfe lokaler, projektorientierter Biobanken in der individualisierten Medizin und der Nutzung von Large Scale Biobanken 9 als Grundlage populationsbasierter Kohortenstudien in der Präventions- und Ernährungsforschung besteht. Die forschungsleitenden Problemstellungen unterscheiden sich signifikant; in jedem Bereich beteiligen sich Akteure mit unterschiedlichen Motivationslagen und Zielen. In vielerlei Hinsicht besonders interessant für die Akteure der verschiedenen Interessengruppen ist auch hier der Aspekt der Prädiktivität, da diese für die Gestaltung des zukünftigen Verhältnisses zwischen den gesellschaftlichen Leitaspekten eine besondere Rolle spielt. Denn natürlich können Informationen über die voraussichtliche, gesundheitliche Entwicklung von Einzelpersonen oder ganzen Bevölkerungsgruppen demokratisch legitimierten Stellen wertvolle Informationen zu sozial- und umweltpolitischen Themenkomplexen liefern. Sie sind jedoch auch für Versicherungsgesellschaften und Arbeitgeber interessant, deren Interessen zunächst von den Anforderungen zur Wirtschaftlichkeit ihrer Unternehmen geleitet sind. Es stellt sich die Frage, welche Kriterien hier zukünftig gesellschaftlich „erwünschte“ von „unerwünschter“ Forschung unterscheiden sollen. Die Anzahl der sogenannten „unbeteiligten Dritten“ 10 , die durch die Ergebnisse und Rückschlüs- 9 Eine Large Scale Biobank ist eine sehr große Sammlung biologischer Proben einer Population, die verbunden mit relevanter Information zu den Spendern für noch nicht näher spezifizierte, zukünftige Forschungsprojekte in der Grundlagenforschung und der Medizin angelegt wurde. 10 „Unbeteiligte Dritte“ sind Personen, die indirekt von den Ergebnissen betroffen sind. Im Zusammenhang mit genetischen Testverfahren handelt es sich meist um Familienmitglieder, z. B. Kinder von Personen, die erfahren, dass sie eine dominant erbliche Erkrankung haben und die deshalb aller Voraussicht nach im Verlauf ihres Lebens ebenfalls erkranken werden. Sie sind Betroffene, obwohl sie sich nie haben untersuchen laslassen. Im Rahmen epigenetischer Analysen kann sich dieses Problem auf erweiterte Personenkreise beziehen, z. B. Personen, die innerhalb eines gewissen Zeitraums unter K. Viktoria Röntgen 220 se aus epigenetischen Studien, abhängig von der Forschungsfrage, betroffen sind, ist aufgrund der methodenimmanenten Besonderheiten sehr hoch und kann sogar transgenerational von Bedeutung sein. In Zukunft wird es deshalb wichtig werden, einen Diskurs zur Ethik der Datenkommunikation zu führen, der den Spezifika der epigenetischen Microassays als neuer Schlüsseltechnologie in der Diagnostik und der Epidemiologie Rechnung trägt und zugleich gesellschaftlich anerkannte Werte einbezieht und zu diesen in Relation setzt. Literatur Brüninghaus, Anne/ Porz, Rouven (2012): Mastering Familial Genetic Knowledge. Shared or Secret? Issues of Decision-Making in Predictive Genetic Testing. In: Pfleiderer, Georg/ Battegay, Manuel/ Lindpaintner, Klaus (Hrsg.): Knowing One’s Medical Fate in Advance. Challenges for Diagnosis, Treatment, Philosophy, Ethics and Religion. Basel: Karger, S. 38-49. Carmona, Javier/ Esteller, Manel (2013): Human Cancer Epigenetics. 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In fact, at the beginning of the 21st century, models of genetic causation shifted from an essentialist to a more context-oriented procedural thinking. However, this move has not reduced the problems but led to new ones: the former “genetic fatalism” is now turning into its opposite, “genetic activism”. Epigenetics elucidates the regulation of the gene expression and widens the knowledge about genetic actions. In the light of this the everyday life becomes more and more subject of responsibility. The following article gives an overview over the genetic and postgenomic debates and criticizes the new focus on self-responsibility. 1 Einleitung Der folgende Artikel widmet sich einem Wandel im genetischen Verursachungsdenken. Im Rahmen der Ethik der Genetik wurde an DNS-zentrierten Erklärungen zumeist kritisiert, sie vernachlässigten die Kontextbedingungen. Die Forderung nach umfassenderen Erklärungsansätzen war dabei vor allem durch die Hoffnung motiviert, die meisten Probleme ließen sich durch Einbezug der Umweltbedingungen lösen. Zu Beginn des 21. Jh. ändert sich das genetische Verursachungsdenken, wobei das essentialistische Denken nun einem prozessualen weicht. Jedoch reduziert diese Zuwendung zu den Kontextbedingungen die Probleme nicht, sondern weist auf neue Probleme hin. Da der ehemalige Genfatalismus in sein Gegenteil umschlägt, ist nun vor Genaktivismus zu warnen. Das Wissen über die Genregulation eröffnet Sebastian Schuol 224 neue Handlungsbereiche und der Lebensstil gerät in den Verantwortungsfokus. Dieser Beitrag ist in zwei Abschnitte geteilt. Im ersten Teil wird der biologische Diskurs zur Erweiterung des Genbegriffs durch die Epigenetik dargestellt. Dazu werden zentrale Änderungen im Gendiskurs nachgezeichnet. In der Postgenomik wird das Gen zunehmend als Entwicklungseinheit gesehen und die Genregulation rückt in den Fokus. Die in diesem Zusammenhang oft behauptete Widerlegung des Gendeterminismus wird hinterfragt, wobei sich zeigt, dass die Hervorhebung der Gen/ Umwelt-Interaktion diesen unter Umständen nur verdeckt. Auch der Status der Umwelt, die aus dieser Sicht eine konstitutive Rolle im Genbegriff einnimmt, wird geprüft. Der zweite Teil widmet sich der ethischen Dimension der Epigenetik. Im öffentlichen Epigenetikdiskurs wird die mögliche Bedeutung des Lebensstils für die Genregulation mit dem Ruf nach mehr Eigenverantwortung verbunden. Nach einem Überblick über den Verantwortungsbegriff wird am Fallbeispiel Metabolisches Syndrom ein ätiologischer Wandel nachgewiesen und anhand dessen die Legitimität der Verantwortungszuschreibungen geprüft. Anders als im Diskurs behauptet, fordert der durch die Epigenetik erweiterte Genbegriff die Beachtung eines über den Einzelnen hinausgehenden Verantwortungsnetzwerkes. 2 Genetik und Theoriewandel 2.1 Der Genbegriff im Wandel Historisch lässt sich der Diskurs zum Genbegriff in drei Phasen einteilen: In der klassischen Genetik der ersten Hälfte des 20. Jh. werden Gene von der Ebene des Phänotyps abgeleitet. Da sie über Merkmale erschlossen werden, welche sich gemäß der Mendelschen Gesetze vererben lassen, gelten Gene als Vererbungseinheiten. Diese Transmissionsgenetik blendet die Entwicklungsbezüge methodisch aus. Dabei bleibt die materiale Ebene des Gens unbekannt. Zwar wird das Chromosom als Träger der Gene erkannt und auf dieser Basis werden erste Erkenntnisse zur Mutation und ihrer Anordnung gemacht, jedoch bleibt die Struktur und Funktion des Gens noch verborgen. Erst der biochemische Ansatz der Molekulargenetik in der zweiten Hälfte des 20. Jh. konnte diese Probleme lösen. Während davor unklar war, ob das Protein oder die DNS die materiale Basis des Gens ist, wurde es auf der DNS lokalisiert. Strukturell gilt das Gen als ein von einem Start- und Stopcodon eingegrenzter proteincodierender Basensequenzabschnitt der DNS. Diese Definition legt zugleich die Funktion fest: Durch die Transkription des DNS-Abschnitts in die Boten-RNS und die anschließende Translation in das Protein wird die in der Basensequenz der DNS feststehende Ordnung auf die der Aminosäuresequenz des Proteins übertragen. In der Forschung wurden über den bis- Der Lebensstil als Biotechnik? 225 herigen Vererbungsaspekt hinaus erste Entwicklungsprozesse erschlossen, so dass die Entwicklungsgenetik die Entwicklungsphasen als genetisch verursacht versteht. Die neu entdeckten Techniken der Nukleinsäuremanipulation und ihre Anwendung in der Tier- und Pflanzenzucht sowie großangelegte Sequenzierungsprojekte verstärkten die Aufmerksamkeit zum Ende des 20. Jh. in der Forschung und in der Öffentlichkeit auf die Struktur des Gens. Mit der Postgenomik, die durch den Abschluss des Humangenomprojekts und dessen Ziel der Sequenzierung des menschlichen Genoms eingeleitet wurde, änderte sich die Debatte. Führte der Erkenntnisfortschritt bereits zur Hochphase der Molekulargenetik zu einer Problematisierung des strukturell definierten Gens, kann den Spannungen im Rahmen neuer Forschungsprogramme nicht mehr standgehalten werden. Anders als gedacht stellen Gene keine begrenzten Basensequenzabschnitte dar, sondern Gene können sich überlappen. Auch ist das Verhältnis von Gen und Genprodukt uneindeutig. So bewirken posttranskriptionelle und posttranslationale Modifikationen die Umsetzung eines DNS-Abschnitts in mehrere Genprodukte. Schließlich ist das Gen keine selbsttätige Einheit, sondern es bedarf seiner Aktivierung. Zu Beginn des 21. Jh. gewinnt die Systembiologie als zentrales Forschungsprogramm der Biologie an Bedeutung und stellt neue Anforderungen an den Genbegriff. Lag der Fokus vormals auf der Struktur des Gens, tritt nun die Funktion in den Vordergrund. Zur Erklärung der physiologischen Entwicklungsprozesse ist die Interaktion der beteiligten Faktoren entscheidend. Diese veränderte Forschungsperspektive hat eine neue Debatte über den Genbegriff der Postgenomik ausgelöst (vgl. Müller-Wille/ Rheinberger 2009; Schmidt 2014, 155-241). 2.2 Das Gen als Entwicklungseinheit Die Positionen im postgenomischen Gendiskurs lassen sich in einem Spannungsfeld zwischen den Extrempolen der Auflösung und der Erweiterung des Gens abbilden. Hält man, wie es hier geschieht, am Genbegriff fest, muss er im Lichte neuer Erkenntnisse reformuliert werden. Entgegen der vormaligen Auslegung als Vererbungseinheit beziehen sich die diskutierten Positionen nun auf Gene als Entwicklungseinheiten. Dies geschieht aus drei Perspektiven. Erstens handelt es sich beim Gen um eine von Menschen entwickelte Entität zur Strukturierung biologischer Phänomene. Wissenschaftshistoriker weisen angesichts der Entstehungsgeschichte des Gens die Rede von einem ontologischen Status des Gens zurück (vgl. Müller-Wille/ Rheinberger 2009, 133). 1 Da es sich demnach um ein epistemisches Objekt handelt, kann die Debatte nicht mit Verweis auf einen „richtigen“ Begriff verkürzt werden. 1 Die Bezeichnung „ontologischer Status“ wird in der Literatur unterschiedlich ausgelegt. Müller-Wille und Rheinberger verwehren sich gegen das Gen als erkenntnisun- Sebastian Schuol 226 Zweitens bezieht sich die Gemeinsamkeit der diskutierten Genbegriffe auf den Funktionsbezug und dieser prägt nun die Struktur des Gens. Viele Autoren teilen eine prozessuale Sichtweise, wonach das Gen nicht mehr als persistente, d. h. zeitlich stabile, Einheit, sondern als ein transienter Prozess verstanden wird (vgl. Schmidt 2014, 232-241). Wird das Gen prozessual verstanden, so liegt diese ursprüngliche Vererbungseinheit während der Vererbung nicht vor, sondern setzt sich erst im konkreten Entwicklungsausschnitt zusammen. Dabei wird über den proteincodierenden Abschnitt der DNS (die Struktur) hinaus der gesamte molekulare Prozess, der zu einem neuen Polypeptid (Vorgänger eines Proteins) führt, zum Gen hinzugezählt (vgl. Neumann-Held 2001, 74). Das Gen wechselt den ontologischen Status von einer bestehenden Substanzeinheit zu einer entwickelten Prozesseinheit. Der letzte Punkt bezieht sich auf die Epigenetik, eine Teildisziplin der Molekulargenetik, die sich der Genregulation widmet und damit das aktuelle Entwicklungsdenken prägt. 2 Riggs u. a. (1996, 1) definieren sie als „study of mitotically and/ or meiotically heritable changes in gene function that cannot be explained by changes in DNA sequence.” 3 Epigenetische Prozesse basieren auf einem einfachen Wirkprinzip, das von zwei Mechanismen bestimmt wird. Der allgemeine Mechanismus bezieht sich auf die Kondensation der DNS. Im Funktionszustand ist die DNS zusammen mit Proteinen zu einem Funktionskomplex organisiert. Dieses Nukleoprotein wird als Chromatin bezeichnet und kommt in zwei Zuständen vor. Während das Heterochromatin einen dichten Verpackungszustand der DNS bezeichnet, liegt diese im Euchromatin aufgelockert vor. Diese beiden Zustände wirken genregulativ: Durch die Konformationsveränderung der DNS wird die Zugänglichkeit der Transkriptionsfaktoren zu bestimmten Genregionen reguliert und damit die Expression der Gene begünstigt (Euchromatin) oder behindert (Heterochromatin). Dieser Prozess wird durch spezielle Mechanismen auf den Wirkebenen DNS (Methylierung), RNS (RNS-Interferenz) und Protein (Histonacetylierung) gesteuert bzw. weiter ergänzt (vgl. Youngson/ Whitelaw 2008). Gene liegen also entweder im aktiven oder inaktiven Zustand vor. - abhängiges Naturding. Schmidt (2014, 155-241) dagegen ermittelt diesen Status anhand der Gemeinsamkeiten der im postgenomischen Diskurs vorkommenden Genbegriffe. 2 Auf einen historischen Begriffswandel ist hinzuweisen. Der Begriff „Epigenetik“ wurde von Conrad Waddington (1968, 9f.) als eine konzeptuelle Synthese zwischen der Epigenesistheorie und einer präformistischen Genetikauffassung in die Biologie eingeführt. Gegenwärtig bezieht sich das Präfix „Epi“ auf Faktoren, die über (gr. epi) der DNS liegend deren räumliche Anordnung ändern und dadurch genregulativ wirken können (vgl. Jablonka/ Lamb 2002). Dass dieses Raumkonzept einen verdeckten Gendeterminismus befördern kann, habe ich an anderer Stelle gezeigt (vgl. Schuol 2015). 3 Dieser Vererbungsbegriff weicht vom üblichen, auf Organismen bezogenen, Verständnis ab und bezieht sich auf die Zellteilung. Unter Mitose versteht man hier nukleäre Teilungsprozesse, wonach somatische Tochterzellen mit doppeltem Chromosomensatz (diploid) entstehen. Unter Meiose versteht man eine nukleäre Reduktionsteilung, wonach aus diploiden Vorgängerzellen Keimzellen mit einem Chromosomensatz (haploid) entstehen. Ausschließlich diese werden bei der geschlechtlichen Fortpflanzung vererbt. Der Lebensstil als Biotechnik? 227 Die Erkenntnisse der Epigenetik prägen unser Entwicklungsdenken in zweierlei Hinsichten. In der Embryologie helfen sie, die Entwicklung des Organismus im Hinblick auf gattungsspezifische Gemeinsamkeiten zu erklären. Die Differenzierung in verschiedene Zelltypen, Gewebe und Organe werden zu einem wesentlichen Teil durch das sogenannte Zellgedächtnis festgelegt. Dieses bei der Zelldifferenzierung etablierte Genaktivitätsmuster ist lebenslang stabil und erhält dadurch die Funktion des jeweiligen Zelltyps. Aber die Bedeutung epigenetischer Modifikationen wird auch im Hinblick auf die Individualentwicklung diskutiert. Dabei geht man zunehmend davon aus, dass Umwelteinflüsse die Genregulation nachhaltig prägen können, wobei mit diesen Modifikationen bestimmte Krankheiten in Verbindung gebracht werden. Darauf wird später (3.3) noch genauer eingegangen. 2.3 Epigenetik und Gendeterminismus Durch die Erkenntnisse der Epigenetik wird die Debatte zum Gendeterminismus, also die Rückführung von phänotypischen Merkmalen auf die Basensequenz der DNS, neu angeregt. Dabei gilt es zwischen einem einfachen und einem verdeckten Gendeterminismus zu unterscheiden (vgl. Schuol 2015). Der einfache Gendeterminismus wird oft fälschlicherweise mit dem zentralen Dogma der Molekularbiologie (vgl. Crick 1958) gleichgesetzt. Mit diesem hat er zwar gemein, dass die Wirkweise der DNS als unilinearer Informationsfluss gedacht wird. Abweichend vom zentralen Dogma bezieht sich dieser Gendeterminismus aber über ein molekulares Verhältnis (DNS, RNS, Protein) hinaus auf die Determination des Phänotyps. Umweltaspekte haben danach keine morphogenetische Bedeutung. Zwar ist es wichtig, dass eine Umwelt existiert, allerdings spielt es für den Phänotyp keine Rolle, in welcher Umwelt er entwickelt wird. Einzig das Genom ist hier von Bedeutung. Dieser Gendeterminismus wird im Epigenetikdiskurs oft verwendet, um die neuen Erkenntnisse im besseren Kontrast hervortreten zu lassen. Weil die Genregulation umweltvermittelt geschieht, widerlegt die Epigenetik den einfachen Gendeterminismus, d. h. hier wird die Unilinearitätsthese entkräftet. Diese Gen/ Umwelt-Interaktion widerlegt aber nicht jeglichen Gendeterminismus, sondern kann unter Umständen sogar einen verdeckten Gendeterminismus begünstigen. Die Betonung einer wechselseitigen Beeinflussung sagt nämlich nichts über die Eigenart der beteiligten Informationsarten aus. Im Hinblick auf den Gendeterminismus muss zwischen kausaler und intentionaler Information unterschieden werden (vgl. Griffith 2006, 182ff.). Während die kausale Information sich auf den Ordnungsgrad eines Systems, z. B. eines Binärcodes (Strom an/ aus), bezieht, rein quantitativ erfasst und in der Einheit bit gemessen wird, bezieht sich erst die intentionale Information auf die semantische Ebene und ist als eine Instruktion zu verstehen. Weil einzig die intentionale Information eine Zielausrichtung behauptet, liegt lediglich sie dem Gendeterminismus zugrunde (Gen x kodiert „für“ Merkmal X). Sebastian Schuol 228 Was hat diese Unterscheidung mit der Epigenetik und dem Gendeterminismus zu tun? Wenn eine Gen/ Umwelt-Interaktion in der Epigenetik behauptet wird, so wird zumeist eine Asymmetrie mitbehauptet, denn es wird nicht von der gleichen Informationsart ausgegangen. Ein Beispiel aus dem Bereich populärwissenschaftlicher Wissensvermittlung verdeutlicht das. Die Epigenetik wird oft mittels der Metapher einer Bibliothek erklärt. Danach stellt der Buchbestand das Genom und der Ausleihvorgang die umweltvermittelte Genregulation dar. Einzig das Wissen aus den ausgeliehenen Büchern (analog: aktive Gene) kann handlungswirksam werden. Das Wissen der verbliebenen Bücher (analog: inaktive Gene) ist dagegen wirkungslos. Der in der Bibliothek gespeicherte Wissensbestand kann abhängig vom Verleih verschiedene Handlungsweisen (analog: Phänotypen) prägen. In dieser Metapher wird dem Gen und seiner Regulation ein unterschiedlicher Informationstatus zugesprochen. Der Ausleihvorgang bezieht sich auf die kausale Information; ein Buch ist entweder verliehen oder nichtverliehen (analog: Gen an/ aus - 1 bit). Die Bücher aber beziehen sich auf die intentionale Information, welche die Handlung ausrichtet (analog: Bauanleitung). Kurz: Nach der Metapher „beinhalten“ lediglich Gene morphogenetische Instruktionen. Die Tatsache, dass ein Genom (entgegen dem einfachen Gendeterminismus) das Potential zu mehreren Phänotypen hat, täuscht darüber hinweg, dass es sich weiterhin um einen eben verdeckten Gendeterminismus handelt. Dass dem Gendeterminismus eine eigene Gesetzmäßigkeit unterliegt, die im Wesentlichen aus der dualistischen Trennung in Gene und Umwelt besteht, hat die Entwicklungspsychologin Susann Oyama bereits 1985 erkannt. Erst aus dieser Sichtweise ist es notwendig, nach der initialen Formursache zu fragen - prinzipiell kommen also beide Seiten als Determinanten in Frage. Entsprechend liegt die Lösung des Gendeterminismus nicht auf empirischer Ebene neuen Faktenwissens wie der Epigenetik, ja dieses reproduziert ihn bloß, sondern auf der theoretischen Ebene der Erkenntnis. Die endgültige Lösung kann nur auf Basis einer monistischen Theorie gelingen, wofür es aber notwendig würde, auf die Rede von Information zu verzichten (vgl. Schuol 2015). 4 Beide Seiten hätten dann den Status von Entwicklungsressourcen. 2.4 Das Gen im Kontext Wie der Entwicklungspsychologe Russel Gray (1992) zu Recht bemerkt hat, lässt sich auf der Basis des Gen/ Umwelt-Dualismus die Entwicklungserklärung des Phänotyps auch umkehren. Wenn in den bisherigen Laboruntersuchungen Umwelteinflüsse standardisiert wurden, woraufhin einzig geneti- 4 Mit der Developmental Systems Theory wendet sich Oyama (1985) dem Monismus zu. Da danach Kultur (Umwelt) und Natur (Gen) abhängig voneinander evolviert sind, ergibt eine einseitige Determination keinen Sinn. Hier passt der Begriff der Emergenz besser. Der Lebensstil als Biotechnik? 229 sche Differenzen zur Erklärung von Merkmalsabweichungen übrigblieben, könnten ebenso gut Umweltdifferenzen die Merkmalsabweichungen erklären - und zwar dann, wenn die genetischen Faktoren bei allen Probanden die gleichen wären. Danach gälte die Umwelt als entscheidende Determinante. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was Umwelt im Hinblick auf die epigenetische Genregulation sein kann. Die Debatte zur Epigenetik konzentriert sich entweder auf Vorgänge auf molekularer Mikroebene oder auf lebensweltlicher Makroebene. Dabei wird die Vermittlung zwischen den beiden Ebenen aber vernachlässigt. Für das bessere Verständnis der Umwelt ist es allerdings zentral zu verstehen, wie diese vermittelt wird. Hierbei ist an den von Jakob von Uexküll 1909 eingeführten Umweltbegriff zu erinnern. Gemäß diesem bezieht sich Umwelt auf einen Konstruktionsprozess, wonach der Organismus Umwelt konstituiert, d. h. Umwelt präexistiert nicht. Demnach ist es nicht so, dass feststehende Außenreize epigenetisch wirksam würden, sondern der Organismus ist wegen seines Sensoriums nur für einen Ausschnitt erreichbar. Zudem werden diese auf mehreren Integrationsebenen des Organismus transformiert. Die Umwelt ist 1) selektiv: manche Reize werden verarbeitet, 2) transformativ: Reize werden in interne Bedeutungsträger umgeformt und 3) relativ: ohne Organismus gibt es keine Umwelt. Da bei der Erklärung des Umweltbegriffs der Organismus vorausgesetzt werden muss, ist ein Umweltdeterminismus bereits auf theoretischer Ebene zum Scheitern verurteilt. Ontologisch geht der Organismus der Umwelt voraus. Zusammenfassend ist hier festzuhalten, dass bei der Erklärung der Morphogenese monokausale Verursachungskonzepte prinzipiell zu kurz greifen. Bei der Entwicklung des Phänotyps spielt neben dem Genom und der Umwelt auch der Organismus, genauer: dessen Entwicklungszustand (vgl. 3.3), eine Rolle, ohne dass einem eine bevorzugte Position zufällt. Übrigens verstand Conrad Waddington (1968), der Namensstifter der Epigenetik, die Entwicklung in ebendiesem Sinne, d. h. als Emergenz aus allen Faktoren. Aktuelle Schlagzeilen legen nahe, dass die Umwelt erst mit der Epigenetik eine Rolle im öffentlichen Gendiskurs spielt. Zwar erhält sie im Lichte des durch die Epigenetik erweiterten Genverständnisses erstmals auch einen konstitutiven Status im Genbegriff, jedoch zeigt der Wissenschaftshistoriker Alexander von Schwerin (2009), dass jede Genetikepoche einen Umweltbegriff hatte und dass dieser das Verständnis von genetischer Verantwortung prägte. Ausgehend von der Mutationsforschung der 30er Jahre und dem auf der mutagenen Wirkung radioaktiver Strahlung beruhenden Modell der Dosis-Wirkungskurve bezog sich das, angesichts der atomaren Risiken des Kalten Krieges in den 50er Jahren entwickelte, Konzept der Strahlenhygiene auf eine politische Verantwortung. Danach verschob die Entdeckung von molekularen Reparaturmechanismen, welche von einer Selbstheilungskraft des Organismus zeugten und somit ein neues Referenzmodell erforderten, in Zusammenwirkung mit einem neoliberalen Politikverständnis die Ver- Sebastian Schuol 230 antwortung nach den 70er Jahren in den privaten Bereich des Selbstmanagements. Wie im Folgenden gezeigt wird, verschärfen in der Postgenomik die Forschungserkenntnisse der Epigenetik diese Auslegung weiter. Damit greife ich das Thema dieses Sammelbandes, die Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken, im engeren, vor allem individuumsbezogenen, Sinne auf. 3 Ethik der Epigenetik 3.1 Der öffentliche Epigenetikdiskurs Mit der Etablierung der Forschungsdisziplin Epigenetik geht ein öffentlicher Diskurs einher, in dem sich wissenschaftliches Faktenwissen mit lebensweltlichem Zeitgeschehen verbindet. Seine Erforschung beginnt soeben. Ausgehend von Erfahrungen der Technikfolgenabschätzung wägt die Biologin Stefanie Seitz (2015) in einer ersten Arbeit das Für und Wider gezielter Beteiligung der Öffentlichkeit zu den Forschungsfragen ab. Dabei wird die Epigenetik den new and emerging sciences and technologies (NEST) zugeordnet, da das neue Wissen im Hinblick auf Anwendung generiert wird. Wie ein zweiter Artikel (vgl. Seitz/ Schuol 2015) mittels Diskursanalyse zeigt, ist diese Zuordnung durchaus treffend. Auf Seiten populärwissenschaftlicher Ratgeber zur Epigenetik werden nämlich drei Haupthemen diskutiert. Diese sind 1) der durch die Epigenetik eingeleitete Epochenwandel und die Ablösung des Genfatalismus, 2) das dadurch beförderte Thema lebensstilbedingter Steuerbarkeit der Genregulation und 3) sich in Folge dieser Steuerbarkeit ergebende Verantwortungsbereiche. Aufgrund der Ausrichtung der Ratgeber werden diese Themen vor allem im Gesundheitsbereich diskutiert. Bezieht man zusätzlich die Rezipientenseite in die Analyse ein, fällt hier eine Veränderung auf. Während in diesem Diskussionsrahmen die ersten beiden Themen unverändert wiedergegeben werden, wird die Verantwortungsdebatte nur auf individualethischer Ebene geführt. Das zentrale Thema ist hier die Eigenverantwortung. Da die Genregulation vermittels Umwelteinflüssen als lenkbar gilt, wird dem eigenen Lebensstil im öffentlichen Epigenetikdiskurs der Status einer Biotechnik zur Optimierung der Gesundheit zugeschrieben. Sozialwissenschaftliche Analysen zeigen, dass eine autonome Selbstregulation im Präventionsbereich hauptsächlich in einer bildungsnahen Gesellschaftschicht gelingt. In der Tat interessiert sich vor allem diese für die Epigenetik (vgl. Seitz/ Schuol 2015). Dies ist interessant, wenn beachtet wird, in welchem Rahmen Eigenverantwortung thematisiert wird. Ein Kernthema im Diskurs sind lebensstilbedingte Volkskrankheiten. Achtet man darauf, wer Eigenverantwortung thematisiert und wen die Krankheiten betreffen, fällt eine Asymmetrie auf. Dass diese Krankheiten hauptsächlich in bildungsferneren Schichten mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, dagegen aber in bildungsnahen eher selten zu finden sind, ist bekannt (vgl. Müller u. a. 2006). Jene also, die mehr Eigenverantwortung fordern, sind aufgrund Der Lebensstil als Biotechnik? 231 ihrer Vorsorge nicht primär von den Krankheiten betroffen. Jene Betroffenen aber fordern keine Eigenverantwortung bzw. ihre Stimme ist im Diskurs nicht vertreten. Dass mit der Epigenetik ein eigenständiger Verantwortungsdiskurs einhergeht, wurde bereits des Öfteren erkannt. 5 Allerdings wird dieser zumeist als ungerechtfertigte „Panikmache“ abgetan oder es wird vor unsicherem Wissen gewarnt - demnach gilt die Diskussion als verfrüht. Im Folgenden nehme ich einen anderen Standpunkt ein: Ausgehend von aktuellen Theorien zur epigenetischen Verursachung von Volkskrankheiten prüfe ich nun den Diskursfokus auf Eigenverantwortung. Aus der Perspektive einer prospektiven Bioethik (vgl. Engels 2005, 163) gilt die frühzeitige Ermittlung von Handlungs- und Verantwortungsbereichen als eine Chance. 3.2 Verantwortung und Eigenverantwortung Aus einer sozialethischen Sichtweise gilt Verantwortung als ein Zuschreibungsbegriff. Wenn demnach einer Person Verantwortung für eine Situation zugeschrieben wird, müssen Handlungsbedingungen erfüllt sein, die sich mit Aristoteles (2010 III, 1-8) wie folgt systematisieren lassen: 1) Zunächst muss eine willentliche Handlung vorliegen, es bedarf einer Zielausrichtung. 2) Zur Erreichung dieses Zieles ist die Kenntnis der dahin führenden Mittel notwendig. Angesichts dieser Mittel/ Zweck-Rationalität ist der Status des empirischen Wissens, hier der Epigenetik, wichtig. Dieses bezieht sich nicht auf Ziele, hat somit keinen normativen Status (naturalistischer Fehlschluss), sondern bezieht sich auf die Mittel zur Erreichung bestehender Ziele, etwa der Gesundheitheitsfürsorge. 3) Die Freiwilligkeit ist eine letzte Voraussetzung; weder volitionale noch praktische Beeinflussungen dürfen herrschen. In prozessualer Hinsicht kann zwischen einem prospektiven und retrospektiven Moment der Verantwortung unterschieden werden. Zwischen ihnen besteht eine logische Beziehung, da eine Person retrospektiv nur dann verantwortlich gemacht werden kann, wenn voraussgesetzt werden kann, dass sie um diese Aufgabe prospektiv hätte wissen und diese auch hätte bewältigen können. Im Hinblick auf die Eröffnung neuer Handlungsbereiche durch die Epigenetik ist ein weiterer Umstand interessant. Mit der Definition eines Handlungsbereichs wird zugleich ein Risikoraum eröffnet. Sollte das gesetzte Ziel nämlich nicht erreicht werden, würde der Akteur den entstandenen Schaden aufgrund der Annahme, als einzige Ursache zu wirken, anders als davor, nicht der Natur, sondern sich selbst zurechnen (vgl. Luhmann 1990, 149). Zu beachten ist, dass sich die damit verbundenen psychischen Kosten verdoppeln, da bereits im Vorfeld eines möglichen Schadens das Risikobewusstsein unangenehme psychische Spannungszustände bewirkt (vgl. ebd., 159). 5 Vgl. den Beitrag von Viktoria Röntgen im vorliegenden Sammelband. Sebastian Schuol 232 Schließlich ist noch zu klären, was Eigenverantwortung meint. Im ethischen Anwendungsbezug wird eine Situation anhand eines relational verstandenen Verantwortungsbegriffs erschlossen und damit für weitere Analyseschritte aufbereitet. Gemäß einem viergliedrigen Verantwortungsbegriff ist jemand (Subjekt) für etwas (Objekt) vor jemandem (Instanz) aufgrund bestimmter normativer Standards (Norm) verantwortlich (vgl. Werner 2002). Im Rahmen dieses Relationsbegriffes bezieht sich das Präfix „Eigen-“ auf die ersten beiden Relata. Aus Befangenheitsgründen, d. h. mangels Neutralität, kommt man nämlich selbst nicht als Verantwortungsinstanz in Frage; diese ist die Moralgemeinschaft. Auch können moralische Normen nicht willkürlich gesetzt werden, da diese sich auf soziale Beziehungen beziehen. Dagegen ist es aber nötig, sich selbst als Handlungs- und Verantwortungssubjekt zu verstehen, was Eigen-Verantwortung als Tautologie erscheinen lässt - jegliche Verantwortung muss sich auf ein Subjekt beziehen - das Präfix betont also hier nur das aktive Moment der Verantwortungsübernahme. Somit bezieht sich Eigenverantwortung vor allem auf das Objekt der Verantwortung, den Handelnden (in diesem Falle seine Gesundheit); dieser Selbstbezug unterscheidet Eigenverantwortung von anderen Verantwortungsarten. 3.3 Das Fallbeispiel Metabolisches Syndrom In der klinischen Epigenetik wird entweder die soziale oder materiale Umwelt betrachtet. Im Falle der materialen Umwelt ist die Ernährung entscheidend, wobei die Entwicklung des Stoffwechselsystems fokussiert wird. Hier ist das Metabolische Syndrom (MS) von Interesse. Dabei handelt es sich um eine lebensstilbedingte Krankheit, die im öffentlichen Epigenetikdiskurs besonders häufig mit dem Thema Eigenverantwortung in Verbindung gebracht, aber auch im Fachdiskurs zunehmend thematisiert wird. Das MS wird diagnostiziert, wenn Adipositas, Diabetes Typ 2, Fettstoffwechselstörung und Bluthochdruck gleichzeitig vorliegen. Diese können unabhängig voneinander entstehen, doch verstärkt ihre Koinzidenz die pathogene Einzelwirkung erheblich, was dem MS die Bezeichnung „tödliches Quartett“ einbrachte. Seine Thematisierung im Epigenetikdiskurs bezeugt den Wandel im Verursachungsdenken. Galten nämlich die Einzelkrankheiten früher als genetisch verursacht (vgl. Neel 1962) wird nun im Rahmen der sogenannten Theorie der Developmental Origins of Health and Disease die gesamte Lebensspanne zur Erklärung des MS herangezogen (vgl. Gluckman/ Hanson 2006). In diesem Bezugsrahmen werden im Wesentlichen zwei Ätiologien diskutiert. Die Theorie der Predictive Adaptive Response erklärt das MS anhand eines evolvierten Adaptionsmechanismus (vgl. Gluckmann u. a. 2005). Danach wird das Genaktivitätsmuster des metabolischen Regelsystems an das pränatale Nahrungsangebot optimiert (frühe Umwelt). Weicht die spätere Umwelt davon ab, so führt dies zu einer pathogenen Überlastung des Stoffwechselsystems. Die Theorie der Adaptive Predictive Response erklärt das MS dagegen als einen Prägungsprozess (vgl. Plagemann 2012). Treten in frühen Der Lebensstil als Biotechnik? 233 Entwicklungsphasen Störungen wie Schwangerschaftsdiabetes auf, so bewirken diese eine dauerhafte Fehlprägung des Stoffwechselsystems, die zum MS führen kann. Unabhängig der bestehenden Unterschiede 6 nehmen epigenetische Modifikationen im Rahmen beider Modelle eine zentrale Funktion ein und diese wird als epigenetische Programmierung bezeichnet. Das heißt, dass die in den frühen sensiblen Entwicklungsphasen festgelegten Genaktivitätsmuster lebenslang stabil sind und damit eine Disposition zum MS festlegen. Die Krankheit selbst prägt sich aber erst später im Leben aus. Wenn im Lichte dieser beiden Theorien ein epigenetischer Handlungsraum thematisiert wird, bedarf das der Erläuterung. Erstens leitet der Begriff materiale Umwelt in die Irre da er nahe legt, alle materialen Zusammenhänge einer gesunden Ernährungsweise wären bekannt. Die epigenetische Erforschung der Ernährung (Nutriepigenetik) reformuliert aber bisher lediglich bewährte Ernährungsweisen auf molekularer Ebene. Wenn hier von neuen Handlungsräumen die Rede ist, ist das temporal gemeint und bezieht sich auf Handlungszeiten. Zweitens behaupten die beiden Ätiologien nicht, dass jenseits dieser Handlungszeiten keine medizinischen Handlungen möglich wären, sondern, dass die für eine genuin epigenetische Verantwortung wichtigen Handlungszeiten in pränatale Entwicklungszeiten fallen. Eine grundsätzliche Prävention, die bereits die epigenetische Erkrankungsdisposition unterbinden wollte, müsste also zu diesem frühen Zeitpunkt ansetzen. 3.4 Verantwortungsnetzwerk statt Eigenverantwortung Bereits auf der Grundlage dieser knappen ätiologischen Skizze zeigt sich, dass der Diskursfokus im Präventionskontext der Epigenetik auf die Eigenverantwortung zu kurz greift. Da der hier wichtige Handlungsbereich in die pränatale Entwicklungsphase fällt, ist es keineswegs so, dass ausschließlich der eigene Lebensstil die Gesundheit bestimmt. Aufgrund der komplexen Zusammenhänge im Verantwortungskontext der Epigenetik weist die Sozialwissenschaftlerin Maria Hedlund (2012) auf das Akteur/ Struktur-Modell hin, das die Begrenztheit von Handlungsbereichen berücksichtigt. Danach gilt jener Bereich jenseits der Einflussmöglichkeit des einzelnen Akteurs als Struktur. Allerdings können bei feinerer Auflösung dessen, was für Einzelne Struktur bedeutet, auch weitere Verantwortungsakteure gefunden werden. Betrachtet man das hier zentrale Entwicklungsensemble aus Schwangerer und Embryo, ist aus nächstliegender Sicht natürlich die Schwangere als eine Verantwortliche zu sehen. Zu Recht wird aber diese Verschiebung von der Eigenverantwortung auf die Verantwortung der Mutter in den Medien kritisiert, wobei vor neuen Verantwortungsüberforderungen gewarnt wird (vgl. Wewetzer 2014). Dass die Schwangere aus einer rein biologischen Per- 6 Gemäß der Predictive Adaptive Response Theorie hebt die Anpassung des Lebensstils an die frühe Umwelt die Abweichung auf, hat somit therapeutischen Nutzen. Dagegen ist für die Adaptive Predictive Response Theorie der Schaden unumkehrbar (Fehlprägung). Sebastian Schuol 234 spektive einen privilegierten Zugang zur Krankheitsprävention ihres Kindes hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihrem Handlungsspielraum strukturelle Grenzen gesetzt sind. Diese können abhängig von den jeweiligen Verhältnissen abweichen. 7 Daher ist vor allem das soziale Umfeld, das den Handlungsbereich der Schwangeren beeinflusst, bei der Verantwortungsdiskussion mit zu berücksichtigen. Aus der Sicht des Akteur/ Struktur- Modells ergibt sich somit ein komplexes Verantwortungsnetzwerk (vgl. Schuol 2014), das sowohl die strukturellen Handlungsgrenzen Einzelner als auch die Handlungsmöglichkeiten derer mitberücksichtigt, welche die Grenzen ersterer entweder bedingen, oder für welche diese Grenzen nicht gelten. Das Ausmaß des durch die Epigenetik aufgeworfenen Verantwortungsnetzwerkes gilt es noch zu ermitteln. Wenn abschließend auf eine politische Verantwortung hingewiesen wird, wird nur ein Faktor als Beispiel skizziert. In der Präventionstheorie wird zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention unterschieden. Während erstere die Gesundheit Einzelner durch deren Verhaltensveränderung (z. B. Sport treiben) erhalten will, soll dies bei letzterer durch eine Änderung der Verhältnisse - entweder auf direktem Weg (z. B. Arbeitssicherheit) oder indirektem Weg (z. B. Besteuerung zuckerhaltiger Lebensmittel) - geschehen. Die gegenwärtige Gesundheitspolitik in Deutschland setzt vor allem auf die Verhaltensprävention. So ist die Präsenz des Diskursthemas Eigenverantwortung kein Zufall, sondern zeugt vom Erfolg des in Deutschland vorangetriebenen Programms. Allerdings wurde hier auch darauf hingewiesen, dass dieses auf der autonomen Selbstregulation aufbauende Präventionsprogramm jene, die am meisten durch das MS bedroht werden, nicht erreicht. Das politische Instrument der Verhaltensprävention hat Grenzen und diese scheinen vor allem sozioökonomischer Art zu sein. Anstatt in diesem Paradigma verbleibende „Präventionsverweigerer“ durch einschneidende Sanktionen zu Verhaltensänderungen zu zwingen, legt gerade der durch die Epigenetik und ihrer Hervorhebung der Umweltbezüge erweiterte Genbegriff es nahe, in Zukunft verstärkt auf die Verhältnisprävention zu setzten. Dies gilt nicht zum Schluss deswegen, weil die Umweltverhältnisse im Lichte der Epigenetik auch als biologisch wirksame Verhältnisse verstanden werden. Der durch die Epigenetik erweiterte Genbegriff hat sowohl eine ethische als auch eine politische Dimension. Der alleinige Fokus auf den Lebensstil des Einzelnen ist nicht gerechtfertigt. Dass der Lebensstil im öffentlichen Epigenetikdiskurs biotechnisch ausgelegt und in ein auf sich selbst bezogenes Mittel/ Zweck-Verhältnis gesetzt wird, ist in soziologischer Hinsicht interessant. Diese Interpretation verdeutlicht nämlich das gesellschaftlich vorherrschende Thema der Selbstregulation. In diesem Artikel wurde gezeigt, dass eine solche Konzentration auf das Individuum aber gerade aus der Sicht der Epigenetik zurückzuweisen ist. 7 Diese Grenzen können z. B. sozioökonomische, epistemische oder psychische sein. Der Lebensstil als Biotechnik? 235 Literatur Aristoteles (2010): Die Nikomachische Ethik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Crick, Francis H.C (1958): On Protein Synthesis. In: Symposia of the Society for Experimental Biology 12, S. 138-163. Engels, Eve-Marie (2005): Ethik in den Biowissenschaften. In: Maring, Matthias (Hrsg.): Ethisch-Philosophisches Grundlagenstudium 2. Ein Projektbuch. Münster: Lit, S. 135-166. Gluckman, Peter D./ Hanson, Mark A. (2006): Developmental Origins of Health and Disease. Cambridge: Cambridge University Press. Gluckman, Peter D./ Hanson, Mark A./ Spencer, Hamish G. (2005): Predictive Adaptive Responses and Human Evolution. In: Trends in Ecology and Evolution 20(10). S. 527-533. 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Based on this consideration, this project analyzes texts about the subject matter “Neuro- Enhancement” in the media, such as newspapers and non-academic journals, from a rhetorical perspective. “Neuro-Enhancement” is not just a “topic” - it also promises to be very profitable if merchandized strategically. Therefore the article aims at identifying basic beliefs or ideologies, concepts of the human, and views of the world to determine why people seem to be increasingly intrigued by the idea of bringing themselves to perfection through medical products or psychotropic substances. This analysis will not only indicate intriguing phrases, metaphors and contexts, but also the ideas behind them. The last section will be an evaluation of these ideas from an ethical point of view. 1 Ausgangspositionen Dass der Mensch sich selbst gestaltet, sich durch Gewöhnung, Erziehung, Sprache und durch „den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten“ (Assmann 1988, 15) selbst konstruiert und formt, dass so Welt-, Selbst- und Menschenbilder, Moralvorstellungen und Kulturen entstehen und auch aufrechterhalten werden, erkannte man bereits in der Antike. Auch erkannte man, dass diese Selbstgestaltung sich als eine Entwicklung ausnahm, die sich weder ontogenetisch noch phylogenetisch zufällig zu ergeben, sondern auf Ziele gerichtet zu sein schien, etwa auf das eines größeren Handlungsspielraums, auf mehr Selbst- und Eigenständigkeit oder auch darauf, sich in immer größere Entfernung von Schutz- und Machtlosigkeit gegenüber unterschied- Jutta Krautter 238 lichsten Umweltgefahren und Notlagen zu bewegen, kurz: eine Verbesserung des vorhergehenden Zustandes zu erreichen. Zur Gestaltung hin zum Ziel einer solchen Verbesserung musste man meist den Weg über beharrliches, diszipliniertes Lernen und unentwegtes, langwieriges und mühevolles Einüben nehmen, um so schließlich durch Gewöhnung, Routine und Erfahrung zu einiger Fertigkeit, Könnerschaft, ja gar Meisterschaft in einer bestimmten Tätigkeit zu gelangen. Dies scheint aber nun die längste Zeit so gewesen zu sein. Während die ideellen Ziele der Selbstgestaltung zum großen Teil dieselben geblieben sind, etwa sich erwähnte Kompetenzen für größere Eigenständigkeit anzueignen, scheint sich jener Weg dorthin vor allem in den letzten Jahrzehnten verändert zu haben: Nicht nur entsteht der Eindruck, als hätte sich dieser eine Weg zur „Selbstgestaltung des Menschen“ im Rahmen neuer Technologien, besonders der Biotechnologien, vervielfacht, so dass darunter jetzt zusätzlich chirurgische, gentechnische oder pharmakologische Eingriffe in den Körper oder - und insbesondere - ins menschliche Denken und Fühlen fallen. Auch scheint sich das Spektrum bestimmter Qualitäten des Wegs oder jetzt: der Wege zur Selbstgestaltung so sehr erweitert zu haben, dass sich im Vergleich dazu der bisherige Selbstgestaltungsweg fast schon anachronistisch, ja vielleicht sogar defizitär ausnimmt. Denn Veränderungen und Verbesserungen des Menschen scheinen immer weniger von der langwierigen und mühsamen, mitunter auch von Talent und Begabung abhängigen und daher nicht einmal sicher von Erfolg gekrönten Erziehung und Gewöhnung, dem Lernen und Trainieren, oder kurz: der „Selbstformung“ (vgl. Kipke 2011) abhängig zu sein, sondern neuen Gestaltungswegen, die in beliebigen Lebens- und Anforderungsbereichen vermeintlich mühelos und vor allem schnell und auch sicher zu Erfolgen zu führen versprechen, vorbehalten. Dieser Eindruck gilt vor allem für die hier im Fokus stehende biotechnische Selbstgestaltung durch pharmakologisches Neuro-Enhancement der kognitiven Leistungsfähigkeit. Damit ist, kurz gefasst, die Steigerung (engl. enhancement: Steigerung, Verbesserung, Vergrößerung, Intensivierung) der eigenen intellektuellen, volitionalen und auch motivationalen Leistungsfähigkeit durch Medikamente wie Ritalin gemeint. Der Begriff „Enhancement“ deutet dabei an, dass durch die Medikamente eben keine therapeutische Wirkung erzielt werden soll, sondern eine „über den Zustand guter Gesundheit“ (Lenk 2002, 28) hinausgehende Leistungssteigerung. 1 Und diese Art der Selbstgestaltung scheint sich mehr und mehr Bahn zu brechen und in Klassenzimmern, Seminarräumen der Universität, in Bürogebäuden etc. immer größere Verbreitung zu finden. 1 Darüber, was ein solcher Zustand ist und was genau verbessert werden könnte, gibt es ausgiebige Debatten und Diskussionen, worauf hier aber nicht näher eingegangen werden kann. Einen guten Überblick bietet Lenk (2002). Zur medialen Darstellung von Neuro-Enhancement 239 2 Ein Überblick Dieser Eindruck, Selbstgestaltung und -verbesserung finde zunehmend mit Hilfe pharmakologischer Präparate statt, soll hier zum einen hinsichtlich seiner Entstehung und zum anderen hinsichtlich seiner (normalisierenden) Wirkung überprüft werden. Denn es stellt sich zunächst die Frage, wie es überhaupt zu diesem Eindruck kommt - und eine der Ausgangspositionen zur Beantwortung dieser Frage deutet sich bereits im Titel dieses Beitrags an: Wie wir die Welt sehen, welche Weltbilder wir haben, was wir für wichtig halten, welche Eindrücke wir von dem haben, was um uns herum geschieht, lässt sich zum guten Teil auf sprachliche Vermittlung zurückführen und darauf, wie oft, prominent und ausführlich zum Beispiel Zeitungen und Zeitschriften von einer bestimmten Thematik berichten 2 - und je öfter, prominenter und ausführlicher, als desto wichtiger empfinden wir sie. Eine kleine quantitative Analyse 3 gibt bezüglich der Thematisierungshäufigkeit einen aufschlussreichen und eindrücklichen Einblick: Abb. 1: Anzahl der Artikel mit dem Thema Neuro-Enhancement, die im Zeitraum vom 01.01.2008 bis 31.12.2010 in Zeitschriften und Zeitungen aus Deutschland erschienen sind. 2 Diese Ausgangsposition verweist auf die Agenda Setting-Theorie, die von McCombs und Shaw erstmals 1972 formuliert und später weiter ausgebaut wurde. Agenda Setting ist danach „Manipulation der öffentlichen Meinung durch das gezielte Setzen von Themenschwerpunkten“ (Meyer 2009, 1343). 3 Der Zeitraum zwischen 01.01.2000 und 01.01.2008 brachte praktisch keine relevanten Artikel hervor (siehe Abs. 5). Jutta Krautter 240 Es ist zunächst nur ein allmählicher Anstieg der Thematisierungen von Neuro-Enhancement ab Dezember 2008 zu verzeichnen: Zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten sieben US-amerikanische Wissenschaftler ihre überraschend affirmativen Meinungen zu Neuro-Enhancement in einem Kommentar in Nature (vgl. Greely u. a. 2008), was den ersten Anstoß geben sollte für Berichte und Artikel auch in Deutschland. Im September 2009 aber folgt eine auffällige Zunahme der Thematisierungen: In diesem Monat publizierten (ebenfalls sieben) deutsche Wissenschaftler ihre (ebenfalls äußerst affirmative) Meinung in ihrem sogenannten Memorandum zum Thema Neuro- Enhancement in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Gehirn&Geist (Galert u. a. 2009). Es war ein Artikel, der aufgeregte Debatten in zahlreichen, überregionalen Zeitungen und Zeitschriften entfachte. Ab diesem Augenblick wurde das Thema in die Medienagenda aufgenommen und in Tageszeitungen und Publikumszeitschriften aus verschiedensten Perspektiven beleuchtet, diskutiert und beurteilt. Allein diese Tatsache der gehäuften Thematisierung ist aus der Perspektive der Agenda-Setting-Theorie bereits beachtenswert: Neuro-Enhancement ist danach als wichtiges und zu diskutierendes Thema ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Die weiterführende und entscheidende Frage aber bezieht sich auf die sprachliche Gestaltung innerhalb dieser medialen Thematisierungen. Sie bezieht sich darauf zu eruieren, wie und in welche Richtung sie unsere Wege und auch Ziele, uns selbst zu gestalten, aber auch unsere moralischen Urteile diesbezüglich beeinflussen könnten. Es geht also darum, „zu (re)konstruieren, aufgrund welcher Sinnbezüge Menschen handeln, wie sie handeln“ (Reichertz/ Schröer 1994, 59). Die Fragstellung zielt u. a. darauf ab, festzustellen, ob und wenn ja, wie die Sprache innerhalb der Artikel zu einer Ablehnung oder auch Akzeptanz und Verbreitung von Neuro-Enhancement beitragen könnte. Im Anschluss daran ergeben sich Fragen nach der ethischen Bewertung: Wie müsste eine tatsächlich größer werdende Akzeptanz und eine „Praxis des Neuro-Enhancements“ aus ethischer Perspektive bewertet werden? Wäre sie „gut“ für das gelingende Leben des Einzelnen? Wäre sie „gut“ für die Gesellschaft? Exemplarisch wird für diese unterschiedlichen Fragestellungen vor allem ein Zeitschriftenartikel in den Blick genommen, dessen Titel bereits von der Ambivalenz der moralischen Bewertung und weiten Verbreitung des Phänomens Neuro-Enhancement kündet: „Wow, was für ein Gefühl! Mühelos lernen, alles erinnern, immer fit sein - eine neue Generation von Medikamenten verspricht geistige Höhenflüge für jedermann. Segen oder Teufelszeug? Die Möglichkeit des IQ- Dopings ist umstritten, doch schon versuchen Hunderttausende, heimlich ihre Hirnleistung hochzujagen.“ (Blech u. a. 2009, 46) Der hier erwähnte Spiegel-Artikel bietet einen breiten Überblick über gängige Argumente, die im Rahmen der Diskussion um Neuro-Enhancement Zur medialen Darstellung von Neuro-Enhancement 241 aufkommen, vor allem aber über rhetorische Strategien und Formulierungen. Den narrativen Rahmen bildet die Geschichte „Maria Westermanns“, die für das „IQ-Doping“ zum Medikament Ritalin greift. Sie erfährt das Mittel zunächst als „Segen“ und als Weg aus einer schwierigen, von Krankheit gezeichneten Lebenskrise heraus, dann aber mehr und mehr als „Teufelszeug“: Sie gerät in Abhängigkeit, die ihren Weg schließlich in einer Klinik für Suchtkranke enden lässt. 3 Grundlegende Begriffsklärungen und theoretische Verortungen In einem ersten Schritt liegt das Hauptaugenmerk auf notwendigen Differenzierungen und Begriffsbestimmungen der schon in diesem Beitragstitel auftretenden Konzepte: Was zum Beispiel ist Neuro-Enhancement und was sind Welt- und Menschenbilder? Unter Neuro-Enhancement wird hier die biotechnische Selbstgestaltung durch pharmakologische Mittel (Medikamente) zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit verstanden. Durch diese zielführende Begriffsbestimmung, die die „Verbesserung“ des Selbst durch Medikamente in den Vordergrund stellt, fallen so große und wichtige Bereiche wie die Tiefe Hirnstimulation, die Gentechnik, das Klonen, transgene Technologien (nicht das „Selbst“ betreffend) und auch Eingriffe mit dem Ziel, emotionale „Verbesserungen“ herbeizuführen, aus der Untersuchung heraus. Ein Menschenbild (derivativ dazu: Weltbild) steht als eine relativ weite Metapher für ein Konzept, das in sich sämtliche Vorstellungen, Ansichten, Überzeugungen darüber bündelt, was den Menschen treibt, was ihm wichtig ist und sein sollte, was ihm Angst macht, was, kurz: den Menschen „im Allgemeinen“ ausmacht. Es ist eine sehr vage, nicht scharf umrissene, aber doch mit einigen inhaltlichen Aspekten füllbare Anschauung dessen, wie man sich „den Menschen“ vorstellt. So sind Menschenbilder „zumeist unhinterfragter und normativer Ausgangspunkt individueller, organisationaler und gesellschaftlicher sowie wissenschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen“ (Rollka/ Schulz 2011, 7), sie bilden einen „Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Vorstellungen und Veränderungen“ (ebd.). Wie sieht es nun mit der theoretischen Verortung der rhetorischen Sicht aus? Allgemein gesehen gilt die Rhetorik als eine der ältesten, systematisch aus- und aufgebauten Textwissenschaften sowohl in produktionsals auch rezeptionsästhetischer, und damit auch in textanalytischer Hinsicht als altbewährtes und effektives Werkzeug, persuasive Textelemente aufzuspüren. Sie erlaubt es, hinter textgestalterischen Mitteln, hinter Argumentationen und deren (eventuell nicht ausformulierten) Prämissen, hinter dem Gesamtaufbau eines Textes Verborgenes hervorzuholen und den Text so auf die mögliche Wirkungsabsicht des Autors hin untersuchen und einordnen zu können. Sowohl Konstruktion als auch Rekonstruktion und Analyse von Jutta Krautter 242 persuasiv wirkender Sprache (oder allgemein: Symbolen) gelten als die wichtigsten Aufgabenzweige der Rhetorik. Da die rhetorische Sicht von einer Eigenheit - einem Proprium - der Rhetorik ausgeht und sie sich demnach von anderen Wissenschaften, die sich mit Sprache beschäftigen, unterscheidet, soll an dieser Stelle ein kurzer und kursorischer Blick auf das hier zugrunde gelegte Verständnis der Rhetorik geworfen werden: Weder Hans-Georg Gadamer, der der Rhetorik eine unbeschränkte Ubiquität (vgl. Gadamer 1993, 237) zuschrieb und sie neben der Hermeneutik als eine anthropologische Fähigkeit ansah, noch die sehr pejorative Interpretation der Rhetorik als Täuschung, Manipulation oder als leere Rede sollen das Rhetorikverständnis dieses Beitrags darstellen, sondern diejenige Sicht, die die persuasive Intention des Redners oder Autors, der die Einstellungen, Meinungen etc. des Rezipienten beeinflussen will, in den Vordergrund stellt. Diese persuasive Intention ist es, die Sprache und die Texte erst „rhetorisch“ macht. „Wenn man die Rhetorik befragt, wo ihr ureigener Ansatzpunkt […] ist, dann kann die Antwort nur lauten: bei dem als Orator handelnden Menschen. Der Orator […] ist der archimedische Punkt der Rhetoriktheorie“ (Knape 2000, 33). In „der Praxis ist Rhetorik die Beherrschung erfolgsorientierter strategischer Kommunikationsverfahren“ (ebd.), wobei es - die ewige ethische Achillesferse der Rhetorik - keine Rolle spielt, ob dieser Wechsel zu einem vom Orator als ethisch vertretbar angesehenen Ziel hin stattfindet oder nicht. Auf die Instanz der Autorschaft ergibt sich so ein von der Diskursanalyse unleugbar verschiedener, ja scheinbar inkommensurabler Blick. Für die Rhetorik ist gerade der Autor der Dreh- und Angelpunkt des Textes. Er ist der Urheber eines sprachlichen oder anderweitig symbolhaften Gebildes, das in persuasiver Weise zu wirken vermag. Der Autor ist also aus einer Analysemethode, die der Rhetorik verschrieben ist, nicht wegzudenken. Im Gegenteil: Sie muss ihm einen Platz im Zentrum des Analysegeschehens einräumen. Für einen Diskursanalytiker aber trifft gerade den Autor die geringste Sorge. Er ist hier (meist) nicht viel mehr als das Sprachrohr des ihn umgebenden Diskursgewebes, der ihn umtreibenden Aussagen und Dispositive (vgl. Foucault 2003, 392). Was der Autor formuliert, was er sagt und an Einstellungs- und Meinungsänderungen beim Rezipienten hervorzurufen beabsichtigt, ist nach dieser Sicht nicht viel mehr als Zeichen der Zeit: Der Autor ist ein seiner Kultur unterworfenes Subjekt. Obwohl beide Methoden der Analyse sich also grundlegend zu widersprechen scheinen, kann hier dennoch der Versuch unternommen werden, beide Herangehensweisen auf fruchtbare Weise zu verbinden - und zwar mithilfe der Toposanalyse. Zur medialen Darstellung von Neuro-Enhancement 243 4 Methode der Toposanalyse Die Toposanalyse in Anlehnung an Martin Wengeler (2003) hat sich als zur Auflösung dieser autorbezogenen Problematik für das im folgenden Abschnitt beschriebene Textkorpus als am besten geeignetes Analyseinstrument herausgestellt. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, kritisch 4 diskursanalytische und rhetorische Sichtweisen auf Sprache und Gesprochenes, auf Diskurs und Autor in Einklang zu bringen. Die rhetorische Provenienz der Toposanalyse erlaubt, ja verlangt, persuasive Strukturen in sämtlichen sprachlichen und symbolischen Gebilden auszumachen. In dieser Untersuchung wird der Topos, obwohl oder gerade weil er eigentlich ein sehr unscharf gehaltener Begriff ist, als Sammelpunkt ungleicher sprachlicher Phänomene und Strategien gesehen, zu denen nicht nur Metaphern, Argumente und Argumentationsmuster, sondern auch einfache (persuasiv zunächst unauffällige) Ausdrücke, sogenannte thick ethical concepts, zählen. „Thick ethical concepts“ ist ein Ausdruck, der auf Bernard Williams (1985, 140) zurückgeht und im Grunde ein Wenden des ethischen Blicks hin auf die Alltagsmoral markiert, die sich in der alltäglichen Sprache verbirgt. Williams rückt im Gegensatz zu abstrakten philosophischen Begriffen wie „good, right, ought“ (ebd., 129) alltägliche Begriffe wie „treachery and promise and brutality and courage“ (ebd.) in den Fokus ethischer Überlegungen und macht damit deutlich, dass in den allermeisten Begriffen und Konzepten nicht nur Beschreibungen, sondern vor allem und immer auch Bewertungen mitschwingen. „[They] express a union of fact and value“ (ebd.). Es ist eben nicht so, dass Konzepte und Begriffe allein beschreibender Natur sein können. Sie enthalten stets beide, untrennbar miteinander verknüpfte Elemente: Beschreibung und Bewertung, die „inextricably intertwined“ sind (ebd., 216). Doch zurück zur Toposanalyse: Sie ermöglicht auf der einen Seite, sprachliche Gebilde als „Produkte“ oder als Werke eines handelnden Individuums zu verstehen, das eigene Interessen verfolgt, Intentionen hat und so tatsächlich zu Veränderungen und Gestaltungen der Gesellschaft absichtsvoll beitragen kann. Auf der anderen Seite erlaubt sie, sich des Diskursbegriffs nach Foucault und der darauf aufbauenden unterschiedlichen Methoden der Diskursanalyse als einer essentiellen Erweiterung und Hilfestellung zu bedienen, denn grundlegendes Element des Topos ist sein Habitualitätsaspekt (vgl. Bornscheuer 1976, 96-99). Die Überlegungen können also weiterhin auf dem umfangreichen Begriffs- und Gedankenkomplex beruhen, der mit Foucault Diskurs (vgl. Foucault 1981) und mit Bourdieu Habitus (vgl. Bourdieu 1970, 125-158) genannt werden kann: auf den sozialen Strukturen, in die wir hineingeboren werden, auf den Gedanken und Ideologien, die uns beeinflussen sowie auf den Konnotationen und Wortumge- 4 Kritisch, weil die „Beschäftigung mit gesellschaftlich brisanten Themen […] - so gesehen - bereits im Ansatz mit einer kritischen Absicht verbunden“ ist (Jäger 1993, 221). Jutta Krautter 244 bungen, die Begriffe dem Subjekt erst verständlich machen und dieses bewegen. Die Fundamente des hier verwendeten Toposbegriffs und die Begründung der Toposanalyse beruhen vor allem auch auf den antiken Gewährsmännern der Rhetorik: Aristoteles und Cicero; genauso aber sind Bornscheuer (1976), Wengeler (2003) und Olbrechts-Tyteca/ Perelman (2004) wichtige Autoren, und nicht zuletzt trugen auch argumentationstheoretische Abhandlungen Toulmins (1975), Kienpointners u. a. (1992) zu ihrer theoretischen Fundierung und Ausweitung bei. 5 Textkorpus Für eine Perspektive, die untersuchen und verstehen will, welche Welt- und Menschenbilder durch die Sprache in den Medien vermittelt werden und ob sie zu einer Ablehnung oder gar größeren Akzeptanz und Verbreitung von Neuro-Enhancement beitragen könnten, muss zunächst einmal ein (im Umfang ausreichend eingegrenzter) Untersuchungsgegenstand, ein Untersuchungskorpus, vorhanden sein. Die Bildung dieses Korpus’ und seine Begrenzung werden im Folgenden nachgezeichnet. Es handelt sich bei dem untersuchten Textkorpus um Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, die in überregionalen Publikumszeitschriften, Tages- und Wochenzeitungen aus Deutschland mit einer Auflage von über 100.000 im Zeitraum zwischen dem 01.01.2000 und dem 31.12.2010 veröffentlicht wurden. Anhand von Publikumszeitschriften ist es im Unterschied zu disziplinär gebundenen, wissenschaftlichen und hochdifferenzierten Abhandlungen in Fachzeitschriften eher möglich, Rückschlüsse auf allgemeine gesellschaftliche Bedingungen und Handlungsmotive zu ziehen, darauf also, wie und mit welchen Intentionen Aussagen über Neuro-Enhancement überhaupt entstehen konnten, da sie zuallererst an die sogenannte breite Öffentlichkeit gerichtet sind. In einem nächsten Schritt wurden die (Online-)Archive der jeweiligen Zeitschriften auf die für diese Thematik bedeutsamen Lemmata hin durchsucht, wozu neben „Neuro-Enhancement“, „Neuroenhancement“, „Neuro- Enhancer“, „cognitive enhancement“ und „kognitiv(es) Enhancement“ auch „Hirndoping“, „Hirnpille“, „Denkpille“ und ca. 60 weitere Suchbegriffe gehören. Im Anschluss daran galt es, die so aufgefundenen Texte zu kategorisieren, und zwar nach Relevanz für die Forschungsfrage. Es ging somit darum, diejenigen als zu analysierende Artikel auszuwählen, die sich explizit mit pharmazeutischem Neuro-Enhancement, das Auswirkungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit haben soll, beschäftigen. Diese Texte, es sind ca. 160 an der Zahl, stellen das Textkorpus dar, das Gegenstand der im Folgenden exemplarisch dargestellten Analyse sein wird. Zur medialen Darstellung von Neuro-Enhancement 245 6 Eine Analyse Der Weg der Analyse orientiert sich vor allem an den rhetorischen officia oratoris, also den systematischen Arbeitsschritten des Redners. 5 Diese officia oratoris sind zum Teil nicht ohne weiteres voneinander abzugrenzen, da weder System noch Begriffsinventar der Rhetorik als apodiktische und starre Kategorien, sondern als an verschiedenste Situationen und Umstände adaptierbar zu verstehen sind. Eine sich strikt an ein solches System haltende Vorgehensweise der Analyse erscheint weder möglich noch ratsam: Obwohl etwa die Arbeitsschritte des Redners, die Teile der Rede etc. als systematisch ausgearbeitete Regeln und Reihenfolgen gelten können, bleiben sie doch aus der menschlichen Praxis heraus entstandene Ordnungsversuche für Entstehensprozesse allgemein zielorientierter und der Persuasion verschriebener Gebilde. Dennoch haben sich die officia oratoris für den Redner oder den Autor als hilfreiche und bewährte Orientierungspunkte zum Verfassen von Reden und Texten etabliert. Indem sie so die Entstehungsgeschichte von Texten widerspiegeln, sind sie als ebenso hilfreiche Orientierungspunkte für rhetorische Analysen und somit für das Nachvollziehen möglicher Intentionen des Autors sowie für Entstehungsbedingungen des Textes im Allgemeinen anzusehen. Aus rhetorischer Perspektive muss man so etwa den Arbeitsschritt der memoria nicht in ihrer gewöhnlichen, am Ende des Produktionsprozesses stehenden Funktion innerhalb der officia oratoris begreifen. Sie kann hier allgemeiner und weiter gefasst werden als Gedächtnis, und zwar als individuelles sowie vor allem auch als kollektives Gedächtnis. Konkret hängt diese Interpretation dann mit der Untersuchung dessen zusammen, welche gesellschaftlichen Bedingungen und Entwicklungen vorherrschen mussten, um dieses Thema für den Autor relevant werden zu lassen, welche Situationen ihn zur Thematisierung von Neuro-Enhancement und auch zu deren Bewertungen, zu Pro- und Kontra-Argumenten, zu pejorativ oder affirmativ eingesetzten Topoi bewogen haben könnten (vgl. Foucault 1981, 62). Die so gefasste memoria zusammen mit der intellectio und der inventio sind Schritte, die sich im Geiste des Autors abspielen und als Prä-Operationen ( vgl. Chico- Rico 1998, 348) am Anfang jedes rhetorischen Schaffensprozesses stehen. Da Informationen zu diesen ersten Schritten für eine Analyse in den meisten Fällen nicht verfügbar sind, gehört zu den anfangs zu analysierenden Momenten des Textes vornehmlich die „kommunikative Situation“, in die der Text eingebettet ist. Darunter fällt sowohl der im Text thematisierte Anlass, die (journalistische) Textsorte, das Ressort, als auch die „institutionellen 5 Als „Teile der Rede“ beschreiben die partes orationis traditionell fünf bzw. sechs Schritte hin zu einer guten, gelungenen Rede: intellectio (Verstehen und Bestimmung der Fragestellung), inventio (Finden der relevanten Gedanken und Argumente), dispositio (Anordnung der Redeteile), elocutio (sprachliche Ausarbeitung), memoria (Einprägen der Rede) und pronuntiatio/ actio (Aussprache/ Körpersprache). Jutta Krautter 246 Plätze“ ( Foucault 1981, 76), d. h. die Zeitungen und Zeitschriften sowie deren Zielgruppen, an deren Erwartungshaltung sich die Autoren halten sollten (aptum: Angemessenheit als rhetorisch relevantes Prinzip), um mit ihren Texten mindestens Interesse zu wecken. Sollten Informationen über die Person des Autors und sogar dessen beruflichen oder persönlichen Hintergrund vorhanden sein, kann dies als besonders fruchtbarer Anhaltspunkt in die Toposanalyse miteinfließen, wie am Beispiel des bereits erwähnten Artikels Wow, was für ein Gefühl! im Magazin Der Spiegel gezeigt werden kann: Zwar ist der Text als Gemeinschaftsproduktion fünf Autoren zuzuschreiben, man kann aber davon ausgehen, dass insbesondere eine Person federführend an den Formulierungen und Hauptaussagen mitgewirkt hat: Jörg Blech. Er ist Wissenschaftsjournalist vor allem zu Gesundheitsthemen und Buchautor von Titeln wie Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden (2003) oder Die Psychofalle: Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht (2014). Den Anfang des Analyseprozesses bietet hier also eine Ahnung von dem persönlichen Hintergrund und der Einstellung des Autors: Neuro- Enhancement ist verwerflich und auf Propaganda der Pharmaindustrie zurückzuführen. Diese Ahnung sollte nun nicht die Analyse beeinflussen, aber sie vermag als Indikator dafür dienen, in welche Richtung die Argumente zielen könnten, der dann aber durch weitere Analyseschritte verifiziert oder eben auch falsifiziert werden muss. Der weitere Schritt der Analyse ist die Bestimmung und Untersuchung des Textaufbaus und der groben Textstruktur, kurz: der dispositio. Die dispositio bezieht sich sowohl auf die optische Gestaltung des Textes, d. h. die Anordnung von Bildern, Grafiken, die Einbettung von Werbung sowie seine Positionierung innerhalb des Mediums, als auch auf seine allgemein inhaltliche, d. h. quantitative, Gewichtung der einzelnen Absätze und Inhalte. Auch für diesen Punkt der Analyse liefert der Spiegel-Artikel gutes Anschauungsmaterial: Die einzige Werbung etwa konzentriert sich mit dem Slogan „Was nützt die schönste Vision, wenn sie nur bis zum Quartalsende hält? “ (Anzeige in: Der Spiegel 44/ 2009, 49) auf Nachhaltigkeit und Verantwortung. Die Anzeige ist wirkungsvoll implementiert zwischen den Ausführungen zu Maria Westermanns mittlerweile absehbarem Absturz in die Abhängigkeit und der beiläufigen Erwähnung eines Studenten der Betriebswirtschaftslehre, der „schon sechs Monate Doping und einen Nervenzusammenbruch hinter sich“ (Blech u. a. 2009, 49) hatte und sich deswegen in die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité begibt. Die Werbung lässt sich somit ohne Probleme mit der kritischen Argumentationsrichtung des Artikels - Neuro-Enhancement als „Teufelszeug“ - in Einklang bringen. Für die Aufschlüsselung der inhaltlichen dispositio werden die einzelnen Absätze mit Blick auf ihren Inhalt sequenziert und paraphrasiert. Diese Vorgehensweise ermöglicht einen leichter erfassbaren Überblick über den Auf- Zur medialen Darstellung von Neuro-Enhancement 247 bau des Textes. Auch hier bietet der Spiegel-Artikel interessante Einblicke: Bei seiner Sequenzierung fällt auf, dass der überwiegende Teil dem sogenannten storytelling gewidmet ist, d. h. es steht die nahezu dramaturgisch gestaltete, aber wohl auf Tatsachen beruhende Geschichte (narratio) „Maria Westermanns“ samt Situationsbeschreibung, narrativem Höhepunkt und Schluss im Vordergrund. Ihre Geschichte zieht sich über die gesamte Länge des Artikels, unterbrochen von ein paar „Faktendarstellungen“: „Die Pharmafirmen haben das Marktpotential längst erkannt und investieren weltweit Milliarden ins IQ-Doping“ (Blech u. a. 2009, 47), ethischen Fragestellungen: „,Menschen wollen sich verbessern, das ist ein legitimer Anspruch‘, sagt die Wissenschaftlerin, ,schließlich leben wir in einer Leistungsgesellschaft‘“ (ebd., 49) und Vergleichen mit den USA, denen, wie so oft, auch in Bezug auf Neuro-Enhancement eine Vorreiterrolle zugesprochen wird (ebd., 47). Mithilfe des Storytellings lassen sich nun eine Reihe persuasiver Funktionen einholen: Diese Methode vermag es dem Rezipienten schnell, leicht verständlich und äußerst glaubwürdig - da die Geschichte schließlich auf Fakten beruht - sowohl Thematik als auch Problematik nahezubringen. Sie spricht sein Mitgefühl, seine Emotionen an, indem der Leidensweg von Frau Westermann nachgezeichnet wird, und warnt schließlich, ohne dass der Autor selbst „moralinsauer“ Stellung beziehen müsste, vor den möglichen Konsequenzen des Neuro-Enhancements: die Suchtklinik. Dieser Oberflächenbetrachtung, die bereits einige persuasiv wirksame Strategien ans Licht brachte, folgt der Blick auf konkrete Formulierungen, auf die elocutio. Die elocutio ist ebenso für den Autor wie für die Analyse eines Textes der entscheidende Arbeitsschritt. Denn es „genügt nicht, das zu wissen, was man sagen soll, sondern [es ist] auch notwendig zu wissen, wie man dies sagen soll, und es macht viel aus hinsichtlich des Eindrucks, den die Rede bewirkt“ (Aristoteles 1403b13ff.). In der elocutio gilt es also, das, was man sagen will, zunächst auf richtige, verständliche und deutliche, dann aber auch auf angemessene und vor allem rhetorisch gelungene Weise in Worte zu fassen, die Gedanken mit den richtigen verba einzukleiden. Begriffe und Wortfügungen, Wort- und Sinnfiguren machen so die „Kleidung“ (vgl. Cicero I, 142) der Topoi, der argumentativ eingesetzten Formulierungen, aus. Sie lassen Gedanken Gestalt annehmen, Eindrücke und Stimmungen entstehen und verhelfen dem Schriftstück, zu einer „Rede“ zu werden, die glaubwürdig ist und so zu bewegen, zu überzeugen und zu überreden vermag. Die elocutio ist also derjenige Arbeitsschritt des Autors, der wesentlich für das Gelingen, d. h. die von ihm intendierte Wirkung, des Textes ist. Mit Foucault kann man demgemäß von der „Formation der Begriffe“ (Foucault 1981, 83), aber auch von der „Formation der Strategien“ (Foucault 1981, 94ff.) sprechen. Die Topoi, durch die der Autor seinem Text die spezifische Färbung und Argumentationsrichtung verliehen hat, müssen für die Analyse auf umgekehrtem Wege erst aufgespürt und dechiffriert werden. Die Aufspürbarkeit Jutta Krautter 248 hat dabei allerdings unterschiedliche Grade: Zum einen lassen sich offensichtliche sprachliche Mittel, Welt- und Menschenbilder, die klar und explizit in den Texten zum Ausdruck kommen, vergleichsweise einfach finden und im Hinblick auf ihre vom Autor intendierte Wirkung analysieren. Auf der anderen Seite aber - und sogar vorrangig - gibt es Wort- und Gedankenfiguren, die ihre Bedeutung nicht klar, offensichtlich und eindeutig zum Ausdruck bringen, sondern dem flüchtigen Blick des schnellen Lesens zunächst verborgen bleiben, die aber gerade aus dieser Verborgenheit, aus dieser Latenz heraus, ihre Wirksamkeit entfalten. Um solche Figuren und Bilder, Hintergrundkonzepte und -vorstellungen zu bergen, muss der erste, oberflächliche Blick, der Stimmungen, Gefühle und Emotionen beim Lesen des Textes bemerkt, die für den persuasiv herbeigeführten „Wechsel von einem mentalen Zustand in einen anderen“ (Knape 2003, 874) verantwortlich sein könnten, ergänzt werden von einem zweiten, genaueren, auch sprachliche Nuancen und Gesamtzusammenhänge erfassenden Blick, der das erkennt, was als „blinder Passagier“ (Gumbrecht 2009, 8) im Text enthalten ist. So hätte die im Spiegel-Artikel präsentierte Geschichte Maria Westermanns keinerlei persuasive Kraft ohne entsprechende elocutio, ohne Topoi und Begriffe, ohne thick ethical concepts, die Wertungen enthalten und dadurch emotionalisieren, ohne Formulierungen, die (latente) Welt- und Menschenbilder bergen. Wenn Neuro-Enhancement etwa als „Hirnschmiermittel“ (Blech u. a. 2009, 47) oder „Hirnverstärker“ (ebd.) bezeichnet wird, die die „Hirnleistung hochzujagen“ (ebd., 46) oder den „Kopf chemisch aufzurüsten“ (ebd., 47) vermögen, dann kann dies nicht ohne Wirkung bleiben. Formulierungen wie diese verweisen auf ein Bild des Menschen als Maschine, als aufrüstbares Werkzeug, das nur einen Zweck zu haben scheint: zu arbeiten, zu funktionieren, und zwar immer besser und schneller. Man könnte nun einwenden, dass der Verfasser dieses Textes nichts gegen ein solches Menschenbild habe - wenn nicht die Geschichte Westermanns den tragischen und mahnenden Rahmen böte. Ein weiteres, persuasiv wirksames Mittel ist der in der Mehrzahl der untersuchten Artikel, und so auch im Spiegel-Artikel, vorkommende Hinweis auf die zunehmende Verbreitung und auch Akzeptanz der Praxis des Neuro-Enhancements: es hätten „viele, jetzt schon“ (ebd.), rund „zwei Millionen Deutsche schon mindestens einmal, […] etwa 800.000 […] sogar regelmäßig“ (ebd.) zu den chemischen Kopfaufrüstern (vgl. ebd.) gegriffen. Nicht zuletzt die Häufigkeit dieses Hinweises wird dazu beitragen, dass der eingangs erwähnte Eindruck, medikamentöses Enhancement sei auf dem Vormarsch, entsteht. Wenngleich diese Information vergleichsweise neutral informativ wirkt, ist damit doch ein persuasiv hochwirksamer Topos zum Zuge gekommen: Der so häufige Hinweis - Stichwort: Agenda Setting - auf eine (scheinbar) immer größer werdende Menschenmenge, die von einem Phänomen betroffen ist oder berührt wird, ist zunächst einmal dafür geeignet, selbiges als Zur medialen Darstellung von Neuro-Enhancement 249 bedeutsam für die eigene Person erscheinen zu lassen - wenn nicht gegenwärtig, so doch möglicherweise in naher Zukunft. Dies kann mindestens zwei Effekte nach sich ziehen, nämlich als Phänomen, das die eigene Handlungsfreiheit einschränken könnte, wozu die in dem Artikel beschriebene Sucht, aber auch die Frage gehört: „Wie kann sichergestellt werden, dass die Präparate nur auf freiwilliger Basis eingenommen und nicht von fordernden Chefs vorgeschrieben werden? “ (ebd., 49), löst Neuro-Enhancement geringstenfalls Unbehagen aus. Die zweite mögliche Wirkung des in so vielen Artikeln - dabei nicht immer mit dem warnenden Unterton Blechs - betonten Hinweises auf zunehmende Verbreitung kann dazu führen, dass Neuro- Enhancement als immer normaler und damit als immer weniger verwerflich angesehen wird: Was so viele tun, kann nicht schlecht sein. Ob die Rezipienten Neuro-Enhancement als bedrohliches Szenario oder als immer normaler werdende, möglicherweise sogar erstrebenswerte Möglichkeit der Selbstverbesserung wahrnehmen, hängt von den im Text vorkommenden Darstellungen von Zusammenhängen, Wertungen, Formulierungen, kurz: den Topoi ab. 7 Ausblick und ethische Überlegungen Es sind also vor allem die rhetorisch-persuasiv eingesetzten sprachlichen oder anderen symbolischen Strukturen 6 der Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, die hier Gegenstand der Analyse sind. Ein weiteres Moment kommt aber hinzu: Sprache ist, wie bereits mit Ausführungen zu Williams’ thick ethical concepts gezeigt, vor allem aus rhetorischer Perspektive immer schon mit Gefühlen und Wertungen verbunden. Sie ist zudem Zeichen für die Intention eines Autors, den Leser seines Textes von seinen eigenen Vorstellungen von der Welt, seinen moralischen Überzeugungen, seinen Ab- oder Aufwertungen zu überzeugen und ihn zu einer Einstellungsänderung oder auch -festigung zu bewegen. So kommt es dazu, dass Artikel, die das Thema deskriptiv darstellen wollen, im Grunde äußerst begrenzt möglich sind. Und so kommt es auch zu den bejahenden oder kritischen Stimmen, die sich in den Artikeln erkennen lassen bzw. zu den aus ethischer Perspektive mehr als fragwürdigen über- und untertreibenden Aussagen, die dem Rezipienten ein falsches und somit manipulatives Bild vom Neuro-Enhancement liefern. Die sprachlichen Mittel können also, wenn offengelegt, Aufschluss darüber geben, welche Welt- und Menschenbilder, welche Ideologien und Weltanschauungen, welche thick ethical concepts hinter vermeintlich deskriptiven und „dünnen“ Begrifflichkeiten stehen und mit welchen Werten Argumente für oder gegen Neuro-Enhancement unterfüttert werden. Sie ermöglichen Rückschlüsse auf das, was „außerhalb“ der Texte liegt, welche 6 Es gehören wie erwähnt auch Bildmotive, Werbeimplementierungen etc. zur Analyse. Jutta Krautter 250 diskursiven Strukturen zu den Formulierungen und Argumenten geführt haben, und sie können dahingehend untersucht werden, welcher Art mögliche Handlungs-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen sein können, die vom Autor bezweckt wurden. Sie bieten so - zunächst aus deskriptiver Perspektive - einen Einblick in ethische Aspekte der Diskussionen und Debatten über Neuro-Enhancement in der Öffentlichkeit. Literatur Aristoteles (2002): Rhetorik. In: Aristoteles. 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Simon Ledder „Ich will kein Freak werden! “ Die Produktion von „Verbesserung“ und „Behinderung“ in digitalen Spielen Abstract “I ain’t turning into no freak! ” On the Construction of “Enhancement” and “Disability” in Digital Games: Human enhancement technologies promise to give the body new or improved abilities. Despite still being fictional, in digital games these technologies are used by player characters as well as by their opponents. This article argues that digital games are discursive elements which produce meaning through the conjunction of representation, rules and experience of playing. By analyzing two games, BioShock and Deus Ex: Human Revolution, it is shown how the categories of “disability” and “enhancement” are produced within these games. These results will be regarded in light of the broader discourses about these topics. Finally, arguing from a standpoint informed by Judith Butler’s thoughts on recognition, the discursive statements will be reflected upon. 1 Digitale Spiele als diskursive Elemente Dieser Artikel beschäftigt sich mit den Diskursen um Behinderung und Human Enhancement Technologies (HETs). 1 Foucault betrachtet Diskurse „als Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981, 74). Diskurse sind jedoch nicht nur einfach sprachliche Instanzen, sondern direkt mit Machtbeziehungen verbunden, „weil sie institutionalisiert und geregelt sind, weil sie an Handlungen gekoppelt sind“ (Jäger 2006, 85). Durch den Diskurs werden die „kollektiv geteilte[n] Wissensordnungen als überindividuelle Wirklichkeit“ (Bührmann u. a. 2007, 1) hergestellt. 1 Die Begriffe „Behinderung“, „Human Enhancement“, „Verbesserung“ und „Normalität“ sowie deren Ableitungen sind hier nicht als essentialistische Gegebenheiten zu verstehen, sondern als spezifisch diskursive Konstruktionen, wie ich im Folgenden darlegen werde. Ich verzichte auf die Hervorhebung durch Anführungszeichen. Simon Ledder 254 Die Technisierung der sogenannten westlichen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts betrifft auch die mediale Verortung von Diskursen. Die Benutzung von Fernsehern, Computern und Mobiltelefonen ist eine Selbstverständlichkeit geworden. Ein beständig zunehmend genutztes Medium ist das digitale Spiel. Eine repräsentative Studie von Thorsten Quandt u. a. (2013) zeigt, dass 25% der Bevölkerung in der BRD digitale Spiele nutzen. 2 Der seit Jahren steigende Trend in der Nutzung verlangt, digitale Spiele als diskursive Elemente ernst zu nehmen. In Anlehnung an Jürgen Link (2005, 86ff.) lassen sich digitale Spiele als „Interdiskurse“ bezeichnen, d. h. sie transformieren Wissen aus Spezialdiskursen - etwa der Wissenschaft - in eine Form, die dem Elementardiskurs - dem sogenannten Alltagswissen - zugänglich ist. Link verweist auf den Stellenwert von Symbolen, die die Transformation von Spezialin Elementardiskurs erst erlaubt. Die technische Basis digitaler Spiele ist der Quellcode. Dabei handelt es sich um eine Menge von Instruktionen in einer maschinenlesbaren Programmiersprache, die alle Aspekte des Spiels, wie etwa die Spielregeln oder die audiovisuelle Erscheinung, bestimmt. Damit operieren digitale Spiele ausschließlich auf symbolischer Ebene, da die Spieler_In 3 nur mit auf dem Bildschirm repräsentierten Objekten interagiert (vgl. Jahn-Sudmann/ Schröder 2010). Es ist Aufgabe der Spieler_In durch das eigene performative Handeln 4 innerhalb des algorithmischen Regelsystems die Objekte derart zu manipulieren, dass die Siegbedingungen erfüllt werden und damit das Spielziel erreicht wird (vgl. Frasca 2001, 30f.; Juul 2005). Damit lässt sich formulieren, dass die Spieler_In im Sinne Althussers (1976) durch das Spiel „angerufen“ wird (vgl. Ruggil/ McAllister 2011, 36ff.; Nohr 2014, 49ff.). Im Vergleich zu anderen Medien hat die Nutzer_In in einem Spiel mehr Freiheiten. Dennoch sind diese letztendlich limitiert. Alle Handlungsmöglichkeiten wurden zuvor als verfügbar in das Spiel programmiert. Es gibt keine Möglichkeiten, das Spiel zu spielen und zugleich den Algorithmus zu verlassen (vgl. Liebe 2008). Dadurch wird ein Rahmen 2 Ein Großteil findet sich in der Gruppe der 14-17jährigen, aber auch im Alter von 30-49 Jahren liegt die Beteiligung noch bei 29%. 3 Die Schreibweise „die Spieler_In“ wird im Folgenden als generische Bezeichnung für eine jede Person verwendet, die ein digitales Spiel spielt. Auch an anderen Stellen verwende ich für Gruppenbezeichnungen eine entsprechende Schreibweise (z. B. die Nutzer_In). Darin eingeschlossen werden Personen aller Geschlechter, auch jenseits einer binären Einordnung „männlich“/ „weiblich“ (zur kritischen Diskussion vgl. Hornscheidt 2012). Die Deklination der Begriffe folgt dem Schema des Femininums. 4 Die Notwendigkeit performativen Handelns im digitalen Spiel ist einer der wichtigsten Unterschiede zu anderen Medien. Während beim Lesen eines Buches die dargestellten Zeichen konstant bleiben, führen die Eingaben der Spieler_In kontinuierlich zu Veränderungen der Objekte bzw. den Beziehungen der Objekte zueinander. Diese Veränderung muss geschehen, damit das Spiel sich überhaupt entwickelt und schließlich gewonnen werden kann - anders als z. B. der Film, der von selbst zu Ende läuft, sobald er einmal gestartet wurde (vgl. Eskelinen 2001). „Ich will kein Freak werden! “ 255 geschaffen, da auf der Ebene der Programmierung bereits Vorentscheidungen getroffen wurden (vgl. Bogost 2007, 99-143). Und dennoch stammen alle ausgeführten Handlungen von der Spieler_In direkt, die erst in der performativen Handlung durch das Spiel als handelndes Subjekt anerkannt wird. Dadurch wird die Spieler_In dem Spiel unterworfen und ist dennoch zugleich handelndes Subjekt. Die im digitalen Spiel repräsentierten Inhalte werden von der jeweiligen Spieler_In nicht direkt als eigene Überzeugungen übernommen. Trotz dessen sind die Inhalte digitaler Spiele als Aussagen bestimmter Diskurse zu betrachten, die diese ebenfalls formieren und die im Laufe der Zeit zur Herausbildung und Verfestigung von Wissen führen. In einem digitalen Spiel tauchen daher die „Diskursfragmente“ auf, die einen „Diskursstrang“ konstituieren (vgl. Jäger 2004, 159f.). 5 2 Diskursive Konstruktionen von Human Enhancement und Behinderung im digitalen Spiel Anhand zweier Spiele wird im Folgenden die diskursive Konstruktion von Behinderung bzw. Human Enhancement aufgezeigt. Die Spiele BioShock (2K Australia/ 2K Boston 2007) und Deus Ex: Human Revolution (Eidos 2011) (DE: HR) sind je ungefähr vier bzw. drei Millionen mal verkauft worden, 6 wurden sowohl vom Spiele-Journalismus als auch von der gaming community hoch gelobt und thematisieren HETs. Folglich können diese beiden Spiele als diskursive Elemente gelten. Aus einer diskursanalytischen Perspektive werden weder Behinderung noch Enhancement als feststehende Kategorien betrachtet. Während der medizinische Diskurs Behinderung im Sinne einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung definiert, die individuell durch medizinisch-thera- peutische Maßnahmen behandelt werden soll (vgl. Waldschmidt 2005; Schillmeier 2007), analysieren poststrukturalistische Perspektiven 7 die kulturellen Voraussetzungen, die ein Konzept von Behinderung erst ermöglichen. Dabei wird sich von essentialistischen Annahmen über Behinderung und 5 Siegfried Jäger differenziert die Unterscheidung von Spezial-, Inter- und Elementardiskurs noch weiter. Als „Diskursfragmente“ werden alle Texte bzw. Textteile betrachtet, die sich zu einem bestimmten Thema äußern. Diese lassen sich in einem „Diskursstrang“ bündeln. Diskursstränge unterschiedlicher Themen wiederum können sich miteinander „verschränken“ (vgl. Jäger 2004, 159ff.). 6 Die Zahlen ergeben sich aus eigenen Berechnungen anhand der Angaben von VGChartz (2014a bzw. 2014b); dies entspricht der Summe aller verkauften Einheiten des jeweiligen Spiels für verschiedene Plattformen. 7 Unter poststrukturalistischer Perspektive wird hier ein theoretischer Zugang verstanden, der die Beziehungen zwischen Machtverhältnissen, diskursiven Strukturen und Subjektivitäten analysiert. Damit einher geht eine Kritik der neuzeitlichen Vorstellungen von Subjekt, Rationalität und Universalismus. Simon Ledder 256 Normalität verabschiedet und stattdessen gefragt, durch welche diskursiven Aussagen und Praktiken Behinderung hergestellt und reproduziert wird. Behinderung wird danach als das Produkt von persönlicher Interaktion, institutioneller und architektonischer Struktur sowie sozialer und medialer Repräsentationen von Individuen verstanden, deren Körper oder Geist von einer als durchschnittlich geltenden Konfiguration abweicht (vgl. Tremain 2001; Schillmeier 2007). In der bioethischen Debatte rund um HETs werden diese Technologien zumeist als Mittel betrachtet, die die Fähigkeiten oder Sinne von Menschen über das Normalmaß hinaus verbessern oder gar erweitern könnten, etwa durch Eingriffe auf genetischer Ebene oder durch die Verwendung von Neuropharmaka (vgl. Parens 1998; Buchanan u. a. 2000; Coenen u. a. 2010). Im Unterschied zu diesen Ansätzen wird im Folgenden herausgearbeitet, wie in digitalen Spielen ein Konzept von menschlicher Verbesserung - und damit auch Normalität - konstruiert wird. Für die Analyse digitaler Spiele unter der hier gegebenen Fragestellung ist es relevant, welche Körper repräsentiert werden, welche Personen eindeutig als behindert oder verbessert markiert werden, welche Fähigkeiten ihnen zugeschrieben werden und welche Formen der Interaktion diesen möglich sind. Die Repräsentationen müssen dabei auch daraufhin untersucht werden, inwiefern sie bereits bestehende Stereotype reproduzieren. Im Akt des Spielens erfahre ich die Wirkungsweisen der Körpermodifikationen, die mir zusammen mit der Repräsentation und den Regeln eine bestimmte Bewertung der Technologien nahelegen. Da die Spiele in ihrer gesamten Komplexität hier nicht dargestellt werden können, werden sie im Folgenden kurz skizziert. Bei beiden Spielen finden sich HETs, auch wenn diese nicht so benannt werden. Während DE: HR zwar explizit von den Möglichkeiten der „menschlichen Selbstverbesserung“ spricht, fällt dieser Begriff in BioShock nicht. Die in beiden Spielen vorkommenden Optimierungsmöglichkeiten wie Augmentierungen, Plasmide und Gene Tonics werden hier unter HETs subsumiert. BioShock ist ein dystopischer First-Person-Shooter 8 mit vornehmlich linearem Spielverlauf. Ich spiele aus der Ego-Perspektive der Spielfigur Jack, dem Überlebenden eines Flugzeugabsturzes, und muss mich mithilfe von 8 In der meisten Zeit - bei BioShock sogar ausschließlich - wird aus der Perspektive der ersten Person gespielt, d. h. das Blickfeld der Spielfigur stimmt mit der Anzeige des Monitors überein. Der Begriff Shooter kennzeichnet, dass es notwendige Bedingung zum Erreichen des Spielziels ist, mithilfe verschiedener Waffen zielgenau andere Charaktere anzuvisieren und im richtigen Moment die entsprechende Taste zu drücken. Da die Spieler_In in ein digitales Spiel stark involviert ist (vgl. Neitzel 2012), ist dies eine spezifische Erfahrung von Subjektivierung, die hier grammatisch durch die Nutzung der ersten Person Singular verdeutlicht werden soll. Die Rede von „meinem Körper“ verweist folglich auf den Körper der von mir gespielten Figur. Zugleich bin ich als spielendes Subjekt jedoch auch stets in der physischen Welt präsent, eine absolute Trennung dieser Interaktionsebenen ist nicht möglich. „Ich will kein Freak werden! “ 257 Waffen und speziellen HETs gegen humanoide Gegner zur Wehr setzen. Die Spielwelt ist die fiktive Unterwasser-Stadt Rapture kurz nach dem Ende eines Bürgerkriegs im Jahre 1960. Im Verlaufe des Spieles gewinne ich immer mehr ADAM 9 , was mich in die Lage versetzt, Plasmide und Gene Tonics einzusetzen. Diese modifizieren meinen Körper auf genetischer Ebene und erlauben mir, zusätzliche für den Kampf relevante Kräfte wie Flammenstrahlen oder Telekinese zu nutzen. Der Großteil der noch lebenden Bevölkerung Raptures, die mich jederzeit angreifen kann, nutzt diese Plasmide ebenfalls. Um das Spiel zu gewinnen, muss ich zunächst diese Gegner bekämpfen, wobei sich die HETs als hilfreich, teilweise als notwendig erweisen. Schließlich stehen mir zwei Endkämpfe bevor: zunächst gegen Andrew Ryan, dem Gründer der Stadt Rapture, dann ein weiterer Kampf gegen seinen Gegenspieler Atlas. Der Kampf gegen Ryan resultiert daraus, dass die HETs mich zu einem fremdgesteuerten Charakter machen, und ich Ryan töten muss. Erst nach der Überwindung der durch die HETs bedingten Kontrolle kann ich den Manipulator Atlas bekämpfen. Je nach meinem bisherigen Verhalten ergibt sich danach ein Leben in Freiheit oder in Grausamkeit für einige der verletzlichsten Bewohnerinnen Raptures. DE: HR mischt die Anforderungen eines First-Person-Shooters mit Heimlichkeits- und Rollenspiel-Elementen. 10 Für das Erreichen kleinerer Spielziele erhalte ich Erfahrungspunkte, Geld oder „Trophäen“ 11 . DE: HR spielt an verschiedenen Orten der dystopischen Erde im Jahr 2027. Die Forschung in biotechnischer Prothetik ist massiv fortgeschritten und die sogenannten Augmentierungen werden immer stärker nachgefragt. Innerhalb der Welt von DE: HR gibt es sehr unterschiedliche Bewertungen dieser Technologie: Die präsentierten Meinungen reichen von einer radikalen Befürwortung als nächsten logischen Schritt in der Entwicklung der Menschheit bis hin zu Sabotageakten gegen entsprechende Forschungseinrichtungen. Das Verfügen über die Augmentierung wird zu einem Problem der Herrschaftsverhältnisse im Jahr 2027, in der Politik maßgeblich durch konkurrierende Geheimorganisationen gestaltet wird: Die Augmentierungen erlauben die direkte Kontrolle über augmentierte Personen durch eine einzelne, mächtige 9 ADAM sind innerhalb der BioShock-Fiktion Stammzellen, die ursprünglich aus der DNA von Seeschnecken gewonnen wurden. Sie destabilisieren das menschliche Erbgut sowie die Zellstrukturen und stellen die Voraussetzung der Nutzung der sogenannten Plasmide dar. 10 DE: HR lässt sich zwar weitestgehend als reiner First-Person-Shooter spielen. Es ist aber genreuntypisch möglich, zahlreiche Situationen, in denen geschossen werden müsste, zu vermeiden, indem sich die Spielfigur möglichst heimlich bewegt. Zudem stellen die von der Spieler_In zu leistenden Überlegungen, welche Fertigkeiten der Spielfigur gesteigert werden sollen, sowie die verschiedenen Dialoge, die geführt werden müssen, um das Spiel voranzubringen, typische Charakteristika des Rollenspiel-Genres dar. 11 Trophäen sind kleine visuelle Elemente, mit der ich mein bei Bedarf öffentlich einsehbares Profil auf einer zu DE: HR zugehörigen Online-Plattform schmücken kann. Simon Ledder 258 Gruppe. Im Verlaufe des Spieles decke ich diese Zusammenhänge auf und mit meiner letzten Handlung kann ich entscheiden, wohin sich die Welt entwickeln soll. 2.1 Zur Konstruktion von Human Enhancement im Spiel In beiden Spielen erscheint der individuelle Körper als durch technologische Eingriffe manipulierbar. In BioShock reicht ein Gang zu einem Verkaufsautomaten, der mich für kurze Zeit ohnmächtig werden lässt, und im nächsten Moment ist mein Körper in der Lage, Plasmide zu verwenden. Die meisten Figuren, denen ich begegne, verwenden Plasmide ebenfalls völlig unproblematisch, so dass ihre Nutzung als selbstverständlich erscheint. In DE: HR wird zu Beginn des Spiels gezeigt, wie mein Körper einer unfreiwilligen Operation unterzogen wird - zu diesem Zeitpunkt aber die einzige Möglichkeit, mich am Leben zu erhalten. Technisch gesehen erscheint der Eingriff unproblematisch. Mein Körper wird drastisch modifiziert, wie etwa der Ersatz sämtlicher Extremitäten durch Prothesen, dem Einsatz etlicher Mikroprozessoren in meinen Schädel oder die technische Aufrüstung des gesamten vestibulären Systems. Von möglichen Anpassungproblemen an die Augmentierungen kann ich im Verlauf des Spiels durch Zwischensequenzen oder zu lesenden Berichten in Kenntnis gesetzt werden, aber während des Spielens erfahre ich kaum Probleme meines Körpers, sich an diese Eingriffe zu adaptieren. Damit werden in meiner subjektiven Spielerfahrung in cartesianischer Manier Körper und Geist vollständig voneinander getrennt. Der Körper gilt als beliebig manipulierbarer Gegenstand, über den ich frei verfügen kann. Eventuelle Auswirkungen auf mein Verhalten lassen sich nicht feststellen; ich bin nach wie vor frei in meinen Entscheidungen - sofern nicht gezielt von außen eingegriffen wird. Etwaige Rückwirkungen durch die biotechnischen Eingriffe sind für mich nicht körperlich erfahrbar, sondern werden nur durch das Verhalten der anderen Figuren dargestellt. Sofern ich als spielendes Subjekt bereits auf Hintergrundwissen mit anderen Shooter-Spielen zurückgreifen kann, braucht es relativ wenig Einarbeitungszeit, um mit den neuen, zusätzlichen Funktionen meines virtuellen Körpers umzugehen. Die Bedienung braucht nur wenige Tasten und in kurzer Zeit nutze ich Plasmide und Augmentierungen völlig selbstverständlich. Da beide Spiele zeitkritisch 12 sind, ist der sichere Umgang mit diesen Technologien eine notwendige Voraussetzung, um das Spiel zu gewinnen. 12 Während das Ausführen der richtigen Handlung eine Herausforderung für alle Spiele darstellt, ist in zeitkritischen Spielen nur ein kurzer Zeitraum verfügbar, in der die Handlung überhaupt erfolgreich ausführbar ist (vgl. Pias 2004, 4). „Ich will kein Freak werden! “ 259 Abb. 1: Durch einfaches Klicken im Interface wähle ich meine Augmentierungen in DE: HR aus. Abbildung: © Eidos. In beiden Spielen gilt es aus einer Vielzahl möglicher Technologien zu wählen, die teilweise aufeinander aufbauen. Meine Auswahl hängt dabei von meiner Spielweise und den jeweiligen taktischen Erfordernissen ab. Bei BioShock sind fast ausschließlich kampfrelevante HETs verfügbar. DE: HR bietet neben Augmentierungen, die eindeutig für den militärisch-geheimdienstlichen Bereich bestimmt sind, wie Waffen, Tarnfelder und Hacking- Erweiterungen, auch Augmentierungen, denen ein allgemeiner Nutzen zugesprochen werden kann, wie die Verstärkung der eigenen Hebe- und Tragelast (vgl. Abb. 1). Auf spielerischer Ebene erlauben mir Augmentierungen verschiedene Möglichkeiten, um zu einem Zielort zu gelangen. Nicht alle sind auf eine direkte Konfrontation mit Gegnern ausgelegt; dank meiner Augmentierungen kann ich manche Konfliktsituationen auch vermeiden. Die Spiele gestatten mir Handlungen, die über die Möglichkeiten von als normal definierten Körpern hinausgehen; mein Körper im Spiel wirkt weniger limitiert. Nun finden sich in First-Person-Shootern häufig Körper, die in ihrer übersteigerten Maskulinität eher Phantasmen denn biologisch möglichen Körperformen entsprechen (vgl. Williams u. a. 2009). In BioShock und DE: HR werden diese Körperformen - und die damit einhergehende Überlegenheit innerhalb der Spielwelt - bewusst auf eine technologische Verbesserung des menschlichen Körpers zurückgeführt. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine ist die Differenz, die mir gegenüber denjenigen Vorteile verschafft, die keine technologischen Eingriffe an sich vorgenommen haben. Als Diskursfragmente stellen die Spiele damit ein spezifisches Konzept von Verbesserung her. Simon Ledder 260 2.2 Spielinterne Bewertung von Human Enhancement Technologies In beiden Spielen wird die Existenz verschiedener Biotechnologien nicht schlicht hingenommen, sondern durch ihre Darstellungsweise und spielerische Erfahrung auch bewertet. In BioShock wird der unregulierte Gebrauch von Plasmiden als entscheidender Faktor dafür angesehen, dass sich die Stadt Rapture in einem Bürgerkrieg zugrunde gerichtet hat. Rapture besteht nur noch aus Ruinen und den wenigen Überlebenden, die in einem Bürgerkrieg all diejenigen töteten, die keine Plasmide verwendeten. Die Überlebenden entwickelten jedoch eine Abhängigkeit von ADAM, woran die Gemeinschaft zerbrach. Vor dem Bürgerkrieg wurden Plasmide und Gene Tonics explizit als kommerzielle Enhancementpräparate gepriesen, wie ich z. B. den noch existierenden Werbetafeln mit der Aufschrift „Evolve Today! “ entnehmen kann. Und selbst nach dem Bürgerkrieg erklärt mir Atlas: „Imagine if you could be smarter, stronger, healthier. What if you could even have amazing powers, light fires with your mind […]. That’s what Plasmids do for a man.“ In DE: HR werden mir sowohl affirmative als auch ablehnende Stimmen zur Augmentierungstechnologie nahe gebracht. Die Abhängigkeit von dem fiktiven Medikament Neuropyzin ist für viele augmentierte Personen ein großes Problem. In der Spielwelt von DE: HR kann ich durch Dialoge mit anderen Spielfiguren, journalistische Berichterstattung, Mails und Bücher viel über die pro- und contra-Argumente zum Thema Augmentierungstechnologie erfahren. Dabei sind viele Argumente aus dem faktischen bioethischen Spezialdiskurs übernommen. Die einen beschwören dabei Augmentierungen als „selbstbestimmte Evolution.“ Die sogenannten Illuminaten, in der Welt von DE: HR eine Geheimorganisation, die beständig versucht, unbemerkt die Geschicke der Welt zu lenken, erkennen hierin das Potential, direkte Kontrolle über Menschen auszuüben und bewerben Augmentierungen ebenso als Fortschritt. Andere verweisen auf die Hybris, wenn der Mensch „Gott spielt“, da der Mensch nicht die Konsequenzen absehen könne. Wieder andere verweisen auf Ungerechtigkeiten, da diejenigen mit Augmentierungen weitaus besser gestellt seien als andere. Die Einführung dieser Augmentierungen hat 2027 auf gesellschaftlicher Ebene bereits Ungleichheiten erzeugt: So werden sie explizit zur Bewerbungsvoraussetzung für Angestellte in einer arktischen Forschungsstation. Der nicht-augmentierte Teil der Bevölkerung wird von diesem Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Schließlich gibt es mit Darrow eine Figur, die laut eigener Aussage die Augmentierungstechnologie wegen der ihr inhärenten Kontrollmechanik ablehnt - zugleich erfüllt er jedoch den Stereotyp des behinderten und verrückten Wissenschaftlers, der aus Verbitterung einen Großteil der Menschheit auslöschen will. Während damit auf einer individuellen Ebene die Möglichkeiten der Leistungssteigerung positiv herausgestellt und erfahrbar gemacht werden, „Ich will kein Freak werden! “ 261 wird zugleich in beiden Spielen die Gefahr durch eine externe Manipulation dargestellt. Deutlich wird dies in beiden Spielen in jeweils einer Situation, in der ich aufgrund der HETs die Kontrolle über meinen Körper verliere. Im Laufe von BioShock lerne ich als Charakter, dass die Forschung in Rapture weit fortgeschritten war. Ein Aspekt der HET-Forschung war die genetische und psychische Modifikation des Gehirns. Aufgrund einer erfolgreichen, durch HETs ermöglichte Konditionierung in meiner Kindheit, von der ich aber zu Beginn des Spiels nicht weiß, gehorche ich automatisch Aufforderungen, die mit „Would you kindly…“ beginnen. Dies führt dazu, dass ich als spielendes Subjekt in einem Wendepunkt des narrativen Spielverlaufs überraschend handlungsunfähig werde. Nachdem ich zuvor sehr viele Freiheiten zu handeln hatte, hat alles weitere Tastendrücken keine Konsequenzen; mein Avatar handelt, ohne dass ich darauf Einfluss nehmen könnte. Ich bin absolut machtlos, was einen Bruch mit den Genre- Konventionen des First-Person-Shooters darstellt. Durch die ausschließliche Ego-Perspektive verstärkt sich diese einschneidende Erfahrung von Ohnmacht. Bei DE: HR erfahre ich ein ähnliches Moment. Sofern ich den Anweisungen innerhalb der Spielwelt gefolgt bin, werden direkt vor einem Kampf gegen einen Endgegner plötzlich meine Verbesserungen „ausgeschaltet“: Keinerlei Augmentierungen funktionieren, die Welt wird in Fehlfarben dargestellt, ich erhalte keine validen Anzeigen zum eigenen Gesundheitszustand oder zu meinem Munitionsvorrat. Ich als spielendes Subjekt erfahre, was es heißt, in einem „dysfunktionalen, verbesserten Körper“ zu spielen. 2.3 Zur Konstruktion von Behinderung im Spiel In BioShock verdankt sich die Existenz von Plasmiden einer zufälligen Beobachtung, die eine Wissenschaftlerin in Rapture über einen Hafenarbeiter anstellte und in ihrem Audio-Tagebuch festhielt: „[…] his hands were crippled during the war. He was unloading the barge the other day when he was bitten from this sea slug. He woke up the next morning and he found he could move his fingers for the first time in years.“ Hier wird die Erforschung von Plasmiden zunächst mit der Idee assoziiert, dass Behinderung ein zu überwindendes Problem sei. Auch in DE: HR findet sich diese Verbindung. In einzelnen Dialogen heißt es, dass die Augmentierungstechnologie vor allem konstruiert wurde, um „Veteranen“ und „Behinderten“ zu helfen. In der Nebenmission „Aquiantances Forgotten“ begegne ich dem angeschossenen Privatdetektiv Radford. Radford bittet mich, ihm eine Überdosis Morphium zu verabreichen, um ihn zu töten. Grund dafür ist, dass er nach seiner Verletzung nur die Möglichkeit sieht, in einem behinderten Körper zu leben, oder sich augmentieren zu lassen, was er beides nicht will. Behinderung wird als Leid darge- Simon Ledder 262 stellt, der Tod erscheint als einziger Ausweg. Ich kann in einem Dialog versuchen, auf die Vorteile von Augmentierungen zu verweisen, um Radfords Lebenswillen zu erhalten (vgl. Abb. 2): „Aber die Technik hat sich weiterentwickelt. Sie kann Ihnen helfen. Sie könnten ein normales Leben führen.“ 13 Abb. 2: Radford (rechts): „Ich will kein Freak werden! Selbst wenn ich mir die OP leisten könnte… die Augmente… ich will keine Maschine werden. Und ich werde… sicher nicht den Rest meines Lebens im… Rollstuhl verbringen.“ Abbildung: © Eidos. Hier wird Behinderung einem Konzept von Normalität gegenüber gestellt. Die Normalität umfasst dabei die technologische Veränderung des Körpers. Eine Veränderung des Körpers mittels Technologie steht nicht im Verdacht, anormal oder unnatürlich zu sein, sondern wird sogar zur Voraussetzung eines „normale[n] Leben[s]“. Im Gegensatz zum Leben mit einem Körper, der als behindert gilt. BioShock verwendet noch weitere Repräsentationen von behinderten Figuren, wie sie aus filmischen Darstellungen bekannt sind. So werden etliche 13 Alternativ kann ich Radford auch die Überdosis Morphium spritzen. Dafür gibt es die Trophäe „Kevorkian-Komplex“. Das Töten Radfords erlaubt es weiterhin, die Trophäe „Pazifist“ zu erhalten, die offiziell zur Voraussetzung hat, dass außer bei Endkämpfen keine Person während des Spiels stirbt. Spielintern lässt sich dieser Dialog eventuell als Endkampf einordnen; andererseits ist diese Nebenmission nicht zwingend notwendig. Insofern legt das Spiel nahe, dass das Töten auf Verlangen für behinderte Personen eine zulässige Entscheidung ist, die keinen Widerspruch zu einer pazifistischen Einstellung darstellt - im Gegensatz zum Töten anderer, nicht als behindert markierter Gegner. Diese Perspektive ist zumindest fragwürdig. „Ich will kein Freak werden! “ 263 Gegner mit entstelltem Gesicht und deformierten Körpern 14 dargestellt. Zu ihrem abweichenden Aussehen kommt ihr abweichendes Verhalten: So greifen sie jede Person an, die sie nicht als ihresgleichen erkennen. Abb. 3: Darrow (Mitte): „Doch die menschliche Natur ist das Einzige, was uns einen moralischen Kompass und die sozialen Fähigkeiten verleiht, um in Frieden zu leben! “ Abbildung: © Eidos. DE: HR gebraucht diese stereotype Darstellung ebenfalls, verknüpft diese jedoch zusätzlich mit der Biographie eines der wichtigsten Charaktere des Spiels. Die Markierung eines Charakters als behindert dient häufig als „narrative prosthesis“ (Mitchell/ Snyder 2001): Diese Personen führen nicht ein Leben, das zufällig durch die Erfahrung von Behinderung verkompliziert wird, sondern die Behinderung ist der Ausgangspunkt für alle Handlungen. Auch in DE: HR findet sich dieses Narrativ. Der Wissenschaftler Darrow hat jahrelang an den Augmentierungstechnologien geforscht, um eine Lösung für seine nicht näher definierten körperlichen Probleme zu finden. Mit dem Bein, das er nach sich zieht, und seiner Gehhilfe wird er eindeutig als behindert markiert (vgl. Abb. 3). Im finalen Dialog offenbart er, dass seine Gene inkompatibel mit den Augmentierungen seien. Hierdurch sei in ihm eine Abneigung gegen all jene erwachsen, die mittels Technologie ihre eigenen Grenzen überwinden könnten. Das reicht Darrow als Grund, um hunderttausende Menschen als Warnung vor den Augmentierungen umzubringen. 14 Die Bezeichnungen Entstellung bzw. Deformierung beziehen sich nicht auf eine ontologische Gegebenheit, sondern auf ein kulturelles Konstrukt, welches u. a. entlang von zeitabhängigen Schönheitsidealen geformt wurde. Simon Ledder 264 Ebendiese Zusammenfügung von hässlichem Geist und hässlichem Körper findet sich in beiden Spielen wieder. Das „entstellte Äußere“ dient als Zeichen für die „moralische Entstelltheit“ im Inneren einer Person. Dieses Ineinssetzen von körperlicher und moralischer Entstellung reproduziert ein langanhaltendes Stereotyp des behinderten Bösewichts. Die Behinderung markiert dabei das Unheimliche und Einsame und dient zugleich als Begründung, warum sich eine Person moralisch verwerflich verhält (vgl. Mitchell/ Snyder 2001, 99ff.; Quayson 2007, 42ff.). 3 Einordnung in den Diskurs In beiden Spielen wird Personen, die Enhancement-Technologien nutzen, ambivalent begegnet. Auf subjektiver Ebene erfahre ich diverse Vorteile eines verbesserten Selbst innerhalb des zeitkritischen und kampffokussierten Spiels. Während in DE: HR die Implantation von Augmentierungen in meinem Körper die Konsequenz eines vermeintlichen Terroranschlags war, der mich fast das Leben gekostet hätte, ist die Auswahl, welche HETs ich verwenden will, meine eigene Entscheidung. Die Spielwelt mit ihrer komplexen Narration beschreibt jedoch auch, welche Konsequenzen HETs haben können, sofern diese nicht reguliert werden: In der Wettbewerbsgesellschaft von DE: HR, die Augmentierungen zulässt, resultiert daraus eine Notwendigkeit der Inanspruchnahme dieser Technologien, um auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren zu können. Die allerorts zu findenden Werbetexte - z. B. „Advanced Skills at Affordable Prices“ - rufen das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2007) an, sich aus eigenem Willen für eine Verbesserung zu entscheiden. Durch die Erfahrung von Ohnmacht wird zudem auf die Gefahr einer direkten Manipulation des Individuums durch eine äußere Kraft hingewiesen. Damit schwankt die Darstellung zwischen einer sozusagen freiwilligen Entscheidung im Sinne einer Verbesserung des Selbst und einer auf gesellschaftlichen Zwängen gründenden Notwendigkeit sich zu optimieren. Während die Auswahl meiner HETs bei BioShock zu unterschiedlichen Handlungen innerhalb von Kampfsituationen führt, erlaubt mir DE: HR teilweise, diese Situationen durch den geschickten Einsatz meiner Augmentierungen zu vermeiden. Dadurch stehen mir verschiedene Lösungsansätze zur Verfügung. In meiner „Anrufung“ als spielendes Subjekt bleibt nur noch die Frage, welche HETs ich einsetze. Ob ich sie überhaupt einsetze, steht im Spielvollzug nicht mehr zur Disposition. Diese Spiele verwenden damit Fragmente, die den Diskurs um HETs stützen, indem bestimmte Eigenschaften als besonders erstrebenswert bzw. notwendig dargestellt werden, während andere keine Berücksichtigung finden (vgl. Wolbring 2012). Im selben Zug wird in beiden Spielen Technologie als etwas dargestellt, das hilft, Behinderung zu „überwinden“. Behinderung gilt als eine negativ zu bewertende, individuelle Eigenschaft, wie an den Spielfiguren sowohl in „Ich will kein Freak werden! “ 265 BioShock als auch in DE: HR gezeigt wurde. Der als behindert markierten Person wird ein schwieriges Leben attestiert, deren „Leiden“ vor allem aus der eigenen Körperlichkeit resultiere. Dadurch wird das Konzept von Behinderung auf eine individualistische Perspektive zurückbezogen, die strukturelle Verhältnisse ignoriert. Dem entgegen betonen Vertreter_Innen der Behindertenbewegung und der Disability Studies seit geraumer Zeit, dass das Leiden ein Resultat der soziopolitischen Verhältnisse ist, in der nicht die individuellen Bedürfnisse aller Personen gleichermaßen berücksichtigt werden. 15 Ein Effekt ist die Exklusion aus der Gesellschaft, etwa durch die Aussonderung in spezifische Formen von Unterbringung, Beschulung und Arbeitsstätten. Eine selbstbestimmte Wahl des Lebens ist aufgrund der politischen Verhältnisse nicht möglich und daher ein Privileg, das nur denjenigen zuteil wird, deren Körper der Norm entspricht (vgl. Campbell 2009, 3-45). In beiden Spielen wird zugleich eine Aussage formuliert, die aus der bioethischen Diskussion bekannt ist (vgl. Franssen 2012; Wolbring 2012): HETs können behinderten Menschen helfen. Dass HETs die Individuen von ihrem Leiden erlösen können, wird in den Spielen als Selbstverständlichkeit dargestellt. Über Personen, deren Körper von der durchschnittlichen Funktionalität abweichen, verfestigt sich damit ein Stereotyp: Behinderung gilt als Leid und individuelles Problem. Wer als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt werden will, sollte sich den technischen Eingriffen unterziehen. Der Fokus auf eine Modifikation des Körpers als eine individuelle Lösungsstrategie, wie dies sowohl in den Spielen wie im bioethischen Spezialdiskurs formuliert wird, verschärft damit die Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Strukturen, die Behinderung erst erzeugen. Diese Aussagen sind aus ethischer Perspektive problematisch, wie im Folgenden anhand von Judith Butlers Theorie der Anerkennung verdeutlicht werden soll. Butler (2007) untersucht in ihrer Re-Lektüre von Emanuel Lévinas die Bedingungen, unter denen der Andere überhaupt als ein Schützenswerter erscheint. Zunächst fokussiert sie dafür auf den Prozess der Anerkennung: Anerkennung entsteht aus der Situation der Anrede, der das Subjekt immer wieder ausgesetzt ist. Der Prozess der Anerkennung ist für Butler ein ambivalenter Vorgang. Zum einen wird das Subjekt erst durch die Anerkennung durch den Anderen in den Stand des Subjekts gehoben. Dem Subjekt wird in diesem Prozess eine Handlungsfähigkeit zugeschrieben; es 15 Die Behindertenbewegung verweist seit Jahrzehnten darauf, dass die Gleichsetzung von Behinderung und Leiden vor allem eine Projektion nicht-behinderter Personen ist. Dass mit bestimmten körperlichen Abweichungen auch Schmerzen verbunden sein können, soll hier nicht bestritten werden; die Ignoranz gegenüber der politischen Dimension von Behinderung ist aber nach wie vor problematisch (vgl. Köbsell 2003). Zu einer phänomenologischen Kritik am Begriff des Leidens siehe Dederich (2007, 156- 165). Simon Ledder 266 wird dadurch Teil der Gemeinschaft. 16 Zum anderen findet diese Anerkennung aber in einem Rahmen gesellschaftlicher Verhältnisse - dies schließt Sprache und Normen ein - statt, auf die das Subjekt keinen Einfluss hat, da diese zeitlich bereits vor dem Prozess der Anerkennung liegen. Das Subjekt, das sich zu sich selbst in Verhältnis setzen will, kann dies nur im Rahmen einer Sprache tun, die bereits vor ihm existierte. Die Ausbildung einer Subjektivität ist daher nur möglich in Bezug auf die gegebenen Diskurse (vgl. Butler 2007, 58-112). In den Diskursen wird der Rahmen geschaffen, in dem ausschließlich bestimmte Formen des Lebens und des Subjekts als möglich und sinnvoll gelten. Nur innerhalb dieses normativen Horizonts ist es für das Subjekt möglich, eine Anerkennbarkeit zu erlangen. Die ethische Aufgabe ist es nun, die Anerkennung in den „Dienst der Lebenserhaltung und Lebensförderung“ (Butler 2007, 69) zu stellen. Butler geht davon aus, dass alle Menschen einer „Gefährdetheit“ (precarioussness; Butler 2010, 10) unterliegen, da alle seit der Geburt verletzlich und von anderen Menschen abhängig sind. Aber nur bestimmte Personen leben tatsächlich in einem Zustand der „Prekarität“ (precarity; ebd., 32). Dieser Zustand ist das Resultat soziopolitischer Verhältnisse. Dabei betont Butler die Rolle der Medien, die erst einen Rahmen herstellen, innerhalb dessen bestimmte Formen des Lebens anerkannt, andere versagt werden. In den beiden untersuchten Spielen wird ein Rahmen geschaffen, in dem Behinderung als die körperliche Eigenschaft eines Individuums gilt, die zudem als Problem repräsentiert wird und für die technische Eingriffe als Lösung angeboten werden. Innerhalb eines solchen Diskurses kann das Subjekt, dessen Körper die diskursiv hergestellte Norm nicht erreicht, den eigenen Körper nur als defizitär wahrnehmen. Die Spiele formulieren entsprechend, dass ein technischer Eingriff in den eigenen Körper vonnöten sei, um künftig als normal gelten zu können. Dies ist keine Anerkennung im „Dienst der Lebenserhaltung und Lebensförderung“ (Butler 2007, 69), da sie die Alterität des Anderen nicht ernst nimmt, sondern ihn zu einer Veränderung seines Körpers zwingt. Damit wird der Zustand der Prekarität, in dem sich als behindert geltende Individuen befinden, perpetuiert. 4 Fazit In Diskursen werden Kategorien wie Behinderung, Normalität und menschlicher Verbesserung hergestellt. Im 21. Jahrhundert werden Diskurse zum 16 Unter der Betrachtung der Geschichte ist dies keine Selbstverständlichkeit. Viele Minderheiten mussten sich ihren Status als Subjekt erst erkämpfen: „In gewissem Sinne weigert sich das epistemologische Modell, das uns ein vorgegebenes Subjekt oder einen Handlungsträger anbietet, anzuerkennen, daß diese Handlungsfähigkeit immer und ausschließlich ein politisches Vorrecht ist“ (Butler 1993, 45). „Ich will kein Freak werden! “ 267 Großteil in den Medien formiert. Aufgrund ihrer Verbreitung lässt sich festhalten, dass in digitalen Spielen interdiskursive Aussagen getätigt werden. In ihrer medialen Spezifik rufen Spiele die Spieler_In als spielendes Subjekt an, dem durch das Zusammenspiel von Repräsentation, Spielregeln und spielerischer Erfahrung eine Bewertung einzelner Phänomene nahegelegt wird. In den untersuchten Spielen BioShock und Deus Ex: Human Revolution werden die Kategorien von behinderten und verbesserten Körpern konstruiert. Dabei finden sich Rückbezüge zu dem bioethischen Spezialdiskurs zu HETs sowie dem Elementardiskurs um Behinderung. Während HETs auf individueller Ebene als Fortschritt für das optimierte Selbst erfahrbar gemacht werden, zeigen beide Spiele die negativen gesellschaftlichen Folgen einer nicht-regulierten Anwendung auf. Ein zentraler Punkt ihrer Kritik ist dabei die angenommene Möglichkeit, durch HETs der direkten Kontrolle durch andere ausgesetzt zu sein. Zugleich wird Behinderung als individuelles und zu vermeidendes Schicksal repräsentiert. Der als behindert markierte Körper erscheint als nicht lebenswert oder wird mit dem Konzept des „Bösewichts“ konnotiert. Die Spiele konstruieren technische und auf das als behindert geltende Individuum abzielende Maßnahmen als eine Lösung für einen Zustand körperlichen Abweichung, der als Problem dargestellt wird. Durch die Hervorhebung des Anderen wird zugleich die Nicht-Behinderung als wünschenswerte Normalität hergestellt (vgl. Garland-Thomson 1997). Unter Berücksichtigung von Butlers Theorie der Anerkennung werden diese diskursiven Aussagen als problematisch bewertet. Die Spiele konstruieren eine Normalität der Nicht-Behinderung und formulieren zugleich eine Abwertung jener Personen, die die Normalität nicht erreichen. Die Forderung, Personen in ihrer Alterität anzuerkennen, wird somit verfehlt. Dem entgegenzusetzen wäre ein Diskurs, der von der Normalität abweichende Körper berücksichtigt, ohne ihnen ein misslingendes Leben zu unterstellen. Literatur 2K Australia/ 2K Boston (2007): Bioshock. AUS/ USA: 2K Games. Windows. Althusser, Louis (1976): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bogost, Ian (2007): Persuasive Games. The Expressive Power Of Videogames. Cambridge (MA): MIT Press. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Buchanan, Allen/ Brock, Dan W./ Daniels, Norman u. a. (2000): From Chance to Choice. 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Literatur als Reflexionsmedium bioethischer Fragen am Beispiel des Organ-Klons Abstract Clones Without Souls? Literature as Means to Reflect Bioethical Issues Regarding Organ Donor Clones: This article investigates how aesthetic configurations such as narrative strategies or literary motifs influcence the moral judgment of the reader regarding bioethical issues. The presented understanding of the relationship between literature and morality will argue that an aesthetic experience of literary works has to take aestethic as well as moral values into account. Therefore an analysis of Kazuo Ishiguros clone novel Never Let Me Go (2005) will focus on questions about the moral status and selfunderstanding of the clones as well as their instrumentalization as organ donors. By considering the narrative strategies and specific use of the Doppelgänger motif it will be shown that this given aesthical configuration can shape the moral judgement of the reader in a certain way. 1 Einleitung „Der Klon ist kein Mensch, das ist das Schreckliche. Er ist ein Monster, ein Homunculus, ein Zombie, ein Golem oder was sonst menschenähnlich Monströses in den literarischen Phantasien seit alten Zeiten und insbesondere seit Mary Wollstonecraft Shelley’s »Dr. Frankenstein« […] zu Aldous Huxleys »Brave New World« […] an Menschenkonstruktionen imaginiert worden ist.“ (Reich 2004, 129) Für den Molekulargenetiker Jens Reich gehört der menschliche Klon „trotz großer empirischer Menschenähnlichkeit“ (ebd.) nicht zur Spezies Mensch. In einem Aufsatz über das sogenannte Totipotenz-Attribut 1 plädiert Reich 1 Totipotenz beschreibt allgemein die Eigenschaft einer Zelle, das Potential zu besitzen, sich zu einem lebensfähigen Organismus auszubilden. In dieser Bedeutung findet sich das Totipotenz-Attribut auch im deutschen Embryonenschutzgesetz (§8 Abs. 1 EschG) sowie der bioethischen Diskussion um die moralische Zulässigkeit von Klonierungs- Marcus Rockoff 272 dafür, würde der Klon aus irgendwelchen Gründen eines Tages zur Existenz gelangen, dann dürfe ihm nicht vorgegaukelt werden, ein Mensch zu sein - „allenfalls, um ihm mitleidvoll tröstend, sein falsches Mensch-Sein irgendwie verdrängen oder vergessen zu helfen“ (ebd.). Reichs Einschätzung beruht darauf, dass Totipotenz im Rahmen der fortschreitenden biotechnologischen und molekulargenetischen Forschung zu einem manipulierbaren Attribut geworden ist, da dieses „im Bereich der experimentellen Zellbiologie beim Menschen sowohl künstlich herstellbar, als auch seine Bildung künstlich blockierbar [ist]“ (ebd., 125). Es sei zwar ein häufig herangezogenes aber an sich ungeeignetes Entscheidungskriterium über die Schutzwürdigkeit potentiell menschenlichen Lebens. Reich flankiert dieses Urteil mit seiner Überzeugung, dass einzig in der Vereinigung von Keimzellen, sowohl in vivo als auch in vitro, wirklich schutzwürdiges menschliches Leben entsteht. Klonierungsverfahren hingegen stellen bloße Manipulationen der verschiedenen Bestandteile von Keim- und Körperzellen dar, an deren Ausgang kein vollwertiger Mensch gezeugt wird. Die Überzeugung Reichs, der Klon sei kein Mensch, findet sich auch in verschiedenen Werken der Gegenwartsliteratur wieder, die hier als Klon- Fiktionen bezeichnet werden sollen. Auch in diesen Werken wird auf verschiedene Weisen über die Zugehörigkeit des geklonten, menschlichen Lebens zur Spezies Mensch reflektiert. Kazuo Ishiguros Roman Alles, was wir geben mussten (2006) beispielsweise verhandelt diese Fragen anhand der Lebensgeschichten von Organspendeklonen. In einem interessanten Spiel aus Erzählverfahren und Motivgeschichte wird für den Leser eine beunruhigende und herausfordernde Leseerfahrung bereitgehalten. Im vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, wie die offenbar strittige Frage der Menschlichkeit der Klone durch literarische Darstellungsmittel ästhetisch eruiert wird. Dabei soll ausgehend von einer kurzen Skizze des hier zugrundegelegten Verständnis von Literatur als Reflexionsmedium moralischer Fragen (2) und einer kurzen Erörtung moralischer Fragen bezüglich des Klonierens von Menschen zum Zwecke der Organentnahme (3) beleuchtet werden, wie in Ishiguros Roman mit dieser offenbar problematischen Handlung umgegangen wird (4). Es zeigt sich dabei, dass im Roman eine Rechtfertigung von Organspendeklonen von ihrer fehlenden Zugehörigkeit zur Spezies Mensch abhängig gemacht wird. Daher wird im Folgenden die Auseinandersetzung über die Frage ihres Menschseins unter Einbezug der im Roman gewählten Erzählverfahren (5) und motivgeschichtlichen Bezüge (6) nachvollzogen. verfahren am Menschen zu Fortpflanzungs- und biomedizinischen Forschungszwecken. Es kann an diesen Stellen ein entscheidendes Kriterium markieren, ob etwaigen menschlichen zellulären Gebilden am Beginn des Lebens die volle Schutzwürdigkeit im Sinne der im Grundgesetz festgeschriebenen Menschenwürde (Art. 1 GG) zukommt. In Deutschland erfahren totipotente Zellen einen besonderen Schutz, so dass die Forschung mit ihnen verboten ist. Seelenlose Klone? 273 2 Literatur als Reflexionsmedium moralischer Fragen Eine prospektiv arbeitende Bioethik (vgl. Engels 2005, 163) kann nicht auf historische Fakten zurückgreifen, die zur Beurteilung herangezogen werden und zweifelsfrei als Orientierung zum Ausräumen möglicher Unsicherheiten dienen können. Die ethische Reflexion über Potentiale und Risiken von Biotechniken zur Selbstgestaltung des Menschen ist ein Operieren im Ungewissen. Literatur, so die hier zugrundegelegte Überzeugung, kann in diesem Zusammenhang relevant zur Erschließung des Ungewissen sein, indem sie das Denkbare und dementsprechend zukünftig Machbare vorwegnimmt, plausibilisiert oder auch in Frage stellt. In diesem Sinne sind „[m]edial vermittelte Utopien […] als kulturell verankerte imaginäre Versuchsanordnungen zu verstehen, die nicht nur normative Diskurse kondensiert wiedergeben, sondern auch selbst beeinflussen“ (Pethes/ Schicktanz 2008, 15f.). Folgt man diesen Gedanken, stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Moral und Literatur einzuschätzen ist und was berücksichtigt werden muss, um ethisch relevante Aspekte literarischer Texte herauszuarbeiten? Das Zentrum der Moral bilden Urteile, durch die Handlungen gebilligt oder missbilligt werden können. Das impliziert auch, dass nur Handlungen Gegenstand moralischer Beurteilung sein können, die von Entitäten vollzogen werden, „die selbst imstande sind, moralische Urteile über solche Handlungen - auch ihre eigenen - zu fällen […]“ (Werner 2005, 78). Zu einem erweiterten Beurteilungskreis zählen dabei auch Urteile über moralische Verpflichtungen, Personen sowie deren Motive, Absichten oder Charakterzüge. Dabei wird deutlich, dass all diese Gegenstände des moralischen Urteilens ihren Fluchtpunkt im menschlichen Handeln haben (vgl. Birnbacher 2007, 12f.). Da literarische Werke als Artefakte im engeren Sinne keine Handlungen oder Personen sind, können sie scheinbar nicht sinnvoll Gegenstand moralischer Urteile sein, denn „they have no will, exercise no choices, have no feelings and do not act“ (Gaut 2007, 69). Tritt man jedoch einen Schritt zurück, wird deutlich, dass wir moralische Urteile über Handlungen oder Überzeugungen auch treffen können, ohne dass konkrete Personen diese zeigen oder äußern. Wir beurteilen an dieser Stelle sozusagen eine moralische Einstellung. Eine moralische Einstellung beschreibt eine Positionierung zur moralischen Bewertung von Handlungen und Überzeugungen (vgl. Schmalzried 2014, 95). Dafür ist es nicht notwendig, dass diese an konkret eintretende Handlungsereignisse und ihre Motive und Absichten geknüpft ist. So ist es uns im Alltag möglich, auf vielfältige Weise durch Emotionen, Gesten oder durch mitgeteilte Überlegungen moralische Einstellungen zum Ausdruck zu bringen. Und es ist uns gleichsam möglich diese auch zu beurteilen. Diese Perspektive auf moralische Beurteilungen scheint anschlussfähig für die Literatur. Marcus Rockoff 274 Mit dem Begriff der moralischen Einstellung 2 ist es dementsprechend möglich, davon zu sprechen, dass literarische Werke potentiell moralisch bedeutsame Inhalte transportieren. Im Falle der erzählenden Literatur kann die vom literarischen Werk transportierte, moralische Einstellung durch das konkret Erzählte bzw. die Art und Weise, wie erzählt wird, recht präzise erfasst werden. Dabei kann in explizite und implizite Äußerungen moralischer Einstellungen unterschieden werden (vgl. ebd., 98-103). Explizite Äußerungen sind konkrete Aussagen der im Text vorkommenden Figuren oder des Erzählers und spiegeln deren fiktionsinterne Bewertung von Handlungen wider. Dabei transportiert ein Text nicht nur eine einzige moralische Einstellung, sondern stellt eine komplexe Kommunikation über die Beurteilungen von Handlungen oder Überzeugungen dar, die innerhalb des Textes eine Vielzahl und möglicherweise auch widersprechende Urteile zum Vorschein bringt. Bei impliziten Äußerungen gilt zusätzlich, dass „zwischen den Zeilen“ gelesen werden muss. Dabei sind besonders literarische Darstellungsmittel zu beachten. Hier ist relevant, wie etwas erzählt oder beschrieben wird. Neben der Wortwahl können auch intertextuelle oder motivgeschichtliche Bezüge sowie aufgerufene Stereotypen oder Metaphern eine für die moralische Beurteilung bedeutsame Wirkung erzeugen. Auch die Textorganisation - also die Erzählperspektive, die Verwendung von Genre-Konventionen und entsprechender Erzählschemata (z. B. Utopie, Bildungsroman) - kann im konkreten Textzusammenhang und unter Einbezug von anzunehmenden Erwartungshaltungen der Leser relevant werden, um moralische Einstellungen zu kennzeichnen. Die hier vorgeschlagene Berücksichtigung literarischer (bzw. ästhetischer) Darstellungsmittel für die moralische Beurteilung geht von der Möglichkeit einer wechselseitigen Abhängigkeit von moralischen und ästhetischen Aspekten aus. Dies bedeutet, dass sowohl für ein angemessenes Verständnis als auch den ästhetischen Genuß eines literarischen Werkes eine Vielzahl an außerästhetischen Wissensbeständen abgefragt werden müssen. So kann die Exklusion nicht-ästhetischer Aspekte vielmehr eine angemessene und ästhetische Leseerfahrung verhindern. Leicht nachvollziehbar ist beispielsweise, dass die ästhetische Erscheinungsweise eines Dramas durch Einbezug moralischer Aspekte überhaupt erst ermöglicht wird. Nur durch die Berücksichtigung des moralischen Konflikts als dem tragenden Element der dramatischen Handlung, wofür moralische Kategorien in Anschlag gebracht werden müssen, kann letztlich eine angemessene und schließlich auch ästhetisch adäquate Rezeption erfolgen (vgl. Halbig 2004, 52). So scheint es zwar möglich, in einer Textanalyse aus heuristischen Gründen moralische und ästhetische Aspekte voneinander abzuheben, etwa 2 Dieses Konzept, um das Kunstwerk sinnvoll mit ethischen Überlegungen zu verknüpfen, findet sich unter unterschiedlichen Begriffen bei zahlreichen Autoren: als moralische Haltung bei Schmalzried (2014) oder auch als moral attitude bei Gaut (1997). Seelenlose Klone? 275 wenn ein Werk im Rahmen einer strengen strukturalistischen Interpretation ausschließlich auf formale Aspekte hin untersucht wird. Aber grundsätzlich bilden moralische und ästhetische Aspekte „interagierende Bestandteile ein und derselben Erfahrung“ (ebd.). Die hier vertretene Konzeption der Literatur als Reflexionsmedium moralischer Fragen baut auf diesen Überlegungen auf. Diesem Verständnis des Umgangs mit literarischen Texten liegt zugrunde, dass die Literatur als eine Art Gedankenexperiment verstanden werden kann, in der es zur Artikulation ungelöster Probleme oder moralischer Konflikte kommt (vgl. Elgin 2007, 82ff.). Dadurch eröffnet die Literatur einen Erfahrungsraum für den Leser, der durch die Möglichkeit gekennzeichnet ist , sich von alltäglichen Strukturen zu entkoppeln und so im Moment der ästhetischen Erfahrung auch von Konventionen des pragmatischen Alltagshandeln sowie von Verbindlichkeiten für unser Handeln, unsere Lebensführung als auch moralischen Verpflichtungen freigestellt zu sein (vgl. Düwell 1999, 232). Das bedeutet nicht, dass hier moralische Konventionen der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt sind. Es bedeutet lediglich, dass ein wichtiges Fundament geschaffen ist, durch das neue moralische Einsichten gewonnen und bisherige Überzeugungen überprüft oder revidiert werden können. Literatur als ethisches Reflexionsmedium impliziert also nicht, dass hier schlicht die „Erkenntnis des moralisch Richtigen“ (ebd., 318) eröffnet wird, sondern in der Literatur „hört das Moralische auf selbstverständlich zu sein. Hier wird kein normatives Wissens bestätigt oder verordnet, sondern eine neues Verstehen eröffnet, das erfordert, sich selbst ein moralisches Urteil zu bilden und zu vertreten“ (Jauß 1995, 39). Im Kontext dieses Verständnisses soll sich dieser Beitrag dezidiert bioethischen Fragen zuwenden. Dabei dienen die in der Bioethik kontrovers diskutierten moralischen Fragen bezüglich des Klonierens von Menschen dazu, relevante Inhalte in Ishiguros Roman zu identifizieren. Es geht jedoch dabei nicht nur darum, dem literarischen Text oder einzelnen Figuren entsprechende moralische Einstellungen einfach zuzuschreiben. Vielmehr soll das Zusammenspiel von moralischen Aspekten und literarischen Darstellungsmitteln beobachtet werden, um dadurch die Konstituierung des Reflexionsmediums Literatur am konkreten Werk zu beschreiben. 3 Organ-Klone und das Instrumentalisierungsproblem Beim Klonieren handelt es sich um eine Technik asexueller Reproduktion, bei der anders als bei der geschlechtlichen Fortpflanzung kein Individuum mit neuem Genotyp aus der Kombination zweier vorhergehender Genotypen (Eltern) entsteht. Stattdessen werden verschiedene biowissenschaftliche Verfahren angewandt, um in einer künstlich hervorgerufenen, ungeschechtlichen Fortpflanzung ein Individuum zu erzeugen, das mit einem anderen noch lebenden oder toten Ausgangsorganismus den gleichen Genotyp teilt. Marcus Rockoff 276 Dieser Aspekt hat zur Folge, dass ein menschlicher Klon als ein idealer Organspender gesehen werden kann, da mögliche Abstoßungsreaktionen aufgrund der erbgutidentischen Transplantate minimiert sind (vgl. McMahan 1999). Diese Vorstellung eines stets verfügbaren „Ersatzteillagers“ für Organe und Gewebe ist in zahlreichen Klon-Fiktionen aufgegriffen worden (vgl. Caduff 2004, 175). In diesen Texten werden die Organ-Klone als Dupliks, Reserven, Spender oder Medi-Klone bezeichnet. Die Erzählungen folgen dabei immer einem recht ähnlichen Schema: Menschen werden geklont oder lassen sich gezielt klonen, um ihre Klone in Heimen oder Internierungslagern als lebende Ersatzteillager aufwachsen zu lassen und bei Bedarf, wie etwa bei schweren Erkrankungen oder Unfällen, auf Organe oder Gewebe ihrer erbgutidentischen Klone zurückzugreifen. In der bioethischen Diskussion wird dem Anwendungsfall Organ-Klon mit Verweis auf das sogenannte Instrumentalisierungsverbot kritisch gegenübergestanden. Das Gebot der Nichtinstrumentalisierung menschlichen Lebens ist zugleich auch eines der wichtigsten Argumente gegen das reproduktive Klonen überhaupt (vgl. Krohmer 2007, 165ff.). Kritiker verweisen darauf, dass die Handlung des Klonierens stets die gezielte Herstellung einer genetischen Kopie sei, die prinzipiell immer mit dezidierten Zwecksetzungen verbunden wäre und damit das Gebot der Nichtinstrumentalisierung menschlichen Lebens unterlaufen würde. Das Argument geht dabei auf die sogenannten Selbstzweckformel Kants zurück: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant 1911, 429). Weiter konkretisiert bedeutet dies, dass die eigentliche Verletzung der Selbstzweckformel gar nicht in der Klonierungshandlung als solcher besteht, sondern vielmehr in der nachgeordneten „Verwendung“ der Klone - beispielsweise als Organspender. Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass auch Instrumentalisierungen als solche nicht zwingend moralisch unzulässig sind (vgl. Birnbacher 1998). So kann auch innerhalb der üblichen Familienplanungen die Zeugung eines Kindes in Verbindung mit verschiedenen Zwecksetzungen erfolgen, wenn beispielsweise einem bereits vorhandenen Kind ein Geschwisterkind geschenkt oder gesellschaftlichen Erwartungen entsprochen werden soll. Auch ist es denkbar, dass die Motivation ein Kind zu klonen, schlicht von der Absicht geprägt ist, ein menschliches Individuum zur Existenz zu bringen ohne weitergehende Zwecksetzungen (vgl. Davis 2010, 158). Moralisch problematisch ist „in jedem Fall nur die Schädigung oder Quasischädigung des Klons selbst und nicht die Tatsache, daß seiner Erzeugung Zwecke zugrundeliegen“ (Birnbacher 1998, 64). Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die moralische Unzulässigkeit von Organ-Klonen zunächst nichts mit der Klonierung selbst zu tun hat, sondern auf der aus- Seelenlose Klone? 277 schließlichen Verwendung als Organspender bzw. als „humanitäre Dienstleistung“ (Ballien 2000, 16) für die in Notlage geratene Erbgutspender beruht, wie es in Tilo Balliens Roman Die KlonFarm (2000) heißt. Der Organ-Klon erhält somit seine moralische Brisanz durch den Aspekt, dass hier ein Mensch ausschließlich als ein Mittel zu einem Zweck produziert wird. Dieser Zweck ist dabei nicht der Mensch bzw. das Entstehen des Menschen selbst, sondern dem Klon wird eine weitestgehend genetische Gleichheit mit seinem Erbgutspender aufgebürdet, um ihn ausschließlich als Organreserve für diesen zu nutzen. Diese Art der Instrumentalisierung wird in den Klon-Fiktionen durch die gleichzeitige Beschreibung der Organ- Klone als Lager-Klone noch einmal herausgestellt. So wachsen in vielen Romanen Organ-Klone in Lagern oder auf weit entfernten Inseln auf. Manche Werke beschreiben zudem die Identifikation der Klone durch Seriennummern. Diese Beschreibungen setzen darauf, beim Leser Assoziationen zu industriell angelegten Produktionabläufen zu wecken. Damit wird die ausschließliche Instrumentalisierung der Organ-Klone als bloße Lieferanten von benötigten Körpermaterialen betont. Zugleich bewirkt diese Art der Darstellung eine Verschärfung der moralischen Verwerfung von Klonierungspraktiken, insofern der durch die Instrumentalisierung induzierte Freiheitsentzug nicht nur die individuelle Lebensplanung betrifft, sondern auch auf das gegenwärtige Leben der Klone bezogen wird. 4 Fiktionale Strategien der Rechtfertigung der Organ-Klone Wie dargelegt wurde, handelt es sich bei der Erschaffung und dem Umgang mit den Organ-Klonen in den Klon-Fiktionen, um eine moralisch „unzulässige Totalinstrumentalisierung“ (Clausen 2006, 158) menschlichen Lebens. Insofern ist es interessant, welche Strategien in den Texten beschrieben werden, um mit dieser moralischen Verwerfung umzugehen. Denn prinzipiell bleiben die sich aus der Selbstzweckformel ergebenden Konsequenzen für das alltägliche Miteinander bezogen auf nicht geklonte Menschen in den fiktionalen Welten intakt. Vielfach handelt es sich bei den geschilderten Szenarien nicht um totalitäre Unrechtsstaaten oder um fremdartige Gesellschaften, die eventuelle Grausamkeiten zur Staatsdoktrin erheben. Die gesellschaftlichen Strukturen außerhalb der Heime und Lager erinnern vielmehr an westlichen Demokratien. Und auch der Umgang der Menschen untereinander entspricht im Wesentlichen gegenwärtig gültigen moralischen und sozialen Normen. Dementsprechend hat sich auch nicht in allen Werken eine breite gesellschaftliche Akzeptanz des Klonierens und der Organentnahme ausgebildet. In einigen Werken, wie etwa Tilo Balliens Die KlonFarm (2000), ist die Schaffung von Organ-Klonen keine allgemein anerkannte medizinische Praxis. Vielmehr sind es vereinzelte Wissenschaftler oder Unternehmen, die rechtliche und moralische Normen überschreiten. Dabei wollen sie ihren Kunden Marcus Rockoff 278 oder Patienten glauben machen, die Organe seine auf moralisch unproblematische Weise entstanden. Dieser Strategie des Verbergens und Verschweigens folgt dann stets die Aufdeckung und Konfrontation der Bevölkerung mit dem an den Klonen verübten Unrecht. Damit werden einerseits die Betreiber der Organ-Farmen als Verbrecher gebrandmarkt und andererseits die Klone in den Kreis der Menschen integriert. Insofern lässt sich hier die moralische Einstellung extrahieren, dass der Klon als Mensch anzuerkennen sei und die Einzeltaten verbrecherischer Wissenschaftler, die das Instrumentalisierungsverbot unterlaufen, strikt abzulehnen sind. In anderen Werken jedoch weiß die Bevölkerung um die Herkunft der Organe. Es findet sich also ein zweites Szenario, in der die Nutzung der biomedizinischen Vorteile von Organ-Klonen gesellschaftlich weitgehend anerkannte Praxis ist. Die dafür notwendige Strategie einer moralischen Rechtfertigung wird in Iris Rabischs Erzählung Duplik Jonas 7 (1996) paradigmatisch vorgeführt. Die Erzählung berichtet von einer zu lösenden Abituraufgabe im Fach Ethik zum Unterschied von Menschen und Organ- Klonen, die hier Dupliks genannt werden. Die richtige Antwort gemäß des Lehrplans lautet: „Der Mensch ist frei geboren; der Duplik als Gesunderhaltungsmittel produziert. Da das Wesen des Menschen die Freiheit, das Wesen des Dupliks aber die Zweckgebundenheit ist, sind ihre Seinsweisen existenziell verschieden“ (Rabisch 1996, 51). Die in der Abiturlösung geschilderte Strategie zeigt, dass den Klonen das Menschliche abgesprochen werden muss und sie als produzierte Gegenstände oder zumindest als nicht hinreichend menschlich klassifiziert werden müssen, damit es möglich wird, sie ohne ernsthafte moralische Bedenken zu „nutzen“. Im Roman Die KlonFarm wird den Kunden der Organ-Klon-Dienstleistungen dementsprechend auch empfohlen, an die Klone „nicht als Kinder zu denken, sondern als Reproduktionen, als etwas Technisches“ (Ballien 2000, 75). Auch der Roman Alles, was wir geben mussten beschreibt diese Strategie der Entmenschlichung der Klone. Klone, so die Vorstellung der Bevölkerung, sind keine wirklichen Menschen, sondern nur „schemenhafte Objekte in Reagenzgläsern“ (Ishiguro 2006, 317), die zu einem bestimmten Zweck in Existenz gesetzt wurden: „Euer Leben ist vorgezeichnet. Ihr werdet erwachsen, und bevor ihr alt werdet, noch bevor ihr überhaupt in die mittleren Jahre kommt, werdet ihr nach und nach eure lebenswichtigen Organe spenden. Dafür wurdet ihr geschaffen, ihr alle. […] Ihr seid zu einem bestimmten Zweck auf die Welt gekommen, und über eure Zukunft ist entschieden, für jeden und jede von euch.“ (Ishiguro 2006, 103) Dabei wird diese Strategie an die Kernfrage des Romans geknüpft, ob die Klone „überhaupt eine Seele haben“ (ebd., 315). Würde die Bevölkerung des Romans diese Frage bejahen, dann wäre das etablierte System der Organspenden, „a socially organized and approved system of murder“ (Mirsky 2006, 629). Das Infragestellen der Seele ermöglicht es aber die Klone als Seelenlose Klone? 279 „nicht ganz menschlich“ zu erachten, so dass in Kenntnis der unnatürlichen Entstehung und der Abwägung mit den biomedizinischen Vorteilen, die Organ-Klone den Menschen bieten, das System der Organspenden für die Bevölkerung hinreichend moralisch akzeptabel erscheint. Im Werk werden die Fragen nach der potentiellen „Seelenlosigkeit“ der Klone sowie deren Instrumentalisierung seitens der Gesellschaft durch eine Verklammerung verschiedener literarischer Darstellungsmittel derart präsentiert, dass dem Leser ein simples Durchschauen der moralisch verwerflichen Handlungen bzw. ein einfaches Zuordnen moralischer Einstellungen erschwert wird. Im Gegensatz zu anderen Organ-Klon-Fiktionen bleibt die Frage, ob die Klone eine Seele haben und somit Menschen sind oder ob es sich nur um biomedizinische Gegenstände handelt, die als seelenlose Organreservate für die Bevölkerung dienen, über die gesamte Länge des Romans in der Schwebe. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die spezifische Erzählweise des Romans und die Verwendung bestimmter literarischer Motive den Leser in eine Art Verunsicherung geraten lässt, die ihm von Seiten des Textes wenig Orientierung hinsichtlich der moralischen Bewertung des Gelesenen und der Beantwortung der eben geschilderten, zentralen Frage des Romans bietet. 5 Textstrategien zur moralischen Orientierungslosigkeit Der Roman Alles, was wir geben mussten wird aus der Sicht des Klons Kathy H. erzählt und berichtet vom Aufwachsen der Klone im Internat Hailsham in Südengland. Während später fast alle Kollegiaten beim Übertritt in das Erwachsenenalter direkt zu Organspendern werden und spätestens nach der vierten Spende „abschließen“, d. h. sterben, übernehmen einige, wie die Hauptfigur und Erzählerin Kathy, als Betreuer die Fürsorge für einige Spender auf dem Weg von Organspendezentrum zu Organspendezentrum bis sie selbst irgendwann auch zu Spendern werden. Die Textstrategie, dem Leser die moralische Orientierung zu erschweren, wird durch die Normalisierung der für den Leser grotesk wirkenden moralischen Situation hervorgerufen. Hierbei fallen neben der Erzählperspektive vor allem die Zeitordnung des Romans ins Gewicht. So findet sich zu Anfang des Textes die Angabe „England, am Ende des 20. Jahrhunderts“ 3 als Zeitraum der Erzählung. Dementsprechend erstreckt sich die erzählte Zeit über den Zeitraum von ca. 1970 bis 2000. Kleinigkeiten, wie etwa die Erwähnung von Musikkassetten, bieten Anknüpfungspunkte an die unmittelbare Vergangenheit und Gegenwart des Lesers, ohne dabei durch Referenzen zu konkreten zeithistorischen Ereignissen oder Gegenständen eine exakte Datierung zu ermöglichen. Die Verlagerung einer eventuell erst zukünftig möglichen Technologie, wie dem Klonen von Menschen, in die Ver- 3 Im englischen Original lautet es: „England, late 1990s“ (Ishiguro 2005). Marcus Rockoff 280 gangenheit lässt eine Art fiktionale Parallelwelt entstehen (vgl. Krüger- Fürhoff 2008, 152). Durch diese Datierung der Geschehnisse und dem beim Leser vorhandenen Wissen, dass es sich in Wirklichkeit ganz anders zugetragen hat und die Technik des reproduktiven Klonens beim Menschen bis heute nicht beherrschbar ist, entsteht eine leserseitige Verunsicherung, die zwischen einer Vertrautheit hinsichtlich zahlreicher, erzählter Gegenstände sowie Begebenheiten und der Fremdartigkeit der Organ-Klone und des Umgangs mit ihnen changiert. Da der Roman trotz des futuristisch anmutenden Themas als ein typischer Gegenwartsroman erscheint, wird einerseits die ungewöhnliche Begebenheit des Klonierens in realitätskompatiblen Strukturen normalisiert und andererseits das Gefühl erzeugt, nicht von einer fremden oder fernen, zukünftigen Gesellschaft zu lesen, sondern von unserer gegenwärtigen Welt, die im weitestens Sinne unsere moralischen und sozialen Normen teilt. Beim Leser stellt sich also der Zustand ein, nicht so leicht auf Abstand zur erzählten Welt gehen zu können, wie dies beispielsweise in einer weit in die Zukunft verlagerten Science Fiction-Erzählung möglich ist. Die ins Gegenwärtige verlagerte Zukunft erzeugt damit eine latente Unmittelbarkeit, die den Klon für die Zeit der Lektüre von einer hypothetischen, wissenschaftlichen Figur in eine vermeintliche Faktizität setzt, zu dem und dessen Schicksal der Leser sich verhalten muss (vgl. Brandt 2010, 136). Diese Zeitordnung flankiert Ishiguro mit seiner gewählten Erzählperspektive, die als weitere Quelle der Verunsicherung für den Leser betrachtet werden kann. In der Ich-Erzählung schildert der Klon Kathy H. ihr Aufwachsen in Hailsham und ihre gegenwärtige Tätigkeit als Betreuerin. Diese Erzählperspektive eignet sich besonders zur Erzeugung „of an authentic voice and judgment, an individual vision, which is at variance with social norms or conventions“ (Müller 2008, 128). Der Leser erlangt so direkt Zugang zu den Einschätzungen der Erzählerin über die geschilderten Sachverhalte bzw. kann durch die spezifische Art und Weise des Erzählens Rückschlüsse über die vertretene moralische Haltung ziehen. Es zeigt sich dabei, dass - anders als man es in Werken dieser Thematik erwarten würde - gewisse Aspekte ausgespart bleiben. So werden keinerlei biotechnische und medizinische Details beschrieben. Die genreübliche Beschreibung von Laboratorien, medizinischen Geräten, Operationen und entsprechendem Personal findet nicht statt. 4 Die Unwissenheit der Erzählerin wird dabei durch eine spezifische Form des unpräzisen oder unzuverläs- 4 Dies spiegelt sich auch in den verwendeten euphemistischen Sprachcodes wider. Es wird beispielsweise nicht von den Klonen, sondern den Spendern oder nicht vom Sterben oder Töten der Organ-Klone, sondern vom Abschließen gesprochen (Der Begriff Klon wird, recht unüblich für eine Klon-Fiktion, nur zweimal verwendet). Die moralisch fragwürdigen Handlungen werden so hinter einer normalisierenden und entschärfenden Sprache kaschiert. Nichtdestotrotz wirken sie für den Leser wie eine Verharmlosung und stiften Verunsicherung, die wiederum auf die moralische Bewertung des Gelesenen zurückwirkt (vgl. Pandey 2011). Seelenlose Klone? 281 sigen Erzählens weiter intensiviert (vgl. Currie 2009, 94). Immer wieder gibt Kathy im Verlauf der Erzählung an, Dinge nicht mehr zu wissen, konkrete Abläufe nicht mehr im Gedächtnis oder auch komplett vergessen zu haben. Dieses Unwissen und diese Unsicherheit der Erzählerin übertragen sich so auch auf den Leser, der sich fragt, ob man den Beschreibungen und getroffenen Einschätzungen letztlich vertrauen kann. Die Technik des unzuverlässigen Erzählens gepaart mit dem Unwissen über „die großen Zusammenhänge“ wird damit zu einem weiteren Baustein, der die Einschätzung und Bewertung der Situation der Klone seitens des Lesers erschwert. So kann dieser deshalb auch nur annehmen, dass es zahlreiche Reproduktionskliniken und ein System von „riesigen staatlichen ,Heime[n]‘“ (Ishiguro 2006, 321) gibt. Deren konkrete Ausgestaltung und die damit verbundenen Zusammenhänge bleiben, weil nicht erzählt, letztlich unklar. Der Roman entzieht sich dadurch den ordnungsstiftenden Erzählmustern des Dystopie- und Science Fiction-Genres: Es findet sich kein mad scientist, keine Konzerne oder Regierungsstellen, die den Klonen als konkrete Antagonisten gegenüberstehen und somit für den Leser eine klare Zuordnung von gut und böse ermöglichen. Dies reiht sich ein in das auffällige Ausbleiben der Thematisierung der Außenwelt. Die Erzählung aus der Sicht Kathys kreist um die Erlebnisse im Internat, den Cottages 5 und dem direkten Kontakt zwischen Spendern und Betreuern in den Kliniken. In diesen Schilderungen der ersten großen Lieben, den ersten sexuellen Erfahrungen oder den Auseinandersetzungen der Kollegiaten untereinander findet die Außenwelt, deren Normen und möglicherweise stattfindene biopolitische Erwägungen zur Installation des Spendensystems kaum Erwähnung, so dass „the reader is left to make his or her own assumptions about this unseen world“ (McDonald 2007, 79). Das Ausbleiben von Hintergrundinformationen zu den Spenden sowie das Fehlen einer Erzählerfigur, die die beschriebenen Handlungen entsprechend einordnet und wertet, impliziert auch, dass das zentrale Thema, die geplante Ausweidung der Körper, ein „zwar immer wieder umkreistes, letztlich aber ausgespartes Zentrum“ (Krüger-Fürhoff 2008, 158) der Erzählung bleibt. So wissen die Klone um ihr Schicksal, aber es wird nicht die Geschichte der Aufdeckung und des Widerstands gegen das vorbestimmte Leben erzählt, sondern das Leben und Sterben der Klone wird aus Sicht Kathys in einem für den Leser schwer greifbaren Zusammenhang geschildert, bei dem die Klone wissen und doch nicht wissen (vgl. Ishiguro 2006, 104), wer sie eigentlich sind oder was ihnen wirklich bevorsteht. Man müsste also spezifischer davon sprechen, dass die Organspenden und der Zweck ihrer Erschaffung im Rahmen der Unterhaltungen der Kollegiaten zwar große Bedeutung besitzen, jedoch die moralisch fragwürdige Dimension ihrer 5 Dabei handelt es sich um kleine Landsitze, die die Kollegiaten nach dem Ausscheiden aus dem Internat und vor dem Beginn ihrer Spender- oder Betreuertätigkeiten als selbstverwaltete Kommunen bewohnen. Marcus Rockoff 282 Instrumentalisierung unreflektiert bleibt. Es ist vielmehr irritierend, dass die Klone diese Instrumentalisierung und damit das für den Leser und auch die „normalen“ Menschen der fiktionalen Welt so Unakzeptable fast klaglos akzeptieren. Dass die Klone ausnahmslos das ihnen vorbestimmte Schicksal als den „natürliche[n] Lauf der Dinge“ (ebd., 240) in für den Leser unverständlicher Selbstverständlichkeit annehmen, wird noch einmal gesteigert, insofern die Klone nicht in der für Klon-Fiktionen ansonsten üblichen, von anderen Menschen abgeschotteten Isolation leben. Weder Hailsham noch die Cottages liegen an entrückten Orten, wie etwa entlegenen Inseln, sondern sind frei zugänglich auf dem Land und können von den Bewohnern auch verlassen werden. Zu keinem Zeitpunkt sind die Klone interniert oder werden mit Gewalt zur Preisgabe ihrer Organe verpflichtet, sondern Kathy fährt beispielsweise als Betreuerin „[s]tundenlang […] mutterseelenallein kreuz und quer durchs Land, von einem Zentrum zum nächsten, von einer Klinik zur anderen“ (ebd., 251). Indem der Roman den Widerstand der Klone verweigert und stattdessen die Akzeptanz ihres Schicksal seitens der Klone inszeniert, obgleich sich durchaus Möglichkeiten zu ergeben scheinen, dem Schicksal zu entkommen, bricht der Text deutlich mit den Erwartungshaltungen des Lesers, dem sowohl die komplette Aufklärung des Geschehens und aller Hintergründe und der dementsprechende Widerstand als auch das erwartete happy end verweigert wird (vgl. Krüger-Fürhoff 2008, 158; Black 2009, 791f.). Zeitstruktur, die spezifische Form des unpräzisen Erzählens, das Auslassen der Hintergründe des Spendensystems sowie das Fehlen moralischer Bewertungen seitens der Erzählerfigur vermögen es, die grotesken Geschehnisse innerhalb der Fiktion zu normalisieren aber auch unbegreiflich zu machen. Mark Currie (2009, 92f.) weist dabei eine Parallele zu den Erzählungen Franz Kafkas aus, denen teilweise eine ähnliche Strategie zugrundeliegt. Indem absurde Ereignisse, etwa die Verwandlung Gregor Samsas „eines Morgens […] zu einem ungeheueren Ungeziefer“ (Kafka 1996, 115) in eine ansonsten als realitätskompatibel empfundene Welt integriert werden, führt dies dazu, dass der Leser in eine Unsicherheit gerät. Auch bei der Lektüre von Ishiguros Roman beginnt der Leser nicht nur die Zuverlässigkeit der Erzählerfigur, sondern auch seine, die Erzählung begleitenden Urteile und Überzeugungen in Frage zu stellen. Dieser Aspekt wiegt schwer. Vor allem im Hinblick auf Sinnstiftung der Frage, warum die Klone ihre Schicksal so klaglos akzeptieren. Denn es herrscht ein starker Widerspruch zwischen den allzu menschlichen Sorgen im täglichen Miteinander der Klone sowie dem sich dadurch erhärtenden Eindruck, hier die Leidensgeschichte menschlicher Wesen und nicht von seelenlosen Objekten der Biomedizin zu erfahren, und dem scheinbar schon nicht mehr menschlichen Altruismus der Klone, ihr gesamtes Leben auf die Spenden und den damit abzusehenden frühen Tod auszurichten. Dadurch Seelenlose Klone? 283 werden Zweifel genährt, dass die Organ-Klone vielleicht doch keine „normalen“ Menschen sind. 6 Klone als seelenlose Doppelgänger Zu diesen Zweifeln, die dem Leser während der Lektüre entstehen, trägt auch eine interessante Spielart des sogenannten Doppelgänger-Motivs im Roman bei. In Doppelgängen-Geschichten treten plötzlich ununterscheidbar ähnliche Figuren den Protagonisten gegenüber, von denen die Protagonisten überzeugt sind, dass diese anderen Figuren Kopien von ihrem Selbst oder Teilen ihres Selbsts sind. (vgl. Amit 2013, 189f.). Fast immer bleibt die Herkunft und Erklärung des Doppelgängers undurchsichtig. Das Erscheinen des zumeist physisch identisch wirkenden Doppelgängers in der Literatur kann psychologisch bestimmt werden und stellt eine literarische Strategie dar, unterdrückte Regungen der menschlichen Seele zu materialisieren. Es handelt sich also um den Versuch, „die sich der menschlichen Ratio und Vorstellungskraft entziehende Idee der ,Seele‘ in ein anschauliches Bild zu fassen“ (Hildenbrock 1986, 271). Der Doppelgänger wird dabei zum „Modus der Repräsentation des Individuums, in dem dieses als etwas, was es nicht ist oder als was es sich nicht zeigt, erscheint“ (Lachmann 1988, 439). Insofern repräsentiert er entsprechende Eigenschaften, die das Individuum „als ,unerlaubt‘ zensiert und deshalb verdrängt“ (Hildenbrock 1986, 272). Auf diese Weise irritiert das Doppelgänger-Motiv die auch noch in unserer gegenwärtigen Kultur weit verbreiteten Vorstellungen personaler Identität, die mit Konzepten wie Einzigartigkeit, Singularität oder Authenzität 6 verbunden sind (vgl. Marcus 2011, 370). Diese Konfrontation mit dem Unterdrückten speist zugleich auch die Angst vor dem Doppelgänger seitens der von Doppelgänger-Phänomenen betroffenen literarischen Figuren und erklärt, „warum der Doppelgänger in den meisten Fällen als unheimlich empfunden wird“ (Hildenbrock 1986, 272f.). Der literarische Doppelgänger ist demzufolge Ausdruck einer Krise personaler Identität und findet in den Klon-Figuren seinen Widerhall. Die physische Ähnlichkeit des Klons mit seinem Vorbild machen diesen zum biotechnisch inspirierten Erben des literarischen Doppelgängers. Entscheidend hierfür ist aber vor allem die ungewöhnliche Genealogie der Klone. Während üblicherweise die biologische Genealogie im Sinne von Eltern - Sexualität - Kind konzeptionalisiert werden, führt die technische Art und Weise sowie das zweckgerichtete Warum der Entstehung der Klone zu einer neuen Genealogie (vgl. Wulff 2005, 142). So haben Klone in der Logik der Klon- Fiktionen keine Eltern, sondern werden nur als Abbild oder Kopien ihrer Erbgutspender konzeptionalisiert. Durch dieses Abbildverhältnis innerhalb der Genealogie bleibt die mögliche Eigenständigkeit und Einzigartigkeit der 6 Vgl. den Beitrag von Jon Leefmann im vorliegenden Sammelband. Marcus Rockoff 284 Klone stets ungewiss. Dadurch überträgt sich die vom Doppelgänger-Motiv stammende Irritation personaler Identität auch auf den Klon, obwohl es keine biowissenschaftlich oder psychologisch fundierte Plausibilität dafür gibt, dass Klone keine bzw. „unheimliche“ kopierte Seelen besitzen. Der Roman Alles, was wir geben mussten stärkt diesen Übertrag durch die beständige Beschreibung der Unsicherheit der Klone bezüglich ihrer Identität. Kathy beispielsweise ist wegen ihrer eigenen Sexualität irritiert, da sie „manchmal, selten, einen ungemein starken Drang nach Sex habe“ (Ishiguro 2006, 221). Ihr Besorgnis führt dazu, dass sie in Pornoheften nach ihrem „Modell“ sucht, da „es ja von irgendwoher kommen muss. Es muss damit zu tun haben wie ich bin“ (ebd.). Das darin zum Ausdruck kommende mangelnde Verständnis sich als eine wirklich eigene Person zu verstehen, begleitet die Klone im Rahmen der gesamten Handlung. Sie sind stets auf der Suche nach den sogenannten „Möglichen“, ihren Erbgutspendern, von denen sie aufgrund untereinander kursierender Gerüchte glauben, „dass wir zumindest irgendeine Erkenntnis über uns und unser wahres Ich gewännen, wenn wir die Person, von der wir kopiert worden waren, mit eignene Augen sähen, und dass wir vielleicht eine Ahnung davon bekämen, was das Leben für uns noch bereithielt“ (ebd., 170). Aber auch dieses Aufeinandertreffen verweigert der Roman, so dass den Klonen jegliches Verständnis ihrer eigenen Abstammung unbekannt ist. Mangelndes Selbstverständnis eine eigenständige Person zu sein und das Fehlen als biotechnisch induzierte genetische Verdopplungen sich ihrer Herkunft in Form der „Möglichen“ anzunähern, wirft die Klone auf die einzige Identität zurück, die ihnen im Verlauf der Handlung bestätigt wurde: die eines zum Zwecke der Organentnahme hergestellten Körpers. Die beschriebene Selbstentwertung der Klone und die damit einhergehende Akzeptanz der Instrumentalisierung ohne wirkliches Aufbegehren wirkt auf den Leser sehr befremdlich: Könnte ein wirklicher Mensch eine solche Instrumentalisierung akzeptieren und sind dementsprechend die Organ-Klone keine wirklichen Menschen? Der Roman verweigert die Antwort. Vielmehr stärkt er die beim Leser aufkommende Irritation durch die Beschreibungen von Gefühlen der Angst gegenüber den Klonen auf Seiten der nicht geklonten Menschen wieder. So schildert Kathy… „[…] den Augenblick, in dem Sie erkennen, dass Sie tatsächlich anders sind; dass dort draußen Menschen sind […], die Ihnen weder Übles wollen noch Hass gegen Sie empfinden, und doch schon beim Gedanken an Ihre Existenz, an ihre Art und Weise, wie Sie zur Welt kamen und warum, erschaudern und sich vor der Vorstellung fürchten, sie könnten von Ihnen berührt werden.“ (Ishiguro 2006, 50) In Alles, was wir geben mussten fungiert diese Abscheu, die den Klonen entgegengebracht wird, so als Indikator ihrer vermeintlichen Seelenlosigkeit, um die Instrumentalisierung als bloße biomedizinische Objekte zu rechtfertigen. Weder von Seiten der nicht geklonten Menschen innerhalb der Fiktion Seelenlose Klone? 285 noch wirklich vehement von Seiten der Organ-Klone wird dieser moralischen Einstellung widersprochen. Stattdessen wird durch die spezifische Verwendung von narrativen Strategien und Motiven auf erzählerischer Ebene das Selbstverständnis der Klone und die Instrumentalisierung innerhalb der Fiktion plausibilisiert. Der ästhetische Akt des Lesens wird gleichsam zu einem ethischen, bei dem sich der Leser - auch wenn das Werk die letztgültige Antwort auf die Frage der Menschlichkeit der Klone verweigert - fragen kann, was ihn an der geschilderten Geschichte und den präsentierten Einstellungen so verunsichert. 7 Schluss Es zeigt sich, dass im Organ-Klon als biotechnische Reinkarnation des literarischen Doppelgängers verschiedene Themenbereiche verschränkt werden. Die negativ besetzte, nicht-natürliche Entstehung der Klone mit der ungewöhnlichen Genealogie wird an die Motivgeschichte des Doppelgängers und dessen Irritation personaler Identität gekoppelt, so dass sich die Vorstellung entwickelt, dass das Klonen der genetischen Basis eines Menschen auch Einfluss auf die menschliche Seele hat und dadurch „die Praxis des Klonierens […] eine schleichende Erosion unseres Selbstverständnisses als individuelle Personen nach sich zöge“ (Quante 2010, 125). Dies und auch die von Ishiguro gekonnt verwendeten narrativen Strategien wie die Zeitstruktur, die unsichere Ich-Erzählerin als auch das Spiel mit Wissen und Nichtwissen der Klone erzeugen eine beunruhigende Leseerfahrung, die den Leser hinsichtlich der Frage nach der Seelenlosigkeit der Klone bzw. der moralischen Haltung der fiktiven Bevölkerung des Romans letztlich im Ungewissen zurücklassen. Auch wenn es für den Leser sicherlich empörend ist, dass die Organ-Klone ihr Leben nicht frei nach ihren Wünschen und Träumen gestalten können, verstört es zugleich, dass sie die von den Menschen eingeforderte Instrumentalisierung ihrer Körper derart internalisieren, dass sie gar nicht wirklich in der Lage erscheinen, diese ernsthaft in Frage zu stellen. Das Werk reflektiert damit auch Bedenken, die Jürgen Habermas gegen das Klonen vorgebracht hat. Habermas merkt an, dass sich ein Klon - anders als ein auf herkömmliche Weise gezeugter Mensch - einer „absichtliche[n] Festlegung der Erbsubstanz“ (Habermas 1998) gegenübersieht, die notwendigerweise immer mit fremden Zwecksetzungen einhergeht. Für den biotechnisch fixierten Klon ändere sich dadurch die Ausgangslage im Bezug auf sein „Selbstseinkönnen“ (Habermas 2005, 100). Klone seien damit konfrontiert, sich „nicht mehr länger selbst als ungeteilte Autoren ihren Lebensgeschichte betrachten“ (ebd., 132) zu können, da sich in das Selbstseinkönnen „,die fremde Absicht‘, die mit dem genetischen Programm in [… die] Lebensgeschichte hineinreicht, als ein störender Faktor“ (ebd., 100) etabliert. Diese mangelnde Möglichkeit zum Selbstseinkönnen der Klone im Sinne des Marcus Rockoff 286 Fehlens oder der Störung eines individuellen und autonomen Selbstbewusstsein wird für Habermas insoweit problematisch, als dies die Voraussetzung bildet, „um den Sinn und Wert moralischen Verhaltens für uns zu erkennen“ (Witt 2005, 284). Das Fehlen dieser Voraussetzung erzeugt für Habermas auch auf einer zweiten Ebene Bedenken, die im Zusammenhang von Alles, was wir geben mussten besonders relevant werden. Habermas geht von der Prämisse aus, dass in einer Gemeinschaft die moralisch urteilenden und handelnden Personen sich gegenseitig eine Zurechnungsfähigkeit unterstellen, die letztlich das erwähnte, uneingeschränkte Selbstseinkönnen aufgrund der Naturwüchsigkeit der Individuen voraussetzt (vgl. Habermas 2005, 77). Durch die mögliche Beschädigung des Selbstseinkönnens bei Klonen könnte „ein neuer Typus einer eigentümlich asymmetrischen Beziehung zwischen Personen“ (ebd.) entstehen, bei dem die wechselseitige Anerkennung als freie und gleiche Mitglieder der Gemeinschaft auf dem Spiel steht. Die eigentliche Gefahr dieser neuen asymmetrischen Beziehung sieht Habermas weniger in einer Diskriminierung der Klone durch die Gesellschaft als vielmehr in einer „vor der Geburt induzierte[n] Selbstentwertung“ (ebd., 136) der Klone, die es ihnen schwierig machen könnte, sich als volles Mitglied der sozialen und moralischen Gemeinschaft zu verstehen. Zieht man diese Überlegungen heran, ist der Roman nicht nur die Geschichte des Scheiterns einer Identitätssuche. Er ist zugleich die ästhetische und narrative Darstellung der These, dass der zweckgerichtete, technische Eingriff in die Natur der Organ-Klone sowie ihre Instrumentalisierung „das gattungsethische Selbstverständnis in der Weise verändert, dass [… sie sich] nicht länger als ethisch freie und moralisch gleiche, an Normen und Gründen orientierte Lebewesen verstehen können“ (ebd., 74). Die Seelen der Klone sind derart verletzt worden, dass sie sich selbst nicht als „normale“ Menschen verstehen und ihre Identität nur über das Dasein als Klon bestimmen können. Literatur Ach, Johann S. (1998): Hello Dolly? Biotechnik, Biomoral und Bioethik. In: Ach, Johann S./ Brudermüller, Gerd/ Runtenberg, Christa (Hrsg.): Hello Dolly? Über das Klonen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 123-155. Ballien, Tilo (2000): Die KlonFarm. Leipzig: Militzke. Birnbacher, Dieter (1998): Aussichten eines Klons. 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In this chapter, the author analyzes the debate as well as legitimate public policies on cognitive enhancement drugs. Starting from the analysis of the merits of arguments in the debates, relevant moral principles and policy options for cognitive enhancement are identified. The Economic Disincentives Model (EDM) is singled out as the potentially legitimate solution to the problem of cognitive enhancement drug use: taxes, licensing fees and requirements of additional insurance would ensure that such use is benefiting and not harming society. Furthermore, rational choice modeling of the social pressure to enhance is offered in order to strengthen the argument. Finally, the side-effects of existing drugs (Adderall and Ritalin) and the requirements of the international drug control regime are analyzed, and the applicability of the EDM is limited to extended release forms of Ritalin, while other forms (and drugs) need to be prohibited. 1 Introduction In my project Autonomy and Justice in Neuroethics of Cognitive Enhancement I analyzed the debate and legitimate public policies on cognitive enhancement (CE) drugs and devices. Due to reasons of space, I cannot provide an overview of all results and conclusions, but I can briefly revisit the conclusions of some of this work (mostly focusing on CE drugs) that has been published (see Dubljević 2012a; 2012b; 2013a; 2013b). The conclusion of the initial analysis of the merits of arguments in the CE debate was that some arguments (e. g., authenticity, posthumanist, “playing God”, etc.) instead of being convincing merely lead to a strong disagreement (see Dubljević 2012a). That is because they presuppose religious, ethical or metaphysical comprehensive Veljko Dubljević 290 doctrines. 1 So what kind of argument could help us sort the disagreement? To answer that question, it is important to understand what the debate entails. Ultimately, it is about the regulation of CE, not about what individuals might prefer, meaning that not every kind of argument has equal weight. Only arguments that appeal to universal interests and values in society as a whole (as opposed to only partial interests) are strong enough (see Rawls 2005). So what options for regulation are available? 2 Policy Options and Cognitive Enhancement Proponents of enhancement insist that new substances offering enhancement (e. g. Modafinil) are similar to old ones (e. g. Coffee), and base their argument on the appeal to the fairness of treating like cases alike. Nevertheless, policy options in a democratic society are not limited to taking a laissezfaire approach (like in the case of coffee), as pro-enhancement authors want, or to banning the technology (like in the case of cocaine), as opponents of enhancement want. There is also the option of regulating the technology so that individual use is encouraged via government incentives or discouraged via taxation. An additional option is to make the technology mandatory (see Blank 2010). These policy options rest on the familiar distinctions in moral philosophy between actions that are a) morally required, b) morally desirable and permissible, c) morally neutral and permissible, d) bad but nevertheless still morally permissible, and e) morally impermissible. The fairness of treating like cases alike depends on defining sufficiently like cases. To put it bluntly, the question really is: “Are new cognitive enhancement drugs more like coffee or more like cocaine? ” That depends on the drug in question, but it is also important to stress which principles should guide our arguments. Why is coffee allowed while cocaine is prohibited? Does that have something to do with authenticity, human nature or the good life? Not really, these are generally adequate criteria for individual choice, but not adequate for public policy. Furthermore, appeals to comprehensive doctrines like some religious or political ideologies will not work, because they are not shared by all citizens. Mid-level principles of beneficence, non-maleficence, autonomy and justice show more promise (see Beauchamp/ Childress 2009). However, not all of them are strong enough to support a certain policy. Let’s take beneficence for example. If something is good for you, perhaps 1 For political liberalism and the idea of public reason (see Rawls 2005); a central assumption is that the diversity of reasonable comprehensive, or religious (e. g. Catholicism), metaphysical (e. g. Dialectical Materialism/ Marxism) and ethical (e. g. Utilitarianism) doctrines with the claim on truth is a permanent condition of the public political culture, and not a historical contingency that is soon to disappear. This has profound consequences on the issues and arguments that can be deemed convincing to citizens endorsing these opposing doctrines. Regulation of Cognition Enhancement Drugs and Public Reason 291 this should be mandatory. Maybe coffee is good for concentration, but we can’t make coffee mandatory because that would conflict with the principle of autonomy - the right to choose. This is also the case with prohibited substances. The case must be very strong indeed to prohibit something, because that would infringe on the right to choose. So, why is cocaine prohibited? With a measure of simplification, it is prohibited because it is very harmful (non-maleficence) and infringes on autonomy itself (by causing unreal perceptions about one’s abilities and addiction). But what about smoking? It is harmful and can also cause addiction. That may be true, but in this case that is not enough. Again, to simplify things, tobacco is not a mind-altering substance. It might be harmful in the long run and it might cause addiction, but a democratic state can only discourage its use with taxation and other measures, not prohibit it entirely. There is one other important issue: there is no injustice involved in smoking (or selling tobacco to sufficiently informed buyers - whereas there is plenty of injustice in selling cocaine) if you do it in your home and the rights of non-smokers are protected in public places. 3 Justice and Cognitive Enhancement All this has set the stage for the issue of regulating CE drugs, in both the relevant principles and policy options. I argued that justice is the relevant issue to have in mind for regulating use of CE drugs for the healthy (see Dubljević 2012a). That does not mean that other issues are irrelevant - merely that justice takes precedence. The common claim of authors opposing enhancement is that treatments are obligatory and permissible while enhancements are not (see Selgelid 2007). The principle of justice explains why this is the case in the use of, say, stimulant drugs. 2 Using Ritalin (or some other drug) for enhancement is not an issue of providing basic necessities for those who are lacking, benefiting the least advantaged or restoring citizens to a position of equal opportunity and liberty, while in the case of citizens suffering from say attention deficit hyperactivity disorder (ADHD) it certainly is. Furthermore, providing drugs as a means of enhancement to gain positional advantage could cause erosion in the fabric of society - people would 2 The most influential conception of justice has been formulated by John Rawls. Rawls’s (2001, 42-43) principles of justice (in the final formulation) state that: (a) “Each person has the same indefeasible claim to a fully adequate scheme of equal basic rights and liberties, which scheme is compatible with the same scheme of liberties for all” (the equal liberty principle); and (b) “Social and economic inequalities are to satisfy two conditions: first, they are to be attached to offices and positions open to all under conditions of fair equality of opportunity” (the principle of fair equality of opportunity); “and second, they are to be to the greatest benefit of the least-advantaged members of society (the difference principle)”. Veljko Dubljević 292 see that medical resources are diverted into controversial enhancements, while clear cases of disease and impairment are left untreated. This means that justice could be used to draw the line between cases in which it is permissible and obligatory to provide drugs in private or public health insurance schemes and those in which it is not. Moreover, as resources in most societies are too limited to meet all needs for the treatment of disease or impairment, justice requires that we meet most important medical needs first. Only if all medical needs are taken care of could any public finance for enhancements be allowed. This can be neatly summarized with the version of the Justice Trumps Beneficence Argument (see Buchanan et al. 2000, 270): 1. Enhancement is not required by justice but only by the value or principle of beneficence; 2. The widespread use of enhancement would create a serious risk of injustices to citizens choosing not to enhance due to their comprehensive doctrine; 3. Justice trumps beneficence (when the pursuit of beneficence creates a risk of serious injustice, the avoidance of injustice should take precedence); 4. Therefore, public funds should not be allocated to enhancement purposes, and/ or measures should be taken to compensate those citizens likely to suffer injustices. As non-smokers are sometimes very upset about smoking, so non-enhancers are upset about the use of CE in certain contexts. 3 The issue of justice explains what they are upset about - they might think CE is unjust because it undermines the equality of rights and liberties of citizens wishing to enhance and those that do not. Furthermore, they could claim that using CE is cheating in certain instances, such as exams, as it violates fair equality of opportunity, and that the use of drugs might be justified in instances of poor health, but not when seeking positional advantage. However, does this justify prohibition of CE? Not without further justification. 4 Cognitive Enhancement and Prohibition Like smokers, people that want to use CE have rights. Smoking is regulated in public spaces and discouraged with taxation and other measures. Some non-smokers call for a total ban, but that would not be legitimate. Similarly to that, the analysis of requirements of justice points to the conclusion that discouraging the use of CE would be the most legitimate public policy. 3 Admittedly, they may be upset for different reasons: passive smokers do not choose the harmful effects of smoking, whereas opponents of enhancement do not suffer from health-related effects. They might, however, experience harmful effects regarding distribution of social positions in competitive settings. Regulation of Cognition Enhancement Drugs and Public Reason 293 Taxation and other measures could appropriately protect the interests of all citizens and even generate funds for medical needs. In a more focused analysis of the issue of CE I argued that CE drugs could further disadvantage and impoverish citizens already lacking basic necessities (see Dubljević 2012b). The two most important reasons for this are long-term side-effects (which are mostly unknown) and indirect coercion. CE drugs are used by individuals as a means to obtain undeserved positional advantage. Furthermore, they could be used to ensure the positional advantage of corporate actors. If students use Ritalin during an exam because they are diagnosed with ADHD they are merely being given a fair opportunity to compete with other students on an equal footing. However, if they use it as enhancement, they are taking a chance with the unknown long-term side-effects in order to gain advantage over others. Such practices could lead to a situation in which all students need to use CE drugs to be able to compete. A more problematic scenario is if employers subtly coerce employees to use these drugs (see Appel 2008). In this scenario, employees would have to take on the risks of long-term effects because they are not in the position to refuse. At the same time, they are robbed of the ability to decide for themselves whether or not to use enhancements and forced to bear the consequences of their use. An illustrative example may help put things into perspective (see Dubljević 2012b). Consider the example of logistics companies in a more or less laissezfaire market economy. Let’s say that the most profitable trucking route is 1250 kilometers long. The run could be achieved in just one day, but the stress and the fatigue are too much to handle. As such, without enhancement drugs, companies offer the service of two-day transport. Accommodations for the truck-driver are included in the price. That would make the return trip last 4 days. Let’s say that company A decides to hire only truck-drivers who have no problem with using Modafinil (the medical treatment for narcolepsy) in order to stay alert and make the run in just one day. The company offers the service for the same price, thus gaining extra profit, but for half the duration. Company B, the chief competitor of Company A, responds by offering the “overnight express” service and accordingly gives current employees the following choice: either they will start using Modafinil in order to cope with the requirements of the job, or they will be laid off. The effects on the market are not hard to foresee. Other companies would either adopt similar policies, or go out of business. The truck-drivers would either use Modafinil (or some other drug) or be out of work. Their choice is dictated by market forces which are completely beyond their control. The example clarifies the problem, but it is still unclear how exactly to regulate CE drugs and whether this regulation would achieve the socially Veljko Dubljević 294 desirable effects. On the one hand, prohibitive policies on alcohol have proved to be disastrous, even though very real social problems are caused by alcohol abuse. On the other hand, “discourage use” policies use taxes, fees, insurance requirements and other measures as economic disincentives for the use of certain substances (see Dubljević 2012a). This in no way infringes on the rights of those that would like to use these substances, but this, along with other measures such as the prohibition of use in certain places or situations, ensures that the rights of others are respected as well. Smoking is a case in point here - cigarettes are heavily taxed and smokers are subject to other disincentives (e. g. more expensive insurance) and forms of regulation. A policy analogous to tobacco regulation could be a starting point for effective and legitimate regulation of CE drugs. 5 Cognitive Enhancement and the Economic Disincentives Model I have proposed the Economic Disincentives Model (EDM) as the potential legitimate solution to the problem of CE use (see Dubljević 2012b). Under EDM, an already existing government agency (e. g. U.S. Food and Drug Administration) would offer a licensing procedure to pharmaceutical companies to market CE drugs for healthy adults. This way all citizens could have legal access to CE drugs, but with the imposition of taxes, fees and additional insurance requirements, it creates financial and regulatory burdens for their use. EDM envisions an additional licensing procedure for users - in order to use CE drugs, citizens would have to pay fees for a course about known effects and side effects, and pass an exam as proof of knowledge. Furthermore, additional medical insurance and obligatory annual medical tests would need to be taken in order to obtain (and renew) a license to use CE drugs. Recall that a very important issue in the debate on CE was justice. Justice demands that funds obtained from those who seek advantage by enhancement be allocated to the least advantaged. That is why under EDM the prices of CE drugs would be regulated - they would contain the standard costs of production and distribution, the profit margin would be limited and an additional tax would be imposed. The companies earning profits obtained from CE would be further taxed and obliged to invest extensively in orphan drugs. 4 The funds gained by such policy would be invested in providing 4 Orphan drugs are medications for conditions with a small number of patients. This means that the economic incentives for producers are insufficient, and governments provide economic incentives so that the patient population will not be left untreated. In the United States, three operative types of incentives for orphan drugs are: 1) government subsidies for clinical trials; 2) a tax credit of half the clinical research costs; and 3) a seven-year monopoly for marketing the drug. Regulation of Cognition Enhancement Drugs and Public Reason 295 medical necessities for the least well-off and any remaining funds would be allocated to finance education. It could be objected that EDM might have considerable drawbacks: The procedures could turn out to be expensive and bureaucratic and involve considerable work and time from the would-be users (see BMA 2007). However, this objection fails to undermine the model. For example, the licensing procedure for driving vehicles is bureaucratic and involves considerable time and work from would-be drivers, and it is still efficient and legitimate. Furthermore, EDM would function as an addition to - and not a further drain on - public funding. This policy would efficiently and legitimately ensure that all citizens could have legal access to CE drugs, and with the imposition of taxes, fees, and requirements of additional insurance, it would offset any positional advantage from using CE drugs. That is why I have concluded that EDM might be a legitimate public policy for CE drugs. I argued that such measures could appropriately protect the interests of all citizens from indirect coercion. This, however, left open the question about the plausibility of indirect coercion to use CE. 5 That is why further discussion focused on the question whether the fears about social pressure or indirect coercion are founded by using rational choice modeling (see Dubljević 2013a). I used a qualitative modeling strategy because of the lack of reliable data for quantification. Namely, currently available data on prevalence varies greatly among different surveys and ranges from 5% to 35% (see Ragan et al. 2013). Furthermore, the lack of adequate information on long term effects and even short term benefits (the issue how laboratory findings of improvement in cognition relate to everyday performance is far from clear) further complicates the matter. A purely quantitative rational choice modeling strategy would require reliable data, which is not available. Bearing all this in mind, numerical payoffs in the design of dilemmas could not be assigned, and a qualitative analysis was the only available option. This fact also points toward the conclusion that regulatory models, which could provide the missing information, would be more effective, even if their preliminary assumptions turn out to be incorrect in the long run. 5 Coercion basically means that a person is forced by an external source to perform an involuntary action. Now, market forces influence decisions (as we have seen in the truckers in the Modafinil example), but it is important to understand the dual nature of voluntariness in this context. Rawls (2005, 472) briefly discussed two types of voluntariness: rational and reasonable voluntariness. On this view, incentives and disincentives are never compromising rational voluntariness, whereas they might compromise reasonable voluntariness if the system makes it economically rational to act unfairly. Veljko Dubljević 296 6 Rational Choice Modeling of Indirect Coercion to Enhance The social pressure to enhance could be modeled as a multi-person Prisoners’ Dilemma (see Dubljević 2013a): Let’s assume that Alison is assessing her options before an important cognitively demanding test, which could influence the availability of certain options in the future. 6 Her options could be modeled as a game in which Alison is playing against all other competitors: Many others do not use CE Most others use CE Alison uses CE Alison gains competitive advantage over others, but pays the associated health costs. Alison gains no advantage, and pays the associated health costs. Alison refrains from using CE Alison does not gain any advantage. She competes on equal footing with those that do not use CE. However, if resources are very scarce, her chances are reduced if at least one competitor is using CE. Alison does not gain any advantage, and in fact she is disadvantaged. Display 1: A Basic Multi-Person Prisoners’ Dilemma on CE As can be seen from Display 1, the decision is influenced by the choices of others, and uncertainty about the use of others leads to using CE being the dominant choice under the circumstances. Furthermore, regardless of whether Alison wants to maximize her maximum payoffs or just maximize the minimum, she would have to use CE. 7 And this does not presuppose any stance on the moral status of CE. Taking CE drugs has not been labeled as cheating or preferable - the Prisoners’ Dilemma has been neutral toward personal preferences. When these are introduced, this analysis also explains the finding that many people who would otherwise refuse to give CE to their children, would reluctantly do that if other children in the same school were using CE (see Maher 2008). The conclusion is that if a sufficient number of people expect others to use CE in a given competitive environment that might be enough to start the chain reaction. Would prohibition of CE drugs be a better solution? Consider the situation in Germany - CE drugs are nominally prohibited there: the possession and use of stimulants such as Ritalin without a prescription is a criminal offense, which could be sanctioned by up to three 6 I have deliberately left Alison’s situation as vague as possible, since this approach should be able to model choices for a diverse class of rational agents in a competitive setting - from students to employees of a corporation. 7 In the case she wants to maximize the maximum, Alison would opt to use CE to gain positional advantage. In the case she wants to maximize the minimum, she wants to avoid being disadvantaged. Regulation of Cognition Enhancement Drugs and Public Reason 297 years in prison. Prescribing stimulants to healthy adults is also a criminal offense (see Lieb 2010, 100). And yet according to one report 33.4% of Ritalin is used off-label, while 12.6% is used without any diagnosis (see DAK 2009). Perhaps this ineffectiveness of prohibition could be offset in the future by random testing procedures, which are currently not in place. Let’s try to model this situation again with Alison. Let’s assume that most others do not use CE (as it is prohibited) and that there is a procedure of random testing for CE (since doping tests on every exam would be too costly). Alison’s options should be modeled now as a game in which she is playing against the system: There is no test There is an appropriate test Alison uses CE Alison gains competitive advantage over others, but she pays the associated health costs. Alison gets caught. Depending on the sanctions she is either merely disadvantaged or severely limited in available options, and pays the associated health costs. Alison refrains from using CE Alison doesn’t gain any advantage. She competes on equal footing with those that do not use CE. However, if resources are very scarce, her chances are reduced if at least one competitor is using CE. Alison doesn’t gain any advantage. She competes on equal footing with others. Display 2: CE in a Prohibitive Environment As it can be seen from Display 2, the decision depends on the likelihood that others use CE, the chance of being caught and the severity of sanctions, which pushes the associated costs to ever higher limits. Namely, if tests could be circumvented in any way or if sanctions are not high enough, using CE would again be the dominant choice under the circumstances. 8 Therefore, it would also most likely lead to the chain reaction of social pressure. But would any other policy be better? 8 Again, in the case she wants to maximize the maximum, Alison would opt to use CE to gain positional advantage. In the case she wants to maximize the minimum, she wants to avoid being disadvantaged. Here lies the catch: if there are random tests for CE, this sends the message that CE is a real social problem and that there is a sufficient number of people that are trying to beat the system. Depending on the severity of sanctions, the rational decision is skewed toward using CE. Veljko Dubljević 298 7 Rational Choice Modeling of the Gate-Keeper-Approach The so called Gate-Keeper Approach - relying on health professionals to act as “gate-keepers” of CE - is a prominent proposal for regulation of CE drugs (see Larriviere et al. 2009). However, it is unclear whether such an approach would solve the problem of social pressure (or just create others) and whether it could be justified to all citizens. Let’s try to test this claim by modeling the options in yet another dilemma. Alison’s choice is now constrained by the decision of a medical doctor: MDs of many other competitors do not prescribe CE MDs of many other competitors prescribe CE Alison’s MD prescribes CE Alison gains competitive advantage over others, but she pays the associated health costs. Alison gains no advantage, pays the associated health costs, but at least she is not disadvantaged. Alison’s MD refrains from prescribing CE Alison doesn’t gain any advantage. She competes on equal footing with those that do not use CE. However, if resources are very scarce, her chances are reduced if at least one competitor is using CE. Alison doesn’t gain any advantage. She competes on equal footing with those that do not use CE. However, if resources are very scarce, her chances are reduced if at least one competitor is using CE. Display 3: CE in a Gate-Keeper Environment It is important to note here that the decision is made by the health professional, not by Alison, whatever she might prefer. On the one hand, if her preference is not to use CE, she does not consult her medical doctor and is most likely disadvantaged. Otherwise she needs to consult a health professional. The medical doctor makes the relevant decision: if he or she thinks that Alison’s particular case is justified, CE will be prescribed, but if not, Alison has the option to go “doctor shopping”, until she finds access to CE. Now, that could be circumvented by introducing a model with sterner regulation by the state or regulatory bodies. Perhaps Alison could be limited to only one second opinion. Medical doctors would be very careful not to overprescribe CE, while a certain amount of prescriptions would be approved. That way only some citizens would have access, which would be unfair. So what other options are there? 8 Rational Choice Modeling of the Economic Disincentives Model Recall that I concluded that EDM would be a legitimate public policy on CE drugs. Could EDM be equally acceptable to both citizens that prefer to en- Regulation of Cognition Enhancement Drugs and Public Reason 299 hance and those that do not and in the best interest of everyone? Let’s assume that Alison would prefer not to use CE, and the reverse for Betty. Their choices can again be illustrated with a game in which each agent is playing against all others: EDM is in place so many others do not use CE There is no regulation and most others use CE Alison (or Betty) uses CE She gains competitive advantage, but pays the costs for it (financial burdens, institutional inconveniences and health costs). She gains no advantage, but pays the related health costs. Alison (or Betty) refrains from using CE She doesn’t gain any advantage but she doesn’t pay health costs and the advantage of competitors is not significant as they pay additional costs. She doesn’t gain any advantage, and in fact she is disadvantaged. Display 4: CE With and Without the EDM Environment Now someone could object that regulation policy would be justified only from Alison’s point of view, who doesn’t want to use CE anyway. But that is clearly not the case. It has been assumed that Betty actually wants to use CE as a matter of personal preference. She has weighed advantages and health costs and she thinks the health costs are a reasonable trade-off to achieve her goals. But notice (in Display 4) that in case there is no regulation, Betty doesn’t get the advantage (which is the reason she wants to use CE in the first place) but merely endures the costs. Clearly, EDM is rational and in the best interest of both Alison and Betty, and actually provides a framework in which both can follow their personal preferences. 9 This, however, does not mean that all CE drugs should be regulated with EDM or some other taxation type policy. Some of the CE drugs could be dangerous if introduced as a legally available commodity for the general public. Although many assume that some (e. g. Ritalin) are safer than others (e. g. Adderall) even Ritalin has been “accused” of creating all sorts of phys- 9 Consider the example of the use of steroids in sports: the use of steroids is rational only if others are not using them. Otherwise, everyone just pays the health costs and there are no advantages. Now, in a system in which economic, positional and regulatory hurdles (like in the case of EDM) are sufficiently high to provide disadvantages, but still allow for steroid use, the reasonable voluntary choice is less skewed in one direction, marginal positional advantage with health-related and social costs is available, and disadvantage is again marginal, but the benefits of avoiding health-related costs are huge in the long run. Now, this should not be taken as an argument to extend EDM to steroid use in sports, merely as an illustration in a clearly competitive (zero sum) environment. The reason for inclusion of this example is that the educational context is sometimes non-competitive (non-zero sum), which complicates the picture. Veljko Dubljević 300 iologically and socially harmful effects, from addiction to maintaining racial inequality by overmedicating and pacifying youths of minorities (see Breggin 2001; Fitzgerald 2009). 9 Dangers and Health Costs of Using Cognitive Enhancers In further analysis, I returned to the question of side-effects (see Dubljević 2013b). I analyzed available information on two of the most commonly used CE drugs: Adderall and Ritalin. The question that was left unanswered was: is the use of Adderall and Ritalin most similar to using coffee, cocaine, or tobacco? I argued against their use being similar to coffee use and claimed that EDM, which is similar to and yet more profound than current regulation of tobacco, could be effective and legitimate. However, based on their evidence-based danger profiles, while the use of Ritalin is more ambiguous, the use of Adderall is more like using illicit drugs such as Speed, since the substance is the same: amphetamine (see Nutt et al. 2007; Dubljević 2013b). Even if we take the danger of amphetamine at face value, the use of both Adderall (amphetamine) and Ritalin (methylphenidate) for CE has to be distinguished from both therapeutic and ordinary illicit uses. They affect dopamine levels in the brain, which is the reason why they are prescribed in the first place. To simplify things, people with ADHD don’t have enough dopamine, so the drugs help. Healthy people can “boost” their performance as well, especially when they are tired (see Ranisch et al. 2013). However, intervening in the dopaminergic system can be dangerous, since it can cause many adverse side-effects, including mania and addiction. That is why both Ritalin (and all other forms of methylphenidate) and amphetamine are currently on controlled substance lists all over the world. In fact, the United Nations Convention on Psychotropic Substances (see UN 1971) explicitly lists methylphenidate as a Schedule II drug (dangerous substance with known medical uses). Even though Ritalin as well as Adderall can be beneficial, the side-effects can be dangerous. Apart from nervousness, drowsiness, insomnia, and problems during pregnancy, both drugs could cause serious heart trouble and addiction (see Iversen 2008). The most immediate effect is the increase in blood pressure, which could be dangerous and may even cause sudden death. They are especially dangerous if they are used in high quantities, injected directly into the bloodstream, or inhaled. In those instances, they can create a “rush”, euphoria (“high”), and even manic episodes similar to schizophrenia. So, what would be the appropriate response of the state? Again, it should be recalled that, even though most people have no idea how dangerous Ritalin and Adderall can be, they are not abusing them - merely using them to be able to work longer. But the dangers identified above make it clear that we cannot regulate these CE drugs like coffee, but, even though the picture Regulation of Cognition Enhancement Drugs and Public Reason 301 may be clear for amphetamine, which is extremely dangerous, there is a difference between various formulas of methylphenidate. Time-release technology can make Ritalin safer, so that it can only be used as a pill that would preclude abuse. The extended release formulas do not cause “rush”, or “high”, so there is less danger of addiction. Amphetamine (including Adderall), on the other hand, is just too dangerous in all forms. 10 10 International Law on Cognition Enhancement Drugs Recall that the 1971 UN Convention specifically regulates the use of Amphetamine and Methylphenidate. Countries that have signed the Convention must enforce it. Accordingly, most countries have made laws that reflect the provisions of the Convention. For example, in the United States, the Psychotropic Substances Act of 1978 explicitly ensures compliance with the UN convention: “It is the intent of the Congress that the amendments made by this Act, together with existing law, will enable the United States to meet all of its obligations under the Convention and that no further legislation will be necessary for that purpose.” (21 U.S.C. § 801a) However, a serious objection could be leveled here. Namely, has not rational choice modeling (see Display 2) proved that a prohibitive response would be only costly and totally ineffective? In order to answer these challenges, and establish effectiveness and legitimacy of such regulation, the specific regulatory environment of amphetamine prohibition should be modeled using tools of rational choice. 10 Amphetamine reverses dopamine transporter action, which increases both the therapeutic effects and the danger of addiction. Namely, Methylphenidate (which only blocks dopamine transporter action) is only able to extend the time naturally occurring dopamine and noradrenaline remain in the synaptic cleft, whereas Amphetamine causes additional excretion of dopamine and noradrenaline. Noradrenaline increases arousal, but also blood pressure, so additional quantities might cause adverse cardiovascular events in people with high blood pressure. But these are just bodily harms - too much dopamine can literally “hi-jack” volitional capacities and impair cognitive capacities of an individual. If the amount of dopamine increases rapidly an intoxicating effect (rush) is achieved which impairs volitional capacities and might cause aggression. If the amount of dopamine is steadily high, it produces pleasurable euphoric effects which can impair cognitive capacities in the short term (by intoxication) and in the long run (by causing chronic conditions of alternating capacity and incapacity). If this effect is sustained for prolonged periods of time (a week or more), it might even produce psychiatric adverse events which are comparable to positive symptoms of schizophrenia. The so-called Amphetamine Psychosis is a state of heightened emotional arousal, with frightening visual, auditory and tactile hallucinations and paranoid delusions. Persons affected can be violent and dangerous to self and others. For a more detailed argument, see Dubljević (2013b). Veljko Dubljević 302 Let’s assume that Alison is contemplating whether to use amphetamine in order to gain competitive advantage, especially since methylphenidate is already available to at least some competitors via EDM licensing procedure. Alison’s options should be modeled again as a game in which she is playing against the system: She has a license for methylphenidate She skips licensing and cheats the system Alison uses illegally acquired amphetamine She gains competitive advantage over others in single or several occasions. However, on her next medical test amphetamine is detected in her hair, her license is revoked and her examination record for that year is put to question. She gains competitive advantage over others in single or several occasions. However, since examination authorities (and peers) are aware of visible side-effects (e. g., aggression), she is caught sooner or later. Alison uses methylphenidate She gains a marginal competitive advantage (along with others that have a valid license), but pays the costs for it (financial and health). She gains slight competitive advantage. Since authorities are aware of visible side-effects (e. g., aggression), she is caught sooner or later. Display 5: Amphetamine in a Mixed EDM/ Prohibitive Environment By the virtue that EDM is in place for methylphenidate, prohibitive regulation of amphetamine is much easier. Namely, random tests are not necessary, since licensed methylphenidate users are already paying for annual medical tests in order to renew their license. Amphetamines can be tested for easily in sweat, blood, saliva and most importantly in hair, and testing for trace evidence of drug abuse in hair would be an important part of the annual test. Bearing all this in mind, the most rational decision is to use methylphenidate legally, with a license, and to avoid connection with the underworld and products of questionable safety and social dangers (e. g. loss of reputation, revocation of degrees, etc.). Another objection could be that this modeling is faulty, because the UN Convention (1971) requires prohibition for both amphetamine and methylphenidate. However, this assertion would not be true. The UN Convention regulates abuse of drugs. It also states that a preparation may be exempted from prohibition if it is compounded so that it presents no, or a negligible, risk of abuse and if it does not give rise to a public health and social problem. Since (unlike amphetamine) extended release formulas of methylphenidate (e. g. Ritalin-SR) might meet this criterion, this might make a “discourage use” type of policy like the EDM more or less appropriate. However, the UN Convention requires the following measures: a) licenses for manufacture; b) statistical records of quantity, date, supplier and recipient; c) prohibition of and restrictions on its export and import; d) inspection Regulation of Cognition Enhancement Drugs and Public Reason 303 of manufacturers, distributors and users; e) statistical reports of use, abuse and commerce for the UN and f) criminal prosecution of illicit manufacture and sale. 11 Conclusion The Economic Disincentives Model includes all the requirements of the UN Convention and more because the dangers should not be taken lightly. Recall that EDM envisions a licensing procedure for users including a course about known effects and side effects, passing an exam as proof of knowledge, additional medical insurance, and obligatory annual medical tests. Recall that the issue was the right to use and not to use certain substances. Similarly to smokers, would-be CE users, if they know what they are doing, should have the right to do it. Similarly to non-smokers, no one should be forced to bear the effects of such use unwillingly. EDM guarantees the rights of all. Literature Appel, Jacob M. (2008): When the Boss Turns Pusher. A Proposal for Employee Protections in the Age of Cosmetic Neurology. In: Journal of Medical Ethics 34(8), pp. 616-618. Beauchamp, Tom L./ Childress, James F. (2009): Principles of Biomedical Ethics. New York: Oxford University Press. Blank, Robert H. (2010): Globalization. Pluralist Concerns and Contexts. In: Giordano, J./ Gordijn, B. (eds.): Scientific and Philosophical Perspectives in Neuroethics. Cambridge et al.: Cambridge University Press, pp. 321-342. British Medical Association [BMA] (2007): Boosting your Brainpower. Ethical Aspects of Cognitive Enhancements. 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United Nations [UN] (1971): Convention on Psychotropic Substances. «http: / / www. unodc.org/ pdf/ convention_1971_en.pdf» (26.07.2014). Jochen Fehling Vermarktung genetischer Tests im Spannungsverhältnis zwischen Gewinnoptimierung und Patientennutzen: Was kann eine Unternehmensethik leisten? 1 Abstract The Marketing of Genetic Tests: Between Profit-maximization and Patient Benefit. What Can Business Ethics Contribute? Development, testing and marketing of genetic tests in the private sector is profit-oriented by definition. The application and dissemination of genetic tests, however, is associated with a variety of evaluative and normative questions that relate to patient welfare among others. If the companies involved agree on a discourse on moral reasoning and justification for their activities in the field of genetic testing, then the question arises: What should be considered as “moral”? And: How far do the practical and moral obligations of the company reach? To clarify these issues, a list of practical-moral requirements is created and a specification of moral standards for business conduct is made. 1 Einleitung Die privatwirtschaftliche Entwicklung, Erprobung und Vermarktung genetischer Tests ist per definitionem gewinnorientiert. Die Anwendung und Verbreitung genetischer Tests ist dabei mit vielfältigen evaluativen und normativen Fragen verbunden, die unter anderem das Patientenwohl betreffen. Wenn sich die Unternehmen auf einen Diskurs über eine moralische Begründung und Rechtfertigung ihrer Aktivitäten im Bereich genetischer Tests einlassen, dann stellen sich die Fragen: Was ist ethisch zu berücksichtigen? Und: Wie weit gehen die moralischen Verpflichtungen der Unternehmen? 1 Der Verfasser dankt Prof. Dr. Georg Marckmann (München) für wertvolle Unterstützung bei der Durchführung des Projekts. Daneben fanden zahlreiche Anregungen aus dem Kolloquium des Graduiertenkollegs „Bioethik“ Eingang in diesen Beitrag. Insbesondere Prof. Dr. Eve-Marie Engels und Prof. Dr. Thomas Potthast sei gedankt für ihre Anregungen zum Projekt. Jochen Fehling 306 Um diese Fragen zu klären, soll ein Katalog der moralischen Anforderungen im Umgang mit der genetischen Diagnostik erstellt werden und anschließend eine Konkretisierung der moralischen Anforderungen für das Unternehmenshandeln vorgenommen werden. Der Beitrag hat folglich zum Ziel, Perspektiven, die primär der biomedizinischen Ethik entstammen, auf die unternehmensethische Bewegung der sogenannten Corporate Social Responsibility (CSR), also der gesellschaftlichen Verantwortung unternehmerischen Handelns gegenüber den Stakeholdern (dt. „Anspruchsgruppen“), zu beziehen. Die Stakeholder sind in diesem Fall insbesondere die betroffenen Patientengruppen. Möglicherweise sollten im Fall der genetischen Tests alle Mitglieder der Gesellschaft als Stakeholder gesehen werden, da dieses Produkt unsere Art zu leben insgesamt betrifft. Beispiele hierfür wären die steigende Verantwortungszuschreibung des Einzelnen für seine Gesundheit oder die Normalität des Mitlebens von Menschen mit Behinderungen in Schule, Sportverein oder Arbeitsplatz. Ganz besonders dringlich ist bei genetischen Tests der Bezug von CSR auf das sogenannte Kerngeschäft des Unternehmens. Der durch das deutsche Gendiagnostikgesetz (GenDG, 2010) gegebene Handlungsspielraum ist verantwortlich zu füllen. Der Anwendungsraum des Projekts ist Deutschland, da das deutsche Gendiagnostikgesetz einen spezifischen rechtlichen Handlungsrahmen vorgibt. Den moralischen gilt es zu entwickeln. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die Arten genetischer Diagnostik gegeben (2). Es werden dann normative Fragen genetischer Diagnostik in einem Katalog zusammengestellt (3). Es folgt die Darstellung des deutschen Gendiagnostikgesetzes als Rahmen des unternehmerischen Handelns (4). Anschließend werden bestehende Kodizes auf Unternehmensebene zusammengetragen, um zu überprüfen, welche Selbstverpflichtungen im Hinblick auf moralische Fragen bereits bestehen. Sodann wird der ethische Kohärentismus kurz dargestellt und knapp erörtert, ob sich Unternehmen überhaupt dem moralischen Diskurs um die genetischen Tests stellen sollten (5). Aufbauend hierauf werden schließlich unternehmensethische Empfehlungen abgeleitet (6). 2 Arten genetischer Diagnostik 2 Die hier relevanten Arten der genetischen Diagnostik werden im Folgenden kurz dargestellt. Verbunden mit der Darstellung ist eine Einschätzung der Relevanz für die hier behandelte Frage der Verantwortung der produzierenden Unternehmen. 2 Die Gliederung der Arten genetischer Diagnostik lehnt sich an Marckmann/ Wiesing (2012) an, die Reihenfolge wird jedoch geändert und moralisch weniger problematische Testarten ausgelassen. Vermarktung genetischer Tests 307 2.1 Präimplantationsdiagnostik (PID) Noch vor der Implantation in den Uterus kann am Embryo in der Petrischale eine Präimplantationsdiagnostik durchgeführt werden. In Deutschland ist diese streng durch das Embryonenschutzgesetz reglementiert und eng auf medizinische Indikationen begrenzt (vgl. Marckmann/ Wiesing 2012, 383- 384). Da die Arten der Anwendungen stark begrenzt sind, kann von einem geringen wirtschaftlichen Potenzial ausgegangen werden. Anders läge der Fall, wenn die bisherige Begrenzung auf medizinische Indikationen aufgehoben würde. Dann hätten die entwickelnden und produzierenden Unternehmen dieser Tests die Aufgabe, sich dem gesellschaftlichen Diskurs etwa um die Frage der gezielten Merkmalsselektion - Stichwort: „Designer-Baby“ - (vgl. ebd.) zu stellen. Da positives Recht stets Wandlungen unterliegt, ist es hier für die Firmen durchaus ratsam, prospektiv am Diskurs teilzunehmen, um bei einer veränderten gesetzlichen Lage schnell und richtig reagieren zu können. Daneben ist es auch denkbar, dass die Unternehmen ihre Diagnoseprodukte in anderen Ländern mit anderen rechtlichen Rahmenbedingungen auf den Markt bringen wollen (vgl. Eaton 2004, 61). 2.2 Pränatale Diagnostik (PND) Die pränatale Diagnostik untersucht die Leibesfrucht auf pathogene Veränderungen. Da im Falle eines positiven Befundes Therapien nur selten möglich sind, „verbleibt in der Regel nur der Schwangerschaftsabbruch als Interventionsmöglichkeit“ (Marckmann/ Wiesing 2012, 382). Entsprechend ist dann die moralische Bewertung der pränatalen Diagnostik eng mit der Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs verbunden (vgl. ebd.). Von großer medialer Aufmerksamkeit begleitet wurde die Einführung der nichtinvasiven Pränataldiagnostik (NIPD) in Deutschland für die Chromosomenanomalie Trisomie 21 durch das Unternehmen LifeCodexx. 3 Im Kern geht es bei diesem Test darum, die für die (invasive) PND notwendige und mit hohen Risiken verbundene Fruchtwasserpunktion als Diagnosemethode zu vermeiden. Das Risiko für eine dadurch eingeleitete Fehlgeburt liegt bei 1- 3% (vgl. Marckmann/ Wiesing 2012, 382). Der NIPD-Test selbst kann als valide angesehen werden (vgl. Chiu u. a. 2011, 7f.). Nicht speziell für den NIPD-Test, sondern allgemein für jede PND gilt, dass insbesondere die Folgen für heute schon lebende Menschen mit Trisomie 21 bedacht werden müssen. Es besteht die Gefahr einer Diskriminierung und einer verminderten Akzeptanz von „Menschen mit dieser genetischen Konstitution“ (Marckmann/ Wiesing 2012, 382). Potenziell könnte durch die verbreitete Anwendung des NIPD-Tests die Zahl der Babys mit Trisomie 21 weiter zurückgehen; Eltern, die sich trotz der Möglichkeit des Tests für das Kind 3 Vgl. Bahnsen (2011); Richter-Kuhlmann (2012); Kuhrt (2012b); Bredow/ Hackenbroch (2012); Kuhrt/ Le Ker (2012); Kuhrt (2012a). Jochen Fehling 308 entscheiden, könnten indirekt unter Rechtfertigungsdruck geraten, z. B. wegen des erhöhten Betreuungsaufwands von Kindern mit Down-Syndrom. Daneben ist es denkbar, dass der Trisomie 21-Test nur den Auftakt für eine Reihe anderer Tests darstellt. Hier wird sorgfältig zu beobachten sein, wo die Grenze zu einer vorgeburtlichen Selektion von Kindern in moralisch unzulässiger Weise überschritten wird. Allerdings wird es in unserer Gesellschaft, in der Wertepluralismus herrscht, nicht möglich sein, darüber zu einem abschließenden, endgültigen Urteil zu kommen (vgl. Noll 2002, 5f.). Dann können sich die Unternehmen aber auch nicht auf den rechtlichen Rahmen, der sich dann eben auch wandeln wird (vgl. Höffe 2007, 37f.), allein beziehen, wenn sie die Legitimität ihres Handelns auch zukünftig gewährleisten wollen. 2.3 Prädiktive genetische Diagnostik Diese Art der präsymptomatischen „Diagnostik ermöglicht die Erkennung von Erkrankungen oder Krankheitsdispositionen lange bevor die ersten Symptome auftreten“ (Marckmann/ Wiesing 2012, 385). Grundsätzlich muss dann unterschieden werden zwischen Krankheiten, die „durch präventive oder therapeutische Maßnahmen in ihrem Ausbruch oder Verlauf beeinflusst werden“ können und solchen, die „nicht beeinflussbar sind (als paradigmatisches Beispiel gilt die Chorea Huntington)“ (ebd.). Bei dieser Art von Tests handelt es sich um postnatale Tests (vgl. Heinrichs 2006, 119f.). In den meisten Fällen machen diese probabilistische Aussagen. Es wird also eine Wahrscheinlichkeit angegeben, in der Zukunft an einer bestimmten Krankheit zu leiden. In der Umweltethik liegt zur Klassifikation von Unsicherheit eine hilfreiche, detaillierte Unterscheidung von Jaeger (2000) vor. Es wird erst dann von Risiko gesprochen, wenn sowohl Eintrittswahrscheinlichkeit als auch Schadensgröße (die Erkrankung) bekannt sind (vgl. ebd., 205). Wäre die Wahrscheinlichkeit nicht bekannt, würde man von Ungewissheit sprechen. Diese umweltethische Klassifizierung ist aber nicht problemlos auf medizinethische Fragen übertragbar, da zwar die Wahrscheinlichkeit bekannt ist, das Ausmaß des Schadens aber individuell stark variieren kann. Die objektive Schwere der Krankheit und das subjektive Gefühl der Einschränkung oder Belastung durch die Krankheit streuen über die Individuen. Trotz dieser - aus Sicht der Umweltethik - ungenauen Abgrenzung soll im Folgenden von Risiko gesprochen werden, auch wenn die Schadensgröße selbst für die individuell Betroffenen in der Gegenwart unbekannt ist. Prädiktive genetische Diagnostik spielt im hier betrachteten Fall - der Frage nach unternehmensethischer Verantwortung bei Entwicklung, Produktion und Vermarktung genetischer Tests - eine zentrale Rolle. Begründet werden kann diese Annahme durch die Tatsache, dass es bereits heute ein Angebot an Tests gibt, die genau diese Krankheitsrisiken aufdecken sollen. Das Unternehmen 23andMe etwa hatte einen solchen Test im Direktvertrieb Vermarktung genetischer Tests 309 in den USA angeboten (vgl. Perrone 2013). Weil die Validität der Tests jedoch nicht wissenschaftlich belegt werden konnte, stoppte die USamerikanische Food and Drug Administration (FDA) den Vertrieb des Tests im November 2013: „The agency orders 23andMe to stop marketing its test immediately, warning that erroneous results could cause customers to seek unnecessary or ineffective medical care” (ebd.). In Deutschland gilt für jegliche Art der genetischen Diagnostik grundsätzlich der Arztvorbehalt (siehe 4). In diesem Rahmen jedoch bietet beispielsweise das Unternehmen Humatrix eine „DNA-Diagnostik Baby“ an, mit deren Hilfe rechtzeitig auf genetische Dispositionen z. B. für das Risiko auf Taubheit beim Einsatz von Antibiotika getestet werden kann (vgl. humatrix 2006). Dieser Test ist keine Kassenleistung, sondern muss von den Eltern als individuelle Gesundheitsleistung privat bezahlt werden (vgl. humatrix o. J. a). Wichtig ist darüber hinaus, dass auch die neuesten Testmöglichkeiten, insbesondere zur Sequenzierung des gesamten Genoms (vgl. Deutscher Ethikrat 2013, 32ff.), mit ihren spezifischen normativen Fragestellungen erfasst werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese von besonderer Relevanz sind, da es sich hier um Bereiche handelt, die noch nicht durch das Gendiagnostikgesetz geregelt sind. Als Beispiel sei hier die Frage der Aufklärungspflicht bei einer Totalsequenzierung genannt (vgl. ebd., 41). 3 Normative Fragen genetischer Diagnostik Im Folgenden wird eine knappe Darstellung der normativen Fragen genetischer Tests vorgenommen. Die umfassende und lang anhaltende Diskussion kann hier jedoch nicht vollständig im Sinne einer evidenzbasierten Ethik (vgl. Strech 2008) abgebildet werden. Um dennoch eine verlässliche Erläuterung zu erreichen, werden vorrangig Publikationen herangezogen, die einen Überblick über diese Fragen geben. Grundsätzlich unterliegt aber die technische Entwicklung in diesem Bereich einem raschen Wandel, so dass sich schnell neue Fragen auftun. Im Folgenden wird versucht, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen. Es ist strittig, ob es legitim ist, insbesondere prädiktive Diagnostiken zu erstellen für Krankheiten, die nur begrenzt therapierbar sind (vgl. Marckmann/ Wiesing 2012, 380). Informationelle Selbstbestimmung ist dabei „die wichtigste Richtlinie in der genetischen Diagnostik“ (ebd.). Sie umfasst das Recht auf Wissen und das Recht auf Nichtwissen (vgl. ebd.). Die Diagnostik sollte freiwillig erfolgen „und bedarf der ausdrücklichen Zustimmung des Betroffenen nach eingehender Aufklärung über die möglichen Ergebnisse und die resultierenden Handlungsoptionen“ (ebd.). Dies ist bei einer PID und allen pränatalen Tests sehr problematisch, da ja durchaus auch die zukünftigen Kinder als Betroffene zu verstehen sind. In einer nicht-direktiven Beratung sollten Nutzen und Wertvorstellungen des Patienten im Mittelpunkt stehen; die nicht-direktive Beratung ist ergebnisoffen (vgl. ebd.; Deut- Jochen Fehling 310 scher Bundestag 2008, 10). Bei Verwandten kann es konfligierende Rechte geben, wenn die genetische Information des Patienten auch eine Information für Verwandte enthält (vgl. Marckmann/ Wiesing 2012, 381). Bei einer Aufklärung über schwerwiegende Krankheiten kann es zu „erheblichen psychischen Belastungen“ kommen (Tambornino u. a. 2009). Insbesondere der Nutzen aus prädiktiven, probabilistischen genetischen Informationen, so z. B. hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit an Morbus Alzheimer zu erkranken, ist fraglich, da es zu einer unangemessenen Verängstigung und zu überzogenen Anpassungen des Verhaltens kommen kann. Weiterhin stellt sich die Frage nach der Nutzung genetischer Daten durch Arbeitgeber und Versicherungen (vgl. Marckmann/ Wiesing 2012, 381). Auch die mögliche Speicherung genetischer Daten kann „möglicherweise individuelle Rechte“ berühren (Müller-Röber u. a. 2009, 136). Auch eine Engführung jeglicher Umstände menschlichen Lebens auf genetische Informationen in diesen Fällen gilt es kritisch zu hinterfragen. Eine „Genetisierung der Lebenswelt“ (Tambornino u. a. 2009), die beispielweise die Erkenntnisse der Epigenetik über den Einfluss der Umwelt auf Genexpressionen unterschlägt, sollte vermieden werden. Weiterhin ist zu diskutieren, ob genetischen Daten „im Vergleich zu anderen medizinischen Daten ein Sonderstatus zukommt“ (Müller-Röber u. a. 2009, 136). 4 Eine weitere normative Frage ist die nach der Erschaffung oder Stilisierung des zukünftigen Konsumenten als hoch kompetenten, autonomen Kunden (vgl. Belt 2011, 123ff.). Auch die Behinderung der Entwicklung und Anwendung genetischer Diagnostik durch den Investitionsschutz durch Patente kann hinterfragt werden (vgl. Müller-Röber u. a. 2009, 136). Und schließlich ist es eine normative Frage, welche Arten von Tests überhaupt entwickelt werden sollen. 4 Das deutsche Gendiagnostikgesetz Das deutsche Gendiagnostikgesetz (GenDG) bildet den rechtlichen Rahmen für die Aktivitäten der Unternehmen. Auf eine kurze Darstellung des Gesetzes folgt eine Auflistung an Regelungslücken und Novellierungsbedarf. Daran schließt sich eine Darstellung der unternehmensseitigen Festlegung auf bestimmte Werte durch Ethikkodizes an. 4.1 Regelungen Das am 01.02.2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz trifft umfangreiche Regelungen zum Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts 4 Für eine differenzierte Diskussion dieser Frage vgl. Heinrichs (2006, 122ff.). Vermarktung genetischer Tests 311 (vgl. Eberbach 2010, 157). 5 Es ist eine umfassende ärztliche Aufklärungspflicht (u. a. Zweck, Risiken, Widerrufsrecht, Recht auf Nichtwissen) vorgeschrieben. Es muss eine spezielle genetische Beratung durch einen Arzt angeboten werden. In direkter Erbfolge muss Verwandten, d. h. potentiellen Trägern der gleichen genetischen Erbanlagen, eine Beratung empfohlen werden. Vorgeburtliche genetische Untersuchungen sind an klare medizinische Bedingungen geknüpft. Im Arbeits- und Versicherungsrecht gelten ebenfalls strenge Schutzvorschriften: Bis auf eng geregelte Ausnahmen gilt, dass Arbeitgeber und Versicherungen keine genetischen Daten verwenden dürfen (vgl. ebd., 157ff.). 4.2 Novellierungsbedarf Diese Regelungen beziehen sich allerdings weitgehend auf das Arzt- Patientenverhältnis. Moralisch zu behandeln ist dann im Rahmen dieses Beitrags die unternehmensseitige proaktive und transparente Beteiligung an der Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen (beispielsweise die Unterstützung des Verbots von direkt vertriebenen „Direct to Consumer“-Tests) und die klare Positionierung bei Regelungslücken. Zu diesen zählen (vgl. Leopoldina 2010, 59ff.): - Umgang mit genetischer Überschussinformation (bei Hochdurchsatzsequenzierung 6 ) - Längerfristige Speicherung genetischer Überschussinformationen - Überschussinformation bei nicht einwilligungsfähigen Personen (Schutz der Möglichkeit des Nichtwissens) - Umgang mit Proben aus dem Ausland in deutschen Laboren Hier ergeben sich nun unmittelbar Konsequenzen für die Frage dieses Beitrags: Diese Regelungslücken sollten von den Unternehmen in legitimer Weise, d. h. moralisch begründet, ausgefüllt werden. In Abschnitt 6 werden hierzu Vorschläge formuliert. 4.3 Bestehende Dokumente auf Unternehmensebene Als bestehendes soft law können Dokumente zur moralischen Positionierung gelten, die schon von den Unternehmen veröffentlicht wurden. Hierzu 5 Eberbach bezieht sich hier und im Folgenden immer wieder auf Deutscher Bundestag (2008). 6 Hochdurchsatzsequenzierung bedeutet „zunehmend schnellere und dabei hoch auflösende Sequenzierung des gesamten Genoms“ (Deutscher Ethikrat 2013, 32). Auch epigenetische Daten können erhoben werden (vgl. ebd., 34; den Beitrag von K. Viktoria Röntgen in diesem Band). Überschussinformationen sind diejenigen Informationen, die über das primäre Diagnoseziel hinaus anfallen. Beispielsweise können so Suszeptibilitäten für weitere Erkrankungen diagnostiziert werden, deren Bestimmung zunächst nicht im Fokus stand. Jochen Fehling 312 konnten in einer ersten explorativen Untersuchung drei Produzenten genetischer Tests identifiziert werden, die ein solches Dokument veröffentlicht haben. Das Unternehmen Roche (2009) etwa verfügt über eine Roche Charter on Genetics (Ethical Principles). Die Einhaltung von Forschungsstandards, der Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts, Gesetzestreue, Respekt vor Werten, Verhinderung von Diskriminierung und Missbrauch, Verzicht auf das Klonen beim Menschen, Kommunikation von Forschungsergebnissen und Aufklärung über Genetik werden als Prinzipien festgeschrieben. Humatrix (o. J. b) hat das Dokument Ethische Grundsätze für DNA-Diagnostik. Unter anderem ist darin festgeschrieben, dass es nur ein Diagnoseangebot bei „zweifelsfrei nachgewiesenem Zusammenhang“ zwischen Genort und Krankheit bzw. Gesundheitsrisiken gibt und wenn eine Therapie oder Vorsorge möglich ist. Es wird keine Pränataldiagnostik angeboten. Eine regelmäßige Fortbildung der „beteiligten Personen und Institutionen“ (ebd.) ist vorgesehen. bio.logis (o. J.) schließlich spricht von einer „Philosophie“, die nicht direktive Beratung und den Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts umfasst. Insgesamt scheinen die bestehenden Dokumente nicht die Regelungslücken und den Novellierungsbedarf abzudecken. Es besteht also die Möglichkeit zu weitergehenden Selbstverpflichtungen (siehe 6). 5 Kohärentistische Ethik als Begründung Dieser Abschnitt führt den Kohärentismus als ethisch-normative Grundlage für die moralischen Empfehlungen für das Unternehmenshandeln ein (5.1). Im Anschluss werden Impulse aus der Unternehmensethik für die kohärentistische Suche nach begründeten Ansprüchen gegenüber den Unternehmen diskutiert (5.2) und auch erörtert, ob überhaupt von einer moralischen Verpflichtung der Unternehmen ausgegangen werden kann (5.3). 5.1 Ethischer Kohärentismus Ethischer Kohärentismus kann als „ein begründungsmethodisches Paradigma der Ethik“ aufgefasst werden (Rawls 1971 zitiert nach Badura 2006, 194). Der problemorientierte Kohärentismus stellt „eine Methode zur anwendungsorientierten Spezifizierung als gültig unterstellter, allgemeiner moralischer Prinzipien“ dar (Badura 2006, 194). Dabei können diese Prinzipien „sowohl dem aufgeklärten common sense entnommen sein (wie etwa die goldene Regel usw.), sie können aber auch einer speziellen ethischen Grundlagentheorie entstammen und für einen Praxiszusammenhang kohärenzorientiert spezifiziert werden“ (ebd.). Modellieren lässt sich der Kohärentismus als Überlegungsgleichgewicht. In dieses fließen sowohl „wohl überlegte moralische Urteile“ als auch „als relevant eingestufte moralische Prinzipien und Hintergrundtheorien der Psychologie, Soziologie usw.“ ein (ebd.). Vermarktung genetischer Tests 313 Wichtig ist dabei, dass kein Element einen Vorrang genießt, vielmehr „kann es zu Revisionen an jedem Punkt des ursprünglichen Überzeugungssystems kommen“ (ebd.). Der Kohärentismus soll hier als normativ-ethische Grundlage dienen. Relevante Bereichsethiken sind die Medizinethik und die Unternehmensethik. Bereichsethiken zeichnet aus, dass sie sich auf einen speziellen Bereich lebensweltlicher Praxis beziehen (vgl. Marckmann 2003, 7). In diesem deliberativen Prozess ist mit der Literaturschau ein erster Schritt getan. Weitere wären dann insbesondere die Einbeziehung der Stakeholder. Grundsätzlich ist der Kohärentismus aber ein Stakeholderfreundliches Begründungskonzept, da er keine Position unmittelbar ablehnt. 5.2 Unternehmensethische Literatur William-Jones und Ozdemir (2008, 34) untersuchen das Marketing für kommerzielle Gentest, die zum einen die Anfälligkeit von Krankheiten und zum anderen die Reaktion auf Medikamente erfassen. Dabei konzentrieren sie sich auf zwei unternehmensethisch relevante Bereiche: Wahrhaftigkeit in der Werbung und den Schutz geistiger Eigentumsrechte (vgl. ebd.). Dabei stellen sie auch die Frage nach dem richtigen Handeln des Unternehmens: „As we examine the diversity of stakeholders, interests and productspecific socio-ethical challenges involved in two different kinds of genetic tests, we also ask‚ what is a well-intentioned bio-technology company or corporate decision maker to do? “ (William-Jones/ Ozdemir 2008, 34) Dies ist insofern bemerkenswert, als in der Literatur (vgl. etwa Eaton 2004; Finegold u. a. 2005) der Aufzählung von Fragen und Problemen viel Raum gewidmet wird, während die Diskussion von konkreten Lösungen häufig deutlich kürzer ausfällt. Ein erstes Problem ist, dass genetische Tests für die Anfälligkeit von Krankheiten häufig keine eindeutigen Ergebnisse liefern, sondern nur über das Risiko informieren, an der Krankheit zu erkranken; daneben kann ein Test selbst schon aus naturwissenschaftlicher Sicht mit Unsicherheit behaftet sein (hier und im Folgenden, vgl. Williams-Jones/ Ozdemir 2008, 34-40). Hier besteht die Gefahr, dass Unternehmen dieses Risiko nicht kommunizieren und stattdessen den Eindruck vermitteln, dass es sich um eine deterministische Information handele. Dabei kann das Testergebnis ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen wie zum Beispiel die Familienplanung oder eine präventive Operation. Diesem Risiko, dessen Folgen zu tragen zunächst einmal dem Kunden aufgeladen ist, stehen jedoch große Renditechancen seitens des vermarktenden Unternehmens gegenüber. Es kommt hier folglich zu einem Konflikt moralischer Natur: Darf das Unternehmen zu Lasten seiner Kunden den Absatz von Gentests zur Bestimmung erblicher Erkrankungen - beispielsweise bei einer erblichen Form von Brustkrebs - breit vorantreiben, um seinen Gewinn zu steigern? Es besteht einerseits grundsätzlich ein Anreiz, den Nutzen eines Tests als groß und eindeutig anzuprei- Jochen Fehling 314 sen und andererseits die Risiken nicht adäquat zu kommunizieren. Und es stellt sich die Frage, ob der Verantwortungsbereich des Unternehmens mit der Übergabe des Testergebnisses endet oder ob es weitere Pflichten gibt, etwa eine Beratung zu den Ergebnissen anzubieten. Neben der Problematik eines fairen Marketings ist zu klären, wie die Unternehmen ihr zu hohen Kosten erstelltes geistiges Eigentum an den genetischen Tests schützen können. Zunächst kann hier festgehalten werden, dass es schwierig ist, diese Tests gewinnbringend zu vermarkten, da sehr hohe Entwicklungskosten anfallen. Die hohen Entwicklungskosten führen zu einem hohen Druck, die Patentrechte wirklich durchzusetzen, d. h. hohe Lizenzgebühren für eine Anwendung des Tests zu verlangen. In den USA gelingt dieses noch einfacher als in Kanada oder Europa, wo das Gewinnmaximierungsinteresse der Unternehmen einen niedrigeren gesellschaftlichen Stellenwert hat als in den USA. Dies führt dazu, dass hohe Lizenzierungsgebühren in einem Übergehen der Patentrechte durch die staatlichen Institutionen der Gesundheitsversorgung resultieren. Es gibt hier folglich einerseits ein betriebswirtschaftliches Problem, da die hohen Entwicklungskosten nicht mehr aufgewogen werden können. Andererseits ist das Patientenwohl in Gefahr, wenn die privatwirtschaftlichen Tests nicht zur Anwendung kommen und stattdessen eventuell ältere, weniger valide Verfahren eingesetzt werden. Die Pharmakogenomik will nun die individuelle Analyse des Erbguts nutzen, um eine genetisch maßgeschneiderte Auswahl und Dosierung von Medikamenten anbieten zu können. Hier stellt sich vor allem die Problematik der fairen Werbung. Der tatsächliche Nutzen ist eventuell begrenzt, weil der Test nicht für alle Kunden aussagekräftig ist. Insgesamt leisten Williams- Jones und Ozdemir eine wertvolle Arbeit, indem sie auf viele moralische Probleme beim Marketing von genetischen Tests hinweisen. Allerdings bleibt dann doch offen, wie diese Probleme gelöst werden können. Berg und Fryer-Edwards (2008, 20-26) untersuchen die moralischen Herausforderungen beim Direkt-Marketing von genetischen Tests. Hierzu wurde eine Internetrecherche zu der Frage durchgeführt, wie Firmen, die solche Tests anbieten, mit moralischen Bedenken umgehen. Dazu zählen mögliche emotionale Belastungen durch das Ergebnis des Tests (eventuelle Auskunft über Erbkrankheit), ein negativer Effekt auf die Gesundheit (z. B. durch negative Änderungen im Vorsorgeverhalten), die finanzielle Belastung, genetische Diskriminierung und mögliche Folgen für andere Familienmitglieder. Die Internetrecherche kam zu folgendem Ergebnis: „This simple study indicates that overall, biotech companies are not providing balanced information about the risks and benefits of genetic testing“ (ebd., 26). Dies ist bemerkenswert und aus moralischer Sicht bedenklich, da eventuelle negative Folgen (z. B. psychische Belastung) den potenziellen Kunden zu wenig verdeutlicht werden. So ist eine im Hinblick auf Nutzen und Belas- Vermarktung genetischer Tests 315 tung individuell ausgewogene Entscheidung zum Test in Gefahr. Die Autoren kommen schließlich zu drei Empfehlungen (ebd., 26ff.): - Provide enough information for consumers to make an educated decision - Only market genetic tests with clinical value - Reduce the potential for misinterpreting results Diesen Empfehlungen ist mit Nachdruck zuzustimmen, da sie eine angemessene Berücksichtigung des Patientenwohls fordern, welche sozusagen als Essenz der normativen Anforderungen im Umgang mit genetischen Tests angenommen werden kann. Bevor nun im abschließenden Abschnitt explorativ eine vorläufige Liste an möglichen Elementen einer moralisch reflektierten Unternehmensführung bei genetischen Tests vorgestellt wird, soll im nächsten Abschnitt erläutert werden, vor dem Hintergrund welcher wirtschaftsethischen Position man überhaupt von einer Verantwortlichkeit der Unternehmen für das Patientenwohl ausgehen kann. 5.3 Warum sollen Unternehmen überhaupt das Patientenwohl berücksichtigen? Wenn Unternehmen das Patientenwohl berücksichtigen, dann tritt neben das Ziel der Gewinnmaximierung ein gegebenenfalls konkurrierendes Sachziel. Die Begründung multipler Ziele unternehmerischen Handelns ist Aufgabe und Programm der Unternehmensethik. Es können hier grundsätzlich betriebswirtschaftliche von moralischen Argumenten unterschieden werden. Betriebswirtschaftliche Argumente befürworten unternehmensethische Aktivitäten aus einem „enlightened self-interest“ (Crane/ Matten 2010, 51) heraus. Beispiele sind die vermuteten positiven Effekte auf die Kunden- und Mitarbeiterbindung. Moralische Argumente stellen die gesellschaftliche Eingebundenheit von Unternehmen in den Fokus. Zum Beispiel verursachen Unternehmen gesellschaftliche Probleme, etwa im Bereich des Umweltschutzes, und sollen deswegen auch zu deren Lösung beitragen (vgl. ebd., 52). Für den Bereich der Biotechnologie kommt zu dieser allgemeinen Diskussion noch die Problematik hinzu, dass das Produkt selbst und die Bedingungen seiner Herstellung mit vielfältigen moralischen Fragestellungen behaftet sind (vgl. Finegold u. a. 2005, 2f.). Miller-Suermann (2004) untersucht, welche Schlussfolgerungen man insbesondere aus den Positionen der deutschsprachigen Schulen der Unternehmensethik zu moralischen Fragen der Biotech-Branche ableiten kann. Sie bezieht sich dabei neben der grünen Gentechnik (v. a. Landwirtschaft) auch auf genetische Tests. Homanns (vgl. Homann/ Lütge 2005) Institutionenökonomischer Ansatz der Wirtschaftsethik steht Ulrichs (2008) Integrative Wirtschaftsethik entgegen. Der Ansatz von Homann betont die Rolle der Rahmenordnung in der Wirtschaftsethik: Jochen Fehling 316 „Das Handeln der Individuen wird von Moralzumutungen befreit und die Moralfrage statt dessen auf der Ebene der Rahmenordnung formuliert. […] Moral lässt sich demzufolge nur in die Wirtschaft bringen, wenn sie auf der Ebene der Rahmenordnung wettbewerbsneutral durchgesetzt wird und sich für die selbstinteressierten Individuen rechnet.“ (Miller- Suermann 2004, 89) Miller-Suermann (ebd., 91) sieht eine besondere Relevanz des Ansatzes von Homann für die Frage einer Unternehmensethik in der Biotech-Branche, da diese sich nach den Regeln des freien Marktes verhielten, ohne weitere Verpflichtungen zu akzeptieren. Bei Ulrich schließlich steht die grundlegende Prüfung unternehmerischer Handlungen hinsichtlich ihrer Legitimität im Mittelpunkt (vgl. ebd., 103). Bei der Biotechnologie ergibt sich allerdings das Problem, dass „die sozialen und ökologischen Folgen der Innovationen selten im Vorhinein abgeschätzt werden können“ (ebd., 113). Damit erschwert sich aber auch die Überprüfung der Legitimität der unternehmerischen Handlungen (vgl. ebd.). Insgesamt sieht Miller-Suermann (ebd., 114f.) vielfältige Probleme bei der Umsetzung der theoretischen, unternehmensethischen Konzepte in die Praxis der Biotech-Branche: „Schwierigkeiten entstehen vor allem bei den Fragen, an welche Normen sich die beteiligten Akteure halten sollen und wie ein Konsens zwischen den unterschiedlichen Anspruchsgruppen erzielt werden kann. […] [Daneben] wird deutlich, dass sich auch die im Rahmen der unternehmensethischen Ansätze häufig geforderte kommunikative Normenbegründung nur schwer praktisch umsetzen lässt.“ (Miller-Suermann 2004, 115) In ihrem Gesamtfazit schreibt Miller-Suermann (ebd., 228ff.) der Unternehmensethik vor allem eine Rolle bei der Sensibilisierung der Marktteilnehmer für moralische Fragen zu. „Die realisierbare Aufgabe einer Unternehmensethik in der Biotechnologie-Industrie“ sei hingegen nicht die Lösung „ethisch-moralischer Konflikte“ (ebd., 228). Entgegen der skeptischen Position Miller-Suermanns kann jedoch die faktisch existierende Dokumentation von moralischen Regeln in Form der aufgeführten unternehmensethischen Dokumente im Bereich der genetischen Tests aufgeführt werden. In der Miller-Suermann’schen, bzw. eigentlich Homann’schen Welt, dürfte es solche nicht geben, da sie einen potenziellen Wettbewerbsnachteil darstellen könnten, der die dauerhafte Existenz dieser Unternehmen nahezu verunmöglichen würde. Damit soll nicht gesagt werden, dass es nicht auch betriebswirtschaftliche Überlegungen gibt, die zu den Ethikkodizes führen. Im Resultat der moralischen Verpflichtung auf bestimmte moralische Positionen scheint es jedoch keinen Unterschied zu machen, ob die Verpflichtung primär aus betriebswirtschaftlichem Interesse oder aus moralischer Überzeugung entstanden ist. Hier soll also festgehalten werden, dass es zum einen das Phänomen gibt, dass sich Unternehmen auch dem Patientenwohl verpflichtet sehen. Zum Vermarktung genetischer Tests 317 anderen und zur Vermeidung eines Sein-Sollens-Fehlschlusses kann aufgrund des Stakeholderansatzes in Übereinstimmung mit der Integrativen Wirtschaftsethik nach Ulrich gefordert werden, dass Unternehmen auch das Patientenwohl berücksichtigen sollen. Im nun folgenden, abschließenden Absatz werden explorativ einige erste Empfehlungen für ein moralisch reflektiertes Unternehmenshandeln im Bereich der genetischen Tests formuliert. 6 Empfehlungen für die Unternehmen Es wird nun davon ausgegangen, dass sich Unternehmen dem moralischen Diskurs über die Legitimität ihres Handelns stellen sollten (siehe 5.3). Im Folgenden sollen nun einige mögliche Konkretisierungen der moralischen Anforderungen für das Unternehmenshandeln vorschlagsweise skizziert werden. Sie entstammen den Erörterungen zum Gendiagnostikgesetz (siehe 4) und den unternehmensethischen Aussagen zur Biotech-Branche (siehe 5.2). Hier wurden die prima facie wichtigsten Stellen von Regulierungsbedarf subjektiv begründet ausgewählt und um weitere Ideen ergänzt. Von einem umfassenden Katalog moralischer Anforderungen kann daher nicht gesprochen werden. Ziel wäre es vielmehr, auf der Grundlage der hier vorgestellten ersten Ansätze mit den beteiligten Stakeholdern (Unternehmen, Patienten, Ärzte, Allgemeinheit) einen Diskurs zu führen. Zu den Vorschlägen: Zunächst könnte der Versuch im Mittelpunkt stehen, die Umsetzung der Zielstellungen der Gesetze seitens des pharmazeutischen Unternehmen über das gesetzlich Verpflichtende hinaus zu unterstützen. Als Beispiel kann hier die Fortbildung für Ärzte im Umgang mit genetischer Diagnostik genannt werden. Weiterhin sollte es eine Unterstützung des faktischen Verbots des Direct-to-Consumer-Marketings geben, indem nicht über Auslandsfilialen dieses Verbot umgangen wird. Daneben sollten hohe Standards für die Validität von Tests vor dem Gang an die Öffentlichkeit gelten (siehe hier und im Folgenden 2.3). Eine große Herausforderung ist daneben der Umgang mit der ärztlichen Aufklärungspflicht bei einer vollständigen Sequenzierung des Genoms. Hier sollten die Unternehmen auf eine Aufklärung über die Risiken der Sequenzierung drängen. Auf Ebene des Gesundheitssystems muss die Frage der Kosten für die Folgediagnostik geklärt werden. Eventuell könnten die Unternehmen sich hier an den Kosten einer Zusatzversicherung beteiligen (vgl. Dubljević 2012). Zum Schutz genetischer Daten könnte ein „Biobankgeheimnis“ eingeführt werden, in dem u. a. eine „Schweigepflicht und ein Zeugnisverweigerungsrecht für die Betreiber […] von Biobanken“ festgeschrieben wäre (Deutscher Ethikrat 2010). Grundsätzlich könnte das auch auf Basis einer branchenweiten Selbstverpflichtung erfolgen. Die Überschussinformationen bei der Hochdurchsatzsequenzierung sollten ebenfalls gemäß diesem Biobankgeheimnis behandelt werden. Jochen Fehling 318 Weiterhin ist ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Marketingkanal „Ärzteschaft“ zu gewährleisten, in dessen Zentrum die Wahrung der Patientenautonomie stehen sollte. Letztendlich können diese Fragen alternativ mit Gesetzen, per soft law als branchenweiten Selbstverpflichtung oder als Ethikkodex auf Unternehmensebene gestaltet werden. Dabei gilt es stets auch die Zuständigkeiten anderer Stakeholder als der Unternehmen (z. B. Ärzte, Medien und Patientengruppierungen) auszuweisen. Literatur Badura, Jens (2006): Kohärentismus. In: Düwell, Marcus/ Hübenthal, Christoph/ Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik. 2. Aufl. Stuttgart u. a.: Metzler, S. 194-205. Bahnsen, Ulrich (2011): Früher erkennen. In: Die Zeit 34, S. 31-32. Belt, Henk van den (2011): Direct-to-Consumer Genetic Testing. 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Damit fällt ihm auch die Rolle zu, gewissermaßen dessen Endpunkt zu markieren. Im Rückblick auf zehn Jahre wissenschaftliche Ausbildung am Graduiertenkolleg Bioethik und 59 Nachwuchsforscherinnen und -forscher mit je individueller Entwicklungsgeschichte, möchten wir, die Herausgeber, diese besondere Gelegenheit nutzen und uns im Namen aller Kollegiatinnen und Kollegiaten herzlich bei den Initiatoren „unseres GKs“ bedanken. Unser besonderer Dank gilt zuvorderst der Sprecherin des Graduiertenkollegs Prof. Dr. Eve-Marie Engels, die mit Begeisterung und großem Engagement den Weg für das Graduiertenkolleg bereitete, unermüdlich durch jede Phase begleitete und so das Vorankommen der Projekte förderte. Den stellvertretenden Sprechern des Graduiertenkollegs Prof. Dr. Vera Hemleben (von 2004 bis 2007) und Prof. Dr. Thomas Potthast (von 2007 bis 2013) möchten wir ebenso herzlich danken. Ihre wertvollen Anregungen und ihr Zuspruch halfen uns dabei, dass Ziel nicht aus den Augen verlieren. Die Ausdauer und Tatkraft der Leitung des Graduiertenkollegs schufen jene außergewöhnliche Atmosphäre für eine fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit, in deren Rahmen die Projekte gedeihen konnten und auch darüber hinaus wirken werden. Von ihrem wissenschaftlichen Scharfblick und ihrer aufmunternden Unterstützung konnten wir „bis zum Schluss“, der Planung und Durchführung dieses Buchprojekts, profitieren. Ein großer Dank gilt auch über diesen Band hinaus dem Team des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), insbesondere den wissenschaftlichen Koordinatorinnen und dem Koordinator des Graduiertenkollegs in der zweiten und dritten Phase, Dr. Cordula Brand, Dr. Ralf Lutz, und Jutta Krautter. Ihre Zuwendung und ihr kritisches Interesse hat nicht nur die Entwicklung der Projekte bereichert - von ihrem persönlichen Engagement profitierten insbesondere auch die Forschungskolloquien des Graduiertenkollegs. Danken möchten wir auch Dr. Birgit Leweke und Dr. des. Matthias Schlee für die administrative Unterstützung in der Geschäftsstelle des IZEW. Für die Aufnahme dieses Sammelbandes in die Buchreihe „Tübinger Studien zur Ethik - Tübingen Studies in Ethics“ danken wir der Schriftleitung des IZEW Tübingen. Für den Druckkostenzuschuss aber auch die langjährige Unterstützung des Graduiertenkollegs und dessen Kollegiatinnen und Kollegiaten danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die 322 gute Zusammenarbeit mit dem Narr Francke Attempto Verlag Tübingen, insbesondere die vorzügliche Betreuung durch Dr. Bernd Villhauer sowie Daniel Seger während der Planung, Umsetzung und Drucklegung dieses Bandes, möchten wir hervorheben. Für die sprachliche Korrektur der englischsprachigen Beiträge sowie die kritische Durchsicht aller Abstracts sei Margarita Berg und Johannes G. Lundershausen an dieser Stelle herzlich gedankt. Robert Ranisch dankt zudem der Fondation Brocher, welche ihm die Gelegenheit gab, einem Teil der Endkorrekturen dieses Bandes im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes nachzugehen. Schließlich möchten wir den Protagonisten, den Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes, herzlich für die erfolgreiche und kollegiale Zusammenarbeit danken sowie für ihre Bereitschaft im Rahmen dieses Buches Einblick in ihre Arbeiten zu gewähren. Auf diesem Wege wünschen wir euch allen alles Gute. Tübingen, im Frühjahr 2015 Die Herausgeber Über die Autorinnen und Autoren Beck, Roman, Wissenschaftlicher Referent an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Studium der Biologie (Diplom) und Katholischen Theologie (Diplom) in Tübingen und London, 2012 Promotion an der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen. Von 2007 bis 2011 Stipendiat am GK Bioethik mit einer wissenschaftsethischen Arbeit zur Begründung eines Transparenzgebots für den biomedizinischen Kontext. Brand, Cordula, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Ethik und Bildung am IZEW Tübingen. Studium der Philosophie, Germanistik und Anglistik an der Universität Duisburg-Essen, Promotion in Philosophie an der Universität Tübingen. Von 2009 bis 2012 Post-Doc Stipendiatin am GK Bioethik mit einem Projekt zur Rolle der Intersubjektivität in der Bioethik. Engels, Eve-Marie, Inhaberin des Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften in Tübingen. Studium der Philosophie und Romanistik in Bochum. Promotion in Philosophie mit einer Dissertation zur Teleologie des Lebendigen und Habilitation in Philosophie mit einer Schrift zur Evolutionären Erkenntnistheorie. Von 2001 bis 2011 Sprecherin des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) in Tübingen und von 2004 bis 2013 Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs Bioethik am IZEW. Fehling, Jochen, Referent für Nachhaltige Entwicklung der Fakultät Agrarwirtschaft, Volkswirtschaft und Management an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen. 2010 Promotion in Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen. Von 2011 bis 2013 Post-Doc Stipendiat am GK Bioethik mit einer Arbeit zur Unternehmensethik im Kontext der Vermarktung genetischer Tests. Dubljević, Veljko, Banting-Postdoctoral Fellow im Bereich Neuroethik am Institut für klinische Forschung (IRCM) und Department of Neurology and Neurosurgery, McGill University in Montreal. Promotion in Politischer Theorie an der Universität Belgrad und in Philosophie an der Universität Stuttgart. Von 2010 bis 2013 Stipendiat am GK Bioethik mit einer Arbeit zur Regulierung von kognitivem Enhancement im liberalen Staat. Über die Autoren und Autorinnen 324 Garmaroudi Naef, Shirin, Anthropologin und Doktorandin an der Universität Zürich. Studium der Theater- und Sprachwissenschaft in Teheran sowie Ethnologie, Islamwissenschaft und Linguistik an der Universität Bern. Von 2009 bis 2012 Stipendiatin am GK Bioethik mit einer Arbeit zu den sozialen, ethischen, rechtlichen und religiös-juristischen Aspekten der assistierten Reproduktionstechnologien im Iran. Henrich, Daniel C., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Mainz. Studium der Philosophie, Soziologie und Politologie in Gießen und Marburg. Promotion in Philosophie an der Universität Frankfurt am Main. Von 2009 bis 2012 Post-Doc Stipendiat am GK Bioethik mit einer Arbeit zu den ethischen Grenzen biotechnischer Selbstgestaltung und dem Verhältnis von Moralphilosophie und Anthropologie. Jungert, Michael, Wissenschaftlicher Referent bei der Studienstiftung des deutschen Volkes in Bonn und Lehrbeauftragter an der LMU München. Studium der Philosophie, Geschichte und Biologie an den Universitäten Bamberg und Erlangen, Promotion in Philosophie an der Universität Tübingen. Von 2007 bis 2010 Stipendiat am GK Bioethik mit einer Arbeit zum Zusammenhang von Gedächtnis, Erinnerung und personaler Identität. Krautter, Jutta, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Ethik der Werbung in Zeiten des medialen Wandels“ am IZEW Tübingen. Studium der Allgemeinen Rhetorik und Philosophie an der Universität Tübingen. Von 2010 bis 2013 Stipendiatin am GK Bioethik mit einer Arbeit zu ethischen und rhetorischen Aspekten sowie Problemen der medialen Thematisierung von Neuro-Enhancement. Ledder, Simon, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Privacy-Arena“ am IZEW Tübingen. Studium der Medienwissenschaften und Soziologie in Göttingen und Sevilla. Von 2011 bis 2013 Stipendiat am GK Bioethik mit einer Arbeit zur medialen Vermittlung der Konzepte „Behinderung“, „Normalität“ und „Human Enhancement Technologies“ als Elemente aktueller Biopolitik. Leefmann, Jon, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe „Neuroethik/ Neurophilosophie“ am Philosophischen Seminar der Universität Mainz. Studium der Biologie und Philosophie an den Universitäten Heidelberg, Pavia und Tübingen. Von 2009 bis 2012 Stipendiat am GK Bioethik mit einer Arbeit zum Begriff der Authentizität in bioethischen Diskursen am Beispiel der Debatte um Neuroenhancement. Über die Autoren und Autorinnen 325 Litterst, Leona, Doktorandin am IZEW Tübingen und Stipendiatin der FAZIT-Stiftung. Studium der Biologie mit dem Schwerpunkt Mikro- und Molekularbiologie an der Universität Hohenheim. Von 2011 bis 2013 Stipendiatin am GK Bioethik mit einer Arbeit zu den ethischen Aspekten der Synthetischen Biologie. Lörch-Merkle, Katrin Esther, Lehrbeauftragte am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen. Studium der Philosophie, Geschichte und Katholischen Theologie an der Universität Tübingen. Von 2010 bis 2013 Stipendiatin am GK Bioethik mit einer Arbeit zur Ethik Nicolai Hartmanns als Bewertungsgrundlage für die Selbstgestaltung des Menschen durch Human Enhancement. Pohl, Sabine, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt „Pharmakologisches Neuroenhancement: Zwischen planbarem Wissenstransfer und nicht intendierten Rückwirkungen“ an der Universität Mainz. Studium der Philosophie und Neueren und Neuesten Geschichte an der Universität Tübingen. Von 2008 bis 2011 Stipendiatin am GK Bioethik mit einer Arbeit zu Albert Schweitzers Ethik im Kontext ethischer Fragen der Biotechnologien. Potthast, Thomas, Sprecher und Wissenschaftlicher Koordinator des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) in Tübingen. Studium der Biologie und Philosophie in Freiburg und Tübingen. Interdisziplinäre Promotion in Biologie mit einer Dissertation zum Verhältnis von Evolutionsbiologie, Ökologie und Naturethik und 2010 Habilitation in Biologie mit Arbeiten zur Ethik, Theorie und Geschichte der Wissenschaften. Von 2007 bis 2013 stellvertretender Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs Bioethik am IZEW. Ranisch, Robert, Mitarbeiter am IZEW Tübingen und am Ethikzentrum der Universität Jena sowie Stipendiat der FAZIT-Stiftung für ein Promotionsstudium an der Universität Düsseldorf. Studium der Philosophie und Praktischen Ethik an den Universitäten Warwick, Jena und Oxford. Von 2010 bis 2013 Stipendiat am GK Bioethik mit einer Arbeit zu metaethischen Fragen in Debatten der liberalen Eugenik. Rockoff, Marcus, Mitarbeiter der Nachwuchsforschungsgruppe „Wissenschaftsethik der Forschung für Nachhaltige Entwicklung“ am IZEW Tübingen. Studium der Germanistischen Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Jena. Von 2011 bis 2013 Stipendiat am GK Bioethik mit einer Arbeit zur Literatur als ethischem Reflexionsmedium bioethischer Fragen am Beispiel des Humanklonens. Über die Autoren und Autorinnen 326 Röntgen, K. Viktoria, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen. Studium der Biologie an der TU München und Universität Bielefeld, Studium der Umweltethik an der Universität Augsburg, Promotion zur Humanbiologin am Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik der Universität Ulm. Von 2010 bis 2014 Stipendiatin am GK Bioethik mit einer Arbeit zu den ethischen Implikationen epigenetischer Testverfahren. Schuol, Sebastian, Wissenschaftlicher Koordinator der Projektgruppe „Ethische und rechtliche Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms“ (EURAT) am Marsilius-Kolleg Heidelberg. Studium der Philosophie und Molekulargenetik an den Universitäten Erlangen und Tübingen. Von 2009 bis 2012 Stipendiat am GK Bioethik mit einer Arbeit zu den ethischen Folgen einer Erweiterung des Genbegriffs durch die Epigenetik. Sydow, Björn, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Systematische Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg. Studium der Philosophie und Computerlinguistik an der Universität Potsdam, 2011 Promotion in Philosophie mit einer Dissertation zur Philosophischen Anthropologie der Leidenschaft. Von 2011 bis 2013 Post-Doc Stipendiat am GK Bioethik mit einem Projekt zur Frage nach der bioethischen Relevanz des Menschseins. Tübinger Studien zur Ethik · Tübingen Studies in Ethics Herausgegeben vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) Schriftleitung: Regina Ammicht Quinn, Friedrich Hermanni, Roland Kipke, Thomas Potthast und Urban Wiesing Band 1 Roman Beck Transparenz in der biomedizinischen Forschung 2013, IV, 407 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-8472-0 Band 2 Robert Bauer Sucht zwischen Krankheit und Willensschwäche 2013, 232 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8471-3 Band 3 Elfriede Walcher-Andris Leistungssteigerung um jeden Preis? Biologie und Ethik des pharmakologischen Cognition Enhancement 2013, 303 Seiten, €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8482-9 Band 4 Robert Ranisch / Sebastian Schuol / Marcus Rockoff (Hrsg.) Selbstgestaltung des Menschen durch Biotechniken 2015, 326 Seiten, €[D] 29,- ISBN 978-3-7720-8546-8 Band 5 Sabine Pohl Albert Schweitzers Ethik als Kulturphilosophie Kann die Ehrfurcht vor dem Leben Maßstab einer Bioethik sein? 2014, 326 Seiten, €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8548-2 Band 6 Norbert Alzmann Zur Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen 2015, 500 Seiten, €[D] 74,- ISBN 978-3-7720-8557-4 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG ! "#! $ % www.francke.de JETZT BES TELLEN! Elfriede Walcher-Andris Leistungssteigerung um jeden Preis? Biologie und Ethik des pharmakologischen Cognition Enhancement &'(% )( *' $+ &'(% *' , -" . ., . . & ' / 0 1 , +& 2, ISBN 978-3-7720-8482-9 3 ' 4 ' $ ' ) ' * 5 )( ! ! "% & ' 6" 7 ' )( % , % ' 5 8 & , &'(% ' ( % 9 (! ': ' ! )( '' , (5 $" ' 6 4 '( ! : $ ' )( ' "') ; "5 ' 9 ! " ' % 6 '( ' 6 9( ! ' % ! ' < ( % ! % $( " = * ' ! ' % > $( 6" ? : ; ' , ' ' @ $ ! < ( % ', , 7('" "5 ( % - ' " '( ! : $ ' % A % $(' ' " ! 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Dabei werden sowohl ethische Grundlagen als auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Selbstgestaltung des Menschen in den Blick genommen. Tübinger Studien zur Ethik · Tübingen Studies in Ethics 4 ISBN 978-3-7720-8546-8 s