Kunstprojekt (Mumin-)Buch
Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission
0527
2019
978-3-7720-5655-0
978-3-7720-8655-7
A. Francke Verlag
Kathrin Hubli
10.2357/9783772056550
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
Die finnlandschwedische Künstlerin Tove Jansson (1914-2010) war Autorin, Malerin und Karikaturistin zugleich. Dieses künstlerische Spannungsfeld aus der Fusion unterschiedlicher Talente und der Experimentierfreudigkeit mit Materialität und Medium wird in der vorliegenden Studie fruchtbar gemacht, um Fragen zum Buch als Artefakt, zur Reflexion von Literatur als Kunstform, betreffend kreativer Strategien und künstlerischem Selbstverständnis zu erörtern. Mit anderen Worten, es werden unterschiedliche Konzepte von Materialität behandelt, die sowohl stoffliche wie auch poetologische Aspekte beinhalten. Dabei handelt es sich um Themen, die in der Jansson-Forschung bis anhin vergleichsweise wenig Beachtung fanden. Dies erstaunt vor allem in Anbetracht des viel beschworenen material turn, dessen Fokus auf Aspekte der Materialität in zahlreichen Disziplinen Einzug gehalten hat. Diese unterschiedlichen Konzepte von Materialität lassen sich letztlich zu einem materiellen Ethos ausweiten, welches Janssons Handeln als Künstlerin genuin zugrunde liegt und ihre herausragende Stellung auf eine neue Art zementiert.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8655-7 Die finnlandschwedische Künstlerin Tove Jansson (1914-2010) war Autorin, Malerin und Karikaturistin zugleich. Dieses künstlerische Spannungsfeld aus der Fusion unterschiedlicher Talente und der Experimentierfreudigkeit mit Materialität und Medium wird in der vorliegenden Studie fruchtbar gemacht, um Fragen zum Buch als Artefakt, zur Reflexion von Literatur als Kunstform, betreffend kreativer Strategien und künstlerischem Selbstverständnis zu erörtern. Mit anderen Worten, es werden unterschiedliche Konzepte von Materialität behandelt, die sowohl stoffliche wie auch poetologische Aspekte beinhalten. Dabei handelt es sich um Themen, die in der Jansson- Forschung bis anhin vergleichsweise wenig Beachtung fanden. Dies erstaunt vor allem in Anbetracht des viel beschworenen material turn, dessen Fokus auf Aspekte der Materialität in zahlreichen Disziplinen Einzug gehalten hat. Diese unterschiedlichen Konzepte von Materialität lassen sich letztlich zu einem materiellen Ethos ausweiten, welches Janssons Handeln als Künstlerin genuin zugrunde liegt und ihre herausragende Stellung auf eine neue Art zementiert. Autoreninfo: Kathrin Hubli studierte Nordische Philologie, Publizistikwissenschaft und Englische Literaturwissenschaft an den Universitäten Zürich und Uppsala (Schweden). Kathrin Hubli Kunstprojekt (Mumin-)Buch 62 Kunstprojekt (Mumin-)Buch Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission Kathrin Hubli <?page no="1"?> Kunstprojekt (Mumin-)Buch <?page no="2"?> Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser (Basel/ Zürich), Silvia Müller (Ossingen), Klaus Müller- Wille (Zürich), Hans-Peter Naumann (Zürich), Anna Katharina Richter (Zürich), Lena Rohrbach (Basel/ Zürich), Thomas Seiler (Bø) Beirat: Michael Barnes (London), François-Xavier Dillmann (Paris), Stefanie Gropper (Tübingen), Annegret Heitmann (München), Andreas Lombnæs (Kristiansand) Ausführliche Angaben zu den Mitgliedern der Redaktion sowie zu deren Aufgaben und Funktionen finden sich auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien (http: / / www.sagw.ch/ sgss/ publikationen.html). Band 62 · 2019 <?page no="3"?> Kathrin Hubli Kunstprojekt (Mumin-)Buch Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission <?page no="4"?> Umschlagabbildung: ÅA, Handschriftenabteilung Göran-Åkerhielms-Sammlung, Kapsel 6; Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Moomin Characters Oy Ltd. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Kathrin Hubli Universität Zürich Deutsches Seminar Abteilung für Nordische Philologie Schönberggasse 9 CH-8001 Zürich https: / / orcid.org/ 0000-0001-6639-7790 Gedruckt mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2016 auf Antrag der Promotionskommission (Prof. Dr. Klaus Müller-Wille (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak) als Dissertation angenommen. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8655-7 (Print) ISBN 978-3-7720-5655-0 (e PDF ) ISBN 978-3-7720-0092-8 (ePub) <?page no="5"?> 5 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Inhaltsverzeichnis Danke / Tack! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1. Das Eintreten des Künstlerbuchs in der Moderne und die Bemühungen um eine neue Bilderbuchästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2. Materie - Material - Materialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.3. Material turn in der Tove-Jansson-Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.4. Disposition und Korpuswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Zur Inszenierung des „Machens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1. Sammeln - archivieren - dokumentieren: zum Untersuchungsmaterial . . . . . . . 30 2.2. Konzeptionelle Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2.2.1. Konzeptionelle Arbeiten: Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.2.2. Konzeptionelle Arbeiten: Buchgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.3. Textproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.3.1. Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.3.2. Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.3.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Zur Inszenierung des Schreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.1. Muminpappans memoarer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1.1. „Muminpappans memoarer“ als Metatext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1.2. „Muminpappans memoarer“ als Buch im Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.1.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.2. Farlig midsommar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.2.1. Das Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.2.2. Die Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.2.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.3. Pappan och havet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.3.1. Schrift in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.3.2. Der Wissenschaftler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.3.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4. Das Buch als Artefakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.1. Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.2. Widmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.3. Kapitelüberschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.4. Epiloge / Prologe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.4.1. Visuelle Prologe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.5. Fussnoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 4.6. Klappentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4.7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5.1. Muminbücher: Kometen kommer - zur Editionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.2.1. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5.3. Die Bilderbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5.3.1. Hur gick det sen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5.3.2. Vem ska trösta knyttet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5.3.3. Den farliga resan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.3.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6. Die Buchkünstlerin Tove Jansson: Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Abbildungs- und Rechtsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Handschriftliches Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 <?page no="7"?> DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Danke / Tack! Die Arbeit an meiner Dissertation ermöglichte mir, mein Interesse für das Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur wissenschaftlich zu vertiefen, viele spannende Menschen zu treffen und an inspirierende Orte zu reisen. Dafür bin ich unendlich dankbar. Dem Betreuer und der Betreuerin der Arbeit, Prof. Dr. Klaus Müller-Wille und Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak, verdanke ich jede erdenkliche Unterstützung und viele spannende Diskussionen, die meine Dissertation positiv beeinflussten. Jede Phase dieser Arbeit wurde intensiv und professionell betreut. Die Abteilung für Nordische Philologie der Universität Zürich bot mir während der ganzen Zeit ein unterstützendes und inspirierendes Arbeitsumfeld. Für die Förderung des Forschungsprojekts und die grosszügige Unterstützung der Publikation der Dissertation möchte ich mich beim Schweizerischen Nationalfond und bei der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien bedanken. Meiner Familie danke ich für die emotionale Unterstützung, nicht nur während der Arbeit an der Dissertation, sondern auch in den vielen Jahren davor, als dieses Ziel noch in weiter Ferne schien. Meinem Partner gebührt ebenfalls Dank für ganz viel Rückenwind und Motivation. Zürich, Mai 2019 Kathrin Hubli <?page no="9"?> Danke / Tack! 9 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität Abb. 1: Illustrierte Seite aus Hur gick det sen. Die Figuren in Tove Janssons Bilderbuch Hur gick det sen? rennen oder hüpfen in schwindelerregendem Tempo durch das Buch, sodass einem dessen Materialität ins Auge springt. Abbildung 1 zeigt den Querschnitt eines Baumstamms, umrahmt von einem Himmel in dramatischem Purpur, von Blitzen durchzogen. Der Baum, so ist dank des Querschnitts zu erkennen, ist das Zuhause der Hattifnattar. Um dies überdeutlich zu machen, prangert am Baumstamm ein weisses Schild mit der Aufschrift: „Hattifnattarnas hus i genomskärning“ „Das Haus der Hattifnattar im Querschnitt“. 1 Wie in einer Geisterbahn bietet sich dem Betrachter ein Einblick in einen engen Raum voller furchteinflössender Gestalten. Zahlreiche Hattifnattar, bekanntlich elektrisch aufgeladen, sitzen dicht gedrängt in dem engen Raum. Eine grössere Gruppe befindet sich auf der linken Seite. Rechts sitzen drei Hattifnattar auf Stühlen in einer Runde beisammen, auf ihrem Schoss jeweils eine Tasse. Sie scheinen die Lampe, die über ihnen hängt und den Innenraum hell erleuchtet, mit Strom zu speisen. Mumintrollets und Mymlans Weg führt sie mitten durch diesen bedrohlichen Ort. Die beiden sind auf der rechten Seite zu sehen, wie sie dem Haus der Hattifnattar voller Panik entfliehen. Danach scheinen die beiden ebenfalls elektrisiert, was in der Darstellung bei den Konturen der Figuren deutlich wird, die in Zickzackform gemalt sind. Dadurch vibrieren sie förmlich. 1 Falls nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen und Transkriptionen in der vorliegenden Arbeit von der Verfasserin. <?page no="10"?> 10 1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Querschnittsbilder, so schreibt Elina Druker, wurzeln historisch in der wissenschaftlichen Forschung, wo sie als pädagogische Hilfsmittel dienen. 2 Mit ihrer Hilfe werden Sachverhalte veranschaulicht, die nicht direkt sichtbar sind. Im Bilderbuch attestiert Druker ihnen folgende Funktionen: „Genomskärningsbilden i bilderboken har två skilda men angränsande funktioner. Den avslöjar inre, osynliga konstruktioner och visar hur större kroppar eller objekt konstrueras.“ 3 „Das Querschnittsbild im Bilderbuch hat zwei verschiedene, aber aneinander angrenzende Funktionen. Es offenbart innere, unsichtbare Konstruktionen und zeigt, wie grössere Körper oder Objekte konstruiert sind.“ Abbildung 1 zeigt gar in mehrfacher Hinsicht einen Schnitt: Der (Quer-)Schnitt des Baums ist eine Illusion, während sich mit den Löchern in den Seiten, dem wohl auffälligsten Gestaltungsmittel von Hur gick det sen? , tatsächliche Schnitte im Papier finden. Somit offenbart das Querschnittsbild ebenfalls in mehrfacher Hinsicht normalerweise Verhülltes, wie dies, wie eben erläutert, die Tradition der Querschnittsbilder vorsieht. Neben dem Sichtbarmachen weist Juliane Vogel im folgenden Zitat noch auf einen weiteren Aspekt hin, der das Schneiden beinhaltet. Das Schneiden steht für eine Auseinandersetzung mit dem Gegenstand und für eine Demonstration einer Kontrolle über denselben: Wenn statt des Fleisches Papier oder Zelluloid unter das Messer gerät, dann scheinen jene fundamentalen Probleme gelöst, der sich die moderne Geschichte des Schreibens in der Auseinandersetzung mit ihren Objekten zu stellen hatte. Diese lässt sich als eine Geschichte jener Bemühungen lesen, vor allem den Körper durch das Schneiden zu beherrschen […]. 4 Durch den Querschnitt des Baums wird im Inneren des Buchs ein weiterer Innenraum offenbar. Dieser ist wie ein Theaterraum gestaltet, mit den Hattifnattar als Zuschauer. Mymlan und Mumintrollet, die Schauspieler, sind dem Theater bereits wieder entflohen. Das Heim der Hattifnattar verfügt als Theater gar über einen gekennzeichneten Eingang (schw. ingång) und Ausgang (schw. utgång). Ferner ist der Boden farblich hervorgehoben, was dessen Eindruck als Bühne stärkt. Mit der überdimensional grossen Lampe ist schliesslich gar eine Theaterbeleuchtung gegeben. Durch diesen (Quer-)Schnitt wird der Inhalt des Buchs bewusst als Fiktion entblösst. Das Material des Baums, Holz, hat diesbezüglich zusätzliche Symbolkraft, ist es doch gleichzeitig auch das Material, aus dem das Buch im weitesten Sinne besteht. Schnitte sind ausserdem in Form von Löchern präsent, die sich auf beiden Seiten der Doppelseiten befinden. Der Eingang und der Ausgang sind tatsächlich durchlässig, perforiert. Mymlan und Mumintrollet preschen durch die Perforationen von Seite zu Seite. Die Perforationen eröffnen einen Weg durch das Buch, welcher in besonderem Masse dessen Dreidimensionalität betont und so ebenfalls die Gegenständlichkeit des Buchmediums. Links neben dem Haus der Hattifnattar schlägt ein Blitz in einen weiteren Baum ein, bringt so das Material sinnbildlich zum Bersten. Somit veranschaulicht das Bild eine Selbstthematisierung der Materialität des Buchs, von Literatur und Buchgestaltung als Kunstform, welche der Konzeption des gesamten Buchs zugrunde liegt. So zeigt Abbildung 1 keineswegs das einzige Querschnittsbild im Buch. Ein weiteres Beispiel ist die Darstellung des Inneren eines Staubsaugers. Besagte Selbstthematisierung wird jedoch im Bild auf die 2 Vgl. Druker, Elina. Modernismens bilder. Den moderna bilderboken i Norden . (Skrifter utgivna av Svenska barnboksinstitutet 103). Göteborg und Stockholm: Makadam 2008, S. 166. 3 Ebd., S. 168. 4 Vogel, Juliane. Mord und Montage. In: Fetz, Bernhard und Klaus Kastberger (Hrsg.). Die Teile und das Ganze. Bausteine der literarischen Moderne in Österreich . (Profile 10). Wien: Zsolnay 2003, S. 26. <?page no="11"?> DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 1.1. Das Eintreten des Künstlerbuchs in der Moderne 11 Spitze getrieben, das eine Figur (Verleger, Theaterdirektor oder Regisseur) mit einer Schere zeigt, die, so suggeriert das Bild, dafür eingesetzt wird, um die erwähnten Löcher in das Buch zu schneiden. 5 Das skizzierte künstlerische Spannungsfeld aus der Fusion unterschiedlicher Talente und der Experimentierfreudigkeit mit Materialität und Medium soll in der vorliegenden Arbeit daher fruchtbar gemacht werden, um Fragen zum Buch als Artefakt, zur Reflexion von Literatur als Kunstform, betreffend kreativer Strategien und künstlerischem Selbstverständnis zu erörtern. Mit anderen Worten wird eine Perspektive eingenommen, die durch den material turn in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die Literaturwissenschaft miteingeschlossen, herbeigeführt worden ist und den Blick für Aspekte der Materialität in jüngster Zeit wieder geschärft hat. 1.1. Das Eintreten des Künstlerbuchs in der Moderne und die Bemühungen um eine neue Bilderbuchästhetik Aussagen von Tove Jansson selbst betreffend ihrer Einordnung in Kunst- und Literaturgeschichte finden sich lediglich wenige. Im Buch Meddelande (Mitteilung) spricht sie sich in einem Briefauszug klar gegen eine soziale Tendenzkunst aus, bekennt sich deutlich zum Credo l’art pour l’art . 6 „Hon värdesatte självständighet, var mycket jagcentrerad i sin konstsyn och ställde sig kritisk också till betydande nya ideologier“ „Sie schätzte Selbstständigkeit, war sehr ich-zentriert in ihrer Kunstauffassung und stellte sich auch gegen bedeutende neue Ideologien kritisch“, schreibt Tuula Karjalainen. 7 In Literaturgeschichten wird Tove Jansson zusammen mit Astrid Lindgren und Lennart Hellsing als eine der wichtigsten Reformer, als Repräsentantin der modernen skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur, des Modernismus, genannt. Alle drei debütierten im Jahr 1945, das als Wendepunkt in der skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur gilt. Das Kriegsende führte zu mehr Wohlstand und einem Anstieg der Geburtenrate. Gleichzeitig begann der Glaube an Autoritäten zu wackeln und liberale Ideen erstarkten. Vor allem auch, was die Vorstellungen vom Kind und von Kindheit, Erziehung und Bildung betraf. Vielerorts wurden Bibliotheken ausgebaut. Das Kinderbuch erhielt so eine gänzlich neue Relevanz. Der Markt vergrösserte sich enorm. In der Folge fokussierten sich Verlage vermehrt explizit auf die Sparte Kinder- und Jugendliteratur. Konkret spricht man von ca. 500 Titeln pro Jahr, die nach Kriegsende publiziert wurden. Damit einher ging eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur, die ebenfalls rapide zunahm und sich professionalisierte. 8 Das Attribut „modern“ beinhaltet nach Lena Kåreland Innovationen, was die Sprache, den Stil und die Themenwahl betrifft. 9 Bis heute ist Lindgrens Pippi Långstrump Sym- 5 Jansson, Tove. Hur gick det sen? Boken om Mymlan, Mumintrollet och lilla My. Stockholm: Awe / Gebers 1991. Nicht paginiert. 6 Vgl. Jansson, Tove. Meddelande. Noveller i urval 1971-1997 . Stockholm: Bonniers 1998, S. 32. 7 Vgl. Karjalainen, Tuula. Tove Jansson. Arbeta och älska . Übers. von Hanna Lahdenperä. Stockholm: Norstedts 2014, S. 124. 8 Vgl. Westin, Boel. Das schwedische Kinderbuch . Übers. Von Gisela Kosubek, Margaretha Thidén. 2. neubearbeitete Auflage. Stockholm: Svenska Institutet 1996, S. 24. 9 Vgl. Kåreland, Lena. Möte med barnboken . (Skrifter utgivna av Svenska barnboksinstitutet 50). Stockholm: Natur och Kultur 1994, S. 34. <?page no="12"?> 12 1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) bolfigur dafür. Sie ist die personifizierte kindliche Sehnsucht nach Freiheit und Rebellion und damit ein direkter Angriff auf bestehende Normen. 10 In Skandinavien wird als Modernismus bezeichnet, was ansonsten unter dem Begriff Avant-garde zusammengefasst wird. 11 Der Begriff Avant-garde beziehungsweise avantgardistisch bezeichnet Autoren, Künstler, Intellektuelle, welche die Grenzen des als „normal“ bezeichneten sprengen. 12 „Att vara modern innebär ett skärpt tidsmedvetande, ett strävan att befinna sig mitt i nuet, att utnyttja och konstnärligt uttrycka de mest avancerade erfarenheterna, även med risk att spränga den estetiska formen.“ „Modern zu sein beinhaltet ein scharfes Zeitbewusstsein, ein Streben danach, sich mitten im Jetzt zu befinden, die fortschrittlichsten Erfahrungen auszunützen und künstlerisch auszudrücken. Auch mit dem Risiko, die ästhetische Form zu sprengen.“, definiert Kåreland. 13 Modernismus als Begriff birgt dabei ein Bestimmungsproblem, wie immer wieder von verschiedenster Seite betont wird. „Eine Definition dieses vagen Begriffs ist schwierig, weil er nur eine Sammelbezeichnung für alle modernen, amimetischen literarischen Strömungen seit Baudelaires Lyrik ist.“, so etwa Thomas Seiler. 14 Kåreland verfasste mit ihrer Arbeit Modernismen i barnkammaren. Barnlitteraturens 40-tal (Der Modernismus im Kinderzimmer. Die 40-er Jahre der Kinderliteratur) eine Monografie, welche sich explizit mit der Kinderliteratur in dieser Zeit auseinandersetzt. Auch sie beschreibt Modernismus als einen äusserst heterogenen Begriff, der einerseits als konkrete Zeitperiode (Kåreland definiert die Zeitperiode mit 1890-1950 äusserst weit), andererseits mehr als eine Bewegung, eine Lebenseinstellung verstanden werden könne. 15 Anders formuliert: Modernismus ist einerseits ein Produkt der industriellen Revolution, von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt, andererseits ein ästhetischer Begriff. 16 Als ästhetischer Begriff spiegelt sich Modernismus deutlich in den Künsten: Musik, Malerei und Literatur. Die Avant-garde beziehungsweise im hiesigen Kontext eben der skandinavische Modernismus zeichnet sich als eine Zeit aus, in der Kunst als Erkenntnisinstrument verstanden wurde. Man begriff die künstlerische Arbeit als „eine Tätigkeit, die durch ihre handwerkliche Komponente eine Brücke zwischen Intellekt und Materie bildet“. 17 Die Künstler der Avant-garde wenden sich bewusst den materiellen Aspekten von Kunst zu. 18 Diese Ideologien ebneten den Weg für das Buch als Artefakt. Einen konkreten Ausdruck fand dies etwa in den Künstlerbüchern, den artist's books. Johanna Drucker bezeichnet dies als „[…] the quintessential 20th-century artform. Artist’s books appear in every major movement in art an literature […].“ 19 Elina Druker zeigt in ihrer Arbeit Modernismens bilder (2008), wie im Skandinavien der 1940er- und 1950er-Jahre eine neue Bilderbuchästhetik 10 Vgl. Westin 1996, S. 26. 11 Vgl. Druker, Elina und Bettina Kümmerling Meibauer. Introduction: Childrens literature and the avant-garde. In: dies. (Hrsg.). Childrens literature and the Avant-Garde . Amsterdam und Philadelphia: John Benjamins 2015, S. 3. 12 Ebd., 2015, S. 1. 13 Kåreland, Lena. Modernismen i barnkammaren. Barnlitteraturens 40-tal . Stockholm: Rabén & Sjögren 1999, S. 3 14 Seiler, Thomas. Modernismus (1940-1980). In: Glauser, Jürg (Hrsg.). Skandinavische Literaturgeschichte . Stuttgart und Weimar: Metzler 2006, S. 277. 15 Kåreland 1999, S. 29 f. 16 Ebd., 31 f. 17 Seiler 2006, S. 273. 18 Vgl. Druker und Kümmerling Meibauer 2015, S. 1. 19 Drucker, Johanna. The century of artists’ books . New York: Granary 1995, S. 1. <?page no="13"?> 1.2. Materie - Material - Materialität 13 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) heranwächst. 20 Einer ihrer zentralen Ausgangspunkte dabei ist die Vorstellung vom Buch als ästhetisches und physisches Objekt. 21 Konkret bedeutet dies, das Buch wird nun in seiner physischen Form künstlerisch erforscht. Dabei werden auch Wörter, Buchstaben und Farben als konkrete Objekte behandelt. Ausserdem erwähnt sie, wie die Suche nach einer Bildsprache dazu führte, dass die Formsprache des Bilderbuchs breiter wurde. Die Idee des Bilderbuchs als Kunstform etablierte sich: „Bilderboken upplevdes som ett alternativt medium, en möjlig plats för formexperiment utan de krav som vuxenlitteraturens eller bildkonstens fält kunde innebära.“ „Das Bilderbuch wurde aufgefasst als ein alternatives Medium, ein möglicher Platz für Formexperimente, ohne die Ansprüche, die die Literatur für Erwachsene oder die Bildkunst beinhalten.“ Dass zahlreiche Bilderbuchkünstler dieser Zeit ebenfalls in Nachbardisziplinen wie etwa der Bildkunst etabliert waren, stützt laut Druker diesen Schlusssatz. 22 Auch Jansson betätigte sich bekanntermassen nicht nur als Schriftstellerin, sondern ebenfalls als Malerin, Karikaturistin und Illustratorin. Ihr bildnerisches Schaffen ist ebenso facettenreich wie das literarische. Selbst sah sie sich gar in erster Linie als Malerin. 1.2. Materie - Material - Materialität Seit den 1960er-Jahren proklamieren die unterschiedlichen turns ( linguistic turn , pictorial turn , medial turn , um bloss einige wenige zu nennen) immer wieder neue Paradigmenwechsel quer durch die verschiedensten Disziplinen. 23 Obwohl Karl Pfeiffer noch in den 1980er-Jahren äussert: „Gleichwohl scheint der Begriff Materialität aus herrschenden Wissenschaftsparadigmen ausgesperrt.“ 24 , wurde in diesem Geist in jüngerer Zeit ebenfalls der material turn ausgerufen. Michel Foucault und Jacques Derrida und deren Kritik an der Metaphysik wird dabei ein bedeutender Anteil an der Konjunktur des Begriffs „Materialität“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften zugesprochen. 25 Martin Schubert definiert in Materialität in der Editionswissenschaft (2010) gleich im ersten Satz, was der material turn beinhaltet: Das Interesse der Geistes- und Kulturwissenschaften am Material und an Materialität ist in den letzten Jahren stetig gewachsen, und zwar so sehr, dass bereits von einem material turn gesprochen wurde. Aus dem ursprünglichen Bestreben, die in Anthropologie, Geschichtswissenschaften und Kunstgeschichte lange geringgeachtete Materialität der Dinge neu in den Fokus zu rücken, haben sich vielfältige Zugänge entwickelt. 26 20 Vgl. Druker 2008, S. 12. 21 Vgl. Ebd., S. 14. 22 Ebd., S. 175. 23 Vgl. Köhler, Sigrid und Martina Wagner-Egelhaaf. Einleitung: Prima Materia. In: Köhler Sigrid et al. (Hrsg.). Prima Materia. Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte . (Kulturwissenschaftliche Gender Studies 6). Königstein und Taunus: Helmer 2004, S. 7. 24 Pfeiffer, Karl. Materialität der Kommunikation? . In: Gumbrecht, Hans und Karl Pfeiffer (Hrsg.). Materialität der Kommunikation . Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 16. 25 Vgl. Köhler, Sigrid et al. (Hrsg.). Materie. Grundlagentexte zur Theoriegeschichte . Berlin: Suhrkamp 2013, S. 14. 26 Schubert, Martin. Einleitung. In: Ders. (Hrsg.). Materialität in der Editionswissenschaft . Berlin und New York: de Gruyter 2010, S. 1. <?page no="14"?> 14 1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Der material turn ist also ein umfassender Perspektivenwechsel, durch den der bislang vernachlässigte Aspekt der Materialität neue Beachtung findet. „ Turns lenken die Aufmerksamkeit[…] auf interne Bedingungen des ,intellektuellen Feldes.‘“ 27 , postuliert Doris Bachmann-Medick. Christiane Heibach und Carsten Rohde sehen turns gar als die Konsequenz eines Bewusstseins für blinde Flecken der eigenen Wissenschaft und als Ausdruck durchlässiger Grenzen zwischen den Wissenschaften. 28 Sie formulieren: […] die Wissenschaften nähern sich in ihren jeweiligen materiellen und immateriellen Präferenzen sukzessive einander an und verlassen ihre jeweils angestammten Positionen: Für die Geisteswissenschaften bedeutet das die Hinterfragung der Prämierung des immateriell-hermeneutischen Denkens, für die Naturwissenschaften eine Infragestellung der Konkretheit ihrer Erkenntnisse über materielle Objekte durch die Reflexion auf die immateriellen Bedingungen ihrer Theoriebildung. 29 Wie bereits erwähnt, geht es bei turns also um eine Erweiterung der Blickwinkel und nicht um ein neues Themengebiet, wobei sich die Gebiete der unterschiedlichen Disziplinen nicht selten zu überschneiden beginnen. Im Falle des material turn , so betont Andreas Reckwitz, mute besagte Neuausrichtung jedoch durchaus paradox an, da sich Kulturtheorien ja gerade in Opposition zu materialistischen Ansätzen gebildet hätten. 30 Gleichzeitig hebt er jedoch hervor, dass die Idee des material turn eine Gemeinsamkeit verschiedenster Disziplinen darstellt: Theorien der Medientechnologien, Artefakttheorien, Raumtheorien und Affekttheorien […] haben allesamt einen grundsätzlichen Anspruch: darauf hinzuweisen, dass die sozio-kulturelle Welt „immer schon“ durch mediale Technologien, durch Artefaktkonstellationen, durch räumliche Arrangements sowie durch Affiziertheiten und Affizierungen strukturiert ist und nur so ihre Form erhält. Das Argument, das sie alle zusammenhält, ist das eines material turn . 31 Die ideologische Grundlage des material turn bildet ein reformiertes Verständnis des Begriffs „Material“. Konkret meint dies die hierarchische Beziehung zwischen den Begriffen „Material“ und „Form“. „Im engeren Sinne bezeichnet Material den Ausgangsstoff jeder künstlerischen Gestaltung“, referiert Monika Wagner im Handbuch Ästhetische Grundbegriffe (2010). Der Begriff „Material“ meint im Unterschied zu „Materie“ „nur solche natürlichen und artifiziellen Stoffe, die zur Weiterverarbeitung vorgesehen sind.“ Eine derartige Definition impliziert ein Verständnis von Material als etwas, das zwingend verarbeitet, erst zu einem Kunstwerk gemacht werden muss. Bereits in der Antike stand „Material“ in einem hierarchischen Verhältnis zu Begriffen wie „Form“ und „Idee“, „den Inbegriffen schöpferischer Gestaltung.“ „Bis um 1800 war Material im Sinne eines physischen Stoffes negativ konnotiert. Es gehörte der niedersten Sphäre des Alltags an, die in der 27 Bachmann-Medick, Doris. Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften . Reinbek: Rowohlt 2006, S. 14. 28 Vgl. Heibach, Christiane und Carsten Rohde (Hrsg.). Ästhetik der Materialität . Paderborn: Fink 2015, S. 10. 29 Ebd., S. 9. 30 Reckwitz, Andreas. Die Materialisierung der Kultur. In: Elias, Friederike et al. (Hrsg.). Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften . Berlin: de Gruyter 2014, S. 13. 31 Ebd., S. 20. <?page no="15"?> 1.2. Materie - Material - Materialität 15 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) künstlerischen Gestaltung zum Verschwinden gebracht werden sollte.“ 32 Sigrid Köhler und Martina Wagner-Egelhaaf betonen diesen Aspekt ebenfalls: Die Perspektivierungen, denen auf diese Weise [durch den material turn ] Raum gegeben wird, erlauben es jedoch nicht nur, die kulturellen Kodierungen und Medialisierungen des Materials zu fokussieren, um Hierarchien und Semantiken des Stofflichen zu beschreiben, sondern sie rufen philosophiegeschichtliche Materiekonzepte auf […]. 33 Nicht nur muss „Material“ weiterverarbeitet werden, es soll ausserdem danach auch nicht mehr zu erkennen sein beziehungsweise die Gemachtheit des Produkts soll nicht mehr zu erkennen sein. Anders der Begriff der Form. „Form ist ein geistiges Prinzip und erscheint gegenüber der Materie als vorrangig und höherwertig.“ 34 Materie hingegen sei zu verstehen als physikalischer Stoff allein, im Sinne einer materia prima , wie sie Aristoteles denkt. Und Materialität bezeichnet schliesslich das „materielle Ding-Sein der Dinge.“ „Die begriffliche Trias von Materie, Material und Materialität lässt sich in dieser Reihung als Abfolge zunehmender kultureller Konzeptionalisierungen lesen, oder in Gegenrichtung als Reihe wachsender Realisierung.“ 35 Durch den material turn wird das Material jedoch nicht mehr kaschiert, sondern im Gegenteil inszeniert und explizit ins Blickfeld gerückt. Die beschriebene Hierarchie zwischen Material einerseits und Form andererseits wird aufgelöst. Entsprechend bezeichnet Thomas Strässle die Befreiung vom „Primat der Form“ als eines von drei methodisch-theoretischen Anliegen in der aktuellen Materialitätsdebatte. 36 Die Sichtweise ist gar eine diametrale. Form wird „als variable Grösse und Ergebnis materialer Eigenschaften“ gesehen. „Material“ wird so zu einer „autonomen ästhetischen Kategorie.“ 37 Es erhält also einen künstlerischen Wert. Durch einen solchen neuen Materialbegriff wird es erst möglich „Kunstwerke jüngeren Datums in ihrer genuin materialen Konstitution und Exposition lesbar zu machen.“ Daraus ergibt sich das zweite Anliegen, welches Strässle formuliert, nämlich ein Bewusstsein für die Bedeutung des materiellen Trägers, des Mediums, der die „Bedeutungsspielräume des Aufgeschriebenen, Dargestellten und Übermittelten überhaupt erst bedingt und damit zumindest mitbestimmt.“ 38 „So verstanden, lässt sich Material nicht mehr nur als ablösbarer Träger einer Form oder einer Idee begreifen, sondern es ist mit diesem unauflöslich verbunden.“ 39 Diese konzeptionelle Verknüpfung von Material und Form ist Ausdruck der bereits erwähnten Auflösung der Hierarchie zwischen den beiden Begriffen. Als Drittes stellt Thomas Strässle schliesslich mit dem Hinweis auf Judith Butlers Bodies that matter (1993) ein Materialitätsdenken fest, welches dem Material „jegliche ,Vorgängigkeit‘ abspricht und es im Gegenzug als Produkt performativer diskursiver Praktiken liest.“ 40 32 Wagner, Monika. Material. In: Ästhetische Grundbegriffe . Bd. 3. Stuttgart und Weimar: Metzler 2010, S. 867 f. 33 Köhler / Wagner-Egelhaaf 2004, S. 8. 34 Köhler et al. 2013, S. 11. 35 Meier, Thomas et al. Materiale Textkulturen. Konzepte, Materialien, Praktiken . Berlin: de Gruyter 2015, S. 19 ff. 36 Strässle, Thomas. Einleitung: Pluralis materialitatis. In: Ders. et al. (Hrsg.). Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien, Praktiken, Perspektiven. Bielefeld: transcript 2013, S. 8. 37 Ebd., S. 9. 38 Ebd., S. 8 f. 39 Wagner 2010, S. 868. 40 Strässle 2013, S. 9. <?page no="16"?> 16 1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Bis anhin betreffen die Ausführungen die Wertsteigerung, die der Begriff „Materialität“ im Zuge des material turn erfahren hat. Die konkrete Funktionalisierung des Begriffs konzentriert sich in der Materialitätsdebatte jedoch bei Weitem nicht nur auf rein physische Aspekte. Vielmehr wird der Begriff ebenfalls auf abstrakteren Ebenen verwendet. Christoph Kleinschmidt macht bezüglich der Begriffsbestimmung von Materialität zwei komplementäre Positionen aus: So verstehen viele Positionen unter Materialität eine „konkrete Stofflichkeit“, „Dinglichkeit und Körperlichkeit“. Andere sprechen hingegen von der „Gegenwärtigkeit von Dingen“, begreifen Materialität also gerade nicht als ein „vordergründig Stoffliches“, sondern als ein „ Erscheinen “, „ absolute Präsenz “, „ Augenblick “, „ Widerstand “, und „ Beharren “. 41 So denkt etwa Dieter Mersch in Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis (2002) Materialität nicht als etwas hauptsächlich Physisches, sondern etwas, „was sich von dort her erst ereignet : Erscheinen , das kein ‚ Etwas ‘ beinhaltet, keine Erscheinung-als , sondern vornehmlich ein ‚Wirken‘, das geschieht .“ 42 Dagegen betrachtet Erika Greber et al. in Materialität und Medialität von Schrift (2002) das Schriftzeichen „in seiner Eigenwertigkeit, seine visuelle und haptische Materialität, eine Konkretheit, Dinglichkeit und Körperlichkeit.“ 43 Und Erika Fischer-Lichte konstatiert für die Theaterwissenschaft: „Die theatralen Elemente in ihrer spezifischen Materialität wahrzunehmen heisst also, sie als selbstreferentielle, sie in ihrem phänomenalen Sein wahrzunehmen.“ 44 Christian Benne äussert sich zum Inhalt des Materialitätsbegriffs für die Literaturwissenschaft wie folgt: Sich auf die Seite der Materialität zu schlagen heisst, Stellung zu beziehen gegen den Idealismus, gegen alle Vorstellungen eines bereinigten und idealen Texts, gegen den „Geist“ oder die blosse Ergründung der ästhetischen Normen des literarischen Texts. Auf der anderen Seite richtet sich Materialität auch gegen die Auffassung, dass Texte unabhängig von ihrer Rezeption und dem kulturellen Kontext ihrer Produktion existieren […]. 45 Entsprechend wird in der vorliegenden Arbeit ein breit gefasster Materialitätsbegriff verwendet, der konkret stoffliche Aspekte beinhaltet, die beispielsweise bei der viel gelobten Buchgestaltung Tove Janssons evident werden. Ferner beinhaltet er ebenfalls das Machen von Literatur als Kunst in ihrer Materialität - also das physische Arbeiten -, was sich etwa in spezifischen Arbeitspraktiken wie auch poetologische Reflexionen dieser Thematik zeigt. Der geschilderte Materialitätsbegriff wird ausserdem vor dem Hintergrund einer Prozessualität betrachtet, welche Tove Janssons Schaffen inhärent ist. Dies belegt etwa die turbulente Herausgebergeschichte der Muminbücher, ein Kunstprojekt, welches sich während über 20 Jahren stetig erweitert und erneuert hat. Mit anderen Worten, Materialität wird in der vorliegenden Arbeit als ein dynamisches, veränderliches Konzept verstanden, was wiederum mit der erwähnten Prozessualität einhergeht. 41 Kleinschmidt, Christoph. Intermaterialität. Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus . Bielefeld: transcript 2012, S. 39. 42 Mersch, Dieter. Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis . München: Fink 2002, S. 134. 43 Greber, Erika et al. (Hrsg.). Materialität und Medialität von Schrift . (Schrift und Bild in Bewegung 1). Bielefeld: Aisthesis 2002, S. 9. 44 Fischer-Lichte, Erika. Ästhetik des Performativen . Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 244. 45 Benne, Christian. Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit . Berlin: Suhrkamp 2015, S. 83. <?page no="17"?> DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 1.3. Material turn in der Tove-Jansson-Forschung? 17 1.3. Material turn in der Tove-Jansson-Forschung? Im Gebiet der Kinder- und Jugendliteraturforschung scheint eine gewisse Sensibilität für verschiedene Aspekte der Materialität zu erwachen. Ein Beispiel ist die bereits erwähnte Arbeit von Elina Druker, in der sie sich dem Thema der Materialität der Bilderbücher in Skandinavien widmet. Sie betrachtet das Buch dezidiert als Kunstprojekt und untersucht dabei Werke unterschiedlicher skandinavischer Autoren, auch von Tove Jansson. Im Kapitel „Bilderbokens konstruktion“ „Die Konstruktion des Bilderbuchs“ behandelt sie das Bilderbuch Hur gick det sen? . Darin wird explizit auf das Spiel mit dem Bild- und Buchmedium, mit den Begriffen „Buch“ und „Literatur“ hingewiesen. 46 Weiter nähern sich im Tagungsband Tove Jansson rediscovered (2007) einige Beiträge diesen Thematiken. So widmet sich etwa Evelyne Arizpe in ihrem Artikel dem Vorkommen von Texten in den Erzählungen und damit Aspekten der Selbstreferenzialität. Dabei geht sie insbesondere auf die Darstellung Pappans als Autobiograf in Muminpappans memoarer ein. In diesem Geist widmet sich Elina Druker im selben Band selbstreferenziellen Bildern, also Bilder, welche von fiktiven Charakteren stammen. Dazu zählen etwa die Skizze des Theaters, die die Theaterratte Emma in Farlig midsommar anfertigt, oder Pappans Skizze, die er im Zuge seiner Arbeit in Pappan och havet erstellt. Inwiefern in der Jansson-Forschung ein Materialitätsbegriff, wie er im vorigen Unterkapitel hergeleitet wurde, präsent ist, respektive in welcher Hinsicht jedoch tatsächlich von einem material turn gesprochen werden kann, wird der folgende Forschungsüberblick aufzeigen. Im Takt mit der steigenden Berühmtheit Janssons erwachte auch das Interesse der Forschung an ihrem Schaffen. Wie beschrieben, gilt Jansson als eine Künstlerin, die sich in unterschiedlichen Gebieten ausprobiert. Die überwiegende Mehrheit der wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt sich jedoch mit ihrem literarischen Schaffen. Bis heute ist die Menge an Artikeln und kürzeren Arbeiten auf ein unüberblickbares Mass angestiegen. Im Gegensatz dazu wurde seit den Anfängen der Forschung vor mittlerweile ca. 60 Jahren eine vergleichsweise bescheidene Anzahl an Monografien verfasst. Der folgende Überblick konzentriert sich auf die wichtigsten. Dabei kommt den Muminbüchern die grösste Aufmerksamkeit zu, während etwa die Bilderbücher wie auch ihre Literatur für Erwachsene von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt wurden und werden. Jansson-Forschung ist daher bis heute in erster Linie Mumin-Forschung. 47 Zu den Pionieren gehört etwa Sonja Hagemann mit ihrem Werk Mummitrollbøkene. En litterær karakteristikk „Die Muminbücher, eine literarische Charakterisierung“. Es handelt sich hierbei um eine gedruckte Probevorlesung, die 1967 erschien. Aus dem Jahr 1975 stammt Kirsten Omlands Dissertation Tryggheten og skrekken. Utviklingen i Tove Janssons muminforfatterskap „Sicherheit und Schreck. Die Entwicklung in Tove Janssons Muminautorschaft“. 46 Druker 2008, S. 84. 47 Exemplarisch sei hier auf einige Arbeiten hingewiesen, welche sich nicht mit den Muminbüchern beschäftigen: Birgit Antonsson (1999) widmete sich Janssons spätem literarischen Schaffen, ihrer Literatur für Erwachsene. Lena Kåreland und Barbro Werkmäster (1994) verfassten die bisher einzige Monografie über Janssons Bilderbücher. Tove Jansson als Malerin, respektive als Karikaturistin steht bei Erik Kruskopfs Arbeit im Mittelpunkt (1992). Mayumi Tomihara (2014) beschäftigte sich in ihrer Monografie mit Tove Janssons Arbeiten für die Satirezeitschrift „Garm“. <?page no="18"?> 18 1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) In den 1980er-Jahren erreichte die Jansson-Forschung einen ersten Höhepunkt. Aus dieser Zeit stammen drei grosse Studien (Holländer 1983, Jones 1984, Westin 1988). Die ersten beiden Arbeiten gehen von einer Entwicklungslinie aus, die sich an den Muminbüchern ablesen lässt. Eine Entwicklungslinie weg vom Kinderbuch hin zur Literatur für Erwachsene. Diese Vorstellung lag zu dieser Zeit den meisten wissenschaftlichen Arbeiten zugrunde. Im Falle von Tove Holländers Arbeit wird dies bereits im Titel evident: Från idyll till avidyll „Von Idylle zu Nicht-Idylle“ deutet die Idee einer Entwicklungslinie innerhalb der Muminreihe an, in der sich das Muminbuch im Laufe der Zeit vom Kinderbuch zum Buch für Erwachsene wandelt, was jeweils als eine stetige Verbesserung gewertet wurde. Tove Holländer widmet sich in ihrer Arbeit den Illustrationen aus einer kunstwissenschaftlichen Perspektive. Ihr Korpus besteht aus den Muminbüchern wie auch den Bilderbüchern. Sie interessiert sich für einzelne Motive, Technik und Stil der Illustrationen. Auch das Zusammenspiel von Text und Bild analysiert sie. Ausserdem widmet Holländer ein Kapitel dem Schaffensprozess. Dabei beschreibt sie sehr kurz, was an Skizzen und sonstigen Vorarbeiten vorhanden ist. Holländer stellt fest, dass sich der Arbeitsprozess von einer unbewussten Suche in einen bewussten, systematischen Arbeitsprozess wandelt. 48 Weiter kommt sie zum Schluss, dass sich besagte Entwicklungslinie, welche sich auf inhaltlicher Ebene beobachten lässt, ebenfalls bei den Illustrationen nachweisen lässt. Diese seien bei den frühen Muminbüchern illusionistisch und relativ wirklichkeitsgetreu und würden schliesslich mehr und mehr expressiv, was sich, so schlussfolgert Tove Holländer, mit dem Prozess der stetigen Psychologisierung der Muminbücher deckt. 49 Glyn Jones beleuchtet die Bücher von Småtrollen och den stora översvämningen (1945) bis Den ärliga bedragaren (1984), was zu Janssons Spätwerk zählt, also der Literatur für Erwachsene. Damit behandelt er sämtliche Werke Janssons, die zur damaligen Zeit erschienen waren. Sein Ziel ist es ebenfalls, den Wandel vom Kinderbuch zum Erwachsenenbuch nachzuzeichnen. Er konstatiert, dass die Muminbücher immer komplexer wurden und das Bilderbuch als Medium für Jansson als Künstlerin nicht mehr ausreichte, sie schliesslich gar hemmte. Daraus folgt für Jones schliesslich ein unumgänglicher Wechsel zum Schreiben für Erwachsene. 50 Die Entwicklung macht er unter anderem an den Veränderungen der Themen fest, die in den Erzählungen verhandelt werden. „En av följderna blir en ökad upptagenhet av frågeställningar om konst, ingivelse, konstnärlig integritet och konstnärens roll.“ 51 „Eine der Folgen ist eine vermehrte Beschäftigung mit Fragestellungen zu Kunst, Eingebung, künstlerischer Integrität und Künstlerrolle.“ Damit tönt er Fragestellungen an, welche auch in der vorliegenden Arbeit relevant sein werden. Weiter erwähnt Glyn Jones ebenfalls die stark visuelle Komponente als ein Charakteristikum von Janssons Werk. 52 Boel Westin bricht in ihrer Dissertation Familjen i dalen. Tove Janssons muminvärld „Die Familie im Tal. Tove Janssons Muminwelt“ mit dieser holistischen Sichtweise und betrachtet die Muminbücher bewusst als separate Werke, ohne jedoch zu verneinen, dass sich die einzelnen Muminbücher in ihrer Art stark voneinander unterscheiden. Entsprechend 48 Vgl. Holländer, Tove. Fran idyll till avidyll. Tove Janssons illustrationer till muminböckerna . (Skrifter utgivna av Finlands Barnboksinstitut 4). Tammerfors: Finlands Barnboksinstitut 1983, S. 51 f. 49 Holländer 1983, S. 61. 50 Vgl. Jones, Glyn. Vägen från mumindalen. En bok om Tove Janssons författarskap . Übers. von Thomas Warburton. Stockholm: Bonniers 1984, S. 180. 51 Ebd., S. 180. 52 Vgl. Ebd., S. 182. <?page no="19"?> DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) macht sie die künstlerische Einzigartigkeit jedes einzelnen Muminbuchs stark. Die Quelle für deren Unterschiedlichkeit sieht Westin in Janssons Funktion als Bildkünstlerin: Olika slag och grader av kaos byter av varandra och iscensätter, förändrar, familjens sammansatta verklighet. Dessa perspektivbyten kan ses i ljuset av Tove Janssons identitet som bildkonstnär. Gång på gång målar hon samma konstverk, mumindalen och familjen, men hon växlar belysning, färg och form. Delarna i tavlan flyttas ständigt om och fogas ihop i nya kombinationer och med nya strukturer. 53 Verschiedene Arten und Grade von Chaos wechseln einander ab und inszenieren, verändern, die zusammengesetzte Wirklichkeit der Muminfamilie. Diese Perspektivenwechsel können im Lichte Tove Janssons Identität als Bildkünstlerin gesehen werden. Wieder und wieder malt sie dasselbe Kunstwerk, das Mumintal und die Muminfamilie, aber sie wechselt Beleuchtung, Farbe und Form. Die Teile des Bildes werden ständig verschoben und in neuen Kombinationen und mit neuen Strukturen wieder zusammengefügt. Entsprechend betrachtet Boel Westin die Muminwelt als ein äusserst dynamisches Konstrukt. Eine ihrer zentralen Fragestellungen betrifft denn auch, was dieses Kunstwerk ausdrückt und was die Familie gestaltet. 54 Mit anderen Worten, sie interessiert sich für Janssons ästhetische Methode. 55 Wie angedeutet, nimmt Westin für jedes der sechs Muminbücher, die sie untersucht, einen individuellen Blickwinkel ein und betont so die jeweiligen Charakteristiken. So heissen ihre Kapitel beispielsweise „Det äventyrliga, Kometjakten“ „Das Abenteuerliche, Kometjakten“ oder „Det dramatiska, Farlig midsommar“ „Das Dramatische, Farlig midsommar“. Boel Westin etablierte sich mit ihrer Abhandlung als führende Jansson- Forscherin und ist bis heute die einzige, die vollständigen Zugang zu Janssons ehemaligem Atelier in Helsinki erhalten hat. Von ihr erschien 2007 die bis dato umfassendste Jansson- Biografie unter dem Titel Ord, bild, liv . 56 Die Ausrichtung auf eine Entwicklungslinie impliziert ausserdem, dass immer von den Originalausgaben der Muminbücher ausgegangen wird. Weiter verdeutlicht sie auch einen intensiven Diskurs über die Zuordnung der Muminbücher zur Kinder- oder Erwachsenenliteratur. Schon früh wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Muminbücher nicht nur Kinder, sondern auch erwachsene Leser ansprechen. Sandra Beckett weist bezüglich Janssons gesamten literarischen Schaffens darauf hin, dass die Ähnlichkeiten zwischen ihrer Literatur für Kinder und für Erwachsene frappant sind und auch dort keine klare Trennung möglich ist: „In all of her writing, the setting is the same, as are the often complex themes: identity, isolation, relationships with others and the environment, natural disaster, time and death.“ 57 53 Westin, Boel. Familjen i dalen. Tove Janssons muminvärld . Stockholm: Bonniers 1988, S. 275. 54 Ebd., S. 275 f. 55 Ebd., S. 16. 56 Was die Biografien betrifft, sei hier auf weitere Werke aufmerksam gemacht: Tordis Ørjasæters für Kinder geschriebene Biografie Möte med… Tove Jansson (1986) ist in viele kleine Kapitel unterteilt und mit zahlreichen Bildern zur Veranschaulichung versehen. Auch Christina Björk, selbst Kinderbuchautorin, schrieb 2003 die sehr persönliche Biografie Tove Jansson . Mycket mer än Mumin. Das Werk enthält auch viel Bildmaterial und gibt einen umfassenden Überblick über Janssons Leben und die Entstehungsgeschichte der Muminbücher. Die aktuellste Biografie Tove Jansson. Arbeta och älska (2014) stammt von der finnischen Kunsthistorikerin Tuula Karjalainen. 57 Beckett, Sandra. Crossover fiction. Global and historical perspectives . New York und London: Routledge 2009, S. 95. 1.3. Material turn in der Tove-Jansson-Forschung? 19 <?page no="20"?> 20 1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Der Forschungsdiskurs zu Literatur, die sich gleichermassen an Kinder und Erwachsene richtet, wird im angelsächsischen Raum unter dem Begriff „crosswriting“ beziehungsweise „crossover literature“ geführt. In der deutschsprachigen Forschung spricht man von „doppelsinniger“ oder „mehrfachadressierter“ Kinder- und Jugendliteratur und in der skandinavischen Forschung hat sich seit den 1960er-Jahren der Begriff „allålderslitteratur“ „Alle- Alter-Literatur“ etabliert. 58 Crosswriting kann für die Kinderliteratur Dreierlei bedeuten: Das Schreiben sowohl für Erwachsene wie auch für Kinder, ein Buch für Erwachsene wird in ein Kinderbuch umgeschrieben oder umgekehrt, und schliesslich ein rezipientenübergreifendes Schreiben. Das heisst, ein Text richtet sich in gleichem Masse an Kinder und Erwachsene. 59 Diese doppelte Adressiertheit wird heute gar als ein Charakteristikum der Muminbücher angeführt. So schreibt etwa Angelika Nix: Die Muminbücher sind als mehrsinnige Kinderklassiker in die Geschichte der internationalen Kinder- und Jugendliteratur eingegangen. Sie gelten als Paradebeispiel für poetische, tiefsinnige Kinderbücher, die eben nicht nur kindliche, sondern auch erwachsene Leser ansprechen. 60 Dies wirft die Frage auf, welche architektonischen Bedingungen die Mehrsinnigkeit an die Erzählungen stellt. Ines Galling beschreibt, wie die Erzählungen einerseits „dem kinderliterarischen Anspruch der Adaption Rechnung tragen, was sich z. B. im Aufbau von kurzen Spannungsbögen äussert.“ Ausserdem werde in den Texten die kindliche Lebenswelt reflektiert. Andererseits weist sie auch auf eine avancierte Lexik und Erzähltechnik hin, wodurch Reflexions- und Metaangebote etabliert würden, die dem kindlichen Leser unter Umständen verborgen bleiben. 61 Maija-Liisa Harju postuliert: „I identify Tove Jansson’s work as crossover literature here, according to three criteria collated from scholarship in the field: diverse address, complexity in form and / or theme, and evidence of diverse readership.“ 62 Dass eine Erzählung Kinder und Erwachsene gleichermassen fesseln kann, ist keineswegs eine neue Erkenntnis - weder in der Jansson-Forschung noch in der Kinder - und Jugendliteraturforschung allgemein. Neu ist laut Sandra Beckett hingegen das enorme mediale Interesse, welches diesem Phänomen zukommt. 63 Trotzdem wurde Jansson jedoch nur im Bereich der Kinderliteratur kanonisiert, ein Schicksal, welches die Crosswriter laut Bettina Kümmerling-Meibauer häufig ereilt. 64 Boel Westin sieht das grosse Potenzial für artistischen Ausdruck jedoch eben gerade in der Betrachtung der Muminbücher als Kinderbücher: „[…] just som barnböcker, som ,naiva‘ texter, öppnar muminböckerna speciella 58 Vgl. Nix, Angelika. Alle Alter im Mumintal. Die Konzeption von Alter in Tove Janssons Mumin-Erzählungen. In: Mairbäurl, Gunda et al. (Hrsg.). Kinderliterarische Mythen-Translation. Zur Konstruktion phantastischer Welten bei Tove Jansson, C. S. Lewis und J. R. R. Tolkien . (Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich 14 / Beiträge zur Kinder- und Jugendmedienforschung 2). Wien und Zürich: Praesens / Chronos 2013, S. 198 f. 59 Vgl. Kümmerling-Meibauer, Bettina. Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung . Stuttgart und Weimar: Metzler 2003, S. 248. 60 Nix 2013, S. 195. 61 Vgl. Galling, Ines. Subversive Idyllen - Tove Janssons Mumin-Bücher. In: Mairbäurl, Gunda et al. (Hrsg.). Kinderliterarische Mythen-Translation. Zur Konstruktion phantastischer Welten bei Tove Jansson, C. S. Lewis und J. R. R. Tolkien . (Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich 14 / Beiträge zur Kinder- und Jugendmedienforschung 2). Wien und Zürich: Praesens / Chronos 2013, S. 177 f. 62 Harju, Maija-Liisa. Tove Jansson and the crossover continuum. In: The Lion and the Unicorn 33 (2009), 3, S. 2. 63 Vgl. Beckett 2009, S. 14. 64 Vgl. Kümmerling-Meibauer 2003, S. 250. <?page no="21"?> DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) konstnärliga möjligheter.“ 65 „[…] gerade als Kinderbücher, als bewusst ,naive‘ Texte, ermöglichen die Muminbücher spezielle künstlerische Möglichkeiten.“ Diese Überlegung liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde. Die jüngere Forschung weist ein breit gefächertes Interesse an unterschiedlichsten Aspekten aus. So haben sich rezentere Lektüren mit psychologischen (Müller-Nienstedt 1994) oder philosophischen (Laajarinne 2011) Aspekten ihrer Texte auseinandergesetzt. Der besondere Sprachstil (Helenelund 1985) sowie ihre deutschsprachige Übersetzungsgeschichte ( Jendis 2001) waren ebenfalls bereits Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Die aktuellsten literaturwissenschaftlichen Abhandlungen zur Muminserie stammen von Agneta Rehal-Johansson (2006) und Sirke Happonen (2007). Rehal-Johansson definiert zwei Hauptmotive, die Muminfamilie und das Mumintal, und untersucht deren Metamorphosen - einerseits von Muminbuch zu Muminbuch, andererseits interessiert sie sich ebenfalls dafür, wie sich die genannten Motive in den einzelnen Muminbüchern durch die Umarbeitungen verändern. Dabei versteht sie das Muminwerk als einen generativen Prozess. Davon ausgehend beschreibt sie übergreifende Tendenzen bei den beiden Überarbeitungsphasen. 66 Gestalterische Veränderungen, die das Buch als Kunstwerk in den Mittelpunkt setzen könnten, lässt sie gänzlich aussen vor. Sie betont jedoch die Komplexität, die sich durch die ständigen Veränderungen ergeben: „Den slutliga muminsviten är ett ovanligt komplext verk, inte bara som barnlitteratur betraktad. Den omfattar alltifrån äventyrsoch utvecklingsromaner för barn, till genreparodier, psykologiska studier, moraliteter och kammarspel i prosaform.“ 67 „Die Muminreihe ist ein ungewöhnlich komplexes Werk, nicht nur als Kinderliteratur betrachtet. Es umfasst alles von Abenteuer- und Entwicklungsromanen für Kinder bis Genreparodien, psychologische Studien, Moral- und Kammerspiele in Prosa.“ Rehal-Johanssons Ausgangspunkt sind die jüngsten Versionen, diese bezeichnet sie als das Muminwerk. Entsprechend sieht sie die früheren Versionen als Abweichungen davon. Damit kehrt sie die gängige Praxis um. Letztlich, so schlussfolgert sie, entsteht durch die Umarbeitungen eine kohäsive Romanreihe über Kindheit und Familienleben. 68 Sirke Happonen interessiert sich für die Entwicklung einer Ästhetik der Bewegung und der Statik in Text und Bild. Sie geht darauf ein, wie Jansson eine spezifische Figurenchoreographie entwickelt, und betont ebenfalls eine Mannigfaltigkeit, was den narrativen Stil und die Illustrationsart betrifft, was wiederum die Einzigartigkeit der einzelnen Muminbücher zementiert. Happonen betrachtet sowohl die Bilderbücher wie auch die Muminbücher und arbeitet teilweise mit handschriftlichem Material, Illustrationsskizzen, und setzt diese in Kontrast zu den gedruckten Illustrationen. Text-Bild-Beziehungen, Arbeitsprozesse, Künstleridentität und die Muminwelt sowie das Buch als Kunstwerk sind Themen, die immer wieder gestreift werden. Dies macht der Überblick über die Monografien deutlich. Gleichermassen wurde evident, dass diese Themen ein marginales beziehungsweise meist eher beiläufiges Dasein fristen. Aus diesem Grund kann man von einem material turn in der Jansson-Forschung nicht sprechen. Im Unterschied zu den vorgestellten Arbeiten zu Tove Janssons Schaffen werden nachfolgend 65 Westin 1988, S. 16. 66 Vgl. Rehal-Johansson, Agneta. Den lömska barnboksförfattaren: Tove Jansson och muminverkets metamorfoser . (Skrifter utgivna av Svenska barnboksinstitutet 93). Göteborg: Makadam 2006, S. 26 ff. 67 Ebd., S. 350. 68 Vgl. Ebd., S. 348. 1.3. Material turn in der Tove-Jansson-Forschung? 21 <?page no="22"?> 22 1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) die oben genannten Aspekte in den Mittelpunkt gestellt, als gleichwertige Koponenten eines facettenreichen Materialitäsbegriffs, wie er vorgängig beschrieben wurde. 1.4. Disposition und Korpuswahl Die Suche nach einem Materialitätsbewusstsein, welches sich auf einer stofflichen wie auch poetologischen Ebene offenbart, liegt als kleinster gemeinsamer Nenner sämtlichen Analysekapiteln zugrunde. Diesem komplexen Materialitätsbegriff wird im Aufbau der Arbeit Rechnung getragen, indem sich auch die Analysen, in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand, auf verschiedenen Ebenen bewegen: Auf der Ebene des ungedruckten Materials, also den Vorarbeiten unterschiedlichster Art, auf inhaltlicher Ebene und schliesslich auch auf der Ebene des Buchs als Objekt. Letzteres geschieht auf zwei unterschiedliche Arten. Einmal steht die Inszenierung des Buchs als solches im Vordergrund, einmal die Buchgestaltung. Eine derartige Herangehensweise ergibt ein besonders differenziertes Bild der Reflexion der erwähnten Themen. Die theoretische Grundlage der Analysen stützt sich auf ein breites und interdisziplinäres Gerüst an Medien-, Materialitätssowie editionsphilologischen Theorien. Wichtige Namen werden bereits in der Disposition genannt. Jedes Kapitel wird jedoch mit konzeptionellen und theoretischen Ausführungen eingeleitet. Spricht man vom Buch als Artefakt, lenkt dies den Blick unweigerlich auch auf die Genese des Kunstwerks. Das Interesse der Literaturwissenschaft an Handschriften ist keineswegs neu, hat ihren Fokus jedoch verändert beziehungsweise im Sinne des material turns erweitert: Die Beschäftigung mit der Handschrift hat, auch wenn es um Manuskripte von Autorinnen und Autoren geht, keine Textkonstitution mehr zum Ziel, vielmehr sind es die Materialität und die Ästhetik der Handschrift, die in den Blick der Literaturwissenschaft geraten. 69 In diesem Sinne wird im ersten Analysekapitel das ungedruckte Material untersucht. Thomas Wortmann weist darauf hin, dass gerade die critique génétique dazu wichtige Impulse geleistet hat. 70 Dies liegt vor allem an ihrem Werkbegriff: Nur das Werk , so heisst es, könne ästhetische Werte vehikulieren, nicht aber das, was die „critique génétique“ als „avant-texte“ bezeichnet.[…] Dieser Auffassung hält die „critique génétique“ entgegen, dass das Werk nicht den einen, abgeschlossenen, vollkommenen Text meint, sondern den gesamten Verschriftungskomplex, der zwar diesen Text mit einschliesst, aber daneben auch sämtliche Entwurfs- und Arbeitshandschriften integriert, die diesem Text vorausgehen. 71 Entsprechend bildet die critique génétique eine wesentliche theoretische Basis dieses Kapitels. Sie etablierte sich in den 1960er-Jahren in Frankreich und geht auf ideologische Vorläufer wie Stéphane Mallarmé und Paul Valéry zurück. Valéry war daran beteiligt, das 69 Wortmann, Thomas. Zurück in die Zukunft? Die Literaturwissenschaft und ihr „Material“. In: Liebrand, Claudia und Rainer Kaus (Hrsg.). Interpretieren nach den „turns“. Literaturtheoretische Revisionen . Bielefeld: transcript 2014, S. 146. 70 Vgl. Wortmann 2014, S. 146. 71 Grésillon, Almuth. „Critique génétique“. Handschriften als Zeichen ästhetischer Prozesse. In: Falk, Rainer und Gert Mattenklott (Hrsg.). Ästhetische Erfahrung und Edition . (Beihefte zu editio 27). Tübigen: Niemeyer 2007, S. 76. <?page no="23"?> 1.4. Disposition und Korpuswahl 23 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) ästhetische Interesse vom Produkt auf die Produktion zu lenken. 72 Als Grundlagentext der critique génétique gilt Edgar Allan Poes Gedicht The Philosophy of Composition : „one of the foundational texts of French genetic criticism“. 73 Darin wird ein dezidiert mechanischer Schreibprozess beschrieben. So wie beim Material der Blick vom Produkt auf die Produktion gewendet wird, wird der Künstler als Produzent, als Handwerker gesehen. Diesbezüglich dienen die Texte von Gottfried Benn Probleme der Lyrik (1968) und Walter Benjamin Der Autor als Produzent (1977) als Grundlage. Die Produktion von Literatur wird in einem weiteren Kapitel beleuchtet, in dem sich der Fokus auf die zahlreich vorhandenen Schreib- und Leseszenen in den Muminbüchern richtet. Die intensive schriftstellerische Tätigkeit vor allem Muminpappans lädt geradezu dazu ein, zu untersuchen, wie das Produzieren und Rezipieren von Literatur sowie unterschiedliche Konzepte von Autorschaft in den Texten selbst verhandelt werden. Denn „Schreibakte sind […] nicht nur Aufzeichnungsakte. Es sind auch Akte, in denen Erinnerungen, Erfahrungen und Wissensbestände produziert, artikuliert und organisiert werden.“ 74 Bezüglich der Schreibszenen sind die Ausführungen Rüdiger Campes Die Schreibszene. Schreiben (1991) sowie von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti „Schreiben heisst: sich selber lesen“ (2008) massgeblich. Die Schreibszene wird dabei als ein Konvolut verschiedenster Handlungen gesehen, das den Akt des Schreibens performativ beschreibt, beziehungsweise rahmt. Somit wird das Schreiben in seiner Materialität betont. In einem engen Zusammenhang mit den Schreibszenen stehen Konzeptionen von Autorschaft, die als Spiegelungen unterschiedlicher Künstleridentitäten interessant sind (vgl. Behschnitt (1999), Amstutz (2004), Bohnenkamp (2001)) und in der Analyse daher ebenfalls Beachtung finden. Bezüglich der Prozesse der Werkentstehung und der Künstlerrolle bildet dieses Kapitel also eine Erweiterung zum vorausgehenden. Von den Reflexionen über das Machen von Literatur, von Literatur als Kunst und dem Rollenbild des Künstlers wendet sich der Blick im darauf folgenden Analysekapitel Richtung Buch. Dem Buch wird oftmals eine düstere Zukunft prophezeit. Michel Butor sieht jedoch gerade in der wachsenden Konkurrenz durch andere Medien eine Chance für das Buch, seine „Würde als Monument“zurückzubekommen. 75 „Zeitung, Funk, Fernsehen und Film werden das Buch zwingen, immer ,schöner‘, immer ,dichter‘ zu werden.“ 76 , postuliert er. In diesem Sinne widmet sich das dritte Analysekapitel dem Buch als Artefakt. Um sich dieser Thematik anzunähern, muss in einem ersten Schritt geklärt werden, was ein Buch ausmacht und wie sich die Begriffe „Buch“ und „Text“ auseinanderhalten lassen. Diesbezüglich sind etwa folgende Arbeiten relevant: Jürgen Nelles Bücher über Bücher. Das Medium Buch in Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts (2002), Bill Brown A sense of things. The object matter of American literature (2003), Erika Fischer-Lichte Ästhetik des Performativen (2004). Grundlegend für die Analyse ist jedoch das Konzept des Paratexts nach Gérard Genette. Denn durch den Paratext, so Genette, wird ein Buch erst zum Buch. 77 Genauer wird erörtert, 72 Vgl. Deppman, Jed et al. Genetic criticism. Texts and avant-textes . Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2004, S. 6. 73 Deppman et al. 2004, S. 3. 74 Zanetti, Sandro (Hrsg.). Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte . Berlin: Suhrkamp 2012, S. 7. 75 Butor, Michel. Das Buch als Objekt. In: Ders. Die Alchemie und ihre Sprache. Essays zur Kunst und Literatur . Übers. von Helmut Scheffel. Frankfurt a. M. und Paris: Qumran 1984, S. 31. 76 Ebd., S. 32. 77 Vgl. Genette, Gérard. Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches . Übers. von Dieter Hornig. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 10. <?page no="24"?> 24 1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) welche paratextuellen Elemente eingesetzt werden, um das Buch als solches in Szene zu setzen. Mit anderen Worten, es geht um eine fundamentale Rahmung des Textes, sodass dieser als Buch wahrgenommen wird, und nicht in erster Linie um physische Merkmale des Buchs. Die Thematik des vorherigen Kapitels weiterführend, steht im vierten und letzten Analysekapitel die Buchgestaltung im Mittelpunkt. Untersucht werden klassische paratextuelle Elemente wie etwa das Cover oder die Titelseiten. Dabei steht jedoch deren visuelles Erscheinungsbild im Vordergrund. Ebenfalls analysiert wird das Seitenlayout, genauer die Relation von Text und Bild, Typografie und Farbgebung. Wohl attestiert Genette dem Visuellen ebenfalls eine Bedeutung, wie folgendes Zitat beweist: Doch muss man zumindest den paratextuellen Wert bedenken, den andere Erscheinungsformen annehmen können: bildliche (Illustrationen), materielle (alles, was zu den typographischen Entscheidungen gehört, die bei der Herstellung eines Buches mitunter sehr bedeutsam sind) […]. 78 Trotzdem bezieht er diese Aspekte nicht in seine Untersuchung mit ein. Ferner wird in der Untersuchung ein besonderes Augenmerk auf die dritte Dimension des Buchs, auf dessen Physis gelegt, um deren Bedeutung im Gestaltungskonzept zu beleuchten. Carlos Spoerhase liefert für diese Überlegung mit Linie, Fläche, Raum. Die dritte Dimension des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (2016) einen Grundlagentext. Das Kapitel widmet sich also dem Buch als gestalterisches Kunstwerk und somit auch Tove Jansson nicht als Malerin oder Autorin, sondern Buchkünstlerin. Den grössten Teil des Korpus’ stellen die Muminbücher. Im Gegensatz zu den meisten früheren Arbeiten werden darunter nachfolgend nicht die Originalausgaben verstanden, sondern in Anlehnung an Agneta Rehal-Johansson die acht Muminbücher, die zwischen 1968 und 1970 in schwedischer Sprache erschienen. Das Debüt Småtrollen och den stora översvämningen (1945) ist nicht Teil dieser Reihe, da es im Unterschied zu den übrigen Muminbüchern von den Umarbeitungen ausgeschlossen war. Nicht berücksichtigt in der vorliegenden Arbeit wird weiter die Novellensammlung Det osynliga barnet (1969). Lediglich im Falle von Kometen kommer werden zwecks einer Detailanalyse alle drei edierten Versionen in die Untersuchung miteinbezogen. Da die Grundlage der Analyse die schwedischen Ausgaben der Muminreihe bilden, werden entsprechend die schwedischen Titel wie auch die schwedischen Figurennamen verwendet. Zusammenfassend ergibt sich folgende Liste: Kometen kommer (1968) (dt. Titel „Komet im Mumintal“), dazu gehören die früheren Versionen Kometjakten (1946) und Mumintrollet på kometjakt (1956), Trollkarlens hatt (1968) (dt. Titel „Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft“), Muminpappans memoarer (1968) (dt. Titel „Muminvaters wildbewegte Jugend“), Farlig midsommar (1969) (dt. Titel „Sturm im Mumintal“), Trollvinter (1970) (dt. Titel „Winter im Mumintal“), Pappan och havet (1969) (dt. Titel „Mumins wundersame Inselabenteuer“) sowie Sent i november (1970) (dt. Titel „Herbst im Mumintal“). Neben den erwähnten Muminbüchern umfasst das Korpus ebenfalls folgende Bilderbücher Janssons: Hur gick det sen? (1952) (dt. Titel „Mumin, wie wird’s weiter gehen? ) Ein Buch mit Mymla, Mumin und der kleinen My”), Vem ska trösta knyttet? (1960) (dt. Titel „Wer tröstet Toffel? “) und Den farliga resan (1977) (dt. Titel „Die gefährliche Reise“). Die Muminbücher und die Bilderbücher wurden noch kaum gemeinsam in einer Arbeit unter- 78 Genette 2001, S. 14. <?page no="25"?> 1.4. Disposition und Korpuswahl 25 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) sucht. In der geplanten Diskussion der Materialitätsaspekte scheint dies jedoch fruchtbar, da so auch ein eventuelles gattungsspezifisches Arbeiten festgestellt werden kann. Schliesslich ist auch das ungedruckte Material, welches in der Åbo Akademi in Finnland der Öffentlichkeit zugänglich ist, wesentlicher Bestandteil des Korpus’. Bei den Transkriptionen wird keine diplomatische, sondern eine linearisierte Transkription angestrebt. Die diplomatische Transkription bewahrt den materiell-visuellen Aspekt. Bei einer linearisierten Umschrift wird dieser zum Vorteil einer besseren Lesbarkeit teilweise aufgegeben. 79 79 Vgl. Grésillon, Almuth. Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“. (Arbeiten zur Editionswissenschaft 4). Übers. von Frauke Rother und Wolfgang Günther. Bern et al.: Peter Lang 1999, S. 156; Fussnote 22. <?page no="27"?> 1.4. Disposition und Korpuswahl 27 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 2. Zur Inszenierung des „Machens“ „Ein Gedicht entsteht überhaupt nur selten - ein Gedicht wird gemacht.“ 1 In diesem Zitat zementiert Gottfried Benn die Lyrik als Kunstprodukt und die Relevanz der Verfertigung derselben. Dabei geht er auf Autoren ein, denen er gar ein weitaus grösseres Interesse an der Gestaltung eines Werks unterstellt als am Werk selbst. Mehr noch, Benn konstatiert: „Die modernen Lyriker bieten uns geradezu eine Philosophie der Komposition und eine Systematik des Schöpferischen.“ 2 In Bezug auf Tove Janssons Schaffen scheint ein solcher Ausgangspunkt vor allem aus zwei Gründen vielversprechend. Erstens lenkt die Tatsache, dass Janssons Bilderbücher von der Forschung unisono als Artefakte gelobt werden, den Blick unweigerlich ebenfalls auf deren Genese. Dabei ist die Frage leitend, inwiefern sich neben der (Bilder)Buchästhetik, die Jansson zugeschrieben wird, in den Vorarbeiten ebenfalls eine Produktionsästhetik nachweisen lässt. Damit wird der Fokus im Sinne Benns auf das Kreieren von Kunst als künstlerischen Akt gerichtet. Dies wiederum bedeutet, dass ebenfalls Vorarbeiten unterschiedlichster Art bereits als Kunst zu betrachten sind. Denn die Produktion, die Poesis, bildet laut Hans Jauss neben Aisthesis und Katharsis eine der drei Funktionen, in denen sich ästhetisch geniessendes Verhalten vollziehen kann. Diese drei Kategorien stehen allerdings in keinem hierarchischen Verhältnis, sondern seien als „ein Zusammenhang von selbständigen Funktionen zu denken […].“, die jedoch in einem „Folgeverhältnis“ stehen. Was die Rolle des Künstlers betrifft, äussert er sich folgendermassen: „Der schaffende Künstler kann seinem eigenen Werk gegenüber in die Rolle des Betrachters oder Lesers eintreten […].“ 3 Eine Betrachtungsweise dieser Art rückt Jansson nicht als Malerin oder Autorin, sondern dezidiert als Buchkünstlerin in den Fokus. Damit ist ein Rollenbild verbunden, welches dem marxistischen Verständnis des Produktionsbegriffs entspringt. Nach Karl Marx ist die Wissenschaft Produkt der geistigen Arbeit, und Kunst und Poesie gelten als geistige Produktionszweige. 4 „Kunst selbst als Produktion zu betrachten bedeutet demnach, den Künstler nicht so sehr als Schöpfer, sondern vielmehr als Arbeiter zu sehen.“ 5 , oder als Produzenten, wie dies Walter Benjamin in Der Autor als Produzent (1977) postuliert. 6 Solche Herangehensweisen stehen für eine negative Haltung gegenüber der formalistischen Werkästhetik, „welche das Kunstwerk als starre, kontextlose 1 Benn, Gottfried. Probleme der Lyrik. In: Wellershoff, Dieter (Hrsg.). Gottfried Benn. Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 4: Reden und Vorträge. Wiesbaden: Limes 1968, S. 1059. 2 Ebd., S. 1060. 3 Jauss, Hans. Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik . Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, S. 88 f. 4 Marx, Karl, zitiert in Zill, Rüdiger. Produktion / Poiesis. In: Ästhetische Grundbegriffe. Bd . 5. Stuttgart: Metzler 2010, S. 68. 5 Zill 2010, S. 68. 6 Benjamin, Walter. Der Autor als Produzent. In: Tiedemann, Rolf und Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.). Walter Benjamin. Gesammelte Schriften II.2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 683-701. <?page no="28"?> 28 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) und überzeitlich valide Gegebenheit analysiert.“ 7 Entsprechend wird Jansson als äusserst bibliophile Künstlerin verstanden, die nicht nur das Artefakt in seiner finalen Version hochhält, sondern als eine Künstlerin, wie es Benn definiert, die den Akt der Kreation zelebriert und in Szene setzt, diesen ausserdem gleichzeitig auch funktionalisiert, um ihr Wirken ständig intensiv zu reflektieren. Zweitens erscheint eine derartige Untersuchung ebenfalls aufgrund Janssons Facettenreichtum als Künstlerin und der turbulenten Werkgeschichte der Muminbücher vielversprechend. An diesen wurde über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten immer wieder gearbeitet, weshalb sich die Bücher auch kontinuierlich veränderten, inhaltlich wie auch gestalterisch. Beides lässt ein umfangreiches und spannend kreiertes handschriftliches Material vermuten, anhand dessen Fragestellungen diskutiert werden können, die weit über diejenigen der klassischen Editionsphilologie als „Lehre von der Konstituierung und Kommentierung der (literarischen) Texte“ hinausgehen. Dass Handschriften auf mannigfaltige Weise interpretativ nutzbar gemacht werden können, wurde in der Forschung bereits mehrfach konstatiert. So fragt etwa Klaus Hurlebusch: „[…] Ist sie [die Arbeitsweise] nur als Werkstatt von Texten und Varianten, nicht auch als Ausdrucksmedium eines Autors interessant? “ 8 Almuth Grésillon behauptet: „Literarische Handschriften sind Orte der ästhetischen Erfindung; ihr Wert besteht im Tun selbst […].“ 9 Und Hans Enzensberger postuliert gar, das Nachdenken über die Textentstehung sei zu einer zentralen, ja gar zu „ der zentralen“, Frage der modernen Ästhetik geworden. 10 Entsprechend bildet nachfolgend das handschriftliche Material die Grundlage, um Fragen aufzuwerfen, die etwa das künstlerische Selbstverständnis, Janssons werkkonstituierende Funktion und das vorherrschende Verständnis von Kunst betreffen. Ein derartiger Fokus beinhaltet, was bereits an früherer Stelle als zentrale Innovation des material turn genannt wurde: Die Emanzipation des Begriffs des „Materials“ von dem der „Form“ oder „Idee“. Material wird nicht mehr als etwas Unfertiges, zu Verarbeitendes betrachtet, sondern wird dadurch zum Medium und somit auch selbst zu einem Bedeutungsträger. Die definierten Fragestellungen machen deutlich, dass bei der Analyse keine klassisch editionsphilologische Herangehensweise angestrebt wird. Die Fragestellungen konturieren weiter, wie der eingangs erwähnte Begriff „Produktionsästhetik“ verwendet wird. Er stellt im hiesigen Kontext einen Sammelbegriff dar, der einerseits der blossen Materialität, der Stofflichkeit der Dokumente, Rechnung trägt und so deren Status erhöhen soll. Andererseits beinhaltet er ebenfalls die angesprochenen poetologischen Fragestellungen, also das Sinnieren über das Machen und die Gemachtheit von Kunst. Dies wiederum offenbart sich nicht nur auf der stofflichen, sondern vor allem auch auf einer abstrakteren Ebene, die durch den stark selbstreferenziellen Charakter der Dokumente entsteht. Das Schreiben beziehungsweise die Handschriften betonen laut Martin Stingelin 7 Nieragden, Göran. Produktionsästhetik. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie . Ansätze - Personen - Grundbegriffe . 4. akt. und erw. Aufl. Stuttgart und Weimar: Metzler 2008, S. 598. 8 Hurlebusch, Klaus . Buchstabe und Geist, Geist und Buchstabe. Arbeiten zur Editionsphilologie . (Hamburger Beiträge zur Germanistik 50). Frankfurt a. M. et al.: Peter Lang 2010, S. 90. 9 Grésillon 1999, S. 253. 10 Enzensberger, Hans Magnus. Die Entstehung eines Gedichts. In: Ders. Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts . Frankfurt. a. M.: Suhrkamp 1966, S. 61. <?page no="29"?> DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 2. Zur Inszenierung des „Machens“ 29 […] das produktionsästhetische Moment des schöpferischen Arbeitsprozesses, der vom Einfall, der Organisation, der Formulierung, der Aufzeichnung, der Überarbeitung und der Korrektur bis zu Veröffentlichung verschiedene Phasen umfasst.[…] Der skizzierte Arbeitsprozess dokumentiert sich in handschriftlichen oder typographischen Spuren wie Vorarbeiten (Exzerpten, Notizen und Fragmenten, Plänen), Entwürfen, verschiedene Fassungen, Arbeitshandschriften und Korrekturfahnen […]. 11 Somit sind Handschriften Spiegel des künstlerischen Arbeitsprozesses. Das Untersuchungsmaterial besteht aus den handschriftlichen Dokumenten, die sich in der Åbo Akademi im finnischen Åbo befinden. Da diese in der Forschung noch vergleichsweise wenig aufgearbeitet wurden, beginnt die Untersuchung mit der Schilderung der Archivsituation, mit allgemeinen Aussagen das Material betreffend sowie einem Werkstattbericht. Um oben formulierte Fragestellungen zu bearbeiten, werden ausgewählte Dokumente präsentiert, beschrieben und schliesslich im Rahmen einer diskursiven Darstellung zu den erwähnten Problemen in Beziehung gesetzt. Zur Bearbeitung werden die Dokumente in einem ersten Schritt in konzeptionelle Dokumente einerseits, und Dokumente der Textproduktion andererseits, separiert. An dieser Unterteilung orientieren sich die Unterkapitel. Zur eigentlichen Analyse des ungedruckten Materials bietet die critique génétique geeignete Instrumente. Sie beschäftigt sich mit Handschriften und ist der Idee der Produktion von Literatur „als ein Tun , eine Handlung, eine Bewegung“ verpflichtet. 12 Dieser Rahmen ergibt folgende Prioritäten: […] die der Produktion gegenüber dem Produkt, des Schreibens gegenüber dem Geschriebenen, der Textualisierung gegenüber dem Text, des Vielfältigen gegenüber dem Einzigartigen, des Möglichen gegenüber dem Abgeschlossenen, des Virtuellen gegenüber dem ne varieteur, des Dynamischen gegenüber dem Statischen, des Vollbringens gegenüber dem Vollbrachten, der Genese gegenüber der Struktur, der Äusserung gegenüber der Aussage, der bewegenden Kraft des Schreibens gegenüber der festgefrorenen Form des Gedruckten. 13 Für das vorliegende Kapitel impliziert dies eine Herangehensweise, die dem handschriftlichen Material einen besonders hohen Status zukommen lässt und somit, materialitätstheoretisch gesprochen, ebenfalls dem Material und nicht nur der Form oder Idee eine Relevanz zuspricht. Die Resultate bilden letztlich auch eine neue Basis für die viel geäusserte Behauptung, die Muminbücher seien Artefakte. Weiter werden die Erkenntnisse als Grundlage für die darauffolgenden Analysekapitel nutzbar gemacht, in denen untersucht wird, inwiefern die Gemachtheit von Literatur und seinem Medium, dem Buch, einerseits im Paratext der gedruckten Version reflektiert wird, andererseits auf inhaltlicher Ebene anhand von Schreib- und Leseszenen. 11 Stingelin, Martin. „Schreiben“. Einleitung. In: Ders. (Hrsg.). „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum.“ Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte . (Zur Genealogie des Schreibens 1). München: Fink 2004, S. 15 f. 12 Grésillon 1999, S. 15. 13 Ebd., S. 15. <?page no="30"?> 30 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 2.1. Sammeln - archivieren - dokumentieren: zum Untersuchungsmaterial Janssons Hinterlassenschaft besteht neben ihrem umfassenden gedruckten literarischen Werk auch aus zahlreichen vollgeschriebenen Agenden und Tagebüchern, Skizzen und Manuskripten. Weiter schrieb sie ebenfalls Unmengen an Briefen und Postkarten. Es scheint daher legitim, Jansson als eine exzessive Schreiberin zu bezeichnen, sowohl im beruflichen wie auch im privaten Kontext. Dieses ganze Material wurde von Jansson gesammelt und akribisch geordnet. Dadurch entstand in ihrem Atelier in Helsinki eine Art privates Archiv, das jedoch bislang der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Bis heute hatte lediglich die Jansson-Forscherin Boel Westin unbegrenzt Zugang. Tove Jansson ist daher nicht nur eine exzessive Schreiberin, sondern eine ebensolche Sammlerin, was sich in der geschilderten Autoarchivierung ausdrückt. Das Material im Atelier wird von Westin, wenig erstaunlich, als äusserst umfangreich beschrieben. Die Dokumente sind sorgsam in Mappen oder Schubladen verwahrt, geordnet in verschiedene Bereiche mit Titeln wie: Presse, Manuskripte, Illustrationen oder Dankesreden. 14 Jansson schien bestrebt, einen wichtigen und wertvollen Teil ihrer Produktion durch eine systematische Aufbewahrung zu erhalten. Vom Verlag verlangte sie zu diesem Zweck sogar explizit gedruckte Versionen einzelner Bücher oder etwa eingesandte Manuskripte zurück. Die Forschung hingegen beachtet die Handschriften bis dato lediglich marginal. 2014, anlässlich von Janssons 100. Geburtstag, erschien das Buch Brev från Tove Jansson „Briefe von Tove Jansson“ mit Transkriptionen einer Auswahl von Briefen. Herausgegeben wurde es von Boel Westin und Helen Svensson. Das Projekt deutet vielleicht auf einen möglichen Wandel diesbezüglich hin. Auch wurden die Vorarbeiten kaum einer breiten Öffentlichkeit präsentiert, etwa in Ausstellungen, wie man dies etwa von anderen Autoren kennt. Anders zeigt sich die Situation bei den Skizzen für die Illustrationen. Seit 1986 befindet sich ein grosser Teil im Tammerfors Kunstmuseum, wo sie besichtigt werden können. Viele der Originalillustrationen sind jedoch verlorengegangen, sei es durch Ausstellungen, bei Verlagen oder sonstigen Ausleihen. 15 Das grösste öffentlich zugängliche Konvolut an handschriftlichem Material gelangte durch eine Schenkung Janssons im Jahr 1978 in den Besitz der finnischen Åbo Akademi. Die Tove-Jansson-Sammlung in der Handschriftenabteilung besagter Åbo Akademi besteht aus neunzehn Mappen. Diese umfassen Manuskripte zu den Muminbüchern sowie Material zu einigen ihrer Romane für Erwachsene. Ebenfalls befindet sich ein Teil ihrer Briefkorrespondenz dort. Für die vorliegende Arbeit sehr fruchtbar etwa diejenige mit Schildts, ihrem finnischen Verlag. Das ungedruckte Material in der Åbo Akademi zeichnet sich durch eine grosse Bandbreite an unterschiedlichen Dokumenten aus, was es für eine Analyse besonders interessant macht. Es besteht aus Bilderskizzen, Textentwürfen und konzeptionellen Schriften. Wobei hier darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass Skizzen zu den Illustrationen ausser im Falle von Pappan och havet nur sehr spärlich vorhanden sind. Beim Untersuchungsmaterial handelt es sich bekanntlich um eine Schenkung der Künstlerin. Das Material zur Schenkung wurde von ihr zusammengestellt. Teilweise versah sie es sogar mit Notizen, in denen sie sich etwa für deren Unvollständigkeit entschuldigt. Das 14 Vgl. Westin, Boel. Tove Jansson. Ord, bild, liv . Stockholm: Bonniers 2007, S. 562. 15 Ebd., S. 400. <?page no="31"?> 2.1. Sammeln - archivieren - dokumentieren: zum Untersuchungsmaterial 31 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Material wurde für die Öffentlichkeit präpariert und, so ist anzunehmen, durch die Künstlerin im Rahmen einer selbstgesteuerten Kanonisierung zensiert, diente somit ebenfalls einer Selbstdokumentation. Dies sind Umstände, die zu einem äusserst kritischen Umgang mit dem Material anhalten. Mit anderen Worten, Jansson stellte für ihre Werke selbst einen avant-texte her. Mit dem Begriff avant-texte bezeichnet Grésillon die „Gesamtheit aller überlieferten und chronologisch geordneten schriftlichen Zeugen zur Genese eines (vollendeten oder unvollendeten) Werkes.“ 16 Dies wiederum setzt laut Axel Gellhaus einen hoch entwickelten Begriff des Texts voraus, „dessen Entstehungszusammenhang man lediglich positiv-wissenschaftlich dokumentieren will.“ 17 Grésillon weist darauf hin, dass das Aufbewahren von Vorarbeiten ein neues Phänomen ist. Im 16. und 17. Jahrhundert gehörte dies nicht zur gängigen Praxis. Dies änderte sich auch im 18. Jahrhundert nicht, wo sich die Idee der Genieästhetik etablierte. Erst im 20. Jahrhundert begannen die Künstler damit, die Regeln der ästhetischen Produktion offenzulegen und zu kommentieren. 18 Besagtes Material präsentiert sich in der Handschriftenabteilung der Åbo Akademi in einem weitgehend guten Zustand, wenn auch nicht ganz vollständig und weder durchgängig nummeriert noch datiert. Eine klare Vorliebe für ein spezielles Schreibgerät ist nicht zu erkennen. Jansson schrieb sowohl mit Bleistift als auch mit Tinte oder Kugelschreiber, in der Regel sehr gut leserlich und stets in Schreibschrift. Schreibrichtung und -grösse variieren stark in den einzelnen Dokumenten. Die Farbe variiert ebenfalls und reicht von Grün über Blau bis zu Schwarz. Weiter schrieb sie häufig auf lose Blätter im Format A4, aber auch auf Notizzettel unterschiedlichster Grösse und Art, in Hefte oder bei Umarbeitungen auch gerne direkt in eine bereits edierte Version. Sie schrieb meist im Hochformat. Das Papier, das Jansson wählte, ist liniert, unliniert oder auch kariert. Ferner finden sich bei den Textentwürfen sowohl vertikale als auch horizontale Faltspuren. Schreiben war, wie bereits erwähnt, für Jansson ein integraler Bestandteil ihres Lebens, sowohl beruflich als auch privat. Es erstaunt daher nicht, dass sich in ihren Handschriften Textentwürfe für ein Buch mit persönlichen Notizen, Kritzeleien und Anmerkungen aller Art mischen. So können auf der gleichen Seite Text und Telefonnummern, einzelne Namen oder Entwürfe für Briefe nebeneinander stehen. Teilweise sind die Rückseiten von Manuskripten mit Einkaufslisten oder unterschiedlichen Nachrichten versehen. Viele Notizen machen den Anschein von Erinnerungshilfen oder spontanen Einfällen, die den Schreibakt unterbrochen haben könnten, sich aber gleichermassen auf dem Papier manifestieren. Ob beides tatsächlich gleichzeitig entstanden ist oder ob es sich viel mehr einfach um eine Art Papierrecycling handelt, ist allerdings nicht abschliessend zu beantworten. „Och hon skriver, intensivt, nästan passionerat, dagar i sträck.“ 19 „Und sie schreibt, intensiv, beinahe passioniert, mehrere Tage hintereinander.“ So beschreibt Boel Westin Janssons Arbeitswut bei der Entstehung der ersten Version von Kometjakten , die 1945 auf Åland geschrieben wurde, und definiert so die Grundpfeiler von Janssons Arbeitsmoral. Tove Jansson selbst war einigermassen zurückhaltend mit Aussagen bezüglich ihrer konkreten Arbeitsweisen. Trotzdem lässt sich konstatieren, dass ihre Arbeitsabläufe ritualisiert waren. Dies betrifft einerseits Ort und Zeit des Arbeitens, andererseits die Reihenfolge, in der Bild 16 Grésillon 1999, S. 293. 17 Gellhaus, Axel et al. (Hrsg.). Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen . Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 319. 18 Vgl. Grésillon 1999, S. 255 ff. 19 Westin 2007, S. 183. <?page no="32"?> 32 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) und Text entstehen. Jansson schrieb praktisch immer und überall, der Sommer scheint aber jeweils eine besonders produktive Zeit gewesen zu sein. Ausserdem zog sie sich zum Schreiben mit Vorliebe auf ihre Insel im finnischen Schärengarten zurück. 20 Erik Kruskopf nennt sogar eine klare räumliche Aufteilung bei den verschiedenen Arbeiten: in ihrem Atelier malte sie, auf Pellinge, der Insel, schrieb und illustrierte sie. 21 Was die Abfolge betrifft, in denen die Bilder und der Text für ein Buch entstanden, hält sie nach eigenen Angaben eine strikte Reihenfolge ein. Der Text wird zuerst erstellt und erst dann mit Illustrationen ergänzt. Eine Ausnahme diesbezüglich bildet das Bilderbuch Den farliga resan. In diesem Fall war die Reihenfolge umgekehrt. Laut Boel Westin dokumentierte Jansson die Arbeitsfortschritte der einzelnen Arbeiten immer akribisch genau in Tagebüchern und Agenden. Dabei wird auch ersichtlich, dass der Übergang vom einen zum nächsten Projekt meist fliessend war. Lange kreative Pausen gönnte sie sich kaum. 22 Dieses Pensum stieg in Takt mit der steigenden Berühmtheit rasant an und erreichte einen Höhepunkt in den 1950er-Jahren. In dieser Zeit mutierte Jansson zum internationalen Megastar. Es waren Jahre geprägt von enormem Erfolg und damit einhergehend von einer zeitweise kaum zu bewältigenden Arbeitsbelastung. 2.2. Konzeptionelle Arbeiten Für die Charakterisierung von Schriftstellern anhand ihrer Arbeitsweisen offeriert die Forschung unterschiedliche Typologien. Bodo Plachta beispielsweise unterscheidet Kopfarbeiter von Papierarbeitern. Während bei Ersteren die Planungsarbeit im Kopf stattfindet, materialisiert sie sich bei Letzteren auf dem Papier. 23 Almuth Grésillons Typologisierung von Autoren anhand ihrer Arbeitsweise verläuft entlang derselben Unterscheidungsmerkmale. Sie differenziert zwischen dem produktorientierten Schreiben und dem prozessorientierten Schreiben. Als produktorientierte Autoren bezeichnet Grésillon Schriftsteller, die bei der Produktion einem bestimmten Plan folgen. Beim prozessorientierten Arbeiten hingegen fliesse die inventio direkt in die Hand. 24 Da im ungedruckten Material zahlreiche Dokumente mit planerischem / konzeptionellem Inhalt vorhanden sind, lässt sich Jansson in Plachtas Terminologie als Papierarbeiterin, in derjenigen Grésillons als produktorientierte Schriftstellerin charakterisieren. Dabei weist Grésillon darauf hin, dass zwischen diesen Polen eine Achse verläuft, „auf der alle anderen Schreibweisen eingereiht werden können.“ 25 Das zu untersuchende ungedruckte Material wird unterteilt in konzeptionelle Dokumente einerseits, und Dokumente der Textentstehung andererseits. Bei den konzeptionellen Dokumenten handelt es sich um Planungsarbeiten, die sowohl den Inhalt der Erzählung, also die Plotentwicklung betreffen, als auch um solche, die sich mit der konkreten Buchgestaltung beschäftigen. Entsprechend ist das Kapitel zu den konzeptionellen Arbeiten in 20 Vgl. Kruskopf, Erik. Bildkonstnären Tove Jansson . Stockholm: Bonniers 1992, S. 192. 21 Vgl. Ebd., S. 319. 22 Vgl. Westin 2007, S. 422. 23 Vgl. Plachta, Bodo. Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuer Texte . Stuttgart: Reclam 1997, S. 46. 24 Vgl. Grésillon 1999, S. 133. 25 Ebd., S. 137. <?page no="33"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 33 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) diese beiden Gruppen unterteilt. Zu den Dokumenten der Textentstehung gehören schliesslich die Textentwürfe. 2.2.1. Konzeptionelle Arbeiten: Inhalt a) Mindmapping Viele der gedruckten Versionen der Muminbücher sind mit Karten bestückt, welche die Erzählungen einleiten. Dazu existieren ebenfalls Vorarbeiten. Im direkten Vergleich offenbaren sich jedoch markante Unterschiede, die auf unterschiedliche Funktionen hindeuten. In diesem „rohen“ Stadium erinnern sie stark an Mindmaps. Rainer Totzke bezeichnet Mindmapping als das […] mehr oder weniger freie Arrangieren von Worten (Begriffen), Wortgruppen oder ggf. auch „Kernsätzen“ auf der zweidimensionalen Schreibfläche[…], um Prozesse der Wissensaneignung, der Wissensvertiefung oder der heuristischen Erzeugung neuen Wissens („Brainstorming“) zu induzieren. 26 Entsprechend instrumentalisiert Jansson die Karten, oder Mindmaps, ebenfalls zur Erzeugung, Strukturierung und Kontextualisierung von Inhalten. Für Pappan och havet beispielsweise fertigt Jansson ein solches an (Abb. 2). Darin skizziert wird die Struktur des Narrativs. Diese Skizze besteht aus mehreren Komponenten. Oben auf der Seite ist in der rechten Ecke die Insel zu sehen. Weiter sind die Namen der Figuren zu erkennen, die sich auf die Insel zubewegen: Pappan, Mamman, Mumin, My. Ihre Route ist dank Linien deutlich zu erkennen. Ebenfalls zu sehen ist Mårran, jedoch abgesondert vom Rest der Gruppe. Eine mit ihrem Namen beschriftete Linie zeigt, dass auch sie dasselbe Ziel verfolgt. Jansson stellt hier das zentrale Element des Ortswechsels dar und präsentiert gleichzeitig das Figurenkabinett. Darunter findet sich eine Karte über die Insel, die sich die Muminfamilie, das heisst, vor allem Pappan, in diesem Buch zu eigen machen will. Anders als die äusserst spartanisch gestaltete Karte im Buch ist diese Skizze noch mit zahlreichen Details versehen. Der Leuchtturm (schw. fyr) sticht klar hervor. Das Wort wurde umkreist, was gleichzeitig auch den runden Grundriss des Leuchtturms andeutet. Darum herum sind zahlreiche andere Handlungsorte markiert, die für die Erzählung relevant sind. Die Orte sind teilweise auch mit Kommentaren versehen. So ist oben links das Haus des Einsiedlers eingezeichnet: „Betonghuset där den lyckliga ensittaren bor i.“ „Das Betonhaus, in dem der glückliche Einsiedler lebt.“ Daneben ist die Landzunge mit folgendem Kommentar versehen: „Detta näs blir översvämmat vid högvatten och vid blåst får man hoppa på klivstenar.“ „Diese Landzunge wird bei Hochwasser überschwemmt und bei Wind muss man auf Trittsteine springen.“ Folgt man der Küste weiter, kommt schliesslich der Spielplatz der Seepferde: „Sjöhästarnas lekplats, sand“ „der Spielplatz der Seepferde, Sand.“ Um den Leuchtturm herum sind weitere Schauplätze eingezeichnet. Von links nach rechts: „Röda bergen“ „Roter Berg“, „Heta ljunglandet“ „das heisse Heideland“, „Myren med hjorton“ „das Moor mit Moltebeeren“, „De darrande asparna“ „die zitternden Espen“, „Vedbod“ „Holzschuppen“, „Mammans trädgård“ „Mammans Garten“, „Sump“ „Sumpf “, „Bottenlösa sjön“ „Bodenloser See“ „Svarta berget“ 26 Totzke, Rainer. „Assoziationsgrammatik des Denkens“. Zur Rolle nichttextueller Schriftspiele in philosophischen Manuskripten. In: Krämer, Sybille et al. (Hrsg.). Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen . (Schriftbildlichkeit 1). Berlin: Akademie 2012, S. 426. <?page no="34"?> 34 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) „Schwarzer Berg.“ Wie erwähnt, sind all diese Informationen in der Karte der gedruckten Version jedoch nicht mehr zu finden, obwohl einige der beschriebenen Handlungsorte in der Erzählung vorkommen. Ein deutliches Indiz dafür, dass diese Abbildung während der Arbeit noch einem anderen Zweck diente, nämlich dem, die beschriebenen Handlungsorte gedanklich zu ordnen. Das Mindmap, welches sich in den Vorarbeiten zu Sent i november findet (Abb. 3), erinnert von der Grundstruktur her stark an die Karte, die im Buch abgedruckt ist (Abb. 4). Abb. 2: Skizze zu Pappan och havet. Detail. <?page no="35"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 35 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Die dominanten Elemente wie etwa das Muminhaus oder der Fluss sind darauf bereits zu erkennen. Beschriftet sind der Flieder (schw. Syren), die Stelle an der Brennholz gelagert Abb. 3: Skizze zu Sent i november. <?page no="36"?> 36 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) wird (schw. ved) und schliesslich der Jasmin (schw. Jasmin). Spezielle Beachtung verdienen jedoch die Markierungen in Farbe, die das Agieren der Figuren illustrieren sollen und Abb. 4: Karte aus Sent i november. <?page no="37"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 37 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) sich in der gedruckten Version auf der Karte nicht finden. In der rechten oberen Ecke sind in einer Legende die Namen der Figuren aufgelistet: Snusmumriken, Hemul, Toft, Mymlan, Filifj., Onkelskruttet. Jeder Name ist in einer anderen Farbe geschrieben, diese wiederholen sich auf dem Mindmap, wo die Bewegungen der Figuren abgebildet sind. So lässt sich etwa ablesen, dass die von zahlreichen Zwangsneurosen geplagte Filifjonkan das Muminhaus nicht verlässt. Die Verwendung von Farben ist umso bemerkenswerter, zieht man in Betracht, dass die Illustrationen in den Büchern schwarz-weiss sind. Auch diese Markierungen fehlen auf der Karte der edierten Version, was beweist, dass auch sie als Mindmap in erster Linie als Strukturierungshilfe während der Arbeit dienten. Ausserdem offenbaren sie einen Einblick in eine wohlgeplante Choreographie, was das Agieren der einzelnen Figuren betrifft. In den besprochenen Beispielen wird nicht nur die werkstrukturierende Funktion solcher Schriften überdeutlich, sondern auch ein stark visuelles Erarbeiten des Gerüsts der Erzählung. Erik Kruskopf betont gar, dass Bild und Text in Janssons Schaffen nicht nur im gedruckten Text eine Einheit bilden und sich gegenseitig stützen, sondern dass Bild und Text auch während des Schaffensprozesses einen reziproken Effekt haben. 27 Als […] Laboratorien epistemischen Schreibens / Zeichnens sind diese Arten diagrammatischer Artefakte oftmals sogar darauf angelegt, spielerisch zu „verfremden“ und dabei möglichst viele kreative Assoziations- und Interpretationsspielräume zu eröffnen. 28 Es handelt sich also um eine Art der Konzepterarbeitung, die in besonderem Masse auch kreativen Raum für eine stetige Weiterentwicklung bietet. Diese enge Beziehung zwischen visuellem und verbalem Planen wird im nächsten Bild noch deutlicher. Es zeigt ein Beispiel aus den Vorarbeiten zu Farlig Midsommar (Abb. 5). Neben einem Mindmap, welches, wie gerade eben erwähnt, bereits sowohl visuelle als auch verbale Komponenten enthält, ist dieses begleitet von einer Art Inhaltsverzeichnis auf der unteren Hälfte des Blatts. Beides befindet sich auf einem Blatt Papier, was deren enge Verbindung weiter unterstreicht. Links im Mindmap ist das Muminhaus (schw. m.hus) markiert. Eine gestrichelte Linie veranschaulicht schliesslich den Weg zum Theater und dessen Weg in die Bucht. Erst dort ist das Theater als solches beschriftet (schw. teat). Um das Theater herum sind die verschiedenen Handlungsorte dargestellt. Von links nach rechts ist als Erstes ein Feuer zu sehen, welches für das Mittsommerfest („mids“ „Mittsommer“) steht, dann das Haus der Filifjonkan (schw. Filiff) ist eingezeichnet wie auch der Park, der mit einem kleinen Rechteck skizziert ist. Ausserdem ist noch die Stelle markiert, an der Lilla My im Nähkorb ankommt. Die skizzierten Elemente sind in diesem Stadium noch auf das Minimum beziehungsweise auf diejenigen Elemente beschränkt, welche für die inhaltliche Architektur der Erzählung relevant sind. 27 Vgl. Kruskopf 1992, S. 194. 28 Totzke 2012, S. 426. <?page no="38"?> 38 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 5: Konzeptarbeit Farlig midsommar. Das Inhaltsverzeichnis darunter ist nicht vollständig. Es umfasst drei Kapitel. Diese sind lediglich mit Nummern versehen. Zusätzlich ist jedoch angegeben, wie viele Seiten die einzelnen Kapitel umfassen sollen. Die einzelnen Kapitel enthalten eine stichwortartige Zusammenfassung der Handlung, doch diese betreffen ausschliesslich strukturelle Elemente des Narrativs. Das heisst, sie beschreiben vor allem die Abspaltung der unterschiedlichen Erzählstränge. Die verschiedenen Erzählstränge sind das architektonische Hauptmerkmal der Erzählung. Unter Kapitel 1 werden vor allem die Bedeutungen zentraler Motive erläutert. In Kapitel 2 werden in einem ersten Schritt Mumin und Snorkfröken von der Gruppe getrennt, wodurch ein weiterer Handlungsstrang losgetreten wird. Kapitel 3 ist spannenderweise weiter in die verschiedenen Handlungsstränge unterteilt: Mumin-delen, Teater-delen, My-delen (Mumin-Teil, Theater-Teil, My-Teil). Die Einteilung stimmt mit derjenigen der gedruckten Version nicht vollständig überein. Transkription Abbildung 5: Kap. 1. barkbåten = idyll. vulkanen. springfloden. grepning och kaffe. Homsans o Gafsans visit. Vattnet stiger. Kap. 2 Teatern anländer. Emma. Acklimatisering. Övernattning i träd. Sällskapet skiljs dramatiskt i två delar. <?page no="39"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 39 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Kap. 3 Mumin-delen vaknar och startar. Teater-delen stöter på grund och sällskapet skiljs utterligare. My-delen träffar Snusm. Parkvakten. Barnen följer Snusm. Mumin-delen gör kokko. Filifjonkan. Tagna av polisen. Teater-delen, samtal med Emma. Beslut om skådespel. My-delen, besvär med barnen i skogen. Upptäckt av Filif.s. hus. Kap. 1. Spielzeugschiff = Idylle. Springflut. Verhaftung und Kaffee. Homsans und Gafsans Besuch. Das Wasser steigt. Kap. 2 Das Theater kommt an. Emma. Akklimatisierung. Übernachtung im Baum. Die Gesellschaft wird dramatisch in zwei Teile geteilt. Kap. 3 Der Mumin-Teil erwacht und beginnt. Der Theater-Teil stösst auf Grund und die Gemeinschaft wird erneut getrennt. Der My-Teil trifft Snusm. Der Parkwächter. Die Kinder folgen Snusm. Der Mumin-Teil macht (Mittsommer)Feuer. Filifjonkan. Von der Polizei aufgegriffen. Der Theater-Teil, Gespräch mit Emma. Beschluss betreffend das Theaterstück. Der My-Teil, Schwierigkeiten mit den Kindern im Wald. Entdeckung von Filif.s. Haus. Unter dem handschriftlichen Material findet sich eine weitere Art der Konzeptentwicklung mit einer klaren räumlichen Struktur, die sich von links nach rechts erstreckt. 29 Für Muminpappans memoarer erstellt Jansson eine Art Storyboard für einen Teil der Handlung. Storyboards werden vor allem in der Filmbranche verwendet, wo das Drehbuch für die narrativen Elemente der Geschichte steht, das Storyboard entsprechend für die visuellen. 30 In Janssons „Storyboard“ wird jedoch Nichtvisuelles, der Inhalt des Narrativs, überwiegend visuell dargestellt. Dies geschieht auf eine sehr verdichtete Art und Weise. Sachverhalte verdichtet darzustellen ist laut Rainer Totzke eine zentrale Eigenschaft von Diagrammen generell, zu denen im weitesten Sinne auch Storyboards gezählt werden können. 31 Im erwähnten Beispiel sind drei Abschnitte mit folgenden Überschriften formuliert: die Flucht, das Boot, die Insel. Die oberste Zeile ist mit „Rymn.“ „Flucht“ beschriftet. Die geschilderten Ereignisse sind diejenigen von Kapitel 1, die meisten sind mit Hilfe von Symbolen dargestellt: das Verlassen des Waisenhauses bei Nacht (Haus mit Stern), das traumatische Erlebnis, bei dem Pappan auf dem Eis in das Wasser einbricht (Eisscholle), sein Weg durch den Wald (Bäume), sein Hausbau (Haus) und schliesslich die Bekanntschaft mit Fredrikson, der ihm von dort an ein treuer Gefährte sein wird. Er ist nicht mehr bildnerisch dargestellt, sein Name ist jedoch schriftlich vermerkt (Fredr.). Die nächste Zeile trägt den Titel „Båten“ „das Boot“. Das erste Symbol steht für die Kaffeedose, die von Rådd-djuret bewohnt wird. Mit dem Symbol daneben ist Joxarens dreieckförmiger Hut angedeutet. Beides sind Figuren, die in Kapitel 3 eingeführt werden. Darauf folgt der lang ersehnte Stapellauf (schw. sjösättn.) ihres Schiffes. Dieses Ereignis ist schriftlich festgehalten. Hemulens moster ist wiederum gezeichnet. Schriftlich ist jedoch vermerkt, dass sie gerettet wird (schw. räddas). Sie wird von Pappan aus dem Meer gezogen, als sie sich, auf der Flucht vor Mårran, ins Wasser stürzt. Die übrigen Ereignisse sind schriftlich festgehalten: die Invasion der Klippdassar 29 ÅA, Handschriftenabteilung Tove-Jansson-Sammlung, Kapitel 2: MS: Muminpappans memoarer 1944. Notizbuch „Muminpappans bravader“ [nicht paginiert]. 30 Vgl. Begleiter, Marcie. Storyboards. Vom Text zur Zeichnung zum Film . Übers. von Peter Robert. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2003, S. 15. 31 Vgl. Totzke 2012, S. 423. <?page no="40"?> 40 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) (schw. klippd.), das Meer (schw. havet) und schliesslich die Seefahrt (schw. sjöresan). Die Ereignisse umfassen die Kapitel 3 und 4. Die unterste Zeile ist den Ereignissen auf der Insel gewidmet und entsprechend mit „ön“ „die Insel“ betitelt: „Drontmöte“ „Das Treffen mit Dronten“, „Myml.dotter“ „Tochter der Mymla“, „överr.fest“ „Überraschungsfest“, „Telegram“ „Telegramm“, „Koloni“ „Kolonie“, „spöket“ „das Gespenst“. Alle diese Angaben sind schriftlich. Die Aufzeichnungen im Storyboard umfassen einen Grossteil der Handlung, jedoch ist der eigentliche Höhepunkt der Erzählung, der Moment, in dem Pappan auf Mamman trifft, nicht vermerkt. Das Storyboard als Form erinnert stark an Janssons Comics. Damit belegt es die Fähigkeit Janssons, ihre Talente in den unterschiedlichen künstlerischen Bereichen zu einem potenten Ganzen an kreativer Schaffenskraft zu bündeln. Diese Art von Vorarbeit zeugt weiter von einem äusserst szenischen Denken der Künstlerin. Damit einher geht auch hier ein stark visuelles Denken, das sich auf dem Papier mehr und mehr mit schriftlichen Anmerkungen mischt. Besteht die erste Zeile weitgehend aus Symbolen, ist das Verhältnis von Wort und Bild in der zweiten Zeile stark durchmischt. In der dritten Zeile schliesslich finden sich ausschliesslich schriftliche Anmerkungen. b) Listen und Schemata Weiter finden sich im ungedruckten Material ausführliche Anmerkungen und Fragen zu einzelnen Formulierungen, Hinweise zu geplanten Änderungen am Text, zu Fakten, die erneut überprüft werden müssen, oder Gedanken zu ganz spezifischen Handlungsmomenten. Die Anmerkungen dienen letztlich der faktischen Korrektheit und inhaltlichen Stringenz. Gestaltet wie Checklisten sind relevante Punkte untereinander übersichtlich und praktisch zum Abarbeiten aufgelistet. Die Checklisten sind ausserdem sehr ausführlich und können mehrere A4-Seiten umfassen. Thematisch lassen sich dabei unterschiedliche Schwerpunkte ausmachen. Das folgende Beispiel stammt aus den Arbeiten zu Pappan och havet . Die Aufzeichnungen sind Ausdruck einer intensiven Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit. Jansson interpretiert und reflektiert auf diese Weise ihr Tun. Dabei zeigt sie sich äusserst selbstkritisch und zieht das, was sie tut, konstant in Zweifel. Auf dem Papier zeigt sich dies in aller Deutlichkeit in regelrechten Zwiegesprächen mit sich selbst, indem sie Dinge explizit in Frage stellt, dann aber umgehend eine Antwort - Ja oder Nein - nachreicht: • Mamman flyttar ut ur sin väggmålning därför att pappan tar itu med sina ansvar igen. Eller för att han behöver henne? Nej. Bara därför att han blir glad igen. • Se till att havet verkligen omtalas som en levande varelse sen pappan kommit underfund med det. • Försvinner pappans skräck för eldsvåda när han kommit till ön? Jo. • Får pappan röka pipa också senare. • “ svalorna fara söderut. Tranor. • Mårrans köld-dimma nånstans senare. • Försöker de aldrig bada? • m. ber p. om att få vara med om nånting, men avvisas. I början. • Mårran måste väl stanna på ön när hon inte kan göra is längre? • My mera prat! • När blommar ljungen? • Ska jag stryka ‘kattsvansen’? <?page no="41"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 41 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) • Behövs det en avledande My-replik i slutets patos? • Bör trädgårdens tunga yppighet betonas i början? • Drickvatten-potten? • Hur många gånger ‘faller ljuset ut över golvet’ eller marken! • Klippgranarna ska också kräla omkring. • Borde sjöhästarna prata mindre. Inte håna, bara skratta? • Studera hur man tänder en fyr med gas. • Ta in pappans förtjusning när det äntligen börjar blåsa. Vindfunderingar. • Låt mamman alltid kalla stormlyktan ‘lampan’. • Gör måsen i pusslet grå. • Antyd en gång till att p. har fyrvaktarens hatt. • bortkomling • vindvända • Mårran går förbi den tomma glaskulan i kap. 1. 32 • Mama kommt aus ihrem Wandbild wieder hinaus, weil Pappan seine Verantwortungen wieder wahr nimmt. Oder weil er sie braucht? Nein. Nur, um wieder glücklich zu werden. • Darauf achten, dass das Meer wirklich wie eine Sache beschrieben wird, seit Pappan es versteht. • Verschwindet Pappans Angst vor Flammen wenn er zur Insel kommt? Ja. • Darf Pappan auch später Pfeife rauchen. • [Dürfen] die Schwalben nach Süden reisen. Kraniche. • Mårrans Kaltnebel irgendwo später. • Versuchen sie nie, zu baden? • m. bittet p. darum, bei etwas dabei zu sein, wird aber abgewiesen. Am Anfang. • Mårran muss wohl auf der Insel bleiben, wenn sie kein Eis mehr machen kann? • My mehr Geschwätz! • Wann blüht das Dickicht? • Soll ich den ‘Katzenschwanz’ streichen? • Braucht es eine ableitende Mü-Replik im Pathos des Schlusses? • Muss die schwere Üppigkeit des Gartens am Anfang betont werden. • Trinkwasser-Eimer? • Wie oft ‘fällt das Licht über den Boden’ oder die Erde? • Die Felsen-Tannen müssen auch herumkriechen • Sollten die Seepferde weniger sprechen. Nicht verhöhnen, nur lachen? • Studieren, wie man das Licht eines Leuchtturms mit Gas entfacht. • Pappans Entzücken darüber, dass es endlich windet, miteinbringen. Windüberlegungen. • Lass Mama die Sturmleuchte immer ‘Lampe’ nennen. • Mach die Möwe im Puzzle grau. • Erneut andeuten, dass p. den Hut des Leuchtturmwärters trägt. • Der Verschollene • Windänderung • Mårran geht an der leeren Glaskugel vorbei in Kap. 1. 32 ÅA, Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 4: MS: Pappan och havet 1963 + skisser. Notizblock, Detail [nicht paginiert]. <?page no="42"?> 42 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Mit der wachsenden Psychologisierung ihrer Erzählungen nimmt diese selbstreflexive Kommentierung stetig zu. Für Sent i november existiert sogar ein ganzes Heft, das ausschliesslich Anmerkungen, Interpretationen und Reflexionen zum Buch enthält. Dabei nehmen Janssons Gedanken zur Erzählung die Form eines Interpretationsschlüssels zum jeweiligen Werk an. Mehr noch, daraus entwickelt sich eine regelrechte Parallelerzählung. Interessanterweise lässt sich daran beobachten, wie diese Dokumente mehr und mehr auch zum Zeugnis eines Ablösungsprozesses werden, indem Janssons ambivalenter werdendes Verhältnis zu ihren Figuren und Geschichten deutlich wird. Dieses gipfelt schliesslich in einer regelrechten Ablehnung. „Trött på dem“ „Ich bin ihrer müde“ schreibt sie etwa darin über die Mumins. 33 In den Vorarbeiten zu Pappan och havet findet sich eine weitere Art der gedanklichen Strukturierungshilfe. Jansson erstellt einen eigenen Mondkalender, in dem sie die gesammelten Informationen in einem grafischen Schema verarbeitet (Abb. 6). In Pappan och havet kommen Naturdarstellungen als Spiegel von Gemütszuständen der Figuren grosse Bedeutung zu, somit sind sie zentrale inhaltliche Handlungselemente. Entsprechend ausführlich sind deshalb auch Recherchearbeiten zu diesem Thema, um die faktische Korrektheit sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund entstand wohl der Mondkalender. Jansson verwendet im Kalender Symbole. Diese werden in einer Legende oberhalb des gezeichneten Kalenders erklärt. Bei den Symbolen, welche die unterschiedlichen Stadien des Mondzyklus’ bezeichnen, handelt es sich um Kreise und Halbkreise. Auf die Legende folgt eine Aufzählung der Sternzeichen, ebenfalls mit entsprechenden Symbolen. Der Kalender befindet sich auf einem weissen Blatt in Hochformat. Der Text verläuft in Schreibschrift mit dunkler Tinte von links nach rechts und in zwei Spalten von oben nach unten. Dies wird durch den Strich in der Mitte der beiden Spalten verdeutlicht. Die einzelnen Spalten sind wiederum in drei Blöcke unterteilt, die mit einer Jahreszahl markiert sind. Die Blöcke bestehen immer aus drei Zeilen, die stets die gleichen Monate bezeichnen: August, September und Oktober. Danach sind Angaben zu Leerbeziehungsweise Vollmond im jeweiligen Monat notiert. Schliesslich folgt eine numerische Angabe zum genauen Tag. Bei der Darstellung wird die volle Seitenbreite ausgenutzt. Es sind keine Streichungen, Korrekturen oder Einschübe ersichtlich. 33 ÅA, Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 6: MS: Sent i November 1969. Heft [nicht paginiert]. <?page no="43"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 43 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 6: Konzeptarbeit Pappan och havet . Detail. Transkription Abbildung 6: Det är alltid 14 dar mellan ny och fullmåne och återigen mellan fullmåne och nedan. I almanackan: nymåne första, sista kvarteret. fullmåne Två himlakroppars sammankomst. Solen, Merkurius, Venus, Mars, Jupiter, Saturnus, Väduren, Oxen, Tvillingarna, Kräftar, Lejonet, Jungfrun, Vågen, Skorpionen, Skytten, Stenbocken, Vattumannen. Fiskarana. Es sind immer 14 Tage zwischen Neu- und Vollmond und wieder zwischen Vollmond und abnehmendem Mond. Im Kalender: Neumond erstes, letztes Quartal Vollmond Zusammenkunft zweier Himmelskörper Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn, Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze, Steinbock Wassermann, Fische. <?page no="44"?> 44 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) c) Figurengestaltung Das Figurenkabinett der Muminwelt ist gross. Laut Boel Westin handelt es sich um ungefähr 60 verschiedene Charaktere. Zudem beschreibt sie das Figurenkabinett als expansiv. Mit dem Fortschreiten der Muminreihe werden fortlaufend neue Charaktere eingeführt. Noch im letzten Muminbuch, Sent i november , wird etwa Onkelskruttet als Figur introduziert. Neue Figuren werden teilweise auch erst in einem anderen Medium, etwa dem Bilderbuch, „ausprobiert“, bevor sie dann den Weg ins Muminbuch finden. So geschehen etwa bei Filifjonkan, die zuerst im Bilderbuch Hur gick det sen? erscheint und später in der Muminreihe ihren ersten Auftritt in Farlig midsommar hat. Die Figuren sind immer eng miteinander verbunden. Westin weist in ihrer Abhandlung auf eine Art Stammbaum hin, der sich in einem Arbeitsbuch Janssons findet und einen Überblick gibt über die Beziehungen der Figuren im Mumintal. Die Muminbücher unterscheiden sich stark, was die Grösse des verwendeten Figurenrepertoires betrifft. So ist dieses bei Pappan och havet etwa auffallend stark reduziert. Den Kern bildet jedoch immer die Muminfamilie. Um sie schart sich eine heterogene Gruppe von Charakteren, die stark dazu beiträgt, dass die Muminbücher immer wieder von Neuem zu überraschen vermögen. Auch Westin sieht im stetigen Wechsel des sozialen Umfelds der Familie eine Stärke: „Växlingen av figurer illustrerar det sammansatta; muminvärlden är dynamisk, den är stadd i ständig förändring.“ 34 „Das Wechseln der Figuren illustriert das Zusammengesetzte; die Muminwelt ist dynamisch und befindet sich in ständiger Veränderung.“ Die allgemeinen Betrachtungen zum Figurengewimmel im Mumintal lassen bereits vermuten, welch hohen Stellenwert die Figurengestaltung in der Konzeption der Erzählung einnimmt. Janssons Charaktere sind stark stereotypisiert. Die Figuren verfügen allein aufgrund ihrer Handlungsart über einen grossen Wiedererkennungswert. So repräsentieren etwa unterschiedliche Figuren ganz verschiedene Lebenseinstellungen. Darin erkennt Westin Parallelen zur commedia dell’arte . 35 Dies macht die Figurenkonzeption ebenfalls zu einem elementaren Baustein der inhaltlichen Planung des Narrativs. Entsprechend offenbart sich in den planerischen Arbeiten eine wohlüberlegte Figurengestaltung, die auf mehreren Ebenen stattfindet. Einerseits geschieht dies ganz explizit durch Anmerkungen zu den Figuren und deren Charaktereigenschaften, die sich unter den konzeptionellen Schriften für Farlig Midsommar finden. Ähnlich wie in einem Theaterstück existiert eine Aufstellung des beachtlichen Figurenrepertoires. In der edierten Version ist die Aufstellung jedoch nicht abgedruckt. Das macht ihre Funktion als Arbeitshilfe deutlich. In der Aufstellung sind die Namen der einzelnen Figuren untereinander notiert und mit einigen Adjektiven versehen, die die jeweiligen Charakterzüge beschreiben. Hingegen finden sich keine Beschreibungen des äusseren Erscheinungsbildes. Dieses ist gänzlich den zeichnerischen Fertigkeiten Janssons überlassen: Mymlan, svag för My som hon uppfostrar fel ibland undergångsbetonad och sensuell, strängt o.s.v. My frågvis, orädd, taktlös. (omedv.) Mamman = Ham. Sniff, feg, egoistisk, pubertet. Mumin omedv. naturlyriker, normal, lugn, barnsligt moders- 34 Westin 1988, S. 110 f. 35 Vgl. Ebd., S. 110. <?page no="45"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 45 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) bunden. beundr. Snusm. känslobet. Sn.fröken kokett, romantisk, ibland sjal intuitiv klok på ett kvinligt sätt. M.p. pojkaktig, tillkämpad ansvarsmedveten, stolt över sin händighet, Snusm. vagabond, hemtrevligt manlig. Gafsan logisk, omständlig, beskyddande. nej. Homsan minderv.komplex, självkoncentrerad, lättsårad, misstänksam, patetisk, skuldkänslor. nej misan Emma gammal, arg, reumatisk, tänker bara pa teater. Filifjonkan traditionsbunden, råddig, docerande, naiv. 36 Mymlan, eine Schwäche für My, die sie manchmal falsch erzieht untergangsbetont und sensuell, streng usw. My wissbegierig, furchtlos, taktlos (unbew.) Mamman = Ham Sniff, feig, egoistisch, Pubertät. Mumin unbew. Naturlyriker, normal, ruhig, kindlich muttergebunden. Bewundert Snusm. gefühlsbetont. Sn.fröken kokett, romantisch, manchmal sjal intuitiv klug auf eine weibliche Weise. M.p. jungenhaft, erzwungen pflichtbewusst, stolz auf sein Geschick. Snusm. Vagabund, gemütlich, männlich. Gafsan logisch, umständlich, beschützerisch. nein. Homsan Minderwertigkeitskomplex, selbstzentriert, leicht verletzlich, misstrauisch, pathetisch, Schuldgefühle. Nein Misan Emma alt, wütend, rheumatisch, denkt nur an das Theater. Filifjonkan traditionsgebunden, wirr, dozierend, naiv. Nicht alle der aufgeführten Figuren kommen in dem Buch auch tatsächlich vor, so etwa Gafsan. Auffallend ist weiter, mit welcher Deutlichkeit Jansson ihre Mutter (Ham) in die Figurenwelt einarbeitet. Hervorzuheben sind ausserdem auch hier die künstlerischen Zwiegespräche, die Jansson mit sich selbst führt und die sich auf dem Papier materialisieren. Davon zeugt etwa das „Nein“, welches sich mehrmals nach der Auflistung der Adjektive findet. Neben diesen ganz expliziten Anmerkungen zu den Charaktereigenschaften der einzelnen Figuren werden deren Eigenheiten andererseits ebenfalls durch die verwendete Sprache verdeutlicht. Besonders aussagekräftig die Charakterisierung der Figuren betreffend sind Registerwahl und Orthografie. Wann spricht wer wie? - das ist eine wichtige Frage, mit der sich Jansson während der Vorbereitungen eingehend auseinandersetzt. Beispielsweise in Muminpappans memoarer. Ihre Ausführungen diesbezüglich reichen bis ins kleinste Detail, respektive bis hin zu einzelnen Worten. So räsoniert sie darüber, ob man Pappans Sprache modernisieren sollte. Oder sie erwähnt explizit, dass die Familie in Umgangssprache spricht, wenn sie sich über Pappans Buch unterhalten. Weiter wird ebenfalls die Gross- oder Kleinschreibung der Namen der einzelnen Figuren definiert. So manifestieren sich im ungedruckten Material eine Art janssonsche Regeln zur Standardisierung der Schreibweise. All die erwähnten Punkte sind im folgenden Beispiel ersichtlich: 36 ÅA, Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 3: MS: Farlig midsommar 1953. Blatt [nicht paginiert]. <?page no="46"?> 46 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Kung med stor begynnelsebokstav, utom när han talar om sig själv eller när pappan är arg på honom, då blir det liten. I alla presens-avsnitt dvs när pappans familj kommenterar memoirerna är det rent talspråk med ska, sa, nånting, lessen osv. Samma sak i alla repliker som inte sägs av pappan i memoirerna. Genomgående ‘upp’, utom i Rådd-djurets, My’s och klippdassens repliker där det är opp. (borde pappans skall någonting o.s.v. moderniseras? ) 37 König mit grossem Anfangsbuchstaben, ausser wenn er mit sich selbst spricht oder wenn Pappan wütend auf ihn ist, dann ist er klein. In allen Präsensabschnitten, das heisst, wenn Pappans Familie die Memoiren kommentiert, ist es reine Umgangssprache mit ska, sa, nånting, lessen usw. Dasselbe in allen Repliken, die nicht von Pappan geäussert werden in den Memoiren. Durchgehend ‘upp’ ausser in Rådd-djurets, Mys und klippdassens Repliken, wo es opp ist. (müsste man Pappans skall någonting usw. modernisieren? ) Jansson pflegte mit ihrem Umfeld einen regen Austausch über ihre Arbeit. So auch betreffend die Figurengestaltung. Ihr Bruder Lasse äussert sich in einem Brief, in dem er seine Rückmeldung zu Sent i november formuliert, wie folgt zu Mymlan: Kunde kanske Mymlan bli en sorts mamma för Toft? Det vänter man sig lite när hon börjar kamma honom. Varför kunde inte hon stanna kvar? Hon kunde även i övrigt göras gladare och mera tydlig i konturerna. 38 Könnte Mymlan für Toft vielleicht zu einer Art Mama werden? Das erwartet man beinahe, wenn sie ihn zu kämmen beginnt. Weshalb konnte sie nicht bleiben? Überhaupt könnte man sie fröhlicher und deutlicher in den Konturen machen. 37 ÅA, Handschriftenabteilung. Tove Jansson-Sammlung, Kapsel 16: MS: Diverse Mumin, se förteckning. Heft „Muminpappans memoarer“, skrivna och sedermera reviderade av honom själv. [Nicht paginiert]. 38 ÅA, Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 6: MS: Sent i November 1669. Brief [nicht paginiert]. Detail. <?page no="47"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 47 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 2.2.2. Konzeptionelle Arbeiten: Buchgestaltung a) Aufzeichnungen zu den Illustrationen Zahlreiche Notizen konzeptioneller Art sind Aufzeichnungen betreffend Art und Positionierung der Illustrationen. Die Aufstellungen können mehrere A4-Seiten umfassen. Um die Form der Illustrationen zu kennzeichnen, entwickelt Jansson ein eigenes Codierungssystem. Sie verwendet Rechtecke, Quadrate und Kreise als Symbole für die Form der einzelnen Illustrationen. Handelt es sich um Illustrationen mit dunklem Hintergrund, sind die Formen zusätzlich schwarz ausgemalt. Weiter scheint es, als gäben die beschriebenen Symbole auch Hinweise auf die angedachte Grösse der Illustrationen, indem sie entsprechend grösser oder kleiner gemalt werden oder mit einem „H“ für „helsida“ „ganze Seite“ gekennzeichnet sind. Ebenfalls wird die Art der Illustration, etwa Vignette oder „klick“ definiert. Neben der motivischen und technischen Beschreibung der einzelnen Illustrationen finden sich viele persönliche Angaben zur Konzeption, die offensichtlich an sie selbst als Buchgestalterin gerichtet sind, was die Aufstellung noch spannender macht. Denn genau dieser Dialog mit sich selbst gewährt tiefe Einblicke in ganz persönliche Gedanken betreffend die Buchgestaltung. Jansson erwähnt etwa die einfache Technik, die bei einer bestimmten Illustration verwendet werden soll, welche Motive zur Auflockerung allenfalls noch hinzugefügt werden sollen. All dies zeigt das folgende Beispiel aus Pappan och havet (Abb. 7). Abb. 7: Konzeptarbeit Pappan och havet . Detail. Transkription Abbildung 7: -Slutvignett, fyrmodellen. Uppig med en liten pappa. -vignett, kanske dalen, om varje kap. får landskapsvignett. -helsida av pappa i trädgården med glaskulan -halvsida av Mårran (utan fönster, kölddimma ? bland träd o blommor) -glada småklickar i enkel teknik, T.ex. My (äter sardiner eller är bara glad. Senare.) -Schlussvignette, Leuchtturmmodell. Auflockern mit einem kleinen Pappa. -Vignette, vielleicht das Tal, wenn jedes Kapitel eine Landschaftsvignette bekommt. -ganze Seite von Pappan im Garten mit der Glaskugel -halbe Seite mit Mårran (ohne Fenster, Kältenebel? zwischen Bäumen und Blumen) -fröhliche kleine „Klicks“ in einfacher Technik, z.B. My. (isst Sardinen oder ist einfach glücklich. Später.) Teilweise widmet Jansson den Notizen zu den Illustrationen gar ein eigenes Notizheft, so etwa für Sent i november (Abb. 8): Genauer handelt es sich um ein Tagebuch oder eine <?page no="48"?> 48 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Agenda. Die Aufzeichnungen sind mit Bleistift getätigt und enthalten keine Streichungen und Einfügungen, wirken daher keineswegs wie Entwürfe, sondern eher bereits wie eine Reinschrift. Beides sind Belege für den hohen Stellenwert, den Jansson diesen Aufzeichnungen respektive den Illustrationen als zentrale Gestaltungselemente des Buchs und der Abb. 8: Konzeptarbeit Sent i november <?page no="49"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 49 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Erzählung beimisst. Die Aufstellungen laufen vertikal von oben nach unten und sind in Kapitel unterteilt, die voneinander abgesetzt sind. Optisch ist das Blatt dadurch in verschiedene Blöcke unterteilt, die die diversen Bausteine beziehungsweise Kapitel der Erzählung darstellen. Jede geplante Illustration ist einzeln aufgeführt. Stichwortartig sind die Motive vermerkt. Ausserdem ist auch hier mit Hilfe von Kreisen, Rechtecken oder Quadraten die angedachte Form aufgeführt. Schliesslich folgen ebenfalls die Seitenzahlen. Transkription Abbildung 8: Illustrationer 21 inledningsvignetter 21 slutvignetter, ungefär? Vignett i början, och vid dedikationer? Karta, helsida, kanske den enda. 1. • Snusm. vandrande. • Husen i den mörka viken? ? Onkelskruttets hus under skogen […] eller […] 2. • Hemulens båt • Toft i sommardalen • Toft i tågrullen 3. • Filifjonkisk symbol • Filifjonkan på sitt hustak • Filifjonkan utanför sitt stängda fönster? ? eller balancerande på kanten Illustrationen 21 Einleitungsvignetten 21 Schlussvignetten, ungefähr? Vignette am Anfang und bei Widmungen? Karte, ganze Seite, vielleicht die einzige. 1. • Snusm. wandernd. • Häuser in der dunkeln Bucht? ? Onkelskruttets Haus unter dem Wald […] oder […] 2. • Hemulens Boot • Toft im Sommertal • Toft in der Seilrolle 3. • Filifjonkisches Symbol • Filifjonkan auf ihrem Hausdach • Filifjonkan vor ihrem geschlossenen Fenster ? oder balancierend auf dem (Fenster)Rahmen <?page no="50"?> 50 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Zu Beginn wird gar zusammengefasst, wie viele Einleitungs- und Schlussvignetten geplant sind. Darunter wird festgehalten, wann Vignetten eingesetzt werden: am Anfang und bei Widmungen. Weiter finden sich Anmerkungen zur geplanten Karte. Dass Jansson diese Aufzeichnungen in einem separaten Heft festhält, ist ein Ritual der Bewusstmachung der Relevanz derselben. Während sich die präsentierte Aufstellung quasi mit der Mikrostruktur beschäftigt, also mit den geplanten Illustrationen in den einzelnen Kapiteln, findet sich in den Vorarbeiten zu Pappan och havet ein Dokument, welches die Makroperspektive einnimmt. Es handelt sich um eine visuell gestaltete Übersicht über die Verteilung der Illustrationen im ganzen Buch, ist also eine Art „Illustrationsspiegel“ (Abb. 9). Dabei ist jede Seitennummer einzeln aufgeführt, jeweils in Dreiergruppen. Oberhalb der einzelnen Nummern finden sich Kreise, die dunkel markiert sind, wenn sich auf der jeweiligen Seite Illustrationen befinden. Die Anzahl Illustrationen in den einzelnen Kapiteln variiert. Teilweise finden sich ebenfalls Hinweise auf die Form, etwa mit einem Quadrat, oder der Grösse mit einem „H“. Aus der Aufstellung lässt sich beispielsweise ablesen, dass sich auf der ersten Seite jeden Kapitels eine Illustration befindet. Generell wird bei diesem Beispiel durch die exakte Anordnung der verschiedenen Komponenten deutlich, dass es sich um eine diagrammatische Darstellung mit einer strengen Syntax handelt. „Das heisst, es gibt sehr klare Regeln für deren korrekte Erstellung und Lesung.“ 39 Abb. 9: Konzeptarbeit Pappan och havet . Detail. b) Layout Eine weitere Gruppe von Dokumenten widmet sich Überlegungen zum Layout, mit anderen Worten Überlegungen zur konkreten Seitengestaltung, dem mise en page . Vor allem folgende Punkte stehen bei der Analyse im Mittelpunkt: Satzspiegel, Schrift, Verhältnis 39 Totzke 2012, S. 424. <?page no="51"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 51 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) von Text und Bild sowie Farbklima. Ausgewählt wurden Beispiele von den Arbeiten zu den Muminbüchern wie auch den Bilderbüchern. Kapitel strukturieren nicht nur die Erzählung auf inhaltlicher Ebene, sondern auch das Buch als Objekt. Unter den Arbeiten zu Muminpappans memoarer ist ein Dokument, welches sich mit der optischen Gestaltung der Seiten befasst, die jeweils den Auftakt für ein neues Kapitel bilden (Abb. 10). Die Kapitel sind nummeriert und untereinander aufgelistet. Der Text neben den Nummern ist der Anfang des jeweiligen Kapitels. Anschliessend skizziert Jansson, wie der Anfangsbuchstabe jeden Kapitels als Initiale grafisch hervorgehoben werden soll. Hinzu kommt weiter der Name der Figur, deren Bild sie am Anfang des jeweiligen Kapitels zu positionieren gedenkt. Doch damit nicht genug, Jansson fügt ebenfalls die Silhouette der Illustration hinzu, die die Kapitelüberschrift begleitet. Jedes Kapitel erhält so eine doppelte Überschrift - eine in Wort, die andere in Bild. Der Entwurf zeigt deutlich die geplante Orchestrierung der zentralen Gestaltungskomponenten der einzelnen Seiten. Einige der skizzierten Elemente sind den Umarbeitungen zum Opfer gefallen, so ist etwa die als Auftakt für das Kapitel 6 geplante Illustration einer Insel in der neusten Version nicht mehr zu finden und durch eine andere ersetzt worden. Es handelt sich hier offensichtlich um eine Arbeit, bei der das ästhetisch dominierte Schaffen, das Bewusstsein um die grafische Konzeption der ganzen Buchseite, evident wird. Abb. 10: Entwurf Inhaltsverzeichnis Muminpappans memoarer . Detail. <?page no="52"?> 52 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Weitaus umfassender was Reflexionen bezüglich des Seitenlayouts angeht, ist eine Vorarbeit zu Sent i november . Unter dem ungedruckten Material findet sich ein Buchdummie, dieser besteht aus ausgeschnittenen Textpassagen und Illustrationen, die neu zusammengefügt wurden. Abbildung 11 zeigt das Cover. Ganz oben ist der Vermerk zu lesen: Texttyper och avstånd som tidigare (Texttypen und Abstand wie vorher) (Abb. 12). Der Rest erinnert beinahe an kalligrafische Schriftproben, denn auf dem Blatt werden unterschiedliche Typografien verwendet. Als Schreibwerkzeug verwendet Jansson einen Bleistift. Von oben nach unten ist zuerst der Autorname, dann der Titel und schliesslich der Name des Verlags zu lesen. Der Autorname ist in einer Schrift ohne, der Titel in einer Schrift mit Serifen geschrieben. Sowohl der Autorname als auch der Titel steht zwischen zwei, ebenfalls mit Bleistift gezogenen, Linien, die die Versalhöhe definieren. Der Name des Verlags unten an der Seite ist in einer Schreibschrift geschrieben. Zwischen dem Titel und dem Namen des Verlags ist Platz für ein Titelbild ausgespart. Abbildung 13 zeigt die Seite, die für die Karte geplant ist. In der gedruckten Version befindet sie sich auf der Versoseite des Schmutztitels. Die Karte selbst ist darauf nicht skizziert, jedoch ist deren angedachte Grösse markiert, mit dem Vermerk: „Gör den så stor det går utan att sidan blir för tung. Denna kliché kommer senare“ „Mach sie so gross wie es geht, ohne dass die Seite überladen wird. Dieses Klischee kommt später)“. Abb. 11: Entwurf Layout Sent i november. <?page no="53"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 53 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 12: Entwurf Layout Sent i november . Detail. Abbildung 14 zeigt, wie schliesslich Seiten mit Hilfe unterschiedlicher Fragmente (Textpassagen wie auch Illustrationen) neu komponiert werden. Deutlich zu sehen sind Klebestreifen, die im Beispiel bei beiden Illustrationen jeweils rechts angebracht wurden. Die Illustrationen sind weiter mit einem Titel und einer Nummer versehen. Auf der linken Seite ist unten in Klammern zu lesen: Sovande Mymla Nr. 34X (schlafende Mymla). Auf der rechten Seite oben entsprechend: (Snusm.) Nr. 35X. Ausserdem ist zu erkennen, wo die Kapitelnummer gedacht ist und wie genau diese aussehen soll. Inhaltliche Korrekturen finden sich keine. Dadurch, dass die Illustrationen lediglich an einer Seite befestigt sind, lassen sie sich aufklappen. Darunter offenbaren sich nochmals die gleichen Illustrationen, die vorher jedoch direkt auf die Seite vorgezeichnet wurden. Auch sonst lassen sich zwischen den eingeklebten Fragmenten Bleistiftmarkierungen erkennen, die darauf hindeuten, dass das Layout vor dem Einkleben direkt auf der Seite skizziert wurde. <?page no="54"?> 54 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 13: Entwurf Layout Sent i november. <?page no="55"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 55 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 14: Entwurf Layout Sent i november. Alle handschriftlichen Anmerkungen im Dummie betreffen ausschliesslich das Layout und nicht etwa den Inhalt. Abbildung 15 zeigt, wie detailliert diese Instruktionen diesbezüglich sind, geht es bei der Anmerkung doch um die Position eines einzelnen Wortes, das Janssons Ansicht nach auf die nächste Zeile gehört. Unter dem Text steht mit Bleistift geschrieben: „Här är det bara 27 rader. Spärra den sista så att ordet ,fisk‘ kommer på 28de raden“ „Hier sind es nur 27 Zeilen. Sperre die letzte so, dass das Wort ,Fisch‘ auf die 28. Zeile kommt“. Als Ganzes ist diese Version von Sent i november ein Paradebeispiel einer haptischen Reorganisation des Buchs. Haptisch meint in diesem Sinne eine Überarbeitung mit Hilfe von präparierten Ausschnitten, welche von Hand zusammengefügt werden. Dabei werden Text und Bild als gestalterische Elemente zu einer Einheit verflochten. Das Bilderbuch als Gattung erfreut sich mittlerweile eines regen Forschungsinteresses, jedoch wurde hingegen der Genese von Bilderbüchern kaum Beachtung geschenkt. „Das Vorstellungsbild vom Bilderbuch ist an das Fertigprodukt gebunden“, erklärt Jens Thiele dies. 40 Im Falle von Janssons Bilderbüchern zeigt sich eine vergleichbare Situation. Dies obwohl etwa Erik Kruskopf Hur gick det sen? gar ein Meisterwerk buchtechnischer Planungskunst nennt. 41 „Illustrationerna representerar en ny, modern konstsyn och placerar verket jämsides med tidens bästa konstverk. Inom den grafiska konsten och i barnlitteraturen var verket originellt och nyskapande, utan motstycke i sin tid.“ „Die Illustrationen repräsen- 40 Thiele, Jens (Hrsg.). Das Bilderbuch. Ästhetik-Theorie-Analyse-Didaktik-Rezeption . Oldenburg: Isensee 2000, S. 199. 41 Vgl. Kruskopf 1992, S. 198. <?page no="56"?> 56 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 15: Entwurf Layout Sent i november . Detail. Abb. 16: Konzeptarbeit Vem ska trösta knyttet? . Detail. <?page no="57"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 57 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) tieren einen neuen, modernen Blick auf Kunst und platzieren das Werk neben die besten Kunstwerke seiner Zeit. In der grafischen Kunst und in der Kinderliteratur war das Werk originell und innovativ, ohne seinesgleichen.“, lobt Tuula Karjalainen Hur gick det sen? . 42 In der Handschriftenabteilung der Åbo Akademi gibt es zu den Bilderbüchern Vorstudien, was Layout und Farbgestaltung betrifft. Jedoch ist die Materiallage sehr unterschiedlich. Während es zu Den farliga resan zu diesem Aspekt keine Dokumente gibt, sind es zu Vem ska trösta knyttet? ein paar wenige und zu Hur gick det sen? zahlreiche. Aus diesem Grund dominieren nachfolgend die Beispiele zu Hur gick det sen? . Sowohl für Vem ska trösta knyttet? als auch für Hur gick det sen? existieren ausführliche Schemen, die Aufschluss über deren „Bauplan“ geben. Abbildung 16 zeigt das Schema von Vem ska trösta knyttet? . Das Buch besteht aus 12 Doppelseiten, respektive 12 Szenen. Die Szenen sind über dem Schema aufgelistet und beschrieben. Darunter symbolisieren Rechtecke die einzelnen Doppelseiten. Sie sind alle nummeriert. Teilweise wird eine Illustration darauf angedeutet. Die Mitte des Buchs ist auf der Doppelseite 6 mit einer gestrichelten Linie markiert. Das Schema für Hur gick det sen? zeigt Abbildung 17. Es ist weitaus komplexer als dasjenige von Vem ska trösta knyttet? . Dargestellt sind vier grosse Papierbögen, die jeweils in acht Seiten unterteilt sind. Dazu wird akribisch festgehalten, welcher Bogen in welchen Farben gedruckt wird. Jansson erarbeitete in diesen Schemen ein Konzept, welches sie gegenüber dem Verlag auch vehement verteidigte. In der Korrespondenz mit dem Verlag weist Jansson explizit darauf hin, dass Abweichungen von diesem Plan das ganze gestalterische Projekt gefährden könnten und die Produktion daher ihren Anweisungen zu folgen hat. Neben diesen Dokumenten, die das Grundkonzept des gesamten geplanten Kunstwerks offenlegen, gibt es auch Vorarbeiten zu den einzelnen Bildern, jedoch lediglich zu Hur gick det sen? . In der gedruckten Form umfassen diese meist zwei Doppelseiten, sind monoszenisch, im Format A4. Dies hat zur Folge, dass die Anzahl Bilder überschaubar bleibt, wie Ulla Rhedin festhält. 43 Ferner ist zu konstatieren, dass die Vorstudien bereits in Originalgrösse gefertigt wurden. Der Blick auf die Vorstudie zeigt quasi das „Skelett“ des Bildes. Beim ausgewählten Bild handelt es sich um die Szene, in der Mumintrollet und Mymlans dotter von Hemulen mit einem Staubsauger eingesaugt werden (Abb. 18). Lilla My befreit sie mit einer Schere aus ihrer misslichen Lage. Das dominanteste Bildelement, der Schlauch des Staubsaugers, ist bereits ganz zu erkennen. Er zieht sich quer über das ganze Bild, verbindet die beiden Seiten. Ebenfalls skizziert sind Mumintrollet, im Schlauch des Staubsaugers gefangen, und Mymlans dotter, die sich in der finalen Version mit Lilla Mys Hilfe aus dem Staubsauger befreit. Weiter ist Lilla My mit der Schere in der Hand zu sehen. Hemulen hingegen, ist in diesem Stadium lediglich angedeutet. So fehlt etwa die ganze untere Hälfte seines Körpers. Dies sind Elemente, die in der Bildkomposition offensichtlich nicht von gleicher Relevanz sind. Dazu gehören auch die Textfelder. Deren Position ist mit den kurzen Textauszügen angedeutet, jedoch gibt es noch keine Hinweise auf deren Form. 42 Karjalainen, Tuula. Tove Jansson. Arbeta och älska . Übers. von Hanna Lahdenperä. Stockholm: Norstedts 2014, S. 188. 43 Vgl. Rhedin, Ulla. Bilderboken. På väg mot en teori . (Skrifter utgivna av Svenska barnboksinstitutet 45). 2. überarb. Aufl. Stockholm: Alfabeta 2001, S. 160 f. <?page no="58"?> 58 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 17: Konzeptarbeit Hur gick det sen? . Detail. <?page no="59"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 59 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 18: Entwurf Layout Hur gick det sen? Der übrige Text bezieht sich auf die Farbgestaltung. So steht in Abbildung 19 bei Hemulen etwa „stämmer rödorange + gult“ „stimmt Rotorange + Gelb“. Dasselbe ist auf der rechten Seite, beim Schlauch des Staubsaugers, nochmals zu sehen. Das Beispielbild macht ebenfalls deutlich, welch zentrale Rolle das markanteste Merkmal des Buchs, die Perforationen, in Bezug auf die Farbgebung spielen. Die Löcher finden sich auf jeder Seite an unterschiedlicher Stelle und in verschiedenen Grössen und Formen. Daher ist es nicht erstaunlich, dass diese bereits markiert sind. Auf dem Beispielbild ist das Loch auf der linken Seite gar kein Loch, es wurde lediglich eine Ecke herausgeschnitten. Diese markante Form ist dort ebenfalls bereits zu sehen. Die Perforation auf der rechten Seite ist im Entwurf rechteckig eingezeichnet, ist in der gedruckten Version aber schliesslich rund. Dazu ist jeweils ein Muster der Farbe hinzugefügt, die durch das Loch sichtbar wird: auf der linken wie auch auf der rechten Seite sind dies die Farben Blau und Rot. In der gedruckten Version ist es auf der linken Seite lediglich das Blau, das hinzu kommt. Auf der rechten Seite bleibt es bei Blau und Rot. Entsprechend wird ebenfalls das Farbkonzept als essenzielles Gestaltungselement sorgfältig erarbeitet. Konkret stellt Jansson die Farbauswahl für dieses Buch in einer Tabelle zusammen. Auf diese Weise fertigt sie eine Übersicht, ähnlich wie sie dies bei der Planung für die Illustrationen im diskutierten „Illustrationsspiegel“ bereits getan hat. Die Tabelle enthält ein Farbmuster wie auch die genaue Bezeichnung des Farbtons, inklusive Anmerkungen zu dessen Herstellung (Abb. 19). <?page no="60"?> 60 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 19: Konzeptarbeit Hur gick det sen? <?page no="61"?> 2.2. Konzeptionelle Arbeiten 61 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Transkription Abbildung 19: (på samtliga bilder) svart mörkgrått av svart ljusgrått av svart rött ljusrött av rött, svagast tänkbara ton ljusblått av blått rödbrunt varmgult ljusgult violett en mörkviolett ton av rött och blått tryckta på varandra orange av ljusgult och rött tryckta på varandra. (auf allen Bildern) schwarz dunkelgrau aus schwarz hellgrau aus schwarz rot hellrot aus rot, schwächster denkbarer Ton hellblau aus blau rotbraun warmes gelb hellgelb violett ein dunkelvioletter Ton aus rot und blau aufeinander gedruckt orange aus hellgelb und rot aufeinander gedruckt. 2.2.3. Zusammenfassung Die konzeptionelle Arbeit Janssons zeigt sich in den Manuskripten sowohl für die Bilderbücher als auch für die Muminbücher äusserst aufwendig, detailliert und dementsprechend umfangreich. In der Vorbereitungsphase scheint Jansson nichts dem Zufall zu überlassen. Janssons Überlegungen gelten einerseits der Gestaltung des Buchs als Objekt, weshalb sich planerische Arbeiten zu unterschiedlichen buchgestalterischen Aspekten finden. Dabei werden etwa Gedanken betreffend der Positionierung der Illustrationen und des Layouts formuliert. Andererseits finden sich Zeugnisse des Erarbeitens von Inhalten, sowohl auf der Makrowie auch auf der Mikroebene. Sie enthalten also Ideen zur groben Struktur der Erzählung wie auch Details, beispielsweise im Bereich der Figurenkonzeption. Ferner finden sich Aufzeichnungen von Recherchearbeiten, die meist inhaltliche Stringenz und faktische Korrektheit sicherstellen. Die Untersuchung umfasst Beispiele der frühen wie auch der späten Muminbücher sowie den Bilderbüchern und widerspiegelt so auch die Arbeit mehrerer Jahrzehnte. Was die Beschaffenheit der Dokumente angeht, brachte die Analyse vor allem folgende Charakteristiken zutage: eine hohe Professionalität, Selbstreferenzialität und eine konstante Spannung zwischen Schrift und Bild. <?page no="62"?> 62 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Was die Professionalität ihrer Planungsarbeiten betrifft, so erweist sich diese während der langen Zeit ihres Schaffens als konstant. Sie beweisen ein profundes fachliches Verständnis Janssons vom Buch als Kunstwerk und den Arbeitspraktiken, die dieses konstituieren. Dieses Fachwissen verdankt sie nicht nur ihrem Talent, sondern vor allem einer gezielten Ausbildung in diesem Bereich. Die Professionalität beinhaltet obendrein eine klare Vorstellung des Endprodukts, welche sich in den Vorarbeiten äussert. Dies wiederum lässt ebenfalls auf ein vorhandenes Rezipientenbewusstsein schliessen, obwohl das Janssons eigene Aussagen widerlegt, in denen sie negiert, für ein spezifisches Publikum zu schreiben. Die Selbstreferenzialität der Dokumente offenbart sich konkret in den Gesprächen mit sich selbst, die sich auf dem Papier als eine Art Frage-und-Antwort-Dialog materialisieren. Dies macht die Dokumente zu einer Plattform für den persönlichen Diskurs über das Kreieren eines Kunstwerks, im vorliegenden Fall eines Buchs. Er liefert wertvolle Informationen bezüglich Janssons Rollenbild von sich als Künstlerin. Eines nämlich, das den Produktionsakt penibel kontrolliert und so eine konstante Qualitätssicherung durchführt. Besonders evident wird dies beispielsweise bei den Checklisten für Pappan och havet , anhand derer sie unterschiedlichste Aspekte des Narrativs reflektiert. Gleichzeitig jedoch sind die untersuchten Handschriften die Materialisierung eines kreativen Prozesses. Folgendes Zitat von Herbert Kraft fasst diese zentrale Erkenntnis zusammen: „Sie [die Entstehungsgeschichte] ist die Rekonstruktion eines Arbeitsprozesses, aber eben auch eines Bewusstseinsprozesses.“ 44 Entsprechend wird die Werkgenese auch nicht von einem Beginn und einem Ende flankiert. Ferner ist hervorzuheben, in welch hohem Mass die Vorarbeiten sowohl von schriftlichen als auch von visuellen Komponenten geprägt sind. Janssons unterschiedliche Künstleridentitäten, so zeigt es sich auf dem Papier, stehen in einer engen Symbiose zueinander. Gerade dieses Zusammenspiel erweist sich als eine äusserst potente Inspirationsquelle. Kruskopf sieht diese enge Vernetzung gar als eine Notwendigkeit für künstlerisches Schaffen: „Dialogen mellan den verbala och den visuella delen av människans gestaltningsförmåga är viktig och nödvändig för all kreativ verksamhet.“ 45 „Der Dialog zwischen dem verbalen und visuellen Teil des menschlichen Gestaltungsvermögens ist wichtig und notwendig für jegliche kreative Wirksamkeit.“ Konkret äusserte sich dies auch in einem diagrammatischen Denken, etwa in Form unterschiedlicher Mindmaps. Dabei wird anhand einer bildnerischen Darstellungsstrategie neues Wissen generiert, in Tove Janssons Fall Textinhalte. 2.3. Textproduktion Nach der Analyse der konzeptionellen Dokumente folgt diejenige der Dokumente der Textentwicklung. Dabei interessieren die Handschriften nicht in erster Linie auf inhaltlicher Ebene, denn die „[…] Handschrift wirkt zunächst nicht als Textträger, sondern vielmehr als Materialität und als Symbol. Jede Handschrift ist als materieller Gegenstand immer 44 Kraft, Herbert. Editionsphilologie . 2. bearb. und erw. Aufl. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2001, S. 185. 45 Kruskopf 1992, S. 325. <?page no="63"?> 2.3. Textproduktion 63 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) ein Unikat, ein Original, ein Schrift-Bild […].“ 46 Sie werden also vielmehr als Kunstwerke betrachtet, die sich durch eine spannende Architektur auszeichnen. Auf Janssons Passion für das Schreiben wurde bereits mehrfach hingewiesen. Entsprechend zahlreich sind die Textentwürfe. Neben losen Blättern unterschiedlichster Art verwendete sie gerne Hefte als Schriftträger. Darin ist jedoch häufig nur jede zweite Seite beschrieben. Das heisst, auf einem Seitenaufschlag ist die rechte Seite beschrieben, während die linke leer bleibt oder mit Anmerkungen für Änderungen versehen ist. Korrekturen finden sich auch in bereits gedruckten Exemplaren. Die Textentwürfe wie auch die Korrekturen sind immer von Hand geschrieben, obwohl Jansson einer Generation angehörte, der bereits technische Hilfsmittel zum Verfassen von Texten zur Verfügung standen. Die Dokumente der Textproduktion spiegeln Janssons Experimentieren mit unterschiedlichen Textgattungen wider, genauer Lyrik und Prosa. Daher wird in der folgenden Analyse zwischen diesen beiden Textgattungen unterschieden, um eine differenzierte Betrachtung zu ermöglichen. 2.3.1. Lyrik Die Lyrik, das Spiel mit Worten, hat in der Kinderliteratur eine lange Tradition. Als prominentes Beispiel aus Skandinavien wäre da etwa Lennart Hellsing zu nennen, dessen Werke sich durch kreative Sprachspiele auszeichnen. Auch in Janssons Schaffen nimmt die Lyrik eine bedeutende Rolle ein. Ihre Bilderbücher sind gänzlich in gereimter Form verfasst. Janssons Lyrikaffinität führte in der Zusammenarbeit mit den Verlagen gar zu Konflikten. So macht sie ihrer Empörung über den Schweizer Benziger Verlag in einem Brief Luft, der eine Prosaversion von Vem ska trösta knyttet? verlangte, weil er dies für das Zielpublikum als passender erachtete. Auch die Muminbücher, grösstenteils Prosaerzählungen, sind immer wieder gespickt mit Gedichten, oft in Form von Liedertexten. Diese verfügen in der Regel über ganz zentrale Funktionen im Narrativ. Nachfolgend werden Beispiele von Vorarbeiten zu Gedichten sowohl zu den Bilderals auch den Muminbüchern diskutiert. Aleida Assmann weist auf die Wichtigkeit von Typografie und Schriftbild in der Lyrik hin. Als Grund nennt sie den Zeilenumbruch als wichtigstes Strukturmerkmal des Gedichts. Von vornherein werde der Blick damit auf das Schriftbild gerichtet. 47 Auch Per Ridderstad beschreibt eine bestimmte grafische Struktur als klares Erkennungszeichen für ein Gedicht. 48 Dies gilt auch für die janssonsche Textarbeit. In der gedruckten Version von Den farliga resan finden sich, mit Ausnahme der ersten und der letzten Seite, doppelseitige Bilder. Darunter verläuft jeweils der Text horizontal unter dem Bild in einer Art Textstreifen. Zusätzlich ist der Text auch grafisch deutlich in kurze Vierzeiler geteilt. Dabei sind immer zwei Verse pro Seite gesetzt, das heisst also vier pro Doppelseite. In den Vorarbeiten zeigt sich, wie bereits während des Erarbeitens in diesem Muster gedacht wurde. Dies sei nachfolgend an einigen Beispielen erläutert. Die Abbildung 20 offenbart, wie ein Vers viermal in immer leicht veränderter Form niedergeschrieben wurde. Die verschiedenen Strophen sind in Almuth Grésillons Termi- 46 Grésillon 2007, S. 74. 47 Vgl. Assmann, Aleida. Im Dickicht der Zeichen . Berlin: Suhrkamp 2015, S. 210. 48 Vgl. Ridderstad, Per. Textens ansikte i seklernas spegel. Om litterära texter och typografisk form. Anförande vid Svenska Vitterhetssamfundets årsmöte den 27 maj 1998 . Stockholm: Svenska Vitterhetssamfundet 1999, S. 9. <?page no="64"?> 64 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) nologie bildlich im Schreibraum verteilt. 49 Das heisst, die Versblöcke strecken sich „wild“ über die ganze Seite aus, eine eindeutige Lesereihenfolge der einzelnen Blöcke ist optisch nicht auszumachen. Die erste und die dritte Zeile sind bei allen Varianten identisch. Von den unterschiedlichen Varianten sind jedoch drei durchgestrichen. Eine Version ist eingerahmt, hat bereits ein Auswahlverfahren bestanden. Dabei handelt es sich um die Version, welche, bis auf eine Zeile, dem Vers in der edierten Version entspricht. Grésillon weist darauf hin, dass hier indirekt, durch den Wiederholungseffekt, von einer Streichung gesprochen werden kann. 50 Indem die verschiedenen Versionen stehen gelassen werden, manifestiert sich ein Ringen um die finale Version auf dem Papier. Durch die zahlreichen Wiederholungen erhalten die Versentwürfe den Charakter von Wortspielereien, bei denen Janssons Gefühl für Rhythmus und Satzmelodie deutlich zum Ausdruck kommt. Diese Tatsache fügt den oft erwähnten Komponenten ihrer Kunst, Malerei und Literatur, die der Musik hinzu. Eine Tatsache, die von der Forschung bis anhin kaum beachtet wurde, für die Materialitätsdiskussion jedoch einen interessanten Aspekt darstellt. Geht es bei der Lyrik doch gerade darum, diese zentrale Dimension der Lautlichkeit auf einer gestalterischen Ebene widerzuspiegeln. Denn, Lyrik ist laut Johan Svedjedal „[…] ljudande litteratur som fästes på tigande papper […]“ „[…] klingende Literatur, die auf schweigendem Papier festgemacht wird […]“. 51 Abb. 20: Textentwurf Den farliga resan . Detail. So wird in den Entwürfen überdeutlich, dass Jansson ihre „Formulierungen nicht nur als gedankliche Einheiten, sondern auch als graphisch-visuelle und zugleich als rhythmisch- 49 Vgl. Grésillon 1999, S. 72. 50 Vgl. Ebd., S. 92. 51 Svedjedal, Johan. Boken tiger, boken talar. In: Bokens materialitet. Bokhistoria och bibliografi. Bidrag till en konferens anordnad av Nordisk Nätverk för Editionsfilologer 14-16 september 2007 . (Nordisk Nätverk für Editionsfilologer 8). Stockholm: Svenska Vitterhetssamfundet 2009, S. 29. <?page no="65"?> 2.3. Textproduktion 65 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) akustische Gebilde erlebte“ 52 , wie dies Jost Schillemeit für Kafka postuliert. Gerade bei den Bilderbüchern kommt dies auch in den edierten Versionen zum Ausdruck, wo grossen Wert auf die Darstellung von Mündlichkeitsmerkmalen wie Lautstärke, Betonung oder Rhythmik gelegt wird, die etwa durch Schriftart und Schriftgrösse oder Interpunktion dargestellt werden. Bei Hur gick det sen? geschieht dies in einem Masse, dass die Grenzen zwischen Bild und Schrift zu schwinden scheinen. Rainer Totzke spricht in diesem Zusammenhang von Assoziagrammatik: Mit Assoziagrammen sind schriftbildlich-diagrammatische Artefakte gemeint, bei denen Begriffswörter bzw. Wortgruppen auf einer Fläche gegeneinander positioniert und miteinander über graphische Elemente wie Linien oder Einkapselungen verbunden sind.[…] Sie sind Formen der Veranschaulichung und ermöglichen Synopsen bzw. „Übersichten“.[…] Sie ermöglichen das Konzipieren von Texten ebenso, wie sie deren Rezeption stützen und oder steuern können. 53 Abbildung 20 führt genau dies vor: Versblöcke werden auf der Seite verteilt und dadurch in ein Spannungsverhältnis gesetzt. Auf der Abbildung 21 ist zu sehen, wie links neben dem ersten Vers auch die Hebungen und Senkungen vermerkt sind. In anderen Beispielen ist neben der Zeile jeweils auch die Silbenanzahl vermerkt. Dies beweist, dass Jansson als Künstlerin neben Talent auch über fundiertes fachliches Know-how verfügte. Abb. 21: Textentwurf Den farliga resan . Detail. Lyrik findet sich, wie bereits erwähnt, jedoch nicht nur in Janssons Bilderbüchern, sondern auch in den Muminbüchern. Die Fertigkeit zu dichten kommt dabei nur wenigen ausgesuchten Figuren zu. Berühmte Poeten aus dem Mumintal sind etwa Snusmumriken oder Too-ticki. Diese Gedichte sind jeweils anhand der oben erwähnten grafischen Merkmalen Typografie und Schriftbild in den gedruckten Versionen auch deutlich als solche erkennbar. Beim Beispiel handelt es sich um die Arbeit an einem Lied, welches Too-ticki in Trollvinter singt. Mumintrollet trifft auf ein furchteinflössendes Pferd aus Schnee und Eis. Too-ticki, die er darauf kennen lernt, beschreibt dessen Funktion in einem Gedicht. In diesem Fall wird das Gedicht also zum Medium, durch das wichtige Informationen übermittelt werden (Abb. 22). 52 Schillemeit, Jost. Korrekturen in Kafkas Manuskripten und ihre Darstellung in der Kritischen Kafka- Ausgabe. In: Werner, Michael und Winfried Woesler (Hrsg.). Editions et manuscrits. Probleme der Prosa- Edition . ( Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe A: Kongressberichte 19), S. 93. 53 Totzke 2012, S. 433 f. <?page no="66"?> 66 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 22: Textentwurf Trollvinter. Bei der Schaffung der Muminlyrik zeigt sich ein vergleichbares Szenario wie bei den Bilderbüchern: Für nicht gut befundene Zeilen werden durchgestrichen, bleiben jedoch optisch Teil des Gedichts. Ebenfalls findet sich eine Streichung in Form einer Wiederholung. Ein Entwurf ist mit Tinte geschrieben. Darunter wurde eine neue Version mit einem anderen Schreibgerät, einem Bleistift, begonnen. In der gedruckten Version ist das Gedicht jedoch bedeutend kürzer, lediglich vier Zeilen lang. <?page no="67"?> 2.3. Textproduktion 67 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 2.3.2. Prosa Was die Prosatexte betrifft, so zeigen sich vor allem zwei handwerklich besonders spannende Strategien zur Textproduktion, derer sich Jansson bei Überarbeitungen bedient. Daher ist es nicht erstaunlich, dass sich diese Arbeitsmethoden vor allem in den Arbeiten zu Kometjakten und Muminpappans memoarer zeigen. Handelt es sich dabei doch um die Muminbücher, die am häufigsten umgearbeitet wurden. Die erwähnten Strategien sind einerseits das marginale Annotieren, andererseits eine avancierte Schneid- und Klebetechnik. Beide Techniken werden nachfolgend beleuchtet. a) Marginales Annotieren In den Arbeiten finden sich gedruckte Versionen verschiedener Muminbücher, in denen die Seiten vor lauter Ergänzungen rund um den und zwischen dem Text zu bersten scheinen so häufig, dass man das marginale Annotieren als eine charakteristische Arbeitstechnik Janssons bezeichnen kann. Laut Davide Giuriato ist das Vorkommen dieser Technik bei Büchern mit einer komplexen Herausgebergeschichte keineswegs erstaunlich, verknüpft er doch vollgeschriebene Marginalien direkt mit Revisionsprozessen, wie sie für Janssons Schaffen typisch sind. 54 Giuriato unterscheidet weiter, basierend auf der Art des Bezugstexts, zwischen allographen und autographen Marginalien. Für Jansson trifft letzteres zu. 55 Dies ist der Fall, wenn Ausgangstext und der Text in der Marginalie aus der gleichen Feder stammen. 56 Wie das erste Beispiel aus den Arbeiten zu Muminpappans memoarer deutlich zeigt (Abb. 23), formiert sich der neue Text in den Marginalien, von wo aus der gedruckte Text kreisförmig umschlossen wird, sodass optisch kaum ein Anfang oder ein Ende auszumachen ist. Die Schreibrichtung ist diffus, variiert zwischen horizontal und vertikal. Die unterschiedlichen Schreibrichtungen kollidieren auf der rechten Seite sogar, wo handgeschriebener horizontal verlaufender Text mit dem gedruckten vertikal verlaufenden zusammenstösst. Die Hinzufügungen und Einschübe sind in Schreibschrift geschrieben, mit blauer Tinte oder Bleistift, und kontrastieren dadurch mit dem schwarz gedruckten Text in Blockschrift. Das Beispiel beweist, wie der Text nicht nur umsponnen, sondern auch durch zahlreiche Streichungen und Einfügungen durchdrungen wird, und den alten Text sozusagen von innen her auflöst. Einige Einschübe sind mit Sternchen oder Nummern versehen, einzelne Textpassagen durch Linien miteinander verbunden. Komplett verworfene Textpassagen sind durchgestrichen. Weiter sind Janssons Marginalien nie nur punktuelle Hinzufügungen, die sich bloss auf einzelne Textpassagen beziehen, sondern beinhalten eine neue Form des gesamten Texts. 54 Vgl. Giuriato, Davide et al. (Hrsg.). „ Schreiben heisst: sich selber lesen“. Schreibszenen als Selbstlektüren . (Zur Genealogie des Schreibens 9). München: Fink 2008, S. 193. 55 Vgl. Ebd., S. 179. 56 Vgl. Ebd., S. 188. <?page no="68"?> 68 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 23: Marginales Annotieren Muminpappans bravader. Das marginale Annotieren offenbart in Bezug auf den Aspekt der Materialität einen weiteren interessanten Aspekt, der hier bis anhin jedoch nur angedeutet wurde: die Inkonstanz der visuellen Erscheinung. Jansson operiert mit Text als eine formbare und immer wieder veränderbare grafische Matrix. Im Beispiel aus Kometen kommer äussert sich dies im Seitenlayout, welches sich durch den hinzugefügten handschriftlichen Text auf schier unheimliche Weise auflöst und neu formiert. Die Illustrationen nehmen dabei eine Zwitterrolle ein, in dem sie sowohl der alten wie auch der neuen Fassung angehören (Abb. 24). Das Umarbeiten wird so auch zu einem grafischen Formspiel. Eine Tatsache, die bezeichnend ist für ihr gesamtes künstlerisches Konzept. Oder anders formuliert: Die Marginalie stellt eine liminale Zone dar, in der der gedruckte Text zum Gegenstand einer Selbstlektüre wird, die sich ihrerseits wieder im Schreiben äussert. Gleichzeitig verwandelt sich dadurch der bereits gedruckte Text wieder in einen Entwurf. 57 Wie Uwe Wirth erläutert, schwindet durch eine solche Arbeitsweise die scharfe Grenze zwischen Produktion und Rezeption einerseits, und Schreiben und Lesen andererseits. 58 Davide Giuriatos Definition der Marginalie spitzt diese Betrachtungen noch weiter zu: „Die Marginalie ist die Spur eines Leseaktes, der sich schreibend realisiert. Sie ist diejenige Zone am Rand einer Seite, in der Schreibakt und Leseakt restlos koinzidieren.“ 59 57 Vgl. Giuriato 2008, S. 196. 58 Vgl. Wirth, Uwe. Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800. Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München: Fink 2008, S. 31. 59 Giuriato 2008, S. 179. <?page no="69"?> 2.3. Textproduktion 69 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Dies impliziert neben der Unstetigkeit des physischen Erscheinungsbildes auch eine solche in Bezug auf Janssons Funktion im Entstehungsprozess, nimmt sie doch deutlich eine Doppelrolle als Autorin und Leserin ein. Dadurch kommentiert sie ihre eigene Arbeit in einer Art Metasprache ständig. Das Umarbeiten ist auf diese Art betrachtet ein Akt der Selbstkontrolle und Selbstreflexion. Das Lesen und Schreiben, respektive Gestalten ihrer Werke bildet einen eigenen Kreislauf, in dem diese Übergänge fliessend sind. „Das Hin und Her zwischen den teilweise nebeneinander ablaufenden Prozessen macht alle beteiligten Grössen beweglich und veränderbar (auch das ,Ziel‘) und erklärt die Dynamik des Textentstehungsprozesses.“ 60 Besagter Kreislauf bedingt weiter eine theoretische Unendlichkeit. Oder in Wirths Worten: „Das kommentierende Dazuschreiben ist eine Dynamik, die niemals zu einem Ende kommt.“ 61 Der vorübergehende Zustand einer Textversion wird zu einem Zustand unter vielen, was in letzter Konsequenz bedeutet, dass der Zustand des zum Druck gelangten Texts beliebig ist. 62 Eine solche Betrachtungsweise problematisiert die Kanonbildung, ja stellt eine solche gar gänzlich in Frage. Dies ist jedoch zentraler Teil des Konzepts der critique génétique , der es darum geht, den Status des „definitiven“ Texts zu entheiligen. 63 60 Zwerschina, Hermann. Variantenverzeichnung, Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese. In: Nutt-Kofoth, Rüdiger et al. (Hrsg.). Text und Edition. Positionen und Perspektiven . Berlin: Schmidt 2000, S. 221. 61 Wirth 2008, S. 100. 62 Vgl. Gellhaus 1994, S. 313. 63 Vgl. Grésillon 1999, S. 17. Abb. 24: Marginales Annotieren Kometjakten. <?page no="70"?> 70 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Schliesslich ist noch anzumerken, dass sich diese Marginalien nicht nur in den gedruckten Versionen finden, sondern auch in den Textentwürfen auf losem Papier. Findet sich kein „natürlicher“ Rand wie bei den Büchern, kreiert Jansson selbst einen, so etwa in einer Vorarbeit zu Kometen kommer, wo sie mit einem Bleistift auf der linken Seite eine vertikale Linie zieht und dadurch von Beginn weg bewusst einen Raum schafft für spätere Anmerkungen oder Korrekturen (Abb. 25). Da diese Marginalie also, sofern sie nicht bereits besteht, auch künstlich geschaffen wird, scheint sie unabdingbarer Bestandteil janssonscher Arbeitsweise zu sein. Die Seitenränder enthalten bei diesem Beispiel jedoch keinen Text, Abb. 25: Marginales Annotieren Kometen kommer . Detail. <?page no="71"?> 2.3. Textproduktion 71 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) sondern Illustrationen, die nicht immer in direktem Zusammenhang mit der Erzählung stehen. Es handelt sich dabei häufig um Vögel oder Figurenskizzen. Ebenfalls findet sich ein Alphabet, das wie eine Schreibübung anmutet. b) Textcollagen Hur gick det sen? ist das einzige Buch, in dem Jansson Perforationen als Gestaltungsmittel einsetzt. Ein Blick in die Textkreation offenbart jedoch eine klare Vorliebe für das Arbeiten mit Schere und Kleber, also für eine stark haptische Art der Textproduktion. Dies ist der Fall in den Vorarbeiten für mehrere Muminbücher. Konkret handelt es sich um eine avancierte Kleb- und Schneidetechnik. Bei der Kreation von neuen Texten zerschneidet Jansson den gedruckten Text in verschiedene Teile, die schliesslich auf einem Blatt Papier auf unterschiedlichste Art neu zusammengefügt werden. Dadurch erhält der Text eine skulpturartige, teilweise beinahe skurrile Form, wie Abbildung 26 zeigt. In diesem Beispiel ist ferner eine kaskadenartige Arbeitsrichtung zu beobachten. Mit anderen Worten, die Textfragmente sind von oben nach unten angebracht. Doch damit nicht genug: Aus den einzelnen Teilen werden wiederum Passagen oder auch nur einzelne Wörter herausgeschnitten. Dadurch entstehen zahlreiche Löcher, die entweder leer bleiben oder mit neuem Inhalt gefüllt werden. Oft werden auch eine Art Schneisen in die Textblöcke hineingeschnitten, durch die dann der neue handgeschriebene Text in den alten eindringen kann. Die Entwürfe werden so zu grafisch spannenden Collagen. Jansson reiht sich mit dieser Collagen-Praktik in eine lange Tradition ein. Hanno Möbius nennt Platons Menexenos- Dialog als die frühste Erwähnung von Collage. Sokrates bezeichne dort „die standardisierte Verwendung immergleicher Formeln und Redestrukturen in Festreden“ mit diesem Begriff. Während Janssons Beispiele ihre Collagenhaftigkeit dezidiert betonen, sollte die Collage in der Antike im Ergebnis „verborgen bleiben und nicht offensichtlich werden, wie man es heute im Allgemeinen von einer Montage erwartet.“ In der Antike sei daher „eine sehr eingeschränkte und zudem negative Bedeutung von Collage feststellbar.“ 64 Durch die Fragmentierung des Texts in verschiedene, neu kombinierbare Einheiten wird dieser bewusst vergegenständlicht, um ihn mobil und formbar zu machen. Eindrücklich wird so demonstriert, wie Text eine materielle Komponente hat, die man mit Schere und Kleber beeinflussen kann. „Der Künstler wird Handwerker […].“ 65 , bringt es Almuth Grésillon treffend auf den Punkt. Handschriftliche Ergänzungen umrahmen die eingeklebten Teilstücke, werden diesen vor- oder nachgestellt oder fügen Textbausteine zusammen. Das Schneiden und Kleben ersetzt den klassischen schriftlichen Revisionsakt also nicht, sondern erweitert diesen lediglich, um eine äusserst taktile Komponente. 66 Der handgeschriebene Text ist immer in Schreibschrift, eine klare Präferenz für ein Schreibmittel lässt sich jedoch auch hier nicht erkennen. Jansson schreibt mit Bleistift, Tinte oder Kugelschreiber. Weiter ist sichtbar, dass Tove Jansson hier immer mit kariertem Papier als Hintergrund arbeitet. 64 Möbius, Hanno. Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933 . München: Fink 2000, S. 15. 65 Grésillon 1999, S. 256. 66 Vgl. Reimann, Kerstin. Clean Cuts. Schnitt- und Klebekanten als materialer Ausdruck eines Entstehungsprozesses und ihre Darstellung in der Wiener Ausgabe sämtlicher Werke und Briefe Ödön von Horváths. In: Schubert, Martin (Hrsg.): Materialität in der Editionswissenschaft . (Beihefte zu editio 32). Berlin und New York: de Gruyter 2010, S. 110 f. <?page no="72"?> 72 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Dabei handelt es sich nicht um lose Blätter, sondern um Hefte. Streichungen und Korrekturen sind in einigen wenigen Fällen ebenfalls zu sehen. Austauschprozesse und der Prozess der Textentwicklung werden bei dieser Arbeitsweise auf dem Papier sichtbar. 67 Dies geschieht jedoch keinesfalls zufällig, sondern aus mehreren Gründen gewollt. So zeigt Abbildung 27 etwa, wie nicht nur grössere Textblöcke ausgeschnitten werden, sondern auch bloss einzelne Sätze, die sorgfältig extrahiert und 67 Vgl. Reimann 2010, S. 109. Abb. 26: Textcollage Muminpappans memoarer. Detail. <?page no="73"?> 2.3. Textproduktion 73 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) dann wieder eingeklebt werden. Umgekehrt wird gedruckter Text ebenfalls lediglich mit einem handschriftlichen Einschub ergänzt, für den zuerst ein entsprechender Hohlraum geschaffen wurde. Dabei schien Jansson bestrebt, das ausgeschnittene Textstück so wenig wie möglich zu beschädigen, wie Abbildung 28 veranschaulicht. Es wird lediglich eine einzelne Schneise in das Fragment geschnitten im Bestreben, den Rest möglichst ganz zu lassen. Hier können Aspekte wie Arbeitseffizienz oder Zeiteinsparung kaum eine Rolle gespielt haben. Vielmehr ist es ein Beispiel für die oben erwähnte bewusste Inszenierung der Collagenhaftigkeit. Die eingeklebten Textstücke haben die Funktion von grafischen Elementen, die gekonnt in Szene gesetzt werden. Es wird ein neuer Text geschaffen, in dem die Bauteile der alten Version deutlich sichtbar bleiben. Durch diese Taktik der partiellen Wiederverwertung entsteht gleichzeitig ein bewusst kreiertes Memento an das vorige Œeuvre. Das „[…] Brechen und Schneiden, das Fragmentieren, Splittern und Facettieren […]“ bezeichnet Helmut Friedel als ein wesentliches Prinzip der Kunst des 20. Jahrhunderts. Ausserdem postuliert er, gerade der Schnitt sei „eine der kritischen Formen der Kunst.“ 68 Oder: Das Schneiden erzeugt, sei es in den Vorarbeiten genauso wie in den gedruckten Texten, ein Inszenieren der physischen Präsenz des Materials durch dessen Elimination. „Denn durch den Schnitt tritt mit einem Mal die Idee des Bildes, das Dargestellte zurück.“ 69 Oder in Dieter Merschs Worten, der behauptet […] dass von „Materialität“ immer nur in einem negativen Sinne gesprochen werden kann; sie ist nicht einfach da , greifbar, sondern besetzt eine nicht explizit zu machende Stelle, ein „Abwesen“, das sich zuweilen im „Zwischen“ zusammenspielender oder konfligierender Stoffe abzeichnet oder aus ihm „herausbricht“. 70 Letztlich zeigt sich in Arbeiten solcher Art ein künstlerisches Tun, das in einer regelrechten „Ästhetik des Produzierens, der Montage und der Collage“ 71 gipfelt, die quasi vor den Augen des Betrachters genuin entwickelt wird. 68 Friedel, Helmuth. Der Schnitt als kritische Form. In: Ackermann, Marion (Hrsg.). SchattenRisse. Silhouetten und Cutouts . Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001, S. 185 f. 69 Schiedermair, Joachim. Den Weg abschneiden. Medialität, Entwicklungspsychologie und das Kriterium des Kindgemässen. Tove Janssons Bilderbuch Hur gick det sen? (1952). In: Mairbäurl, Gunda et al. (Hrsg.). Kinderliterarische Mythen-Translation. Zur Konstruktion phantastischer Welten bei Tove Jansson, C. S. Lewis und J. R. R. Tolkien . (Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich 14/ Beiträge zur Kinder- und Jugendmedienforschung 2). Wien und Zürich: Praesens / Chronos 2013, S. 247. 70 Mersch, Dieter. Erscheinung des „Un-Scheinbaren“. Überlegungen zu einer Ästhetik der Materialität. In: Strässle, Thomas et al. (Hrsg.). Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien, Praktiken, Perspektiven. Bielefeld: transcript 2013, S. 28. 71 Grésillon 1999, S. 256. <?page no="74"?> 74 2. Zur Inszenierung des „Machens“ DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 27: Textcollage Muminpappans memoarer . Detail. Abb. 28: Textcollage Muminpappans memoarer . Detail. <?page no="75"?> 2.3. Textproduktion 75 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 2.3.3. Zusammenfassung Bei der Präsentation der ausgewählten Arbeitstechniken wurde zwischen Lyrik und Prosa unterschieden. Dabei erwies sich die Arbeit an den Gedichten als stark gattungsspezifisch. Bei der Betrachtung der Vorarbeiten zur Lyrik ist das schier mantrische Wiederholen ganzer Gedichte oder einzelner Strophen besonders hervorzuheben. Die Wiederholungen sind Ausdruck eines Kristallisationsprozesses, einem Ringen um eine finale Version eines Kunstwerks, in diesem Fall eines Gedichts, der sich auf dem Papier materialisiert. Spannenderweise werden überholte Versionen jedoch nicht etwa vernichtet oder unleserlich gemacht, sondern fristen eine Koexistenz. Auf diese Art wird der Übergang vom Entwurf zum Produkt, oder vom Produzieren zum Produkt, oszillierend. Weiter werden Texte bereits innerhalb eines definierten visuellen Erscheinungsbildes konzipiert. So ist die für den Text in Den farliga resan vorgesehene Einteilung in Vierzeiler bereits in den Vorarbeiten zu erkennen. Dabei werden die einzelnen Textblöcke zu grafischen Formelementen, die es letztlich als Ganzes auf der Buchseite zu platzieren gilt. Was die Vorarbeiten zu den Prosatexten betrifft, so wurden zwei Taktiken zur Text(re) produktion vorgestellt: das marginale Annotieren und eine Collagetechnik. In der ersten Arbeitsweise reformiert sich das visuelle Erscheinungsbild durch das Hinzufügen von neuem Text, der sich um den bereits bestehenden formiert. Dies ist insofern eine äusserst subversive Arbeitsweise, als dass dadurch das Gestaltungsbild der Seite aufgelöst wird. In der Collagetechnik setzt Jansson ausgeschnittene Textfragmente aus gedruckten Versionen neu zusammen, ergänzt sie gegebenenfalls mit handgeschriebenem Text und kreiert so eine neu orchestrierte Version. Es entsteht sozusagen ein Buch aus einem Buch. Mit dem Ziel, die einzelnen Komponenten nicht gänzlich verschmelzen zu lassen, sondern sie im Gegenteil quasi auszustellen. Gerade durch das Arbeiten mit Schere und Kleber wird die Materialität des vorliegenden Dokuments durch Schnittkanten, oder durch das, was sich in Merschs Worten eben nicht „zeigt“, in Szene gesetzt. Darin besteht auch die ideologische Gemeinsamkeit der vorgestellten Arbeitspraktiken: Produzieren und das Produkt respektive der Entwurf und das Kunstwerk sind Teil eines Kreislaufs. Dieser ständige Wechsel des „Aggregatszustands“ wird von Jansson regelrecht inszeniert, indem sie „Alt“ und „Neu“ konsequent nebeneinander bestehen lässt. Dies wird vor allem in den Textcollagen deutlich, wo versucht wird, aus Altem etwas Neues zu kreieren. Das Umarbeiten zeigt sich hier als eine kreative Strategie und ebenfalls als Instrument ständiger Selbstreflexion, da beide Techniken ein intensives Auseinandersetzen mit dem bereits Geschaffenen bedingen. Die ausgewählten Beispiele, sowohl konzeptioneller wie auch textgenerierender Art, belegen eine Produktionsästhetik, die in Janssons modus operandi zum Ausdruck kommt. Er besteht aus einer ständigen Reflexion über eine bestimmte Künstleridentität, über das Produzieren von Kunst und Literatur im Spannungsfeld der unterschiedlichen Disziplinen (Malerei und Schriftstellertum), in dem sie sich bewegt. <?page no="77"?> 2.3. Textproduktion 77 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 3. Zur Inszenierung des Schreibens Während das vorige Kapitel den Schaffensprozess anhand verschiedener Vorarbeiten beleuchtete, stehen in der folgenden Analyse desselben die Schreibszenen in den Muminbüchern im Mittelpunkt. Das Mumintal beherbergt zahlreiche Künstler mannigfaltiger Couleur: Maler, Sänger, und Schriftsteller. Evelyne Arizpe etwa weist auf die Präsenz von Texten in den Muminbüchern hin, die in den unterschiedlichsten Formen vorkommen: schriftlich, dramatisiert, mündlich oder gar visuell. Nachrichten finden sich auf Hinweisschildern, in Briefen, in Büchern, ja sogar auf dem Papier, in dem Brote eingepackt werden. 1 Dabei erfüllen sie meist eine zentrale Rolle im Narrativ. Beispielsweise wird in Farlig midsommar ein Flugblatt verfasst, welches über die geplante Theateraufführung informiert und die verschiedenen Handlungsstränge zusammenführt. Als Schriftsteller kann vor allem Pappan ein beeindruckendes Schaffen vorweisen. Zu seinen Werken zählen eine Autobiografie, ein Theaterstück und eine wissenschaftliche Abhandlung. Diese Werke nehmen als Buch im Buch beziehungsweise Stück im Stück viel Raum in den Erzählungen ein. Entsprechend zahlreich sind auch die Schreibszenen. Das Buch im Buch ist in der Literatur keinesfalls eine neue Escheinung und hat sich vor allem in der Fantasy-Literatur etabliert. Mit den Erzählungen und Romanen der Romantik hat es eine erste Hausse erfahren als „Erklärungsmedium für Schreib-, Lese- und Lebensdiskurse.“ 2 Auch in den Muminbüchern wird mittels Schreibszenen das Produzieren von Literatur als Kunst thematisiert. Entsprechend wird im nachfolgenden Kapitel die Inszenierung des Produzierens und Rezipierens von Literatur als Kunst anhand von Schreibrespektive Leseszenen herausgearbeitet. Bis anhin hat sich die Literaturwissenschaft darauf beschränkt, „die Geschichte des Schreibens aus der Perspektive seiner Semantik vorwiegend als Geschichte der Literatur, der Rhetorik und der Poetik zu behandeln“. Die Körperlichkeit und Instrumentalität des Schreibakts hingegen, sei in der Literaturwissenschaft kaum beachtet worden. 3 Rüdiger Campes Definition der Schreibszene basiert jedoch genau darauf: Sie [die Worte „écrire“ und „écriture“] können sich offenbar einmal auf die Schrift als eine Instanz der Sprache im Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit beziehen, implizieren aber immer auch eine Praktik, ein Repertoire von Gesten und Vorkehrungen. Diese fundamentale sprachlichgestische Beziehung wird im folgenden durch „die Schreibszene, Schreiben“ bezeichnet. 4 Campe plädiert dafür, statt lediglich nach den Darstellungsformen der Schreibszene ebenfalls nach den „ Imperativen ihrer Inszenierung“ zu suchen. 5 Das Schreiben wird in Anlehnung daran als eine soziale Praktik verstanden, deren materielle Komponente nach- 1 Vgl. Arizpe, Evelyn. „Delight and instruction to all Moomins“: Encounters with text in Moominland. In: McLoughlin, Kate und Malin Lidström Brock (Hrsg.). Tove Jansson rediscovered . Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2007, S. 109. 2 Nelles, Jürgen. Bücher über Bücher. Das Medium Buch in Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts . Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 20. 3 Stingelin 2004, S. 12. 4 Campe, Rüdiger. Die Schreibszene. Schreiben. In: Gumbrecht, Hans et al. (Hrsg.). Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie . Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 759. 5 Ebd., S. 764. <?page no="78"?> 78 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) folgend im Mittelpunkt steht. Dies wiederum bedeutet, dass es für die Szene des Schreibens einen Rahmen benötigt, ein mit entsprechendem „Dekor“ geschmücktes Setting, in dem der Schreibakt stattfinden kann. „Szene“ im Wort „Schreibszene“ bedeutet also vor allem auch „Inszenierung“. Davie Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti heben bei der Beschreibung von Schreibszenen das Element des Widerstandes im Prozess des Schreibens hervor. Sie vertreten gar die Ansicht, das Schreiben werde immer dort thematisch, wo sich Widerstände im Prozess des Schreibens einstellen, wo der Schreibprozess gestört wird. Diese könnten auf allen Ebenen des Schreibakts vorkommen. 6 Entsprechend definieren sie die Schreibszene wie folgt: Wenn unter „Schreibszene“ die historisch und individuell von Autor(in) zu Autor(in) veränderliche Konstellation des Schreibens verstanden wird, die ihren Ort innerhalb eines durch Sprache (Semantik des Schreibens), Instrumentalität (Technologie des Schreibens) und Gestik (Körperlichkeit des Schreibens) gemeinsam bestimmten Rahmens hat und dabei thematisch wird, ohne dass dieses Beziehungsgefüge als Gegenstand oder Quelle eines möglichen oder tatsächlichen Widerstands zum Problem würde, so hat sich für diejenigen Fälle, in denen sich einzelne oder mehrere Faktoren in diesem Ensemble in ihrer Heterogenität und Nicht-Stabilität an sich oder gegenseitig derart aufzuhalten beginnen, dass das Ensemble als instabiles und problematisches Beziehungsgefüge thematisch wird, der Begriff der „Schreib-Szene“ - mit einem sperrigen Bindestrich - angeboten. Die Singularität der „Schreibszene“ entspringt der Prozessualität des Schreibens; die Singularität jeder einzelnen „Schreib-Szene“ der Problematisierung des Schreibens, die es zu (Auto)Reflexion anhält, ohne dass es sich gerade in seiner Instabilität gänzlich transparent werden könnte. 7 Die Definition der Schreibszene macht deutlich, dass mit den erwähnten Widerständen ebenfalls die Körperlichkeit und die Instrumentalität des Schreibakts gemeint sind. Die Schreibszene, so wird die Analyse zeigen, ist meist gekoppelt an eine Leseszene, in der das Geschriebene vorgetragen wird. Dabei wird einerseits der Autor zum Rezipienten seiner eigenen Erzählung. Das Publikum andererseits wird teilweise in einem solch hohen Masse in den Entstehungsakt des Texts miteinbezogen, dass es seinerseits zum Produzenten wird. Dies impliziert eine Prozesshaftigkeit des künstlerischen Wirkens, wie sie im vorherigen Kapitel „Zur Inszenierung des ,Machens‘“ ebenfalls festgestellt wurde. Eng gekoppelt an Schreibszenen sind Darstellungen der Autorschaft. Diese ist im hiesigen Kontext insofern relevant, als dass Vorstellungen von Autorschaft die Produktion und Rezeption von Texten regeln. 8 Die Begriffe „Autorschaft“ und „Autorschaftskonzept“ werden in Anlehnung an Nathalie Amstutz als eine Vorstellung von Autorschaft verstanden und nicht als „Rekonstruktion eines Gesichts.“ 9 Auch Wolfgang Behschnitt versteht den fiktiven Autor auf einer abstrakten Ebene als textuelles Konstrukt. Der Autor, so Behschnitt, schafft auf diese Weise in „einem Akt der Selbstvermehrung ,Dichterpersönlichkeiten‘, was sich als Erzähler- und Autorrollen interpretieren lässt“. 10 Im Feld der unterschiedlichen Au- 6 Vgl. Giuriato et al. 2008, S. 12. 7 Giuriato et al. 2008, S. 12 f. 8 Vgl. Amstutz, Nathalie. Autorschaftsfiguren. Inszenierung und Reflexion von Autorschaft bei Musil, Bachmann und Mayröcker . Köln et al.: Böhlau 2004, S. 1. 9 Ebd., S. 2 f. 10 Behschnitt, Wolfgang. Die Autorfigur. Autobiographischer Aspekt und Konstruktion des Autors im Werk August Strindbergs . (Beiträge zur Nordischen Philologie 27). Basel: Schwabe & Co 1999, S. 2. <?page no="79"?> 3.1. Muminpappans memoarer 79 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) torbilder definiert Anne Bohnenkamp das inspirierte Genie einerseits, und den poetischen Handwerker andererseits als die markantesten Gegensatzpaare. 11 Zusammenfassend wird nachfolgend das Schreiben als Prozess in seinen poetologischen und materiellen Komponenten untersucht. Die Analyse beschränkt sich auf die Autorschaft Pappans. Entsprechend umfasst sie Muminpappans memoarer , wo er als Autobiograf erscheint. Des Weiteren gehören ebenfalls Farlig midsommar , wo sich Pappan als Dramatiker betätigt, sowie Pappan och havet , wo er sich wissenschaftlichen Studien widmet, zum Untersuchungsmaterial. In der Analyse werden die erwähnten Muminbücher chronologisch abgehandelt. Im Falle von Muminpappans memoarer tragen das Buch der Muminreihe und das Buch, welches Pappan darin verfasst, denselben Namen. Daher wird nachfolgend Pappans Werk in Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt. Hierbei werden ebenfalls Schreibszenen berücksichtigt, die dieses Projekt betreffen, jedoch in anderen Muminbüchern zu finden sind. 3.1. Muminpappans memoarer „Att bli författare, att vara litterär och bli berömd var temat på Toves nya muminagenda“ „Schriftsteller zu werden, literarisch zu sein und berühmt zu werden war das Thema auf Toves neuer Muminagenda“, schreibt Boel Westin zur Entstehung von Muminpappans memoarer und fasst damit dessen zentrale Themen zusammen. 12 Der Titel verrät bereits, dass es sich bei diesem Buch um eine (Auto)Biografie handelt. Ein Werk von solch überragender Bedeutung, dass es als einziges von Pappans Schriften auch in anderen Muminbüchern erwähnt wird. 3.1.1. „Muminpappans memoarer“ als Metatext „Och skramla inte för mycket för pappa skriver.“ ( KK 17) „,[…] Und versucht möglichst wenig zu klappern, weil Vater schreibt.‘“ ( KM 19), ermahnt Muminmamma Mumintrollet und Sniff bereits in Kometen kommer, jedoch ohne genauer zu definieren, woran er schreibt. Es ist eine erste vage Andeutung, die sowohl die Spannung steigert als auch Erwartungen weckt. Auch in Farlig midsommar, dem Buch, das auf Muminpappans memoarer folgt, sind Pappans Memoiren nach wie vor Thema. Sie werden gar als Referenz hervorgehoben, die ihn für Mamman ebenfalls zum Stückeschreiber prädestiniert. Ein besonders enger Bezug scheint jedoch zwischen Muminpappans memoarer und Trollkarlens hatt zu bestehen. In Trollkarlens hatt, vor Muminpappans memoarer erschienen, wird besonders häufig auf Pappans Schreibprojekt rekurriert, sodass sein Werk zu einer Art Metatext wird. Endlich wird nach den spärlichen Hinweisen in Kometen kommer hier das Geheimnis um Pappans Arbeit gelüftet, ja es wird sogar explizit eine Gattung genannt und erklärt, auf welche Inhalte sie sich konzentriert: „Därefter drog han [Pappan] sig tillbaka till övre våningen för att skriva sina memoarer. (Den stora boken som handlar om muminpappans stormiga ungdom).“ ( TH 18) „Danach zog er [Muminvater] sich in den oberen Stock zurück, um 11 Vgl. Bohnenkamp, Anne. Autorschaft und Textgenese. In: Detering, Heinrich (Hrsg.). Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposium 2001 . Stuttgart und Weimar: Metzler 2002, S. 62-79, S. 62. 12 Westin 2007, S. 247. <?page no="80"?> 80 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) seine Memoiren zu schreiben, das grosse Buch, das von Muminvaters wildbewegter Jugend handelte.“ ( DM 17). Ebenfalls in Trollkarlens hatt wird das zentrale Werkzeug eines Autors, Pappans „memoarpenna“ „Memoirenstift“, zum ersten Mal erwähnt. Ein Schreibwerkzeug, das ihn deutlich als Autor ausweist. Schriftträger und Schreibwerkzeug sind laut Grésillon zentrale materielle Parameter, die eine Handschrift kennzeichnen. 13 Ferner sind sie zentrale Elemente des Ensembles der Schreibszene, wie sie Davide Giuritao, Martin Stingelin und Sandro Zanetti definieren. Weiter wird in Trollkarlens hatt gezeigt, wie sämtliche Ereignisse in Pappans Leben zum Inhalt eines Buchs werden, bis er schliesslich lediglich für und durch das Buch zu existieren scheint. Oder wie es Westin formuliert: Das Leben als Buch überschattet das Leben selbst. 14 Folgendes Zitat macht dies überdeutlich: I rummet bredvid satt Mumintrollets pappa och skrev på sina memoarer. Det hade inte hänt nånting roligt att skriva om sen han byggde båtbryggan, så pappan höll istället på med att beskriva sin barndom.[…] Muminpappan skrev och skrev och tänkte på hur alla skulle ångra sig när de läste hans memoarer. Då blev han glad igen, och sa för sig själv: Det är rätt åt dem! ( TH 107) Im Zimmer nebenan sass der Muminvater und schrieb seine Memoiren. Seit er den Bootssteg gebaut hatte, war nichts Aufregendes mehr passiert, über das er hätte schreiben können, daher war der Muminvater dazu übergegangen, stattdessen seine Kindheit zu beschreiben.[…] Der Muminvater schrieb und schrieb und stellte sich vor, wie alle ihr Verhalten bereuen würden, wenn sie seine Memoiren lasen. Da wurde er wieder guter Laune und sagte sich: „Geschieht ihnen recht! “ ( DM 129f) Pappan verliert sich zusehends in der Aufbereitung seines Lebens als Erzählung und seiner selbst als literarische Figur, sodass er für die tatsächlichen Geschehnisse um ihn herum blind wird. Zu sehr absorbiert ihn sein fiktionales Alter Ego als Held einer Erzählung. Dies hat fatale Folgen. Während sich Pappan darüber beklagt, dass nichts Spannendes geschieht, wuchert im Haus ein Dschungel derart dicht, dass dadurch sogar die Tür seines Zimmers zuwächst und er in seinem Zimmer eingeschlossen ist. Auch sein Umfeld scheint um die Wichtigkeit monumentaler Ereignisse als Stoff für Pappans Werk zu wissen und hilft ihm gar bei der Auswahl. Als Mumintrollet und seine Freunde von dem sonderbaren Hut, der dem Buch den Titel gibt, plötzlich „fahrbare“ Wolken präsentiert bekommen, weiss dieser daher sofort: „Det här blir ett fint kapitel för dina memoarer […].“ ( TH 21) „,Das hier gibt doch ein schönes Kapitel für deine Memoiren‘ […].“ ( DM 21). Der magische Hut des Trollkarlen „der Zauberer“ besitzt die Fähigkeit zu verwandeln, was in ihn hineingegeben wird. Dabei ist der Hut jedoch unberechenbar. Er dient als Katalysator sowohl in der Rahmenwie auch in der Binnenhandlung. In Bezug auf die Schreibszene symbolisiert er die Inspiration. Diese kann so einnehmend sein, dass sie den Autor alles um sich herum vergessen lässt, wie die Szene mit dem Dschungel beweist. Ferner wird anhand des Huts ebenfalls dargestellt, welch nicht zu kontrollierende Kraft die Inspiration ist. Neben der Beschreibung der immensen persönlichen Bedeutung, die dieses Projekt annimmt, wird auch auf die blosse Materialität von Pappans Kunstwerk eingegangen, die den Stellenwert seiner Memoiren auf einer taktilen Ebene verdeutlicht. Pappans bedeutsames Werk verlangt ein repräsentatives Äusseres, das sowohl die Bedeutung des Inhalts als auch 13 Vgl. Grésillon 1999, S. 50. 14 Vgl. Westin 1988, S. 194. <?page no="81"?> 3.1. Muminpappans memoarer 81 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) die Bedeutung des Verfassers im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert. Trollkarlen lädt zu einem grossen Augustfest ein. Als Geschenk erfüllt er jedem seiner Gäste einen Wunsch. Auf Mammans Anraten hin wünscht sich Pappan einen Einband für seine Memoiren: Önska dig ett par riktigt fina pärmar till dina memoarer! Ja, det blir bra, sa pappan glad. Alla upphävde rop av beundran, när Trollkarlen överräckte en pärlbesatt pärm av guld och röd saffian. ( TH 154) „Wünsch dir doch einen ganz besonders schönen Einband für deine Memoiren! “ „Ja, das ist gut“, sagte der Muminvater und wurde wieder froh. Alle stiessen bewundernde Rufe aus, als der Zauberer einen mit Perlen besetzten Einband aus Gold und rotem Saffianleder überreichte. ( DM 188) Dem Zitat ist zu entnehmen, dass dieser dekorative Einband seine Wirkung nicht verfehlt, die Zuschauer sind von dem Anblick hingerissen. Auf besagtem Augustfest liest Pappan dem zahlreich erschienenen Publikum schliesslich sogar aus seinen Memoiren vor: „[…] muminpappan bar ut sina memoarer i deras fina pärm och läste högt om sin barndom.“ ( TH 158) „[…] der Muminvater brachte seine Memoiren in ihrem schönen Einband heraus und las über seine Kindheit vor.“ ( DM 193). Abermals wird das schöne Erscheinungsbild des Buchs betont. Ein Erscheinungsbild, welches das Buch als Kunstobjekt und Faszinosum deutlich in Szene setzt und gleichzeitig die Bibliophilie der Figuren veranschaulicht. 3.1.2. „Muminpappans memoarer“ als Buch im Buch Der Titel Muminpappans memoarer ist überdeutlich betreffend Urheberschaft und Gattung des vorliegenden Texts. Auch die Pose in der Vignette, die sich zu Beginn des Buchs findet, lässt keinen Zweifel bezüglich des Protagonisten aufkommen. 15 Die Vignette zeigt Pappan in einem (Selbst-)Porträt, das Boel Westin an das Selbstporträt von Rembrandt erinnert. 16 Darauf ist Pappan in gebieterischer Pose abgebildet, einen Arm auf eine Säule gestützt, die Stirn in strenge Falten gelegt. Es handelt sich dabei um eine Selbstthematisierung des Autors. Diese sei immer kontextgebunden, schreibt Victor Stoichita. Als kontextgebundene Selbstprojektion definiert er „diejenige Darstellung des Autors, die in ein Werk eingefügt ist, als dessen Schöpfer dieser sich auf die eine oder andere Weise erklärt.“ Thematisiert werde dabei die Trias „Macher“, das „Machen“ und das Ergebnis des „Machens“. 17 Das Gemälde wird umrahmt von einem üppigen Kranz aus Blumen und Früchten. Darin versteckt sind weitere Figuren, die sein Leben dekorieren, wie Boel Westin bemerkt. 18 Mit anderen Worten, es handelt sich dabei um eine bildliche Präsentation des Ensembles. Hingegen verfügt das Bild weder über eine Signatur noch eine Inschrift, wie dies für (Selbst-)Porträts üblich ist. In den älteren Versionen wurde dieses Bild sogar für das Buchcover gewählt, was dessen Aussagekraft die Erzählung betreffend unterstreicht. 15 Jansson, Tove. Muminpappans memoarer [1968]. Stockholm: Alfabeta 2004a, Titelseite. 16 Vgl. Westin 2007, S. 251. 17 Stoichita, Victor. Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei . Übers. von Heinz Jatho. München: Fink 1998, S. 228 f. 18 Vgl. Westin 2007, S. 251. <?page no="82"?> 82 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) a) Die Vorworte Das Buch im Buch wird laut Uwe Japp meist in eine Rahmenhandlung eingebettet. Darin werden klassischerweise die Umstände geschildert, die schliesslich zum Buch im Buch führen. 19 Dies wiederum resultiert letztlich in einem mehrstimmigen Text. Entsprechend verhält es sich auch bei Muminpappans memoarer . Muminpappans memoarer besteht aus zwei Erzählebenen, einer Rahmenhandlung und einer Binnenhandlung. Letztere macht umfangmässig beinahe das ganze Buch aus. Sowohl die Rahmenals auch die Binnenhandlung verfügen über ein Vorwort. Auf der Ebene der Rahmenhandlung unter dem Titel „Prolog“, in der Binnenhandlung unter dem Titel „Företal“ „Vorwort“. Beide Vorworte handeln inhaltlich von der Motivation, die dem Schreibprojekt zugrunde liegt. Diese wird jedoch konträr geschildert. Im Prolog beschreibt ein Erzähler den Entstehungskontext wie folgt: Pappan ist krank, gelangweilt und von seinem nahen Tod überzeugt. Im Angesicht seines vermeintlich baldigen Ablebens quält ihn ebenfalls die Angst, sein Leben könne in Vergessenheit geraten. Darauf überreicht ihm Mamman schliesslich ein Heft mit dem konkreten Vorschlag, er solle die Erlebnisse seiner Jugend darin festhalten, um dies zu verhindern. Im „Företal“ schildert Pappan als Ich-Erzähler das Projekt als wertvollen und unumgänglichen Dienst an der Allgemeinheit, welches er auf vielfachen Wunsch verwirklicht: Ja, jag ger vika för familjens övertalningar och frestelser att få berätta om mig själv, för jag medger villigt att det är en stor lockelse att bli läst över hela mumindalen! […] Jag är skyldig mig själv, min samtid och mina efterkommande en beskrivning av vår märkvärdiga ungdom som inte är fri från äventyrlighet. ( MM 12f) Ja, ich gebe den Überredungen meiner Familie nach und der Versuchung, von mir selbst zu erzählen, denn ich muss gestehen, dass eine grosse Verlockung darin liegt, im ganzen Mumintal gelesen zu werden! […] Ich schulde mir selbst, meinen Zeitgenossen und meinen Nachkommen eine Beschreibung unserer denkwürdigen Jugend, die nicht frei von abenteuerlichen Erlebnissen war. ( MWJ 10f) Gleichzeitig macht er auch keinen Hehl daraus, dass seine Beweggründe nicht gänzlich uneigennützig sind und er sich durchaus Ruhm und Ehre durch seine Arbeit erhofft. Wie Jürgen Nelles für Die Lebens-Ansichten des Katers Murr postuliert, so ist das Vorwort des Buchs im Buch als performativer Akt zu verstehen, „der das Buch, von dem die Rede ist, auf der fiktiven Ebene zum Buch erklärt.“ 20 Dasselbe geschieht im Falle von Pappans Werk. Die Schreibszene wird zu Beginn des Vorworts ebenfalls visuell dargestellt. Eine Abbildung zeigt Pappan als Autor, mit Heft, Schreibfeder und Tintenfass als Attribute. Seine Augen sind nach oben gerichtet, tief in Gedanken versunken 21 . Die Gattung, obwohl schon seit Trollkarlens hatt kein Geheimnis mehr, wird in den Vorworten explizit erwähnt. Pappan zitiert im Vorwort aus denjenigen einer anderen grossen Persönlichkeit, wie er ebenfalls festhält, und definiert dadurch sogleich das Ziel seiner Arbeit, wie auch der geeignete Moment beziehungsweise das geeignete Alter für ein solches Unterfangen: 19 Vgl. Japp, Uwe. Das Buch im Buch. Eine Figur des literarischen Hermetismus. In: Neue Rundschau (1975). S. 654. 20 Nelles 2002, S. 281. 21 Jansson 2004a, S. 11. <?page no="83"?> 3.1. Muminpappans memoarer 83 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Men jag styrker mig själv med de anmärkningsvärda visdomsord jag hittat i en annan stor personlighets memoarer och återger dem här: „Alla, av vad stånd de än må vara, som har uträttat något gott i världen eller något som verkligen tycks vara gott, borde, om de är sanningsälskande och goda, egenhändigt skildra sitt liv, likväl ej börja med detta vackra företag förrän de uppnått fyrtio års ålder.“ ( MM 11) Jedoch ziehe ich Kraft aus den bemerkenswerten Weisheitsworten, die ich in den Memoiren einer anderen grossen Persönlichkeit gefunden habe und die ich hier wiedergeben möchte: „Alle, von welchem Stande sie auch seien, die etwas Tugendsames oder Tugendähnliches vollbracht haben, sollten, wenn sie sich wahrhaft guter Absichten bewusst sind, eigenhändig ihr Leben aufsetzen, jedoch nicht eher zu einer so schönen Unternehmung schreiten, als bis sie das Alter von vierzig Jahren erreicht haben.“ ( MWJ 9f) Ausserdem positioniert er sich so als grosser Kenner autobiografischer Literatur. Agneta Rehal-Johansson vergleicht das Vorwort mit dem von Giovanni Casanova, seines Zeichens Autobiograf und Lebenskünstler. Sie weist etwa auf denselben Schreibstil hin. 22 Im Prolog ist es Mamman, die eine konkrete Genrebezeichnung anspricht: „Kallas det inte memaorer eller nånting när man skriver om sitt liv? Nä, memoarer, sa pappan.“ ( MM 9) „,Nennt man das nicht Memaoren oder so ähnlich, wenn man über sein eigenes Leben schreibt? ‘ ,Nein, Memoiren‘, sagte der Muminvater.“ ( MWJ 8). Philippe Lejeune bezeichnet Memoiren als Nachbargattung der Autobiografie. Diese wiederum definiert er wie folgt: „Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.“ Grundlegend dabei ist die Identität zwischen Autor, Erzähler und Figur. 23 Die Diskrepanz zwischen den Schilderungen in den Vorworten weist auf Pappans Unzuverlässigkeit als Erzähler hin. Ferner beinhaltet dies eine Auseinandersetzung mit der Autorinstanz, welche einen Einblick gewährt in das Selbstverständnis einer solchen. Die Unzuverlässigkeit wird noch weiter unterstrichen. Im folgenden Zitat relativiert er sogar selbst explizit den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen: Och jag är ganska snäll och håller på sanningen om den inte är för tråkig (min ålder har jag glömt).[…] Men med undantag för några små överdrifter och förväxlingar som säkert bara höjer lokalfärg och eldighet skall den här självbiografin bli fullständigt sanningsenlig. ( MM 12) Auch bin ich voller guter Absichten und halte mich an die Wahrheit, wenn sie nicht allzu langweilig ist (wie alt ich bin, habe ich vergessen).[…] Aber abgesehen von einigen kleineren Übertreibungen und Verwechslungen, die gewiss nur zum Lokalkolorit und zum feurigen Stil beitragen, wird diese Autobiografie vollkommen wahrheitsgetreu werden. ( MWJ 10) Normalerweise werden hohe Ansprüche an die Authentizität gestellt, wenn sie auf Fakten beruhen soll, schreibt Maria Nikolajeva, 24 was bei der gewählten Gattung der Fall ist. Doch genau dieser Anspruch wird hier gezielt untergraben, stattdessen werden die Kategorien Fiktion und Autobiografie bewusst ins Wanken gebracht. Zwischen das Gegensatzpaar „Fiktion“ und „Autobiografie“ ist in der neuen Literaturwissenschaft die Kategorie der 22 Vgl. Rehal-Johansson 2006, S. 293. 23 Lejeune, Philippe. Der autobiographische Pakt . Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 14. 24 Vgl. Nikolajeva, Maria. Aesthetic approaches to children’s literature . An introduction . Lanham et al.: Scarecrow Press 2005, S. 55. <?page no="84"?> 84 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) „Autofiktion“ getreten. 25 Damit ist die Meinung verbunden, dass jede Autobiografie gleichzeitig auch Fiktion ist. Gerade die (Auto)Fiktion aber „lässt den Autor als denjenigen, der fingiert und sich selbst fingiert, in Erscheinung treten.“ 26 Das macht sie somit ebenfalls zum Mittel einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Rollenbild des Autors. Der Anspruch nach Korrektheit spiegelt sich in den Reaktionen des Publikums, welches den Wahrheitsgehalt des Inhalts durchaus auch in Frage stellt und Pappan mit seiner Unzuverlässigkeit konfrontiert: „Men en hel del har du nog bara hittat på, sa Sniff. Visst inte, utbrast Muminpappan. På den tiden hände det verkligen saker! Vartenda ord är sant! Naturligtvis, ett och annat kan ju vara en åning förstärkt här och var…“ ( MM 44) „,Aber viele Sachen hast du dir bestimmt bloss ausgedacht‘, bemerkte das Schnüferl. ,Natürlich nicht‘, protestierte der Muminvater. ,Damals war wirklich noch etwas los! Jedes Wort ist wahr! Klar, das eine oder andere mag ja hin und wieder ein wenig verstärkt sein…‘“( MWJ 49). Abermals gesteht Pappan, Inhalte absichtlich verändert zu haben. Pappan als Autor ist daher keinesfalls bloss kindlich naiv, sondern ebenfalls „[…] direkt maliciös och avsiktligt tvetydlig i sitt självporträtt och sin historieskrivning“ „direkt böswillig und absichtlich zweideutig in seinem Selbstporträt und seiner Geschichtsschreibung“, wie Agneta Rehal- Johansson festhält. 27 Sowohl im Prolog wie auch im Företal zeigt sich, welch zentrale Rolle Mamman im Zusammenhang mit Pappans Schreibtätigkeit inne hat. Schliesslich ist sie es auch, die für die richtige Schreibatmosphäre sorgt, indem sie die Kinder dazu anhält, sich ruhig zu verhalten, damit Pappan mit der Arbeit beginnen kann: „Och nu ska ni hålla er riktigt tysta för idag börjar din pappa skriva sina memoarer.“ ( MM 10) „,Aber jetzt müsst ihr ganz leise sein, heute fängt dein Vater nämlich an seine Memoiren zu schreiben.‘“ ( MWJ 8). Diese Worte bilden die Überleitung zur Binnenerzählung. Im Vorwort schliesst Pappan Mamman gar in seine Danksagungen mit ein. Weiter initiiert Mamman den Schreibakt nicht nur, sondern betreut und steuert ihn, ja korrigiert sogar dessen Rezeption. Sie ist es auch, die das Geschriebene als Erste zu hören bekommen wird: „Jag kommer inte att läsa ett ord förrn ett helt kapitel är färdigt och först läser jag det bara för dig och sen för de andra.“ ( MM 9f) „,Ich lese kein Wort vor, bevor das ganze Kapitel fertig ist. Zuerst werde ich es dir vorlesen, dann erst den andern.‘“ (MWJ 8), versichert ihr Pappan. Die Memoiren setzen dort ein, wo Pappan als Säugling vor einem Waisenhaus aufgefunden wird und umfassen dann die Zeitspanne bis er auf seine zukünftige Frau trifft. In Anlehnung an die Tradition der Genieästhetik schildert Pappan sich als jungen Sturm und Dränger, als Originalgenie, welches unter speziell günstigen Sternen geboren ist. Von Natur aus zu Grossem berufen. „Den skrivande pappan representerar lusten, dikten och fantasin, allt det som författaren Tove Jansson höll allra högst.“ „Der schreibende Pappan repräsentiert die Lust, das Gedicht und die Fantasie, all dies, was die Autorin Tove Jansson am höchsten hielt“, schreibt Westin diesbezüglich. 28 Vergleicht man dies jedoch mit der bildlichen Darstellung Pappans als Autor, auf die bereits eingegangen wurde, offenbart sich ein Widerspruch zwischen der Textinstanz und dem visuell dargestellten Autorkonzept. Pappan ist mit Attributen abgebildet (Schreibfeder und Tintenfass), die für ein altertümliches und patriarchalisches Autorkonzept stehen. 25 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.). Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion . Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 8. 26 Ebd., S. 9. 27 Rehal-Johansson 2006, S. 321. 28 Westin 2007, S. 251. <?page no="85"?> 3.1. Muminpappans memoarer 85 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) b) Schreiben - lesen - schreiben Der Schreibakt ist in erster Linie dadurch gekennzeichnet, dass er immer wieder unterbrochen, gestört, wird. Pappan beendet sein Werk vor dem Vorlesen nicht, sondern trägt einer ausgewählten Runde, bestehend aus Mumintroll, Snusmumrik und Sniff, jeweils die neusten Kapitel seiner Arbeit vor. Muminmamman gehört, wie erwähnt, ebenfalls zu diesem erlesenen Kreis. Wie man dank dem Vorwort weiss, bekommt sie bereits vor den anderen das aktuellste Kapitel zu hören. Eine solche Situation wird jedoch nie explizit beschrieben. Wenn Pappan dem Rest der Gruppe jeweils vorträgt, ist sie nie anwesend. Ihre Bemerkungen beweisen aber, dass sie vom Inhalt tatsächlich Kenntnis hat. Das Narrativ oszilliert so ständig zwischen den beiden Erzählebenen. Gleichermassen ergibt sich ein stetiger Wechsel zwischen Schreiben und Lesen, beziehungsweise zwischen Pappan als Produzenten und Rezipienten. Schreiben und Lesen, so wird ebenfalls deutlich, sind Tätigkeiten, die im beschriebenen Schaffungsprozess eng zu führen sind. „Professionelles Lesen ist[…] schreibendes Lesen“, beschreibt Aleida Assmann diesen Zusammenhang. 29 Sie räsoniert weiter: Was sich in dem Zwischenraum zwischen Leser und Text ebenfalls breit gemacht hat, ist das Bewusstsein von der Präsenz und konstruktiven Kraft der materiellen Medien Buch und Schrift, die die Formen der Lektüre entscheidend beeinflussen. 30 Dieses Bewusstsein äussert sich in Muminpappans memoarer in einem Fachgespräch über das Machen von Literatur, welches sich durch den Akt des Vorlesens zwischen dem Autor und den Rezipienten entspinnt. Die beiden Erzählebenen sind kausal miteinander verbunden, das heisst, die Binnenerzählung enthüllt den Teil von Pappans Leben, von dem sein Umfeld bis anhin keine Kenntnis hatte. Die Übergänge sind in der Regel deutlich materiell gekennzeichnet. Meist markiert das Schliessen respektive das erneute Öffnen von Pappans Stift beziehungsweise Heft den Übergang von einer zur anderen Erzählebene: „Han skruvade holken på memoarpennan […].“ (MM 23) „Er schraubte die Kappe auf seinen Federhalter […].“ (MWJ 23). Oder: „Han funderade en stund, så tog han upp memoarpennan och fortsatte att skriva om sin ungdom.“ ( MM 61) „Er überlegte eine Weile, dann nahm er seinen Federhalter und setzte den Bericht über seine Jugend fort.“ ( MWJ 70). Gerade bei diesen Übergängen wird immer wieder auf Pappans Schreibwerkzeug und den Schriftträger referiert, die hier nicht nur seinen Beruf und dessen charakteristische Tätigkeit symbolisieren, sondern auch die intradiegetische Erzählebene. Mit anderen Worten: Die Schreibszene wird durch materielle Parameter gerahmt, die sie konstituieren respektive ermöglichen. Teilweise wird explizit auf die Unterbrechung des Vortrags hingewiesen: „Jaha, så här långt har jag kommit, sa Mumintrollets pappa med sin vanliga röst och tittade upp ur memoarerna.“ ( MM 59) „,So, bis hierher bin ich gekommen‘, sagte der Muminvater mit seiner normalen Stimme und sah von seinen Memoiren auf.“ (MWJ 67). Der Hinweis auf das Wechseln der Stimme in einem narrativen wie auch in einem physischen Sinn ist in diesem Zitat noch speziell hervorzuheben, da darin ebenfalls die Körperlichkeit des Schreibens zum Ausdruck kommt. Diese kann sich vom „Kratzen mit der Feder über das Hämmern der Schreibmaschine bis hin zur Flüchtigkeit der Stimme beim Diktieren“ erstrecken. 31 29 Assmann 2015, S. 292. 30 Ebd., S. 294. 31 Stingelin 2004, S. 18. <?page no="86"?> 86 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Durch den Diskurs über das entstehende Werk werden die Zuhörer konzeptionell in den Schaffungsprozess involviert. So werden sie etwa nach dem Vorlesen explizit nach ihrer Meinung gefragt: „Pappan slog igen häftet och tittade förväntansfullt på sina åhörare. Nå, vad tycker ni? frågade han.“ ( MM 44) „Der Muminvater klappte sein Heft zu und sah seine Zuhörer erwartungsvoll an. ,Na, was haltet ihr davon? ‘, fragte er.“ ( MWJ 49). Pappans Co- Autoren bringen sich zu einem breiten Spektrum an formalen und inhaltlichen Aspekten ein und reflektieren die Geschehnisse, vor allem aber auch die Art der Erzählung der intradiegetischen Ebene. So beinhaltet das Gespräch etwa Punkte wie den Spannungsaufbau: „Läs mera! ropade Sniff. Hur gick det sen? […] Nästa gång, sa Muminpappan mystiskt. Det var spännande, va? Men ser du, det är en av knixarna med skriveri att sluta ett kapitel just när det är som hemskast.“ ( MM 87) „,Lies weiter ! ‘, rief das Schnüferl. ,Was ist dann passiert? ‘[…] ,Nächstes Mal‘, sagte der Muminvater geheimnisvoll. ,Das war ganz schön spannend, was? Aber genau das ist einer der Tricks beim Schreiben, dass man ein Kapitel immer dann beendet, wenn es am aufregendsten ist.‘“ ( MWJ 103), doziert Pappan. Gerne setzt sich Pappan als versierter Verfasser in Szene, der das System des Cliffhangers gekonnt erklärt. Sein Publikum scheint bezüglich seines Könnens jedoch bedeutend skeptischer, wie der folgende Gesprächsausschnitt offenbart: Spöket är bra, sa Mumintrollet som låg med täcket upp till öronen. Det ska du ha med. Men alla de där sorgliga känslorna tycker jag är lite onödiga. Det blir så långt . Långt? utbrast pappan sårad. Vad menar du, långt? Det ska vara sorgliga känslor i memoarer. Alla memoarer har dem.[…] Kanske han borde förkorta det där kapitlet om känslor. Kanske det verkade fånigt och inte alls gripande? Kanske hela boken var fånig! ( MM 123) „Das Gespenst ist gut“, sagte Mumin, der sich die Decke bis an die Ohren gezogen hatte. „Das musst du unbedingt drin lassen. Aber diese ganzen traurigen Gefühle finde ich ein bisschen unnötig. Das wird so lang. “ „Lang? “, rief der Muminvater gekränkt aus. „Was meinst du damit - lang? Zu Memoiren gehören nun mal traurige Gefühle. Die kommen in allen Memoiren vor.“[…] Vielleicht sollte er dieses Kapitel über die Gefühle etwas kürzen? Vielleicht wirkte das nur lächerlich und kein bisschen ergreifend? Vielleicht war ja das ganze Buch lächerlich! ( MWJ 147f) Agneta Rehal-Johansson stellt fest, dass die Zuhörer eher rücksichtsvoll als ehrlich sind in ihren Rückmeldungen. 32 Auch wenn die Kritik äusserst zurückhaltend angebracht wird, trifft sie Pappan zutiefst, ja lässt ihn sogar das ganze Projekt in Frage stellen, wie am Ende des Zitats deutlich wird. Wie bereits erwähnt, ist es Mamman, die ihm darauf aus dieser Schaffenskrise hilft. In Mumintrollets Kommentar bezüglich des Gespensts zeigt sich, dass er dieses als Figur betrachtet, von der er sich für den Inhalt der Diegese einen Mehrwert verspricht und die folglich zwingend Teil der Erzählung erscheinen muss. Dadurch wird abermals auf das Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Autobiografie rekurriert. Auch realistisch-pragmatische Überlegungen zur Autorschaft und die ökonomischen Aspekte der Buchproduktion werden in der Diskussion nicht ausgespart. So etwa, wenn Mumintrollet den finanziellen Aspekt des Schreibens anspricht: „[…] Blir vi rika när din bok är färdig? Hemskt rika, sa Muminpappan allvarligt. Då tycker jag vi tar och delar, föreslog Sniff.“ ( MM 59) „,[…] Wenn dein Buch fertig ist, werden wir dann reich? ‘ ,Sehr reich‘, erklärte der Muminvater ernst. ,Aber dann teilen wir‘, schlug das Schnüferl vor.“ ( MWJ 68). Sniff scheint hier auch keine Zweifel bezüglich seines Beitrags zur Erzählung zu haben, 32 Vgl. Rehal-Johansson 2006, S. 323. <?page no="87"?> 3.1. Muminpappans memoarer 87 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) der seiner Meinung nach eine Gewinnbeteiligung verdient. Die Bandbreite der diskutierten Punkte öffnet sich weiter. Im folgenden Zitat wird über den verwendeten Duktus diskutiert: Pappa, sa Mumintrollet. Pratade man verkligen sådär onaturligt på den tiden? Döm om min häpnad och lända till fröjd och min inre syn och sånt där. Det är inte alls onaturligt, sa pappan förargad. Tror du man kan prata slarvigt när man författar? ! Jamen ibland gör du det, invände hans son. Och du låter Rådd-djuret prata vanligt. Äsch, sa pappan. Det är lokalfärgen. Förresten är det stor skillnad på vad man berättar om saker och vad man tycker om dem, jag menar - en fundering eller en beskrivning är ju nånting helt annat när man pratar och dessutom ska allt det där mest gå på känsla…Tror jag…Pappan tystnade och började bekymrad bläddra i memoarerna. Tycker ni jag har använt för ovanliga ord? frågade han. Det gör nog ingenting, sa Mumintrollet. Det var ju för så länge sen och man kan nästan gissa vad du menar. ( MM 45f) „Pappa“, sagte Mumin. „Hat man damals tatsächlich so unnatürlich gesprochen? Man stelle sich meine Verwunderung vor, zur Freude gereichen, vor meinem inneren Auge und so was? “ „Das ist kein bisschen unnatürlich“, sagte der Muminvater verärgert. „Glaubst du etwa, man kann beim Verfassen eines Buches einfach so daherreden? “ „Aber manchmal tust du das trotzdem“, wandte Mumin ein. „Und das Schusseltier lässt du ganz normal reden.“ „Na und“, sagte der Muminvater. „Das ist Lokalkolorit. Übrigens besteht ein grosser Unterschied zwischen dem, was man über die Dinge erzählt, und dem, was man von ihnen hält, also ich meine - wenn man spricht sind Gedanken oder Beschreibungen ja was ganz anderes, und ausserdem muss das alles aus dem Gefühl kommen…Gaube ich…“ Der Muminvater verstummte und begann bekümmert in seinen Memoiren zu blättern. „Findet ihr, dass ich zu viele ungewöhnliche Wörter verwendet habe? “, fragte er. „Ich glaube, das macht nichts“, sagte Mumin. „Das alles ist ja schon so lange her, und man kann fast erraten, was du meinst.[…]“ ( MWJ 50f) Die Sprechweise ist ein ganz zentrales Element der Figurengestaltung, dessen sich Pappan bedient, um seine Charaktere zu formen. Darüber hinaus geht er auf so komplexe Sachverhalte wie den Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache ein. Weiter betont er die Wichtigkeit, mit den Texten Emotionen zu wecken. Pappan gewährt dabei tiefe Einblicke in grundlegende Gedanken des Schaffensprozesses. Mehr und mehr beeinflussen die Reaktionen auf das Gehörte den weiteren Verlauf und die Art der Erzählung. Wie bereits erwähnt, entsteht die Erzählung vor den Augen des Publikums. Das Schreiben erhält dadurch einen stark prozessualen Charakter, in dem der Autor ständig mit der endlichen Form ringt, diese immer wieder überdenkt, ja sogar komplett in Frage stellt und sich letztlich dem Einfluss von anderen Akteuren, die am Entstehungsprozess beteiligt sind, offensichtlich nicht gänzlich entziehen kann. So äussert sich Pappans Publikum, im folgenden Beispiel Snusmumriken, auch konkret zum Inhalt. Die Anmerkungen fallen äusserst präzise aus und werden ad hoc umgesetzt: „[…] skriv mer om Joxaren, hör du. Lämna inte bort nånting! Mumintrollets pappa nickade, lade häftet i gräset och skrev vidare.“ ( MM 46) „,[…] schreib noch mehr über Jojoks, ja? Lass nichts aus! Der Muminvater nickte, legte das Heft ins Gras und schrieb weiter.‘“ ( MWJ 51). Die bereits angesprochene Tendenz, die Geschehnisse seiner Jungend sehr selektiv niederzuschreiben, gelangt dort an ihre Grenzen, wo er dem Publikum gewisse Abschnitte seines Lebens gänzlich vorenthalten will. So etwa seine Zeit mit den Hattifnattar. Pappan weigert sich, sich konkret zu diesen Vorkommnissen zu äussern, wodurch ein regelrechter Mythos entsteht. Bei seinen Co-Autoren sorgt er mit seiner Zurückhaltung für Entrüstung: <?page no="88"?> 88 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Pappa. Var det inte så att du rymde med hattifnattarna sen? Nåja, sa pappan generat, det kan ju hända. Men det var mycket mycket senare. Jag funderar på att inte alls ta med det. Det tycker jag visst att du ska, utbrast Sniff. Levde du dålighetsliv sen då? ( MM 87f) „Papa, sag mal, später bist du doch mit den Hatifnatten ausgerissen, oder? “ „Na ja“, sagte der Muminvater verlegen. „Kann sein. Aber das war viel, viel später. Ich weiss noch gar nicht, ob ich es überhaupt mit ins Buch aufnehmen soll.“ „Doch, unbedingt! “, sagte das Schnüferl. „Hast du da dann ein Lotterleben geführt? “ ( MWJ 104) Das Schreiben in seiner Körperlichkeit äussert sich ebenfalls in konkreten physischen Symptomen: „När Mumintrollets pappa hade hunnit precis såhär långt i sina memoarer blev han så gripen av sin olyckliga barndom att han måste ta igen sig ett slag.“ ( MM 22f) „Als der Muminvater an dieser Stelle seiner Memoiren angelangt war, erschütterte ihn die Erinnerung an seine unglückliche Jugend so sehr, dass er sich eine Weile erholen musste.“ ( MWJ 23). An anderer Stelle ruft Muminpappan aus: „Kan ni tänka er, jag blir alldeles våt i tassarna när jag läser om den där spöknatten! “ ( MM 122) „,Man sollte es nicht glauben, aber ich kriege tatsächlich ganz feuchte Pfoten, wenn ich über diese Gespensternacht lese! ‘“ ( MWJ 147). Die dargelegten Phänomene zeigen Pappan abermals nicht nur als Autor, sondern auch als Rezipient seiner eigenen Geschichte, was wiederum den stetigen Kreislauf der Produktion und Rezeption veranschaulicht. Bei den übrigen Rezipienten offenbaren sich im Laufe des Gesprächs verschiedene Interpretationsarten des Gehörten, die zu einem Spannungsverhältnis unter den Zuhörern führen. So wird sogar die Wahl des Protagonisten zum Streitpunkt: „Du [Pappan] har ju ändå använt min pappa Rådd-djuret som hjälte i boken? Jag har hela tiden trott att Joxaren var hjälten, sa Snusmumriken.[…] Era gamla pappor är bara bakgrund, utbrast Mumintrollet […].“ ( MM 59f) „,Immerhin ist mein Vater, das Schusseltier, doch der Held in deinem Buch, oder? ‘ ,Ich war die ganze Zeit der Meinung, der Jojoks sei der Held‘, sagte der Schnupferich.[…] ¸Eure ollen Väter gehören bloss zum Hintergrund‘, platzte Mumin heraus […].“ ( MWJ 68). Die Zuhörer sind sich nicht nur bei der Wahl des Protagonisten uneinig, auch sympathisieren sie mit unterschiedlichen Figuren: „Hur kunde ni glömma Rådd-djuret vid sjösättningen, sa Sniff förebrående.[…] Det som bekymrar mig är att min pappa fick sin pyjamas full med gelé, sa Snusmumriken.“ ( MM 60f) „,Wie konntet ihr nur meinen Vater beim Stapellauf vergessen? ‘, sagte das Schnüferl vorwurfsvoll. […] ,Was mir sorgen macht, ist, dass der Schlafanzug meines Vaters voller Gelee wurde‘, sagte der Schnupferich.“ ( MWJ 69). Das von Pappan im Prolog definierte Ziel, ein lehrreiches Buch zu schreiben, erweist sich anhand von Sniffs Verarbeitung des Gehörten als erfüllt. Pappan liest die Stelle vor, an der Joxaren von Hemulens moster zurechtgewiesen wird, weil er raucht: „Han är alldeles för liten för att röka. Han borde dricka mjölk, det är nyttigt, och då får man varken skakande tassar, gul nos eller skallig svans.“ ( MM 59) „,[…] Bist viel zu klein zum Rauchen. Solltest Milch trinken, das ist gesund, davon kriegt man weder zittrige Pfoten noch eine gelbe Schnauze oder einen kahlen Schwanz.‘“ ( MWJ 67). Sniff nimmt sich ihre Worte auch sogleich zu Herzen: „Låt honom inte röka! “[…] Hemulens moster säger att man får skakande tassar, gul nos och skallig svans av det! “ ( MM 60) „,Lass ihn nicht rauchen‘, schrie das Schnüferl. ,Die Tante der Hemulin sagt, dass man davon zittrige Pfoten, eine gelbe Schnauze und einen kahlen Schwanz kriegt! ‘“ ( MWJ 69), ruft er daher aufgebracht aus, als Mamman Pappan die Pfeife bringen möchte. <?page no="89"?> 3.1. Muminpappans memoarer 89 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) c) Metalepse als Klimax Der genaue Endpunkt von Pappans Schreibarbeit wird mit einer exakten Zeitangabe seinerseits markiert: „Memoarerna fullbordades idag, sa pappan med grumlig röst. Slutorden nedskrevs fyrtiofem minuter över sex.“ ( MM 156) „,Die Memoiren wurden heute abgeschlossen‘, verkündete der Muminvater mit belegter Stimme. ,Die Schlussworte kamen fünfundvierzig Minuten nach sechs zu Papier.‘“ ( MWJ 191). In stilvoller Atmosphäre versammelt sich sein Umfeld, um den letzten Teil von Pappans Buch zu hören. Alle haben sich dem feierlichen Anlass gebührend angezogen und Mamman hat Essen und Getränke vorbereitet. Dieses Zeremoniell erinnert stark an eine Theateraufführung. Ein Eindruck, der sich vor allem im darauf folgenden Epilog verstärkt, wo sich die beiden Erzählebenen in einem grossartigen Showdown vereinen. Der krönende Abschluss wird jedoch bereits viel früher mit einer Metalepse angekündigt, wie auch Evelyne Arizpe festhält. 33 Nämlich als plötzlich der Knauf vom Dach des Navigationsraums von Pappans Boot, ein Gegenstand der Binnenerzählung, in der extradiegetischen Erzählebene erscheint. Wie man dank Pappans Ausführungen weiss, ist dieser während eines Sturms auf hoher See abhanden gekommen: Idag hade Mumintrollets pappa slagit sig ner på sandstranden med sin son, Snusmumriken och Sniff. Medan han läste för dem om den förfärliga stormen lät de blickarna vandra över havet som sensommaroroligt rullade sina vågor mot stranden. De tyckte sig se Haffsårkestern flyga som ett spökskepp genom stormen med deras pappor ombord.[…] Titta där ligger nånting som har flutit iland! Spring och plocka upp det! [Pappan] De satte iväg. Vad är det för nånting? Sa Snusmumriken. Det var stort och tungt och liknade en lök. Säkert hade det flutit omkring i havet väldigt länge för det var fullt av sjögräs och snäckor. Här och var satt lite guldfärg kvar på det spruckna träet. Mumintrollets pappa tog trälöken i sina tassar och tittade. Och medan han tittade blev hans ögon större och större och till slut dolde han dem med tassen och suckade. Ungar, sa han med högtidlig och lite osäker röst, detta som ni nu ser är knoppen på navigationshyttens tak på flodbåten Haffsårkestern! ( MM 87f) Heute hatte der Muminvater sich mit Mumin, dem Schnupferich und dem Schnüferl am Sandstrand niedergelassen. Während er ihnen von dem fürchterlichen Sturm vorlas, liessen sie ihre Blicke übers Meer wandern, das seine spätsommerlich bewegten Wellen auf den Strand zurollte. Sie glaubten, die „Mehrmussick“ wie ein Geisterschiff durch den Sturm fliegen zu sehen, mit ihren drei Vätern an Bord.[…] „Schaut mal, da ist etwas an Land getrieben! Lauft hin und holt es! “ [Muminvater] Sie flitzten davon. „Was kann das nur sein? “, sagte der Schnupferich. Es war gross und schwer und erinnerte an eine Zwiebel. Bestimmt war es schon sehr lange im Meer umhergeschwommen, es war nämlich voller Seegras und Muscheln. An dem gesprungenen Holz haftete hier und da noch ein wenig Goldfarbe. Der Muminvater nahm die Holzzwiebel in die Pfoten und sah sie an. Und während er das Fundstück ansah, wurden seine Augen grösser und grösser, bis er sie schliesslich mit einer Pfote bedeckte und einen Seufzer ausstiess. „Kinder“, sagte er feierlich mit bewegter Stimme, „das, was ihr hier seht, ist der Knauf vom Dach des Navigationsraums des Flussbootes ,Mehrmussick‘“! ( MWJ 103ff) Eine Metalepse ist nach Scheffel ein narrativer Kurzschluss, bei dem infolge einer Rahmenüberschreitung die Grenze zwischen extra- und intradiegetischer Erzählebene beziehungs- 33 Vgl. Arizpe 2007, S. 113. <?page no="90"?> 90 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) weise zwischen Erzählen und Erzähltem, aufgehoben wird. 34 Solche Phänomene können durch die Kombination von schriftstellerischer Kreativität und leidenschaftlicher Vorlesekunst herbeigeführt werden, erklärt Saskia Heber. 35 So auch in Muminpappans memoarer . Das Kapitel über den grossen Sturm auf dem Meer wird der Gruppe am Strand vorgetragen. Das Setting und die Intensität von Pappans Ausführungen lassen beim Publikum das Gehörte vor ihren Augen Gestalt annehmen, sodass sie das Erzählte zu sehen glauben. Das Umkippen der Lektüre in rezeptive Imagination wird laut Aleida Assmann durch Schwellensignale angekündigt. Die Wellenbewegung des Meeres kann als ein solches Signal betrachtet werden. Das Erscheinen von Dingen und Figuren bezeichnet Assmann als ein Epiphanieerlebnis. 36 Der gänzliche Kollaps der beiden Erzählebenen findet, wie erwähnt, im Epilog statt. Im Gegensatz zu den Vorworten, die es in zwei unterschiedlichen Versionen und vor allem auf unterschiedlichen Erzählebenen gibt, existiert nur ein Epilog, der auf der extradiegetischen Erzählebene angesiedelt ist. Plötzlicher Wind und Regen leiten dort die dramatisch inszenierte Klimax ein. Schliesslich kündigt ein dreimaliges Poltern an die Tür effektvoll eine Ankunft an. Die Tür wird daraufhin zur Verbindung der intra- und extradiegetischen Ebene, durch die die Väter, das Gespenst sowie weitere Figuren der Binnenhandlung nacheinander erscheinen und ihren Auftritt haben. Sämtliche Figuren treffen zusammen, was mit einem grossen Fest gefeiert wird. Die Handlung schliesst wie in einem Theaterstück. Alle Figuren sind wiedervereint, 40 Jahre nach den Begebenheiten, die die Memoiren beschreiben, bemerkt diesbezüglich auch Jones. 37 Sonja Klimek bezeichnet das Versetzen einer Figur mit ihrem Körper auf eine höhere diegetische Ebene als eine aufsteigende Metalepse. 38 Dieser Wechsel der Erzählebene wird von den Figuren jedoch nicht thematisiert. Mit anderen Worten: Durch die Metalepse wird die Fiktion als solche bewusst entlarvt. In Bezug auf narrative Instrumente wie die Metalepse äussert sich Genette wie folgt: Alle diese Spiele bezeugen durch die Intensität ihrer Wirkung die Bedeutung der Grenze, die sie mit allen Mitteln und selbst um jeden Preis der Unglaubwürdigkeit überschreiten möchten, und die nichts anderes ist als die Narration (oder die Aufführung des Stücks) selber […]. 39 Auch er betont demnach den durch die Metalepse provozierten Fiktionsbruch. Der Höhepunkt des Festes bildet die feierliche Ankündigung, dass die Abenteuer fortgesetzt werden sollen: „I morgon, upprepade Mumintrollets pappa med ungdomligt glänsande blick. I morgon fortsätter Äventyret! ropade Fredrikson. Vi flyger iväg med Haffsårkestern! Allihop. Mammor, pappor och barn! “ (MM 167) „,Morgen‘, wiederholte der Muminvater mit jugendlich leuchtendem Blick. ,Morgen geht das Abenteuer weiter! ‘, rief Fredriksson. ,Wir fliegen mit der ,Mehrmussick‘ davon! Alle miteinander. Mütter, Väter und Kinder! ‘“ (MWJ 205). Die Erzählung kann von Neuem beginnen. Der Schlusssatz lässt diesbezüglich keine Zweifel: „En ny port mot det Otroliga, det Möjliga, en ny dag där allting kan hända om man inte har 34 Vgl. Martínez, Matías und Herbert Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie . 9. erw. und akt. Aufl. München: Beck 2012, S. 82. 35 Vgl. Heber, Saskia. Das Buch im Buch. Selbstreferenz, Intertextualität und Mythenadaption in Cornelia Funkes Tinten-Trilogie . (Geist und Wissen 8). Kiel: Ludwig 2010, S. 46. 36 Vgl. Assmann 2015, S. 216. 37 Vgl. Jones 1984, S. 45. 38 Vgl. Klimek, Sonja. Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der phantastischen Literatur . Paderborn: mentis 2010, S. 164. 39 Genette, Gérard. Die Erzählung . 3. durchges. und korr. Aufl. Paderborn: Fink 2010, S. 153. <?page no="91"?> 3.2. Farlig midsommar 91 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) nånting emot det.“ ( MM 168) „Ein neues Tor ins Unglaubliche und ins Mögliche, ein neuer Tag, an dem alles geschehen konnte, wenn man es nur wollte.“ ( MWJ 206). 3.1.3. Zusammenfassung Die Untersuchung brachte zutage, in welch hohem Masse Muminpappans memoarer seine eigene Entstehungsgeschichte nicht nur einfach erzählt, sondern vor allem reflektiert und problematisiert. Ganz zu Beginn wird Pappan bereits als Autor introduziert. Als Autobiograf ist er in besonderem Masse gezwungen, sich im Spannungsfeld von Fiktion und Wirklichkeit zu verhalten. Er sieht sich jedoch nicht in erster Linie faktischer Korrektheit verpflichtet, sondern opfert diese vielmehr gern zugunsten der Spannungssteigerung. Des Weiteren wird Muminpappan als Autor auf widersprüchliche Weise dargestellt. Selbst inszeniert er sich als Originalgenie, dem Kreativität und Inspiration über alles geht. In der bildlichen Darstellung hingegen zeigt sich ein altmodisches Autorkonzept, symbolisiert durch Schreibfeder und Tintenfass. Der anschliessend präsentierte Kreationsprozess von Pappans Autobiografie zieht sich durch das ganze Buch. Er zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er immer wieder unterbrochen wird. Mit anderen Worten, es wird immer wieder zwischen der Rahmen- und der Binnenhandlung gewechselt. In der Rahmenhandlung entsteht eine Vortragssituation, in der Pappan das Geschriebene einem Publikum vorträgt. Es kommt also zu einer „Szene“ im Sinne einer „Inszenierung“. Die Schreibszene ist immer an eine Leseszene gekoppelt. Mehr noch, sie scheinen sich gar gegenseitig zu bedingen. In der Folge kommt es zu einem Gespräch über die Binnenhandlung, Pappans Autobiografie. Dabei werden sowohl Pappan als Schriftsteller wie auch der von ihm geschriebene Text kommentiert und auch kritisiert. Diese Struktur erlaubt es den Zuhörern, sich bis zu einem gewissen Grad auch direkt in den Kreationsprozess einmischen zu können. Die Übergänge zwischen den beiden Erzählebenen, zwischen der Schreibszene und der Leseszene, ist durch Gesten wie das Öffnen und Schliessen des Buchs oder des Deckels des Stiftes, welcher Pappan benutzt, deutlich markiert. Dies ist vergleichbar mit dem Öffnen und Schliessen des Vorhangs bei Theateraufführungen. Bei einer derartigen Beobachtung der Architektur der Erzählung wird der oben bereits erwähnte mise en abyme Charakter besonders deutlich. Auf einer abstrakteren Ebene wird durch die mehrstimmige Erzählweise eine Werkgenese gezeichnet, in der erstens die Grenzen zwischen Lesen und Schreiben respektive zwischen Produzent und Rezipient nicht mehr klar zu ziehen sind. Gezeigt wird, wie diese Komponenten in einem, theoretisch unendlichen, schöpferischen Kreislauf zu oszillieren beginnen. Die porösen Grenzen zeigen sich zweitens ebenfalls in der Erzählweise. Die verschiedenen Erzählebenen werden ebenso durchlässig, bis sie schliesslich gänzlich kollidieren. 3.2. Farlig midsommar Bereits das Cover macht das zentrale Thema des Buchs deutlich: prominent platziert, auf dem Wasser schwimmend und hell beleuchtet von einem übergrossen Mond, ist eine Theaterbühne zu erkennen. Der Titel des Buchs weckt unmittelbar Assoziationen zu Shakespeares A Midsummer Night’s Dream , wie in der Forschung schon mehrfach konstatiert wurde. Es ist das Muminbuch, welches sich gänzlich dem Theater und vor allem dem <?page no="92"?> 92 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Theater im Theater verschrieben hat. „The play’s the thing“, meint auch Evelyne Arizpe zum Inhalt von Farlig midsommar . 40 Diese einleitenden Worte machen bereits deutlich, dass dem Wort „Szene“ in „Schreibszene“ im Sinne von „Inszenierung“ in diesem Buch besondere Bedeutung zukommt. Farlig midsommar besteht aus einer Rahmen- und aus einer Binnenerzählung. Die Rahmenhandlung enthält mehrere Handlungsstränge und Handlungsorte, die sich alle um die Theaterbühne gruppieren. Sie bilden die Grundlage für die zahlreichen Auf- und Abgänge der Figuren und die sich daraus ergebenden Irrungen und Wirrungen, die augenblicklich an eine klassische Komödie denken lassen. Wenn schliesslich auf der Theaterbühne, einem der Schauplätze der Rahmenhandlung, ein Stück aufgeführt wird, wird dieses zum Stück im Stück oder wie es Westin formuliert: zur Tragödie in der Komödie. 41 Die Analyse konzentriert sich im ersten Teil auf die Annäherung der Figuren an das Theater als konkreten Raum sowie dem Theater beziehungsweise dem Drama als Kunstform. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem performativen Akt der Aufführung des Stücks im Stück. Als Ausgangslage dient die Hypothese eines ständigen Diskurses über die Dichotomie zwischen Fiktion und Realität, der den Reflexionen über das Theater und das Drama zugrunde liegt. Auf einer stofflichen, poetologischen wie auch performativen Ebene. 3.2.1. Das Theater a) Blosse Materialität Annette Simonis erwähnt in ihrem Artikel einen Malerwettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios. Zeuxis malte Trauben, die so echt wirkten, dass sie Vögel anlockten. Parrhasios seinerseits malte einen derart echt anmutenden Vorhang, dass Zeuxis verlangte, man solle ihn beiseiteschieben und das Bild zeigen, das er dahinter vermutet. „Die gemalten Trauben suggerieren in der artistischen Perfektion ihrer Ausführung eine materielle Präsenz, die eine derart intensive sinnliche Ausstrahlung hat, dass die Vögel sich der Illusion hingeben, es handle sich um Natur, nicht Kunst.“ Zeuxis Reaktion bringt das Verlangen zum Ausdruck, „nach dem materiellen Stoff zu greifen und zu tasten, dessen Anwesenheit auf der visuellen Wahrnehmungsebene lebhaft suggeriert wird.“ 42 Damit erklärt Simonis ebenfalls die Kernproblematik des ersten, äusserst verstörenden Aufeinandertreffens der Charaktere mit dem Theater: Mit der Dichotomie von Illusion und Realität wird in Farlig midsommar ein Spannungsfeld eröffnet, in dem dieses Verhältnis anhand des Topos des mundus inversus verhandelt wird. Das Mumintal wird von einer Flutkatastrophe heimgesucht, bei der das Haus der Muminfamilie überschwemmt wird. In dieser Notsituation bietet ihnen eine verlassene Theaterbühne Zuflucht, die plötzlich als rettende Arche erscheint. Mit dem Einzug ins Theater betreten die Muminfamilie und ihre Freunde unbekanntes Terrain, welches sie sich zu eigen machen versuchen - auf eine äusserst taktile und körperliche Art und Weise, indem sie sich an die neue Umgebung im wahrsten Sinne des Wortes herantasten. Dabei ist jedoch nichts das, was es zu sein scheint. 40 Arizpe 2007, S. 109. 41 Vgl. Westin 1988, S. 237. 42 Simonis, Annette. Der Traum von der Materialität. Ein ästhetischer Diskurs über Visualität und Materialität in den Künsten. In: Strässle, Thomas et al. (Hrsg.). Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien, Praktiken, Perspektiven. Bielefeld: transcript 2013, S. 222 ff. <?page no="93"?> 3.2. Farlig midsommar 93 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Im Theater gibt es Spiegel, die das Bild verzerren, Treppen und Türen, die ins Nichts führen, ja sogar der verlockende Apfel ist aus Holz. Das nachfolgende Zitat veranschaulicht dies: Homsan letade marmelad. Kanske sylt går lika bra, sa han och petade i en burk. Målad gips, sa Mymlans dotter. Hon tog ett äpple och bet i det. Trä, sa hon. Lilla My skrattade. Men Homsan var bekymrad. Allt omkring honom föreställde nånting annat än det var, lurade honom med vackra färger, och när han sträckte ut tassen var det bara papper, trä eller gips. Guldkronorna var inte trevligt tunga och blommorna var pappersblommor, fiolerna hade inga strängar och lådorna ingen botten och böckerna gick inte ens att öppna. ( FM 40f) Der Homsa suchte nach der Marmelade. „Hier ist Kompott, vielleicht tut es das auch“, sagte er und steckte den Finger in ein Einmachglas. „Angemalter Gips“, sagte die Tochter der Mümmla. Sie nahm einen Apfel und biss hinein. „Holz“, stellte sie fest. Die Kleine Mü lachte. Aber der Homsa war bekümmert. Hier stellte alles etwas anderes dar, als es in Wirklichkeit war. Alles täuschte ihm mit leuchtenden Farben etwas vor - wenn er die Pfoten danach ausstreckte, war es jedoch nur aus Pappe, Holz oder Gips. Die goldenen Kronen lagen nicht schön schwer in der Hand und die Blumen waren aus Papier, die Geigen hatten keine Saiten, die Kisten keinen Boden und die Bücher liessen sich nicht einmal aufschlagen. ( SM 46f) Dieser mundus inversus bringt die Gruppe an ihre Grenzen. Boel Westin spricht gar von einer regelrechten Kulturkollision. 43 Neben diesen ersten physischen Erfahrungen mit dem Theater wird die Gruppe auch mit für sie gänzlich unbekannten respektive missverständlichen Begriffen konfrontiert: „Rek-vi-si-ta, läste hon. Rekvisita. Ett riktigt skurknamn! “ ( FM 40) „,Re-qui-si-te‘, las sie. ,Requisite. Typischer Schurkenname! ‘“ ( SM 45), ruft Mymlans dotter aus. Bezüglich ihres Aufenthaltsorts bringt erst Emma, die Theaterratte oder Faktotum, wie Jones sie bezeichnet 44 , Licht ins Dunkel. Schonungslos führt sie der Gruppe deren Unwissenheit vor Augen: […] Ni som tror att sufflörluckan är ett skafferi! Ni som tror att scenen är salongen och att kulisserna är tavlor! Ridån är en gardin och rekvisitan en farbror! Hon blev alldeles röd i ansiktet och nosen skrynklades ända upp i pannan. Jag är glad, skrek hon. Jag är glad att scenmästare Filifjonk (måhanvilaifrid) inte kan se er! Ni vet ingenting om teater, mindre än ingenting, inte ens skuggan av ett ingenting! […] Vad är en teater? viskade Mumintrollets mamma oroligt. Jag vet inte, svarade Muminpappan. Det verkar som om man borde ha reda på det. ( FM 57) „[…] Den Souffleurkasten halten sie für eine Speisekammer! Die Bühne halten sie für einen Salon und die Kulissen für Bilder! Den Bühnenvorhang nennen sie Gardine! Die Requisite ist eine Person! “ Sie wurde ganz rot im Gesicht und rümpfte die Schnauze bis zur Stirn hinauf. „Bin ich froh“, schrie sie. „Bin ich froh, dass Bühnenmeister Filifjonk (er ruhe in Frieden! ) euch nicht sehen kann! Ihr wisst überhaupt nichts vom Theater, weniger als nichts, nicht einmal den Schatten von einem Nichts! “[…] „Was ist das - ein Theater? “, flüsterte die Muminmutter beunruhigt. „Weiss nicht“, antwortete der Muminvater. „Aber es scheint etwas zu sein, das man kennen sollte.“ ( SM 66) Schliesslich fasst Emma das Essenzielle des Theaters in ihrer eigenen Definition zusammen und zementiert dabei das bereits erwähnte mundus inversus Motiv: „Teater är det viktigaste i världen för där visar man folk hur det kunde vara, och vad de längtar efter att vara fast 43 Vgl. Westin 1988, S. 236. 44 Vgl. Jones 1984, S. 56. <?page no="94"?> 94 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) de inte törs, och hur de är. En uppfostringsanstalt, utbrast Muminmamman förskräckt.“( FM 96) „,Theater, das ist das Wichtigste auf der Welt. Dort zeigt man den Leuten, wie sie sein könnten. Man zeigt ihnen, wie sie gern wären, und schliesslich, wie sie wirklich sind.‘ ,Eine Erziehungsanstalt‘, rief die Muminmutter erschrocken aus.“ ( SM 112f). Zum besseren Verständnis des Theaterraums fertigt Emma als erstes eine Skizze an: „Hon tog en bit papper och ritade darrigt upp en teater för Mumintrollets mamma. Hon förklarade vad allting var och skrev upp det för att mamma inte skulle glömma bort det.“ ( FM 97) „Sie nahm ein Stück Papier, zeichnete der Muminmutter mit zittriger Hand ein Theater auf, erklärte, was alles bedeutete und schrieb es auf, damit die Muminmutter es nicht vergass.“ ( SM 113). So entsteht ein Abbild des Chronotopos, in dem die Figuren agieren. 45 Innerhalb eines viereckigen Rahmens ist die Frontansicht eines Theaterraums zu erkennen. Darüber stehen eine Signatur und eine Widmung. Jeder Bestandteil des Theaterraums ist beschriftet, teilweise auch markiert. Angefangen vom Vorhang über die unterschiedlichen Requisiten bis ihn zur wichtigsten Schauspielerin, der Primadonna. In der Skizze aufgeführt sind viele der Gegenstände, die später in der Erzählung eine Relevanz haben werden. So etwa der Mond, der explizit angesprochen wird, die Primadonna hat ebenfalls einen folgenreichen Auftritt und die eingezeichnete Drehbühne wird auch wichtig werden. Schliesslich beginnt Emma, detailreich und ausführlich die Stimmung im Theater anhand eines konkreten Beispiels, der Kleopatra-Aufführung, zu beschreiben. Das nachfolgende Zitat enthält Emmas Ausführungen: Jag hade som vanligt tänt rampljuset i solnedgången, och just innan ridån gick upp knackade jag tre gånger i scengolvet. Sa här! Varför det? frågade Mymlans dotter. För effektens skull, sa Emma och hennes små ögon blänkte till. Ödesbetonat, förstår ni. Ridån går upp. En röd strålkastare belyser Kleopatra - publiken drar efter andan…Var Rekvisitan också där? frågade Homsan. Rekvisitan är en plats, förklarade Emma. Ett rum för allt som behövs när man spelar teater. Primadonnan var underbart vacker, dyster…Primadonnan? frågade Misan. Ja, den allra viktigaste av alla skådespelerskorna. Den som alltid spelar den roligaste rollen och alltid får vad hon vill. Men bevare mig för…Jag vill vara en primadonna, avbröt Misan. Men jag ska ha en sorglig roll. En roll där man skriker och gråter. Då får du spela i ett sorgespel, ett drama, sa Emma. Och dö i sista akten. ( FM 98) „[…] Wie immer hatte ich bei Sonnenuntergang das Rampenlicht angemacht, und kurz bevor der Vorhang aufging, klopfte ich dreimal auf den Bühnenboden. So! “ „Warum denn das? “, fragte die Tochter der Mümmla. „Wegen der Wirkung“, sagte Emma und ihre kleinen Augen funkelten. „Schicksalsschwer, versteht ihr? Der Vorhang geht auf. Ein roter Scheinwerfer beleuchtet Kleopatra - das Publikum hält den Atem an…“ „Hat Requisite auch mitgemacht? “, fragte der Homsa. „Die Requisite ist ein Ort“, erklärte Emma. „Ein Zimmer, in dem alles aufbewahrt wird, was man braucht, wenn man Theater spielt. Die Primadonna war wunderschön, düster…“ „Die Primadonna? “, fragte die Misa. „Ja, das ist die allerwichtigste Schauspielerin, die immer die schönsten Rollen spielt und alles kriegt, was sie will. Aber um die würde ich lieber einen grossen B…“ „Eine Primadonna, das ist es, was ich sein will“, unterbrach die Misa sie. „Aber ich möchte eine traurige Rolle haben. Eine Rolle, in der man schreien und weinen darf.“ „Dann musst du in einem Trauerspiel mitspielen, in einer Tragödie“, erklärte Emma. „Und im letzten Akt sterben.“ ( SM 114f) 45 Tove, Jansson. Farlig midsommar [1968]. Stockholm: Alfabeta 2009b, S. 97; Jansson, Tove . Sturm im Mumintal. Übers. von Birgitta Kicherer. Würzburg: Arena 2002, S. 113. <?page no="95"?> 3.2. Farlig midsommar 95 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Speziell hervorzuheben sind die materiellen Komponenten, welche explizit erwähnt werden: Der Vorhang, der die Bühne rahmt und sie dadurch als solche präsentiert. Die erwähnte Lichteinstellung ist ebenfalls zentraler Bestandteil der Inszenierung der Bühne. Das Klopfen als körperlicher Initiationsritus, als akustische Ankündigung des Spielbeginns wurde bereits in Muminpappans memoarer erwähnt. All die erwähnten Komponenten formen die Rahmung der Inszenierung in einem stofflichen Sinn. Schliesslich wendet sich das Gespräch Begriffen wie „Rekvisitan“ und „Primadonnan“ zu, deren Bedeutung geklärt werden muss. Auch findet eine Annäherung an ein explizites Genre statt, wenn über die Spezifika der Tragödie gesprochen wird. Danach wendet sich die Unterhaltung weg vom Theater als Raum hin zum Theater als Kunstform und gipfelt schliesslich im Entschluss, selbst ein Theaterstück zu schreiben. b) Kunstform Dies geht einher mit einer Abkehr von der Auseinandersetzung mit einer allgemeinen Theatermetaphorik hin zur Schreibszene beziehungsweise dadurch auch zu einer poetologischen Reflexion des Theaters als Kunstform. Zu Beginn des Kapitels „Om hur man skriver ett skådespel“ „Darüber, wie man ein Schauspiel schreibt“ zeigt eine Illustration den schreibenden Pappan. Mit Papier und Stift in der Hand sitzt er inmitten von zahlreichen losen Blättern Papier, teilweise zerknüllt. Neben ihm Mamman mit einer Schüssel voller Süssigkeiten. 46 Damit wird die Wahl des Stückeschreibers bereits vorweggenommen. Diese fällt schnell auf Pappan, der als Schriftsteller schliesslich bereits über Erfahrung in diesem Bereich verfügt: „Du skulle säkert kunna skriva ett skådespel om Emma hjälpte till, sa hon. Du har ju skrivit dina memoarer och det är säkert inte svårt att rimma? “ (FM 99) „,Bestimmt könntest du ein Schauspiel schreiben, wenn Emma dir dabei hilft‘, sagte sie. Schliesslich hast du deine Memoiren geschrieben, und es kann ja wohl nicht besonders schwierig sein, sich ein paar Reime auszudenken? ‘“ ( SM 115f), ist sich Mamman sicher. Der Schreibprozess zeichnet sich in erster Linie durch ein rasantes Tempo aus: „På kvällen hade Mumintrollets pappa skådespelet färdigt och läste upp det för de andra.“ ( FM 100) „Am Abend hatte der Muminvater das Stück fertig geschrieben und las es den anderen vor.“ ( SM 116f). Im Unterschied zu Muminpappans memoarer wird hier der Text fertiggestellt, bevor er vorgetragen wird. Dennoch handelt es sich auch hier um einen dialogischen Schreibprozess. Als Dramatiker ist Pappan einer antiken Regelpoetik verpflichtet, mit deren Paradigmen er sich erst vertraut machen muss. Sogleich wird Pappan von Emma auf seine Formfehler bezüglich Versmass und Inhalt hingewiesen: „Han ska skriva hexameter! Hexameter! Inte rimma.[…] Skriv nu om alltsammans på hexameter. Och kom ihåg att i ett ordentligt sorgespel i gammal god still ska alla vara släkt med varandra.“ ( FM 100) „,Sie müssen Hexameter schreiben! Hexameter! Keine Reime.‘[…] ,Schreiben Sie jetzt das Ganze noch einmal in Hexametern. Und denken Sie daran, zu einem anständigen Trauerspiel in gutem alten Stil gehört, dass alle miteinander verwandt sind.‘“ ( SM 117f). Es wird also ex negativo demonstriert, wie ein Drama formal zu schreiben ist. Während sich Emmas Feedback vor allem auf formale Aspekte beschränkt, betreffen die Rückmeldungen der übrigen Zuhörer den Inhalt. Dabei treten spannenderweise ganz unterschiedliche inhaltliche Konzepte zutage, die ein weites Gattungsspektrum abdecken, welches vom Märchen 46 Jansson 2009b, S. 93. <?page no="96"?> 96 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) bis zum Krimi reicht. Auch Wünsche die Rolle betreffend werden bereits angebracht, was auf die folgende Inszenierung des Stücks hindeutet: Och där finns inte en enda prinsessa? Kan det inte få sluta bra? Det är så sorgligt när folk dör. Det är ett sorgespel, kära du, sa Muminpappan. Och då måste nån dö i slutet. Helst alla utom en och kanske den också. Det har Emma sagt. Pax för mig att dö i slutet, sa Misan. Och får jag vara den som slår ihjäl Misan? bad Mymlans dotter. Jag trodde Muminpappan skulle skriva en detektivhistoria, sa Homsan besviken. Nånting där alla blir misstänkta och man har en massa trevliga ledtrådar att fundera över. ( FM 100f) „Und keine einzige Prinzessin kommt darin vor. Und warum darf es nicht gut ausgehen? Ich finde es so traurig, wenn die Leute sterben.“ „Liebling, es ist nun mal ein Trauerspiel“, sagte der Muminvater. „Und dazu gehört, dass irgendjemand am Schluss stirbt. Am besten alle, bis auf einen, und vielleicht der auch noch. Das hat Emma gesagt.“ „Ich darf am Schluss sterben - ausgemacht! “, rief die Misa. „Und darf ich die Misa erschlagen? “, bat die Tochter der Mümmla. „Ich hab geglaubt, der Muminvater schreibt ein Kriminalstück“, sagte der Homsa enttäuscht. „Irgendwas, wo alle verdächtigt werden und es eine Menge interessanter Spuren und Beweise gibt, an denen man herumrätseln kann.“ ( SM 118) Pappan zeigt sich zutiefst gekränkt über die geäusserte Kritik und stellt auch hier gleich das ganze Projekt in Frage. Abermals ist es Mamman, die ihn für ein Weitermachen motivieren kann. Als Ansporn erhält Pappan Süssigkeiten: Mumintrollets pappa reste sig sårad och samlade ihop sina papper. Om ni inte tycker om mitt skådespel kan ni ju göra ett nytt själva, sa han. Älskling, sa Mumintrollets mamma. Vi tycker det är underbart. Gör vi inte? Jodå, sa allesammans. Där ser du, sa mamman. Alla tycker om det. Bara du ändrar på innehållet och skrivsättet lite grand. Jag ska se till att ingen stör dig och du ska få ha hela karamellskålen bredvid dig när du arbetar! ( FM 101) Der Muminvater stand auf und sammelte seine Papiere gekränkt ein. „Wenn euch mein Schauspiel nicht gefällt, könnt ihr euch ja selbst ein neues schreiben“, sagte er. „Liebling“, sagte die Muminmutter. „Wir finden es wundervoll. Tun wir das etwa nicht? “ „Doch, natürlich“, sagten alle im Chor. „Bitte sehr“, sagte die Muminmutter. „Es gefällt allen. Wenn du nur den Inhalt und die Art, wie es geschrieben ist, ein bisschen änderst. Ich werde dafür sorgen, dass niemand dich stört, und während der Arbeit darfst du die ganze Bonbonschüssel neben dir stehen haben! “ ( SM 118f) Auch die Überarbeitung des Stücks geht daraufhin mit grosser Intensität und Geschwindigkeit vor sich. Der Schreibprozess wird gar als ein rauschähnlicher Zustand beschrieben: „Muminpappan arbetade och arbetade. Ingen talade eller rörde sig. Så fort ett papper var fullskrivet läste han upp det. Mumintrollets mamma fyllde på karameller hela tiden. Alla var upphetsade och förväntansfulla.“ ( FM 101) „Der Muminvater schrieb, was das Zeug hielt. Niemand sprach ein Wort oder wagte es, sich zu rühren. Kaum war eine Seite voll geschrieben, las er sie vor. Die Muminmutter füllte unaufhörlich Bonbons nach. Alle waren aufgeregt und voller Erwartung.“ ( SM 119). Weitere Details über den eigentlichen Schreibakt werden nicht enthüllt, auch wird der Leser vorerst über den Titel wie auch den genauen Inhalt des Dramas im Dunkeln gelassen. Der Akt des Stückeschreibens erscheint äusserst gerafft im Gegensatz zur ausführlichen Thematisierung der Inszenierung des Stücks. <?page no="97"?> 3.2. Farlig midsommar 97 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 3.2.2. Die Inszenierung […] das Schreiben hält sich bei und an sich selbst auf, indem es sich selbst thematisiert, reflektiert und problematisiert, und schafft so einen Rahmen , durch den es aus dem Alltag herausgenommen, gleichsam auf einen Bühne gehoben ist, auf der es sich präsentiert und darstellt […]. 47 In Farlig midsommar geschieht dies im wahrsten Sinne des Wortes, indem das Geschriebene auf einer Bühne dargestellt wird, also ein Medienwechsel stattfindet. Gleichermassen handelt es sich dabei jedoch nicht nur um eine Aufführung des Inhalts, sondern auch des Schreibens selbst beziehungsweise der Kreation von Fiktion. Patricia Waugh äussert sich diesbezüglich wie folgt: The examination of fictionality, through the thematic exploration of characters „playing roles“ within fiction, is the most minimal form of metafiction.[…] Such novels tend to present characters who are involved in a duplicitous situation requiring the perpetration of some form of pretence or disguise. These characters usually appear as inauthentic artists. They may be professional artists such as actors, writers or painters. Or they may be artists because they assume roles which destroy their own and others’ integrity and existential freedom, through the confusion of „role“ with „self “, or appearance with reality. 48 Waugh betont also das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, das durch eine Inszenierung thematisiert wird. In Farlig midsommar wird Pappans literarische Vorlage in eine Aufführung transportiert. Dies entspricht laut Erika Fischer-Lichte der Definition des mise en scène . 49 Zweimal kommt es zur Aufführung des Stücks im Stück. Einmal bei der Generalprobe, ein weiteres Mal bei der Premiere. Die beiden Aufführungen repräsentieren zwei unterschiedliche Perspektiven. Die Geschehnisse werden bei der Generalprobe aus der Perspektive der Schauspieler, bei der Premiere aus der Perspektive der Zuschauer geschildert. Dabei steht die Diskrepanz zwischen dem Rollen „Ich“ und dem realen „Ich“, respektive zwischen Fiktion und Wirklichkeit, im Mittelpunkt. a) Die Generalprobe Das Kapitel Om generalrepetitionen „Über die Generalprobe“ enthält eine weitere Illustration des schreibenden Pappan. Die visuelle Schreibszene zeigt ihn inmitten zahlreicher loser Blätter, die um ihn herum flattern. 50 Auch sein Schreibwerkzeug fliegt durch die Luft. Pappan selbst ist nicht sitzend dargestellt, sondern ebenfalls in Bewegung. Er scheint gar zu tanzen. Dies kann als eine Illustration dessen gesehen werden, was Martin Stingelin beschreibt, wenn „das Schreiben im allgemeinen, das Schreibwerkzeug im besonderen einen Schriftsteller in seinen Dienst nimmt“, ihn „engagiert“ in der Bedeutung „zum Tanz auffordert.“ 51 Mit anderen Worten, das Schreiben wird als ein performativer Akt dargestellt, als eine „Szene“. Anders als der Titel des Kapitels vermuten liesse, ist Pappan mit der Arbeit an seinem Stück bei Weitem noch nicht fertig: Die Generalprobe steht unmittelbar bevor, hinter den Kulissen schreibt Pappan jedoch nach wie vor an seinem Stück. Bemüht, die Än- 47 Stingelin 2004, S. 8. 48 Waugh, Patricia. Metafiction. The theory and practice of self-conscious fiction . London und New York: Routledge 2003, S. 116. 49 Vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 320. 50 Jansson 2009b, S. 111. 51 Stingelin 2004, S. 12. <?page no="98"?> 98 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) derungsvorschläge der Schauspieler ad hoc einzuarbeiten. Der Akt des Schreibens beginnt sich schliesslich mit dem Akt des Aufführens zu überschneiden, respektive der Übergang verläuft nicht entlang klarer Grenzen. Während Pappan das Stück hinter der Bühne fertig schreibt, übt Misan ihren Text und Mammans Kostüm erweist sich bei der Anprobe als zu klein. Des Weiteren führt der Inhalt des Stücks zu Auseinandersetzungen. Das Durcheinander nimmt ein solches Mass an, dass das ganze Projekt abermals zu scheitern droht. Doch die Generalprobe beginnt schliesslich mit dem Auftritt von Mymlans dotter. Noch immer ist weder Titel noch der genaue Inhalt des Theaterstücks bekannt. Anhand des Monologs von Mymlans dotter erkennt Boel Westin strukturell jedoch ein Spiel mit der antiken Regelpoetik: „Mymlans inledningsmonolog är späckad av högstämd retorik. Ingredienserna är av klassiskt märke - död, oskuld, blod, öde.“ „Mymlans Einleitungsmonolog ist voll feierlicher Rhetorik. Die Zutaten sind klassischer Art - Tod, Unschuld, Blut, Schicksal.“ 52 All die erwähnten Elemente sind jedoch nur in Textfetzen angedeutet. Die Rhetorik des Dramas sei lediglich in den Konturen und einigen Repliken zu erahnen, meint auch Jones. 53 Dies veranschaulicht folgendes Beispiel: Dör jag i natt fast min oskuld mot himmelen ljudeligt / skriar / vände sig havet i blod och till aska den vårliga marken / skön som en knoppande ros och med ungdomens dagg / på min panna / skövlas jag gräsligt och grymt av ett oomkullrunkeligt / öde. ( FM 113) „Sterb ich heut Nacht, obwohl mein unschuldig Herz gen Himmel laut flehet, wandelt das Meer sich in Blut und in Asche die blühende Flur. Wie eine Rose so lieblich, mit jugendlich zarter Gestalt, mähet ein grausames Schicksal mich roh und wütend darnieder.“ ( SM 131) Das antike Drama wird laut Boel Westin auch an anderer Stelle angedeutet: „Lejon, sorgespel och en invecklad genealogi konnoterar det antika dramat eller t ex Shakespeare […].“ „Löwe, Trauerspiel und eine komplizierte Genealogie konnotieren das antike Drama oder beispielsweise Shakespeare […].“ 54 Die eingeführte Dichotomie zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist in einer zugespitzteren Form in der Gegenüberstellung zwischen Rolle und realem „Ich“ weiterhin präsent. Das nachfolgende Zitat zeigt, wie durch das Aus-der-Rolle-Fallen der Schauspieler die Illusion gebrochen wird: Muminpappan märkte att han hade läst fel och tog om: …ack, skall kronan berövas mig nu av min systersons faster? Mumintrollets mamma stack in nosen och viskade: Skall kronan berövas mig nu av min sonhustrus syster! Ja, ja, ja, sa Muminpappan. Jag hoppar över det här. Han tog ett steg mot Mymlans dotter som gömde sig bakom spegelskåpet och sa: Darra du otrogna mymla och hör hur det gräsliga lejon rasande skakar sin bur och ryter i hunger mot månen! Det blev en lång paus… i hunger mot månen! upprepade pappan högre. Ingenting hände. Han vände sig mot vänster och frågade: Varför ryter inte lejonet? Jag skulle inte ryta förrn Homsan hissade månen, sa Emma. Homsan stack fram ur kulisserna. Misan lovade göra en måne och det har hon inte gjort, sa han. Bra, bra, sa Muminpappan hastigt. Misan kan ta sin entré nu genast för jag har i alla fall kommit ur stämningen. ( FM 113f) 52 Westin 1988, S. 238. 53 Vgl. Jones 1984, S. 57. 54 Westin 1988, S. 238. <?page no="99"?> 3.2. Farlig midsommar 99 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Der Muminvater merkte, dass das nicht stimmte, und begann von vorn: „…ach, soll die Krone nun rauben mir meines Grossneffens Tante? “ Die Muminmutter streckte die Schnauze vor und flüsterte: „Soll die Krone nun rauben mir meines Schwiegersohns Schwester! “ „Ja, ja, ist schon gut“, sagte der Muminvater. „Das lasse ich aus.“ Er machte einen Schritt auf die Tochter der Mümmla zu, die sich hinter der Frisierkommode versteckte, und sagte: „Zittre, oh treulose Mümla, und hör, wie der grässliche Leu rasend schüttelt den Käfig und heulet vor Hunger zum Mond! “ Dann entstand eine lange Pause. „…heulet vor Hunger zum Mond! “, wiederholte der Muminvater lauter. Nichts geschah. Er wandte sich nach links und fragte: „Warum brüllt der Löwe nicht? “ „Ich soll doch erst brüllen, wenn der Homsa den Mond hochgehisst hat“, sagte Emma. Der Homsa streckte den Kopf aus den Kulissen. „Die Misa hatte versprochen einen Mond zu machen, hat es aber nicht getan“, sagte er. „Schon gut, schon gut“, sagte der Muminvater rasch. „Die Misa kann jetzt gleich ihren Auftritt haben, ich bin sowieso nicht mehr in der richtigen Stimmung.“ ( SM 132f) Beim Aus-der-Rolle-Fallen wird „ ex persona das Geschehen als Theater, die Schauspieler als eben solche und letztlich auch die Zuschauer als Theaterpublikum exponiert“, erklärt Manfred Pfister. 55 Die Illusionsbrüche zeigen die Gemachtheit des Theaters in aller Deutlichkeit. Die Figuren werden nicht nur erzähltechnisch zu Schauspielern, indem sie plötzlich auf der Binnenebene agieren, sondern sie transformieren sich auch auf einer materiellen Ebene in Charaktere des Stücks im Stück. Grosse Symbolkraft diesbezüglich hat die Kostümierung der Figuren. Dadurch wird der Wechsel zwischen den Erzählebenen visualisiert: „Mumintrollets pappa kom in från vänster med en mantel vårdslöst kastad över axeln […].“ ( FM 113) „Der Muminvater kam von links herein, einen Umhang lässig über die Schulter geworfen […].“ ( SM 132), wird etwa Pappans Kostüm beschrieben. Die Kostüme werden gar funktionalisiert, um den Wechsel zwischen Rolle und realem „Ich“ zusätzlich zu thematisieren. So führt Misans langes Kleid, welches sie optisch als Schauspielerin markiert, dazu, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes aus der Rolle fällt. Sie stolpert darüber und stürzt von der Bühne in das Boot von Zuschauern. Dadurch wird die Grenze zwischen der extra- und der intradiegetischen Erzählebene physisch überschritten. Erzähltechnisch entspricht dies einer Metalepse: Hon tog ett häftigt steg, snavade i sammetsklänningen och ramlade över rampen ner i igelkottens båt. Åskådarna hurrade och hissade upp Misan på scenen igen. Ta det lugnt bara, fröken, sa en äldre bäver, och hugg huvudet av henne med detsamma! Av vem? frågade Misan förvirrad. Er sondotters faster förstås, sa bävern uppmuntrande. ( FM 115f) Sie machte einen heftigen Schritt, stolperte über das Samtgewand und fiel über die Rampe in das Boot des Igels. Die Zuschauer schrien hurra und hievten die Misa wieder auf die Bühne. „Immer schön ruhig bleiben, Gnädigste“, sagte ein älterer Biber. „Am besten, Sie schlagen ihr jetzt gleich den Kopf ab! “ „Wem denn? “, fragte die Misa verwirrt. „Der Tante Ihrer Schwiegertochter natürlich“, sagte der Biber ermunternd. ( SM 134) Das Resultat ist die totale Desorientierung Misans. Auf der Bühne wird der Schreibakt in einem metaphorischen Sinn als die Kreation von Fiktion dargestellt. Die von Rüdiger Campe beschriebenen Widerstände entstehen hier nicht etwa durch das Schreibwerkzeug, sondern beispielsweise durch die Kostümierungen, die solche in Form von Fiktionsbrüchen verursachen. Wie das Schreibwerkzeug sind diese Widerstände hier stoffliche 55 Pfister, Manfred. Das Drama. Theorie und Analyse . 11. Aufl. München: Fink 2001, S. 119. <?page no="100"?> 100 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Komponenten der (Schreib)Szene. Von den Zuschauern wird Misan jedoch wieder auf die Bühne zurück gehoben und zum Weitermachen ermutigt, sie helfen ihr gar mit dem Text. Der Rest des Publikums applaudiert im Glauben, der Sturz gehöre zum Stück. Die Erzählebenen kollidieren, was ein Chaos anrichtet, wie Pappans Bestürzung über die Reaktion des Publikums verdeutlicht: „De har missförstått alltihop, viskade Muminpappan till Mumintrollets mamma. Kom in så fort du kan är du snäll! “ ( FM 116) „,Sie haben alles missverstanden‘, flüsterte der Muminvater der Muminmutter zu. ,Komm bitte so schnell du kannst auf die Bühne! ‘“ ( SM 134). Emma hatte bereits erwähnt, dass das Publikum das Stück nicht verstehen werde. Ihre dunklen Prophezeiungen diesbezüglich bewahrheiten sich. Um den Illusionsbruch weiter zu verdeutlichen, bricht schliesslich die Figur des Löwen, dargestellt von zwei Biebern in einem Kostüm, bei seinem Auftritt auseinander, sinnbildlich für die Fiktion, welche ebenfalls in sich zusammenbricht: Till slut kom lejonet in. Det hade en bäver i frambenen och en bäver i bakbenen. Publiken vrålade av glädje. Lejonet tvekade, så gick det fram till rampen och bockade sig, varpå det gick av på mitten. Publiken klappade i tassarna och började ro hem. ( FM 116) Endlich kam der Löwe auf die Bühne. In seinen Vorderbeinen steckte ein Biber und in seinen Hinterbeinen auch. Das Publikum johlte vor Entzücken. Der Löwe zögerte, dann wanderte er vor an die Rampe und verbeugte sich, worauf er in der Mitte auseinander brach. Das Publikum klatschte Beifall und begann nach Hause zu rudern. ( SM 135f). b) Die Premiere Bei der Premiere kommt es zur zweiten Aufführung des Stücks im Stück. Dabei wird jedoch eine Umkehrung des Blickwinkels vollzogen. Wurden bei der Generalprobe die Geschehnisse aus der Perspektive der Schauspieler geschildert, wird nun die Sichtweise der Zuschauer eingenommen. Dementsprechend findet sich kein Blick hinter die Kulissen, dafür werden Snusmumrikens Vorbereitungen für den Theaterbesuch geschildert. So wird beschrieben, wie er seine Kinderschar für den Theaterbesuch herausputzt. Ausserdem stellt Snusmumriken sicher, dass sie alles Nötige dabeihaben: „Har ni näsdukar, för det här är ett drama? “ ( FM 129) „,Habt ihr Taschentücher dabei, das ist nämlich ein Trauerspiel.‘“ ( SM 150), fragt Snusmumriken daher. Ein Zeremoniell, welches bereits aus Muminpappans memoarer bekannt ist, wo sich die Zuhörer für das grosse Finale ebenfalls festlich anziehen. Das Theater wird auch hier wieder als ständige Konfrontation zwischen Wirklichkeit und Ideal präsentiert. 56 Eine Schwierigkeit, die nun aus der Perspektive der Zuschauer dargestellt wird, die in diesem Bereich vor grosse Herausforderungen gestellt werden. Diese betreffen einerseits die inhaltliche Ebene, wie etwa im Falle des Hemulen. Seine Rezeption des Stücks wird durch unerfüllte Erwartungen gestört. Er erinnert sich an eine Theateraufführung, welche er vor langer Zeit gesehen hat und seiner Meinung nach viel besser war: „Det här är fånigt, sa en hemul i polismössa som satt i båten bredvid. Det liknar inte alls det där vackra skådespelet jag såg som ung.“( FM 133) „,Ausgesprochen albern, das alles‘, sagte ein Hemul, der im Nachbarboot sass und eine Polizistenmütze aufhatte. ,Das erinnert überhaupt nicht an dieses schöne Stück, das ich in meiner Jugend gesehen habe.‘“ (SM 155). Andererseits äussern sich die Herausforderungen im Unvermögen, zwischen Rolle und realem „Ich“ differenzieren zu können. Bei Snusmumriken wird besonders deutlich, 56 Vgl. Westin 1988, S. 236. <?page no="101"?> 3.2. Farlig midsommar 101 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) dass er auf der Bühne Mitglieder der Muminfamilie und nicht deren Rollen erkennt, weshalb das Theaterstück auf ihn äusserst befremdlich wirkt: Snusmumriken stirrade på scenen. Hans pipa slocknade. Han såg Mumintrollets pappa komma in från vänster och läsa upp nånting underligt om en massa släktingar och ett lejon.[…] Mer och mer förvånad såg Snusmumriken Mumintrollets mamma komma in på scenen. Vad går det åt hela muminfamiljen? tänkte han. Nog har de alltid haft sina idéer, men det här! ( FM 132f) Der Schnupferich starrte die Bühne an. Seine Pfeife erlosch. Er sah den Muminvater von links auf die Bühne kommen und seltsame Dinge über eine Menge Verwandte und einen Löwen aufsagen.[…] Mit wachsendem Staunen sah der Schnupferich die Muminmutter auf die Bühne kommen. Was ist bloss in die Muminfamilie gefahren? , dachte er. Sie sind ja schon immer eigen gewesen, aber das hier! ( SM 154) Lilla My, ebenfalls nicht in der Lage, zwischen ihrer Schwester und der Rolle, die sie spielt, differenzieren zu können, wird angesichts der Geschehnisse auf der Bühne immer unruhiger: „Tyst, tyst, det är bara ett skådespel […].“ ( FM 132) „,Psst, sei still, das ist doch nur ein Schauspiel.‘“ ( SM 154), versucht sie Snusmumriken erfolglos zu beruhigen. Als dann auf der Bühne ein Löwe ihre Schwester anzugreifen droht, gibt es für Lilla My kein Halten mehr. In Panik um ihre Schwester stürmt sie die Theaterbühne: „Rädda min syster! skrek hon. Slå ihjäl lejonet! Och plötsligt tog hon ett desperat skutt upp på scenen, rusade fram till lejonet och bet det i bakbenet med sina små vassa tänder. Lejonet skrek och gick av på mitten.“ ( FM 134) „,Rettet meine Schwester! ‘, schrie sie. ,Schlagt den Löwen tot! ‘ Und plötzlich machte sie einen verzweifelten Satz auf die Bühne, stürzte sich auf den Löwen und biss ihn mit ihren scharfen kleinen Zähnen ins Hinterbein. Der Löwe schrie und brach in der Mitte auseinander.“ ( SM 156). Abermals bricht der Löwe auseinander, mehr noch, der Löwe als Kunstfigur wird gar brutal zerschlagen. Fällt in der Generalprobe eine Schauspielerin in den Publikumsraum, ist es hier eine Zuschauerin, die die Bühne stürmt. Eine Konsequenz des Perspektivenwechsels. Dabei wird Lilla My plötzlich Teil des Theaters. Westin sieht Elemente der Tragödie wie Anagnorisis und Peripetie allein in dieser Szene verwirklicht. 57 Die Anagnorisis wird verwendet, um eine verwickelte Handlung letztlich zu einem guten Ende zu führen. Diese Szene steht am Anfang genau dieses Prozesses. Der Rest des Publikums folgt Lilla My auf die Bühne. Mit dem Verschwinden der Grenze zwischen der extra- und der intradiegetischen Erzählebene verschwinden ebenfalls die formalen Grenzen wie etwa das Versmass: […] och de märkte att ingen talade på hexameter längre utan alldeles som vanligt. Det hade de ingenting emot, för nu förstod man äntligen vad skådespelet handlade om. Det var om nån som hade flutit bort i en stor våg, upplevat hemska saker och sen hittat hem igen.[…] Nu tycker jag de spelar bättre, sa Hemulen. ( FM 134) […] und dann merkten sie, dass niemand mehr in Hexametern sprach, sondern wieder ganz normal. Das war ihnen nur recht, jetzt konnte man endlich verstehen, wovon das Stück handelte. Es ging um eine Person, die von einer grossen Flutwelle weggeschwemmt worden war und nach schlimmen Erlebnissen endlich nach Hause zurückgefunden hatte.[…] „Jetzt spielen sie besser, finde ich“, sagte der Hemul. ( SM 156) 57 Vgl. Westin 1988, S. 241. <?page no="102"?> 102 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Paradoxerweise transformiert sich das Stück jedoch jetzt, wenn es als solches in seiner klassischen Form gar nicht mehr existiert, zu etwas Verständlichem und für die Zuschauer Interpretierbaren. Endlich wird auch eine längst überfällige Zusammenfassung des Inhalts des Stücks gegeben. Diese deckt sich mit der Rahmenhandlung, wo alle auf die Rückkehr des verschwundenen Mumintrollet hoffen. Der mise en abyme Charakter des Stücks im Stück offenbart sich erst jetzt gänzlich. Nicht nur dem Publikum gefällt das Stück nun bedeutend besser, auch die Schauspieler betrachten diesen totalen Kollaps als vollen Erfolg: Skådespelet blev roligare och roligare. Hela publiken klättrade småningom in på scenen och deltog i handlingen genom att äta upp inträdesavgiften som dukades fram på salongsbordet. Mumintrollets mamma befriade sig från de besvärliga kjolarna och sprang hit och dit och delade ut kaffekoppar.[…] Muminpappan strålade över den stora framgången och Misan var lika lycklig som på generalrepetitionen. ( FM 134f) Das Schauspiel wurde immer lustiger. Nach und nach kletterte das ganze Publikum auf die Bühne und nahm an der Handlung teil, indem es die Eintrittsgebühren aufass, die auf dem Salontisch aufgestellt wurden. Die Muminmutter wurde von den lästigen Röcken befreit, rannte hin und her und verteilte Kaffeetassen.[…] Der Muminvater strahlte über den grossen Erfolg und die Misa war genauso glücklich wie bei der Generalprobe. ( SM 157) Die Zuschauer mischen sich ins Geschehen, Muminmamman ihrerseits entledigt sich ihres Kostüms, was einem Ritual des Rolle ablegens gleichkommt. Laut Manfred Pfister wird das Höchstmass an Publikumsaktivität dann erreicht, „wenn das Publikum nicht nur in einen verbalen Dialog mit den Darstellern des Spiels im Spiel tritt, sondern handelnd interveniert.“ 58 In Fischer-Lichtes Terminologie handelt es sich dabei um einen Rollenwechsel. 59 Hier wird jedoch nicht nur das dichotomische Subjet / Objekt-Verhältnis, also das Verhältnis zwischen Zuschauer und Schauspieler, aufgelöst, sondern auch „das Verhältnis zwischen Kunst- / Theaterereignis und sozialem Ereignis 60 , gleicht doch die geschilderte Szene nun eher einem Volksfest als einer Theateraufführung. Mumintrollets Ankunft leitet schliesslich die Klimax ein. Es kommt zum grossen Showdown als Hemulen, der die Gruppe um Mumintrollet kurz zuvor eingesperrt hatte und sich nun unter den Zuschauern befindet, die Freunde wiedererkennt und sie sofort festnehmen möchte. Das dramatische Aufeinandertreffen entfacht das Interesse der Zuschauer von Neuem. Überzeugt, dies gehöre zur Handlung des Stücks, beobachten sie das Geschehen auf der Bühne: „Publiken som en stund varit lite förvirrad, förstod nu att skådespelet fortsatte. De ställde kaffekopparna ifrån sig och slog sig ner på rampen för att titta på. Ta fast dem! skrek Hemulen ilsket. Åskådarna applåderade.“ ( FM 135) „Das Publikum, das eine Zeit lang leicht verblüfft gewesen war, begriff jetzt, dass die Aufführung weiterging. Sie stellten ihre Kaffeetassen ab und liessen sich auf der Rampe nieder, um zuzuschauen. ,Nehmt sie fest! ‘, schrie der Hemul erbost. Die Zuschauer applaudierten.“ ( SM 158). Hemulen ist nun Teil des Theaterensembles, von den Zuschauern bejubelt. Mumin wird zu Unrecht von Hemulen verdächtigt, seine Ordnungsschilder zerstört zu haben. Tatsächlich aber befinden sich Geschädigter (Hemulen) und Täter (Snusmumriken) nebeneinander im Publikum. Snusmumriken gibt sich als Übeltäter zu erkennen. Der da- 58 Pfister 2001, S. 303. 59 Vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 63. 60 Ebd., S. 68. <?page no="103"?> 3.2. Farlig midsommar 103 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) rauf folgende Angriff Hemulens auf Snusmumriken verhindert Emma, die die Drehbühne in Gang setzt und auf diese Art alles im wahrsten Sinne des Wortes durcheinanderwirbelt. Mehrmals tritt sie als Intrigantin hervor, die eine wichtige Katalysatorfunktion für die Handlung inne hat, sowohl in der Rahmenwie auch in der Binnenhandlung. Emmas manipulatives Wirken wird jedoch nicht entdeckt, wie Jones festhält. 61 In der Folge überschlagen sich die Ereignisse in einem grossen Tohuwabohu. Rahmen- und Binnenhandlung kollidieren nun endgültig, sodass der Showdown der Rahmenhandlung auch zum Showdown der Binnenhandlung wird. In diesem Durcheinander gelingt den Ankömmlingen und Snusmumriken eine spektakuläre Flucht. Die Zuschauer, nach wie vor der Meinung, eine Theateraufführung zu sehen, sind begeistert: „Bravo! Bravo! Dacapo! skrek åskådarna.“ (FM 137) „,Bravo! Bravo! Da capo! ‘, schrien die Zuschauer.“ ( SM 160). Erneut steht Hemulen als vermeintlicher Schauspieler im Zentrum der Aufmerksamkeit: „Hemulen lyckades äntligen befria sig från vridscenen, skogsungarna och de hurrande åskådarna som kastade blommor på honom.“ ( FM 138) „Endlich gelang es dem Hemul, sich von der Drehbühne und den Waldkindern zu befreien und von den hurra rufenden Zuschauern, die ihn mit Blumen bewarfen.“ ( SM 161). Erika Fischer-Lichte nennt dies einen performativen Widerspruch, denn Hemulen ist nun Teil einer Aufführung, über die er sich negativ geäussert hat. 62 Auch die übrigen Verbindungen der verschiedenen Handlungsstränge werden nun aufgelöst: Filifjonkan und Emma treffen endlich aufeinander und Snusmumriken erkennt, wer Lilla My ist, nämlich seine Schwester. Die Inszenierungen, so machten die Ausführungen zur Generalprobe und der Premiere deutlich, sind (Schreib)Szenen, indem sie die Kreation von Fiktion verhandeln. Dabei wird das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit konstant problematisiert, vor allem auch mit Hilfe materieller Komponenten des Theaters wie etwa der Bühne oder den Kostümen. 3.2.3. Zusammenfassung Aufführungen, die dergestalt dichotomische Begriffspaare missglücken, Gegensätze in sich zusammenfallen lassen, konstituieren eine Wirklichkeit, in der das eine zugleich als das andere erscheinen kann, eine Wirklichkeit der Instabilität, der Unschärfen, Vieldeutigkeiten, Übergänge, Entgrenzungen. 63 Die Worte Fischer-Lichtes resümieren die Quintessenz der Untersuchung pointiert. Exakt dies wird in der Erzählung immer wieder problematisiert. Zu Beginn auf einer gänzlich stofflichen Ebene bei der schockierenden Begegnung mit dem Theater als Raum, das die Figuren als ein einziges, furchteinflössendes Blendwerk kennenlernen. Auf einer poetologischen Ebene hat sich Pappan als Dramatiker zu beweisen. Als Dramatiker ist er einer antiken Programmatik verpflichtet, die es erst zu erlernen gilt. Damit steht die Autorfigur im krassen Gegensatz zum Originalgenie, das in Muminpappans memoarer präsentiert wird. Der Schreibakt wird extrem gerafft geschildert. Bis zum Schluss offenbart sich der genaue Inhalt nur sehr vage. Das geschriebene Stück ist von Anfang an „nur“ die schriftliche Vor- 61 Vgl. Jones 1984, S. 56. 62 Vgl. Fischer-Lichte 2004, S. 66. 63 Fischer-Lichte 2004, S. 304. <?page no="104"?> 104 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) lage für dessen effektvolle Inszenierung. Mit der Theateraufführung wird ausserdem ein Medienwechsel inszeniert, ja regelrecht gesucht. Diese performative Ebene ist es, die in diesem Buch im Mittelpunkt steht. Mit anderen Worten die Schreibszene ist im wahrsten Sinne des Wortes eine „Szene“: Die Produktion von Literatur, von Fiktion, wird auf einer Bühne dargestellt. Auch bei der Inszenierung lassen Illusionsbrüche die Grenze zwischen Theater und Realität einstürzen, indem die Schauspieler aus der Rolle fallen und Zuschauer umgekehrt unvermittelt Teil des Theaters werden. Aber auch auf eine körperliche Art und Weise werden diese Grenzen immer wieder überquert. Der Bühnenrand als Grenze wird wiederholt physisch überschritten, von Zuschauern wie auch von Schauspielern. Auch wird der Zusammenbruch der Illusion sowohl bei der Generalprobe als auch bei der Premiere durch den Löwen dargestellt, der auf der Bühne auseinander bricht. Die ständigen Illusionsbrüche und das Chaos, welches diese verursachen, verunmöglichen bei der Generalprobe wie auch bei der Premiere, dass das Stück zu Ende gespielt werden kann. Somit ist das Stück im Stück ein Stück über dessen Scheitern, über das Scheitern der Fiktion. Spannend sind die beiden Aufführungen jedoch aufgrund des Perspektivenwechsels, durch den der Leser das Geschehen einmal aus dem Blickwinkel der Schauspieler, einmal aus dem Blickwinkel der Zuschauer betrachten kann. Auf diese Art eröffnen sich zwei Versionen des Theaterstücks, so Westin. 64 Dadurch erhält der Akt der Aufführung eine enorme Dynamik. 3.3. Pappan och havet In Pappan och havet wird ein Schreibprozess dargestellt, der sich von den bereits präsentierten vor allem dadurch abhebt, dass das geplante Werk nicht fertiggestellt wird. Er entspringt einem Beziehungskonflikt mit Mamman, die nicht zu schreiben, sondern zu malen beginnt. Der Schreibprozess ist also ebenfalls Teil einer Schrift-Bild-Dichotomie, die in Pappan och havet verhandelt wird. Vor allem aber ist es das Muminbuch, welches erstmals schonungslos einen Blick in die seelischen Abgründe der einzelnen Figuren offenbart. „Aus der glücklichen Familie der früheren Muminbücher wird eine Familie in der Krise“, fasst Agneta Rehal-Johansson die Handlung des siebten Muminbuchs in wenigen Worten zusammen. 65 Durch das gewählte Setting (eine abgelegene Insel) und das massiv reduzierte Figurenkabinett treten die psychologischen Krisen der einzelnen Figuren besonders deutlich in den Vordergrund: Pappan hadert mit seiner Position als Familienoberhaupt und findet sich in einer tiefen Sinnkrise wieder, Mamman stürzt durch Heimweh in eine Depression und Mumintrollet durchlebt den aufwühlenden Ablösungsprozess von seinen Eltern. Mit diesen Charakteristiken trägt dieses Muminbuch deutliche Züge des psychologischen (Kinder) Romans, für den ein starker Fokus auf die innere Geschehenslinie und eine entsprechend handlungsarm gestaltete äussere Geschehenslinie kennzeichnend sind. 66 Für die Figuren bietet im weitesten Sinn Kreativität einen Lösungsweg, wie Druker feststellt: „Reacting to this experience with creativity, the characters both reveal and assuage 64 Vgl. Westin 1988, S. 239. 65 Vgl. Rehal-Johansson 2006, S. 143. 66 Vgl. Armbröster-Groh, Elvira. Der moderne realistische Kinderroman. Themenkreise, Erzählstrukturen, Entwicklungstendenzen, didaktische Perspektiven . (Kasseler Arbeiten zur Sprache und Literatur 21). Frankfurt a. M. et al.: Peter Lang 1997, S. 17. <?page no="105"?> 3.3. Pappan och havet 105 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) their symptoms.“ 67 Besagter Blick ins Innere der Figuren wird in Pappans Fall durch das Buchmedium möglich, welches ihm als Plattform dient, seine Emotionen zu verarbeiten und sich aus seiner Krise „herauszuschreiben“. Angesichts seiner unterschiedlichen schriftstellerischen Tätigkeiten in vorherigen Muminbüchern erstaunt die Wahl dieses Ausdrucksmittels nicht. Zudem ist das Verfassen von Briefen und Tagebüchern ebenso typischer Inhalt des psychologischen (Kinder)Romans wie auch das literarische Schreiben „zur Problemlösung und Selbsterkenntnis.“ 68 Pappans Autorschaft wird in einem ersten Schritt zur Figur des Leuchtturmwärters in Beziehung gesetzt. In einem zweiten Schritt wird untersucht, welche Handlungen, Denk- und Arbeitsweisen gezeigt werden, die mit einem dezidiert wissenschaftlichen Wirken in Verbindung gebracht werden können. 3.3.1. Schrift in der Krise Pappan zweifelt im Zuge einer Midlife-Crisis an seiner Stellung innerhalb der Familie. Der von ihm provozierte Umzug auf die Insel sollte eigentlich Abhilfe schaffen. Doch das Gegenteil tritt ein. Zahlreiche Versuche, seine Familie zu beeindrucken und sich als Ernährer und Beschützer der Familie zu zeigen, scheitern. Stattdessen spitzt sich die Situation in einer unaufhörlichen Negativspirale stetig zu. Sinnbildlich für seine Misere ist das Licht des Leuchtturms, das neue Zuhause der Muminfamilie, welches er nicht entfachen kann. In diesem Sinne wird der Leuchtturmwärter zu einem Vorbild, dessen Position er nicht einnehmen kann. Auch nicht, wenn er den Hut des vermeintlich abwesenden Leuchtturmwärters aufsetzt. Ein Akt, der frappant an die Verkleidungen in Farlig midsommar erinnert. Während die Charaktere fest von der Abwesenheit des Leuchtturmwärters überzeugt sind, wird dem Leser rasch klar, dass er in der Figur des kruden Fischers tatsächlich ständig präsent ist, ja die Ereignisse zu einem gewissen Grad sogar steuert, indem er etwa den Schlüssel für den Leuchtturm erst versteckt und ihn dann wieder bereitlegt. Anwesend ist er jedoch ebenfalls durch Schriftzeichen, die Pappan während eines erneuten erfolglosen Versuchs, das Licht des Leuchtturms zu entfachen, an der Wand entdeckt. Es handelt sich dabei um ein Gedicht, dessen Sinn er jedoch nicht ausmachen kann: Det är så tomt på havet / där över månen står / där gingo inga segel / på fyra långa år.[…] Längst upp hade han varit gladare och skrivit: Ostlig vind och käringträta slutar vanligtvis med väta. Pappan började krypa runt väggarna och leta efter fyrvaktarens funderingar. Där fanns en massa anteckningar om vindstyrkan, den kraftigaste stormen hade varit uppe i tio beaufort vid sydvästlig vind. På ett annat ställe hade fyrvaktaren skrivit en vers igen men den var överstruken med många svarta streck. Det enda pappan kunde urskilja var nånting om fåglar. ( PH 85) „Es scheint herab der Mond / aufs Meer und das ist leer. / Vier lange Jahre gingen / hier keine Segel mehr.“[…] Weiter oben an der Wand war der Leuchtturmwärter besserer Laune gewesen und hatte geschrieben: „Weiberzank und Wind aus Ost / endet meist bei Sturm und Most.“ Jetzt begann der Muminvater die Wände gründlich nach den Überlegungen des Leuchtturmwärters abzusuchen. Er fand viele Notizen über die Windstärke, der stärkste Sturm hatte bei südwestlichem Wind die Windstärke zehn erreicht. An einer anderen Stelle hatte der Leuchtturmwärter einen weiteren Vers 67 Druker, Elina. Staging the illusive: Self-reflective images in Tove Janssons novels. In: McLoughlin, Kate und Malin Lidström Brock (Hrsg.). Tove Jansson rediscovered . Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2007, S. 75. 68 Armbröster-Groh 1997, S. 33. <?page no="106"?> 106 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) geschrieben, der aber mehrmals schwarz durchgestrichen war. Das Einzige, was der Muminvater noch davon entziffern konnte, war etwas über Vögel. ( MWI 96ff) Pappan ist sofort klar, dass es Aufzeichnungen des Leuchtturmwärters sind. „Fyrvaktaren sitter fast i väggarna där uppe.“ (PH 87) „Dort oben sitzt der Leuchtturmwärter in den Wänden.“ ( MWI 99), resümiert er für sich. Die Notate sind sowohl wissenschaftlicher wie auch poetischer Art. So finden sich Aufzeichnungen über Windstärken neben Gedichten. Trotz ihrer Unverständlichkeit üben sie auf Pappan eine enorme Faszination aus und wecken das Interesse am Leuchtturmwärter. Pappans Autorschaft ist eng an die Figur des Leuchtturmwärters gebunden. Als er in ein Heft zu schreiben beginnt, entdeckt er wiederum Aufzeichnungen des Leuchtturmwärters. Das Heft wurde bereits von ihm benutzt. Pappan beschliesst kurzerhand, von der anderen Seite her mit seinen Notaten anzufangen. So entsteht ein polyphoner Text, respektive das Heft wird zum Raum, der dem Leuchtturmwärter und Pappan via Schrift eine Art Interaktion ermöglicht. Pappans Schreibprojekt resultiert aus seinem wiederholten Scheitern als Familienoberhaupt. Trotz zahlreicher Versuche, seine Familie zu beeindrucken, reüssiert er nicht. Um dies zu vertuschen, flüchtet er sich in andere Arbeiten unterschiedlichster Art. Am Tiefpunkt angelangt, entdeckt er auf dem Heimweg einen Gumpen, ein willkommenes Untersuchungsobjekt, dem er seine Zeit von nun an zu widmen gedenkt: „Jag kommer att göra mycket noggranna undersökningar.“ ( PH 71) „,Ich werde sehr gründliche Untersuchungen anstellen.‘“ ( MWI 82), verkündet er mit grosser Freude. Der Gumpen wird schliesslich zur Projektionsfläche seiner Probleme, deren Hintergründe er nicht versteht. Aus dieser Verzweiflung heraus entwickelt sich schliesslich die Idee, eine Abhandlung darüber zu verfassen. In Westins Worten: „Hans vilja till orden växer genom ett sökande efter en skrift som kan tydliggöra de sammanhang (havets hemligheter) som han inte förstår.“ „Sein Wille zu Worten wächst durch die Suche nach einer Schrift, die ihm die Zusammenhänge verdeutlichen kann, die er nicht versteht (die Geheimnisse des Meeres).“ 69 Durch diese Arbeit sollen alle seine offenen Fragen geklärt, respektive seine Probleme gelöst werden. Die erste konkrete Äusserung Pappans zum Plan einer Niederschrift seiner Untersuchungen ist inspiriert durch Mammans Fund einer Muschel, die das Meer auf geheimnisvolle Weise zutage bringt: „Du förstår, det är såna här saker som jag ska fundera ut och kanske göra en avhandling om. Allt som har med havet att göra, det riktiga stora havet. Jag måste komma underfund med havet.“ (PH 119) „,Weisst du, das sind die Dinge, die ich mir klarmachen und über die ich vielleicht eine Abhandlung schreiben möchte. Alles, was mit dem Meer zu tun hat, mit dem richtig grossen Meer. Ich muss hinter das Geheimnis des Meeres kommen.‘“ ( MWI 135), erklärt er Mamman. Tatsächlich beginnt er, zu schreiben. Schriftträger ist das oben erwähnte Heft, in das der Leuchtturmwärter ebenfalls bereits geschrieben hat. Pappan utvecklade teorier om ett djupt hål som ledde till jordens medelpunkt, han fantiserade om en utslocknad krater. Till slut började han skriva ner sina funderingar i ett gammalt vaxdukshäfte som han hittade på vinden. Några sidor av häftet var upptagna av fyrvaktarens antecknigar, små ord med långa mellanrum, de såg ut som en spindel hade kravlat över papperet. Vågen är ensam, månen står i sjunde huset, läste pappan. Saturnus möter Mars. Kanske fyrvaktaren i alla fall hade haft gäster på ön. Det hade säkert piggat upp honom. Men resten var mest siffror. Pappan förstod dem inte. Han vände på vaxdukshäftet och började skriva i andra ändan.[…] Han kunde skriva: 69 Westin 2007, S. 389. <?page no="107"?> 3.3. Pappan och havet 107 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Havsströmmarna är en märklig och underbar sak som man inte har ägnat nog uppmärksamhet, eller: Vågrörelsen är något som alltid kommer att uppväcka vår förundran…och så lät han häftet sjunka och tappade bort sig i förnimmande. ( PH 122f) Der Muminvater entwickelte Theorien über ein tiefes Loch, das bis zum Mittelpunkt der Erde reichte, er malte sich einen erloschenen Krater aus. Schliesslich fing er an seine Gedanken in ein altes Wachstuchheft zu schreiben, das er auf dem Dachboden gefunden hatte. Ein paar Seiten im Heft waren vom Leuchtturmwärter voll geschrieben, kleine Wörter mit grossen Abständen, sie sahen aus, als wäre eine Spinne übers Papier gekrabbelt. „Die Waage steht allein, der Mond im siebten Haus“, las der Muminvater. „Saturnus trifft Mars.“ Vielleicht hatte der Leuchtturmwärter trotz allem Besuch auf der Insel gehabt. Das hatte ihm sicher gut getan. Der Rest bestand jedoch vor allem aus Zahlen, die der Muminvater nicht verstand. Er drehte das Heft um und fing am anderen Ende an zu schreiben.[…] So schrieb er zum Beispiel: „Die Meeresströmungen sind etwas Einmaliges und Wunderbares, dem man noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hat“, oder: „Die Wellenbewegung ist etwas, das immer unser Staunen erregen wird…“, und dann liess er das Heft sinken und verlor sich in Empfindungen. ( MWI 136ff) Das Zitat liefert lediglich Muster des eigentlichen Inhalts von Pappans Arbeit. Dennoch wird die epistemische Art des Schreibprojekts deutlich. Der gewählte wissenschaftliche Duktus und die verwendeten Phrasen weisen unmissverständlich auf das gewählte Genre hin. Weiter wird durch die verwendete Sprache das Bild eines kompetenten und akademischen Autors gezeichnet. Die bruchstückhafte Darstellung der formalen Charakteristiken des Inhalts findet sich bereits in Farlig midsommar . Der Leuchtturmwärter „erscheint“ am Ende der Erzählung ein weiteres Mal in Form von Schriftzeichen. Muminvater erblickt sie kurz vor dem geplanten Geburtstagsfest für den Fischer im Leuchtturm: „Han lyfte på en tomlåda som låg ovanpå gastuberna och stannade mit i rörelsen. Här fanns en vers som pappan inte hade sett, fyrvaktarens spindelord vandrade över väggen med långa ensliga mellanrum“. ( PH 200f) „Er hob eine leere Kiste hoch, die auf der Gasflasche lag, und hielt mitten in der Bewegung inne. Vor ihm an der Wand stand ein Vers, den er bis jetzt noch nicht gesehen hatte, die dünnen krakeligen Wörter des Leuchtturmwärters wanderten mit langen Zwischenräumen über die Mauer.“ ( MWI 225). Durch das plötzliche Erscheinen - nie wird der Leuchtturmwärter beim Schreiben beschrieben - mutet die Schreibszene beinahe spiritistisch an. Die spiritistische Schreibszene bietet sich geradezu an, „die Ereignishaftigkeit des Schreibens gegen die Repräsentationsfunktion der Schrift auszuspielen - also: das ,dass‘ des Schreibens gegenüber dem ,was‘ des Geschriebenen zu privilegieren.“ 70 Im Falle Muminpappans bedeutet dies: Das plötzliche Erscheinen der Schrift an der Wand ist es, was Muminpappan erschreckt, nicht in erster Linie was geschrieben steht. Der Vers enthält das Geburtsdatum des Leuchtturmwärters, eine zentrale Information, um das Rätsel um den Fischer zu lösen beziehungsweise die beiden als ein und dieselbe Person zu identifizieren. Auf dem Geburtstagsfest, welches die Muminfamilie für den Fischer / Leuchtturmwärter ausrichtet, kommt es schliesslich zum grossen Finale. Als Geschenk erhält der Fischer / Leuchtturmwärter Pappans alten Hut. Symbolträchtig tauschen 70 Kammer, Stephan. Ereignis / Beobachtung. Die Schreibszenen des Spiritismus und die Medialität des Schreibens. In: Giuriato, Davide et al. (Hrsg.). „Schreiben heisst: sich selber lesen.“ Schreibszenen als Selbstlektüren . (Zur Genealogie des Schreibens 9). München: Fink 2008, S. 47. <?page no="108"?> 108 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) die beiden ihre Hüte, wodurch sie auf schier magische Weise wieder in ihre ursprünglichen Rollen zurückversetzt werden. 3.3.2. Der Wissenschaftler a) Schreiben - ordnen - experimentieren Der Schreibprozess unterscheidet sich von den bereits geschilderten vor allem dadurch, dass er nicht von einer Vortragssituation begleitet wird. Im Gegenteil, er findet im Verborgenen statt und ist etwas äusserst Intimes. So sucht sich Pappan meist einsame Plätze in der Natur, um zu schreiben. Entsprechend spärlich und allgemein sind Pappans Aussagen zum Inhalt seiner Arbeit und über deren Voranschreiten. Erneut kommt Mamman im Schreibprozess eine ganz spezielle Rolle zu. Sie ist Pappans einzige Vertraute, der er von seinen Schreibplänen erzählt. Mit ihr spricht er während der Arbeit an seiner Abhandlung über deren gedeihen: Har du fått ihop mycket material? frågade mamman. Massor. Men det behövs lika mycket till innan jag ens kan börja på min avhandling. Pappan lutade sig fram över bordet i plötsligt förtroende: Jag vill veta om havet verkligen är illvilligt eller om det bara måste lyda. ( PH 145) „Hast du schon viel Material beisammen? “, fragte die Muminmutter. „Eine Menge. Aber ich brauche doppelt so viel, bevor ich meine Abhandlung auch nur anfangen kann.“ Der Muminvater beugte sich vertraulich über den Tisch: „Ich will wissen, ob das Meer tatsächlich böswillig ist oder ob es bloss gehorchen muss.“ ( MWI 163) Ähnlich wie in Muminpappans memoarer erlangt das Schreibprojekt auch hier eine ganz existenzielle Bedeutung für Pappan: „Han måste komma underfund med havet för att kunna tycka om det och för att kunna bibehålla respekten för sig själv“. ( PH 165) „Er musste dem Meer auf die Schliche kommen, um es gern haben zu können und um seine Selbstachtung zu bewahren.“ ( MWI 186). Seine Untersuchungen werden zu einer regelrechten Obsession, mit der er eine ungesunde Symbiose eingeht. Statt Lösungen zu generieren, isolieren ihn seine Tätigkeiten noch mehr von seinem Umfeld. „Die Literatur wirkt an diesem Punkt wie eine Kontraktion. Sie zieht sich ganz und gar auf Bücher zurück. Bücher in Büchern repräsentieren nicht mehr Teilbereiche des Lebens, sie sind das Leben.“ Entsprechend entstehen laut Uwe Japp „[…] bizarre Buchmenschen, deren Leben einzig noch im Umgang mit Büchern Sinn zu haben scheint.“ 71 Damit beschreibt Japp die Konsequenzen der angesprochenen Symbiose Pappans mit seinen Untersuchungen. Folgendes Zitat beschreibt aus der Perspektive Mammans, wie Pappan im Nebel beziehungsweise in seiner Arbeit, versinkt - physisch während der Feldarbeit, ebenfalls aber ist es ein psychischer Rückzug in sich selbst: Mamman såg honom dyka upp och dyka in i dimman igen med nosen tankfullt sänkt mot magen. Hon tänkte: Han samlar material. Så sa an. Kanske hela häftet är fullt av material. Vad det ska bli skönt när han har samlat färdigt! Hon räknade upp fem randiga karameller på ett tefat. Sen ställde hon det på pappans hylla i berget som en uppmuntran i arbetet. ( PH 123f) Die Muminmutter sah ihn aus dem Nebel auftauchen und wieder im Grau verschwinden, die Schnauze immer nachdenklich nach unten gesenkt. Er sammelt Material, dachte sie. Das hat er 71 Japp 1975, S. 660. <?page no="109"?> 3.3. Pappan och havet 109 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) gesagt. Vielleicht ist das ganze Heft voller Material. Ich bin froh, wenn er fertig gesammelt hat! Sie reihte fünf gestreifte Bonbons auf eine Untertasse und stellte sie auf den Felsensims, als Ermunterung für seine Arbeit. ( MWI 139) Geschieht der eigentliche Schreibakt im Verborgenen, so sind seine Handlungen als Wissenschaftler, also etwa seine Untersuchungen, die Suche nach Material im Sinne von Inhalt, deutlich sichtbar für sein Umfeld. Entsprechend sieht man Pappan hier auch nie mit Papier und Stift abgebildet, jedoch aber in seinem Boot auf dem Gumpen bei seinen Untersuchungen. 72 Nicht nur, ist der folgende Textauszug der längste, der ausschliesslich von Pappans Arbeit handelt, sondern anhand dieses Abschnitts lassen sich auch elementare Grundpfeiler seines Daseins als Wissenschaftler ablesen: Vaxdukshäftet var nästan fullt av funderingar om havet. Nu hade han skrivit en alldeles ny rubrik, Havets Förändringar om Natten, och dragit ett streck under den. Pappan stirrade länge på det tomma papperet som stormen försökte rycka ur tassarna på honom. Han suckade och bläddrade tillbaka till sidan 5 som han var mycket svag för. Där hade han funderat ut att svarta gloet var förenat med havet i en svindlande djup tunnel, se bilden, och det var genom den som skatter, whisky och skelett hade åkt ner, tyvärr. Den rostiga kanistern hade av en händelse hamnat på kanten vid A. Om nu någon eller något som vi kallar X stod nere på bottnen vid B och blåste eller drog in vatten så måste ju vattnet stiga och sjunka så att det såg ut som sjön andades. Vem var X? Ett havsodjur. Detta kunde emellertid inte bevisas. Sjön hänfördes alltså till kapitlet om Antaganden som blev längre och längre. I kapitlet Fakta hade pappan konstaterat att vattnet var kallare längre ner. Det visste han ju förut, man behövde bara sticka ner benen, men den här gången var saken bevisad med en sinnrikt konstruerad flaska. Korken pressades ner i halsen av vattentrycket när man drog upp flaskan igen. Vidare, vatten är tungt och salt. Det är tyngre längre ner men mera salt vid ytan. Bevis; de grunda saltvattenspottarna. De är mycket salta. Och tyngden känner man om man dyker. Tången slår upp i läsidan och inte i lovart. Om man slänger en plankbit ut i stormen från fyrberget far den inte iland utan seglar runt ön ett stycke från stranden. Om man håller ett bräde mot horisonten ser det ut som om horisonten rundade sig. Vattnet stiger när det blir dåligt väder men ibland kan det göra tvärtom. Var sjunde våg är väldigt stor, men nån gång kan det vara den nionde och ibland är det ingen ordning alls. Vart går de breda stormvägarna av vitt skum och hur kommer de till? Varför? Allt detta och en massa andra saker försökte pappan hitta orsaken till men det var mycket svårt. Han blev trött och ovetenskaplig och skrev: En ö har inga broar och inga staket så man kan varken släppas ut eller stängas in. Det betyder alltså att man känner sig…Nä. Pappan drog ett svart streck över funderingen. Han övergick till det magra kapitlet med Fakta. Nu kom den igen, den hisnande tanken att havet inte hade några lagar alls. Han avvisade den hastigt. Han ville förstå. ( PH 163ff) Das Wachstuchheft war inzwischen fast voll geschrieben, lauter Gedanken über das Meer. Jetzt hatte er einen neuen Abschnitt angefangen. Die nächtlichen Veränderungen des Meeres lautete die nachdrücklich unterstrichene Überschrift. Lange starrte er das leere Blatt Papier an, das der Sturm ihm aus den Pfoten zu reissen versuchte. Er seufzte und blätterte zur Seite fünf zurück, für die er eine besondere Schwäche hatte. Dort hatte er ausgerechnet, dass der Schwarze Gumpen durch einen ungeheuer tiefen Tunnel mit dem Meer verbunden war, siehe Abbildung, und dass alle Schätze, Whiskykisten und Skelette durch diesen Tunnel davongerutscht waren, leider. Der rostige Kanister war durch Zufall bei Punkt A am Rand des Tunnels gelandet. Wenn nun jemand oder etwas, das wir 72 Jansson, Tove. Pappan och havet [1969]. Stockholm: Alfabeta 2010b, S. 121. <?page no="110"?> 110 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) X nennen wollen, unten bei B auf dem Grund stand und das Wasser auspustete oder einsog, musste das Wasser ja so steigen und sinken, dass es den Anschein erweckte, der Gumpen würde atmen. Wer war X? Ein Meeresungeheuer? Das liess sich jedoch nicht beweisen. Der Gumpen wurde also dem Kapitel Vermutungen zugeordnet, das immer länger wurde. Im Kapitel Tatsachen hatte der Vater festgestellt, dass das Wasser tiefer unten kälter war. Das wusste er zwar schon vorher, man brauchte ja bloss die Beine ins Wasser zu stecken, aber diesmal wurde die Sache durch eine sinnreich konstruierte Flasche bewiesen. Der Korken wurde vom Wasserdruck in den Flaschenhals gepresst, wenn man die Flasche wieder heraufzog. Des Weiteren: Das Wasser ist schwer und salzig. Tiefer unten ist es schwerer, an der Oberfläche dafür salziger. Beweis: die seichten Felspötte voller Salzwasser. Die sind sehr salzig. Und das Gewicht des Wassers spürt man beim Tauchen. Der Tang treibt auf der Leeseite an Land und nicht an der Luvseite. Wirft man ein Stück Holz vom Leuchtturmfelsen in den Sturm hinaus, treibt es nicht an Land, sondern segelt in einer gewissen Entfernung vom Ufer um die ganze Insel. Hält man ein Brett gegen den Horizont, sieht es aus, als wölbe sich der Horizont. Bei schlechtem Wetter steigt das Wasser, manchmal macht es auch das genaue Gegenteil. Jede siebte Welle ist besonders gross, aber ab und zu ist es auch die neunte, und manchmal gibt es gar kein System. Wohin ziehen die breiten Sturmwege aus weissem Schaum und wie entstehen sie? Warum? Auf alle diese und noch viel mehr Fragen versuchte der Muminvater Antworten zu finden, doch das war sehr schwierig. Er wurde müde und unwissenschaftlich und schrieb: „Eine Insel hat keine Brücken und keine Zäune, daher kann man weder hinausgelassen noch eingesperrt werden. Das bedeutet also, dass man das Gefühl hat…” Nein. Der Muminvater zog einen schwarzen Strich durch diese Überlegung und wandte sich dem mageren Kapitel Tatsachen zu. Und da tauchte er wieder auf, dieser Schwindel erregende Gedanke, dass das Meer überhaupt keinen Gesetzen unterworfen war. Der Muminvater wies ihn sofort von sich. Er wollte verstehen. ( MWI 183fff) Pappans Arbeit festigt sich formal und offenbart sich hier als ein in verschiedene Kapitel gegliedertes, wissenschaftliches Werk. Zwei Grundpfeiler seiner Analyse scheinen die Kapitel Antaganden „Vermutungen“ und Fakta „Fakten“ auszumachen, wobei jedoch ersteres Kapitel stetig wächst, während ironischerweise letzteres nur spärlich mit Inhalt bestückt ist. In Felix Steiners Terminologie zeigt sich Pappan hier als Ordner, der entsprechend ordnungsindizierende Handlungen vornimmt: Durch solche metatextuellen Markierungen wird es dem Adressaten möglich, Text als strukturierte, kohäsive, autorschaftlich geplante und geordnete Einheit wahrzunehmen. Ordnungsindizierende Handlungen sind Bezugnahmen auf die Ordnung des Textes, etwa mit der Funktion den Beginn und das Ende eines Textes anzukündigen, die relative Relevanz einer Sequenz zu indizieren oder die Gliederung (explizierte Struktur) eines Textes anzuzeigen. 73 Noch ausgeprägter wird Pappan nach Steiners Terminologie auch als Experimentator präsentiert. „Das globale Thema aller, die wissenschaftliche Erzählerfigur konstituierenden Markierungen ist die Darstellung des agierenden Wissenschaftlers in seiner ,Herstellerrolle‘“. 74 Im obigen Textausschnitt werden verschiedene von Pappan entwickelte Denkmodelle und Versuche en détail beschrieben. Eine Seite scheint ihm dabei besonders geglückt. Darauf entwickelt er eine These zur Erklärung der Bewegung des Meeres. Die Ausführungen sind gar mit einer Zeichnung ergänzt, auf die an anderer Stelle ausführlich eingegangen wird. 73 Steiner, Felix . Dargestellte Autorschaft. Autorkonzept und Autorsubjekt in wissenschaftlichen Texten . (Reihe Germanistische Linguistik 282). Tübingen: Niemeyer 2009, S. 238. 74 Ebd., S. 245. <?page no="111"?> 3.3. Pappan och havet 111 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Es folgen schliesslich Aufzählungen und Kommentare von weiteren durchgeführten Experimenten. So etwa zur Verifizierung der Wassertemperatur in den verschiedenen Schichten. Ähnlich ausführlich ist er in der Beweisführung betreffend des Gewichts und des Salzgehalts des Wassers: „[…] han draggar, söker, mäter, skriver, funderar.“ „Er erkundet den Meeresboden, sucht, misst, schreibt und denkt.“, fasst Boel Westin die ganze Aktivitätenpalette zusammen. 75 Ferner betont Westin auch die enorme Bedeutung all dieser Aktivitäten in seiner Identitätsfindung als Künstler: „Han är författaren, som skriver fram sig själv genom anteckningar, utforskningar, fragment under arbetet med sin avhandling.“ „Er ist der Autor, der sich selbst hervorschreibt, durch Aufzeichnungen, Erforschungen, Fragmente während der Arbeit mit seiner Abhandlung.“ 76 Aus denselben Gründen plädiert auch Felix Steiner für ein Starkmachen dieser Handlungen, die die Schreibarbeit auf einer performativen Ebene veranschaulichen: Der Eindruck domänentypischer Gestaltungsansprüche in wissenschaftlichen Texten[…] [ist bestimmt] […] durch die Enunziation von Handlungen, die das Bild einer Autorinstanz aufbauen, die für die Ordnung des Textes, für die Durchführung von technischen Handlungen, für die Beobachtung, für Erklärungen verantwortlich ist. 77 Wie bei den behandelten Definitionen der Schreibszenen sind also auch hier Handlungen für die Konstituierung einer Schreibszene zentral. Die Bedeutung solcher Tätigkeiten tut Pappan auch seinem Umfeld kund. Pappans Entrüstung ist gross, als der Kalender, Sinnbild für die Utensilien, die er für seine Untersuchungen benötigt, plötzlich verschwunden ist. Sein Sohn hat ihn genommen und wird dafür gerügt. Ausserdem führt Pappan bei dieser Gelegenheit die Wichtigkeit von solchen Hilfsmitteln für seine Arbeit aus: Det finns vissa saker som är mycket viktiga på en öde ö, sa hans pappa. Observationer i synnerhet, man måste föra ett slags loggbok över allting, iaktta allt - ingenting får lämnas åt slumpen. Tid, vindriktning, vattenstånd, allt. Du får lov att hänga upp väggalmanackan igen med detsamma. ( PH 132) „Es gibt gewisse Dinge, die sind auf einer einsamen Insel sehr wichtig“, sagte sein Vater. „Dazu gehören besonders alle Beobachtungen! Man muss eine Art Logbuch führen - nichts darf dem Zufall überlassen werden. Zeiten, Windrichtungen, Wasserstände, einfach alles. Du musst den Wandkalender sofort wieder aufhängen.“ ( MWI 148) Neben diesen Dokumentationen seines wissenschaftlichen Tuns entwickelt sich das Heft zum Ort der Reflexion seiner persönlichsten Gedanken, wird zum Medium des Diskurses mit sich selbst. Deutlich wird jedoch das Vorhandensein einer intensiven Introspektion, wo Pappan nicht nur die Geheimnisse der Insel, sondern auch seine Beziehung zu Mamman beobachtet und reflektiert. Dort offenbart sich sein psychologisches Inneres: Men pappan skrev i sitt häfte: Kunde det tänkas att vissa fakta förändras bara därför att det är natt? Undersök detta; vad gör havet på natten. Observation; min ö var mycket annorlunda i mörkret, dvs. A, vissa egendomliga ljud och B, något som utan tvivel var rörelser. Pappan lyfte pennan och blev tveksam. Han fortsatte. Parentes, är det möjligt att en stark känsla, alltså hos en själv, kan 75 Westin 2007, S. 390. 76 Ebd., S. 386. 77 Steiner 2009, S. 251. <?page no="112"?> 112 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) förändra hela omgivningen? Exempel, jag var verkligen mycket orolig för Mumintrollets mamma. Undersök detta. ( PH 156f) Währenddessen schrieb der Muminvater in sein Heft: „Kann es sein, dass gewisse Tatsachen sich verändern, nur weil es Nacht ist? Folgendes untersuchen: Wie verhält sich das Meer in der Nacht. Beobachtung: Meine Insel benimmt sich in der Dunkelheit völlig anders, d. h., A: gewisse eigenartige Geräusche, und B: etwas, das zweifelsohne als Bewegung bezeichnet werden kann.“ Er hob den Bleistift, zögerte, dann fuhr er fort: „In Klammern: Ist es möglich, dass ein starkes Gefühl, also bei einem selbst, die ganze Umgebung verändern kann? Beispiel: Ich habe mir wirklich grosse Sorgen um die Muminmutter gemacht. Dies untersuchen.“ ( MWI 176) Das Buch als Ort der Selbstreflexion ist für das hier gewählte Genre naheliegend, da darin die Grundstruktur der Argumentation von Pappans Gedanken widergegeben wird. Sie ist somit ebenfalls Ausdruck einer intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Denken und für Pappan gar unabdingbarer Bestandteil der Lösungsfindung. Felix Steiner äussert sich hierzu wie folgt: Denkprozessen wie Überlegen und Begründen liegen[…] Formen des „Mitsichredens“ zugrunde, das heisst: Der Überlegende bezieht, indem er „mitsichredet“, seine Perspektive auf die Perspektive eines generalisierten Partners und geht in dieser Weise „mit sich zurate“. 78 b) Operative Bildhaftigkeit Pappans Zeichnung wurde bereits angesprochen. 79 Sie ist zweigeteilt. Einerseits ist ein Querschnitt des Gumpens zu sehen. Darauf deutlich zu erkennen ein Tunnel, der das Meer und den Gumpen verbindet. An einem Ende eingezeichnet das Seeungeheuer, welches für die Bewegung des Wassers verantwortlich sein soll. Ebenfalls eingezeichnet der Kanister, eines von Pappans Fundstücken. Die zentralen Elemente sind mit Buchstaben markiert, deren Bedeutung in einer Legende erläutert wird. Schliesslich ist auch Pappan selbst auf dem Bild zu sehen, deutlich erkennbar am Hut. Er befindet sich in einem Boot auf dem Wasser. Andererseits sieht man auf der unteren Hälfte den Gumpen aus der Vogelperspektive. Hinzugefügt sind Angaben über die Wassertiefe, dargestellt mit unterschiedlichen Schraffierungen beziehungsweise Punkten. Deren Bedeutung wird ebenfalls in einer Legende entschlüsselt. Die genaue Bedeutung der Zahlen, die auf dem Bild auch zu sehen sind, wird hingegen nicht aufgelöst. Hinzugefügt wurden ausserdem Details wie das Skelett und die Whiskyflaschen. Gegenstände, die klassischerweise in Karten von Abenteuerromanen zu finden sind. Ihnen kommt in der Erzählung eine Bedeutung zu. Die Darstellung entspricht naturwissenschaftlichen Traditionen, wie auch Elina Druker betont: „The texts are embedded in the image, following literary and pictorial conventions relating to instructive and encyclopaedic texts and images.“ 80 Dieter Mersch bezeichnet die Zeichnung gar als „Kernbestand epistemischer Bildpraktiken“ sowohl in der Kunst, wie auch in den Wissenschaften: Was ein Ding ist und es zu einem bestimmbaren und damit auch be-zeichenbaren (und zeichnenbaren ) macht, ist seine Form, die es zugleich als dieses ausweist. So übernimmt die Form, die 78 Steiner 2009, S. 82. 79 Jansson 2010b, S. 164. 80 Druker 2007, S. 75. <?page no="113"?> 3.3. Pappan och havet 113 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) sichtbare Gestalt, in der Zeichnung die Funktion des Als im Sinn einer Bestimmung von Etwas als etwas […]. 81 In diesem Sinne ist Pappans Zeichnung eine typische Methode des wissenschaftlichen Arbeitens zum Erkenntnisgewinn. Sybille Krämer untersucht Graphen als eine Form von Schriftbildlichkeit. Graphen, Diagramme oder Karten sammelt sie unter dem Begriff „operative Bilder“ und grenzt sie so von den Bildern der Kunst ab. Operative Bilder entstehen, so Krämer, durch das „Zusammenspiel von Punkt, Linie und Fläche.“ 82 Sichtbar werde in derartigen Darstellungen eine Dimension von Schrift, die nur bedingt verlautierbar ist, ähnlich etwa wie die Formelsprache in der Mathematik. Dabei nennt Krämer „die Bewusstwerdung der künstlerischen und wissenschaftlichen Funktionen von Schriften“ eine der vermutlich „aufregendsten Entdeckungen geisteswissenschaftlicher Forschung im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts.“ So kommen Schriften „als Instrumente zum Einsatz, mit denen ein Zusammenspiel von Auge, Hand und Geist schöpferische Akte ausprobiert und realisiert werden können, seien sie nun künstlerischer oder wissenschaftlicher Natur.“ 83 Oberstes Ziel dabei ist ein Erkenntnisgewinn, wie auch Christina Ljungberg betont: Diagrams are spatial embodiments of knowledge with a peculiar potential to stimulate new cognitive engagements.[…] Given that these activities all have to do with projection and imagination, with disruptions and efficacies, they are also intimately connected with the way we produce and process texts. 84 Zeichentheoretisch entspricht dies der Vorstellung „einer symbolischen Erkenntnis, die dem Ideal folgt, dass Erkenntnisgegenstände stets in Gestalt sinnlich sichtbarer wie auch handhabbarer Zeichen gegeben sind.“ 85 Entsprechend ist etwa die Linie nicht nur als „Spur einer Geste“, sondern vor allem auch als „eigenständiger Entwurf einer Welt“ zu betrachten. 86 In Pappans Fall ist die Darstellung der Versuch einer Definition der Ordnung des Meeres. Mersch bezieht sich auf die Lehre des Disegnio , wenn er postuliert, dass laut dieses Konzepts durch die Linie der „ Prozess des visuellen Denkens zwischen Vorstellung und Gestaltung“ bezeichnet wird. 87 Dies offenbart sich in Pappans Skizze ebenfalls deutlich. 3.3.3. Zusammenfassung In Pappan och havet entspringt der Wunsch zum Schreiben einer tiefen Verzweiflung. Das Schreibprojekt, eine Abhandlung über das Meer, soll endlich Antworten liefern auf Pappans zahlreiche Fragen. Ziel ist die Materialisierung einer neuen Ordnung, die zwar nicht nur auf dem Papier konzipiert wird, sondern sich dort schliesslich in Wort und Schrift zu einem 81 Mersch, Dieter. Schrift / Bild - Zeichnung / Graph - Linie / Markierung. Bildepisteme und Strukturen des ikonischen „Als“. In: Krämer, Sybille et al. (Hrsg.). Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen . (Schriftbildlichkeit 1). Berlin: Akademie 2012, S. 312. 82 Krämer, Sybille. Punkt, Strich, Fläche. Von der Schriftbildlichkeit zur Diagrammatik. In: Krämer, Sybille et al. (Hrsg.). Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen . (Schriftbildlichkeit 1). Berlin: Akademie 2012, S. 82. 83 Ebd., S. 80 f. 84 Ljungberg, Christina. Creative Dynamics. Diagrammatic strategies in narrative . (Iconicity in Language and Literature 11). Amsterdam und Philadelphia: John Benjamins 2012, S. 5. 85 Krämer 2012, S. 96. 86 Ebd., S. 85. 87 Mersch 2012, S. 311. <?page no="114"?> 114 3. Zur Inszenierung des Schreibens DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) wissenschaftlichen Werk formiert. Als Wissenschaftler unterliegt Pappan nicht geisteswissenschaftlichen Paradigmen, sondern ist naturwissenschaftlichen Gesetzmässigkeiten verpflichtet. Es entsteht ein Buch, das sowohl dem Verfasser wie auch dem potenziellen Leser in erster Line dem Erkenntnisgewinn dienen soll. Der eigentliche Schreibprozess vollzieht sich im Verborgenen, äussert sich jedoch auf einer performativ-materiellen Ebene durch dessen Feldforschungen, die ausführlich beschrieben werden. Die daraus resultierenden Ergebnisse sind es, welche den Inhalt der geplanten Abhandlung speisen. Entsprechend ausführlich wird Pappans Suche nach Material geschildert. Schliesslich wird das wissenschaftliche Schreiben ebenfalls als eine Form des literarischen Schreibens dargestellt. Pappan als Autor trifft mehrmals auf den Leuchtturmwärter als Autor, der sich in Form von Schriftzeichen an der Wand zeigt. Die Figur des Leuchtturmwärters ist einerseits als Pappans Antipode konstruiert, weil er über Fähigkeiten verfügt, die dieser gerne hätte (das Licht des Leuchtturms entfachen). Bei genauerer Betrachtung zeigt er sich andererseits insofern auch als eine Art Doppelgängerfigur, als dass die beiden durch die Affinität zum Schreiben stark verbunden sind. Überdeutlich wird dies, wenn sich die beiden Autorfiguren denselben Schriftträger teilen, das Heft, welches Pappan im Leuchtturm findet. Sowohl in Pappans persönlichem Schreibprojekt wie auch in der Interaktion mit dem Leuchtturmwärter agiert das Buch in besonderem Masse „medial“ im Sinne von „vermittelnd“. Die im Kapitel analysierten Schreib- und Leseszenen zeigen eine profilierte Reflexion zu unterschiedlichsten Aspekten der Produktion und Rezeption verschiedener Literaturgattungen. „Hon byter genre, berättarperspektiv och tematiserar författandet som process, minne och självkaraktäristik“ „Sie wechselt Genre, Erzählperspektive und thematisiert Autorschaft als Prozess, Erinnerung und Selbstcharakterisierung“, resümiert Westin Tove Janssons Attitude diesbezüglich. 88 Daraus ergibt sich ebenfalls eine facettenreiche Auseinandersetzung mit der Materialität des Schreibens als kreativer Schaffensakt. In einem stofflichen Sinne äussert sich dies anhand der Bedeutung, die den Schreibwerkzeugen zugesprochen wird. Wiederholt werden Stift und Papier erwähnt. Sie sind gar bei den Abbildungen Pappans als Autor als zentrale Attribute dabei. In Farlig midsommar , wo Geschriebens aufgeführt wird, also ein Medienwechsel stattfindet, wurde das physische Erscheinungsbild des Theaters prominent verhandelt. Dabei ist Materialität etwas, das überwunden werden muss in dem Sinne, als dass sie als Blendwerk erscheinen kann und somit Begriffe wie „Realität“ und „Fiktion“ problematisiert. In Pappan och havet wird, wie oben erwähnt, die Suche nach dem Material inszeniert, das für das geplante Werk benötigt wird. Die Suche nach Material wird jedoch nicht nur in einem stofflichen Sinn wie in Pappan och havet gezeigt, sondern ebenfalls auf einer poetologischer Ebene. Zu den Begriffen „Realität“ und „Fiktion“ beziehungsweise zu seinem Material (seiner Lebensgeschichte) muss sich Pappan in Muminpappans memoarer als Autobiograf verhalten, im Spannungsfeld von Künstlertum und Kommerzialisierung. In Farlig midsommer ist der Stoff seines Werks ein Drama nach antikem Vorbild, mit dem sich Pappan auseinandersetzen muss. Die geschilderten Schreibprozesse reflektieren so die Rolle des Schriftstellers sowie die Literatur als Kunstform. Die untersuchten Muminbücher sind somit weit mehr als Genreparodien, als die sie so häufig gelesen werden, sie sind auch die Erzählungen ihrer eigenen Entstehung. 88 Westin 2007, S. 248. <?page no="115"?> 3.3. Pappan och havet 115 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 4. Das Buch als Artefakt Die Beschäftigung mit dem Buch als Objekt beziehungsweise Artefakt impliziert auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, was ein Buch als solches konstituiert, also mit der Problematik seiner Definition. Ursula Rautenberg und Dirk Wetzel verstehen darunter ein „materielles Objekt der Alltagskultur […], das aus einer Anzahl von zweiseitig bedruckten Blättern meist aus Papier besteht, die durch Bindung, Heftung oder Klebung mit einem Einband oder Umschlag verbunden sind.“ 1 Jedoch, nicht jeder für die Öffentlichkeit verfasste Text könne als Buch deklariert werden, wird weiter postuliert. Ein wichtiges Kriterium dafür sei etwa der Umfang. 2 Um zu bestimmen, was ein Buch ist, ist also eine Unterscheidung zwischen den Begriffen „Buch“ und „Text“ unerlässlich. Jürgen Nelles sieht jedoch folgende Schwierigkeit in diesem anspruchsvollen Unterfangen: Das Problem, die Einheit des Buches und vor allem seine Grenzen zu fixieren und zu definieren, resultiert vor allem aus der Schwierigkeit, Kriterien für das anzuführen, was ein Buch in seiner Materialität ausmacht, und dem, was man seinen immateriellen Gehalt nennen könnte. 3 Die Frage „Wann ist ein Buch ein Buch? “ beantwortet Gérard Genette mit dem Konzept des Paratexts. Der Paratext, so Genette, ermögliche dem Text die Gestalt eines Buchs. 4 Dieser Argumentation folgend, müsste der korrekte Untertitel für Genettes Werk Paratext, das Buch vom Beiwerk des Buches laut Nelles das Buch vom Beiwerk des Textes lauten . 5 Doch auch Genette bietet mit dem Paratext kein Instrumentarium, mit dessen Hilfe eine klare Grenze zwischen Buch und Text gezogen werden könnte. Vielmehr wird der Paratext als „Schwelle“ bezeichnet, als Ort der „Transaktion“ im Sinne von „Vermittlung“. Entsprechend rekurriert Genette damit nicht auf die Gegenständlichkeit des Buchs, sondern auf „Diskurse“. 6 Hervorgehoben wird demnach die Funktion der Selbstdarstellung, die Selbstreferenzialität, welche der Paratext inne hat, und die im hiesigen Kontext ebenfalls besonders fruchtbar erscheint. Herbert Kalthoff et al. verdeutlichen dies wie folgt: […] Was Objekte jeweils sind, was sie darstellen und was sie leisten können, ergibt sich aus ihren materiellen und immateriellen Rahmungen. Somit stehen Objekte im Spannungsfeld verschiedener Rahmungsdynamiken, die ihren Handlungssinn mit erzeugen und ihre praktische Wirkkraft mit hervorbringen. 7 Der Paratext stellt einen solchen Rahmen dar. Die Frage, welche im folgenden Kapitel untersucht werden soll, wird somit zur Frage nach der Art der Inszenierung des Kunst- 1 Rautenberg, Ursula und Dirk Wetzel. Buch . (Grundlagen der Medienkommunikation 11). Tübingen: Niemeyer 2001, S. 1. 2 Vgl. Ebd., S. 8. 3 Nelles 2002, S. 63. 4 Vgl. Genette 2001, S. 9. 5 Vgl. Nelles 2002, S. 68. 6 Genette 2001, S. 10. 7 Kalthoff, Herbert et al. Einleitung: Materialität in Kultur und Gesellschaft. In: Ders. (Hrsg.). Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften . Paderborn: Fink 2016, S. 14. <?page no="116"?> 116 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) werks als Buch. Laut Bill Brown soll ein Kunstwerk nicht lediglich ein Objekt darstellen, sondern zu diesem Objekt werden: […] to imagine the work of art as a different mode of mimesis - not one that serves to represent a thing, but one that seeks to attain the status of a thing - is a fundamental strain of modernism […]. The question of things becomes a question about whether the literary object should be understood as the object that literature represents or the object that literature has as its aim, the object that literature is. 8 Für die nachfolgende Untersuchung bestätigt das Zitat: Der Paratext hat, wie erwähnt, als Ort der Transaktion massgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung des Kunstwerks. Im vorliegenden Fall auf die Wahrnehmung des Kunstwerks als Buch. Erika Fischer-Lichte verfolgt ähnliche Überlegungen wie Brown wenn sie feststellt: In der Selbstreferentialität fallen Materialität, Signifikant und Signifikat zusammen. Die Materialität fungiert nicht als ein Signifikant, dem dies oder jenes Signifikat zugeordnet werden kann. Vielmehr ist die Materialität zugleich als das Signifikat zu begreifen, das mit der Materialität für das wahrgenommene Subjekt, das sie als solche wahrnimmt, immer schon gegeben ist. Die Materialität des Dings nimmt, tautologisch gesprochen, in der Wahrnehmung des Subjekts die Bedeutung seiner Materialität an, das heisst seines phänomenalen Seins. Das Objekt, das als etwas wahrgenommen wird, bedeutet das, als was es wahrgenommen wird. 9 Der Paratext besteht einerseits aus dem Peritext, andererseits aus dem Epitext. Der Peritext ist im unmittelbaren Umfeld des Texts angesiedelt und beinhaltet Kategorien wie: Titel, Widmungen, Kapitelüberschriften, Prologe, Epiloge, Fussnoten und Klappentexte. Der Epitext hingegen konstituiert sich beispielsweise aus Interviews, Tagebüchern oder Briefen. 10 Christoph Jürgensen weist auf das Fehlen einer umfassenden literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Paratext hin. Vielmehr widmete man sich lediglich einzelnen Elementen. Dabei sei bis anhin vor allem die Kategorie des Titels bevorzugt behandelt worden. 11 Auch im Bereich der Kinderliteratur allgemein wurden die Paratexte, vor allem in ihrer Gesamtheit betrachtet, bis anhin eher stiefmütterlich behandelt. Ausnahmen diesbezüglich bilden etwa Ulla Rhedin und Maria Nikolajeva und Carole Scott. Rhedin beleuchtet in ihrer Arbeit Bilderboken, på väg mot en teori (2001) „Das Bilderbuch, auf dem Weg zu einer Theorie“ paratextuelle Elemente wie auch Nikolajeva und Scott in ihrem Grundlagenwerk How picturebooks work (2006) . Nachfolgend werden nicht nur einzelne paratextuelle Elemente betrachtet, sondern der Blick wird bewusst auf den paratextuellen Rahmungsapparat als Ganzes gerichtet. Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Frage wird eruiert, welche paratextuellen Rahmungselemente Jansson verwendet, wie diese inhaltlich konzipiert sind und welche Effekte damit erzielt werden. Diese Fragen werden anhand des genetteschen Fragekatalogs beantwortet, den er wie folgt beschreibt: 8 Brown, Bill. A sense of things. The object matter of american literature . Chicaco und London: The University of Chicago Press 2003, S. 3. 9 Fischer-Lichte 2004, S. 245. 10 Vgl. Genette 2001, S. 12. 11 Jürgensen, Christoph. „ Der Rahmen arbeitet“. Paratextuelle Strategien der Lektürelenkung im Werk Arno Schmidts . (Palaestra Untersuchungen zur europäischen Literatur 328). Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2007, S. 12. <?page no="117"?> 4.1. Titel 117 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Definiert wird ein Paratextelement durch die Bestimmung seiner Stellung (Frage wo? ), seiner verbalen oder nichtverbalen Existenzweise ( wie? ), der Eigenschaften seiner Kommunikationsinstanz, Adressant und Adressat ( von wem? an wen? ), und der Funktionen, die hinter seiner Botschaft stecken: wozu? 12 Schliesslich soll sich die Untersuchung ebenfalls erhellend auf die Frage nach den Muminbüchern als Gesamtkunstwerk auswirken. Untersuchungsmaterial sind die jüngsten Versionen der Muminbücher. In der Analyse wird in der Reihenfolge vorgegangen, wie die einzelnen Paratexte im Buch anzutreffen sind. 4.1. Titel Als wohl prominentestes und auch optisch präsentestes paratextuelles Rahmungselement soll der Titel in erster Linie Interesse wecken und den potenziellen Leser zum Kauf animieren. Beim behandelten Korpus findet sich der Titel viermal. Auf dem Cover, dem Schmutztitel, dem Titelblatt und dem Buchrücken. „Sieht man vom Buchdeckel ab, stellt der Titel die äussere Grenze des Werkes dar, weil er den Eigennamen des Buches mit dem Autornamen assoziiert […]“, konstatiert Uwe Wirth. 13 Und auch laut Genette ist die Identifikation in der Praxis die wichtigste Funktion des Titels. 14 Der Titel als paratextuelles Rahmungselement steht ausserdem in besonderem Masse im Spannungsfeld unterschiedlicher Akteure, die am Produktionsprozess beteiligt sind. Auch Gérard Genette beschreibt den Titel als ein Artefakt, das aus dem Zusammenspiel unterschiedlichster Aktanten entsteht. 15 Den Titel Muminpappans memoarer schlug Jansson bereits für die erste Version vor, wurde vom Verlag jedoch nicht akzeptiert mit der Begründung, das Vokabular sei für Kinder zu avanciert, weiss Erik Kruskopf. 16 Mögen sich die verschiedenen Parteien im Prozess der Titelfindung auch nicht immer einig sein, so ist die zentrale Bedeutung des Titels unbestritten. Dabei bietet der Titel ein schier endloses Spektrum an kreativen Möglichkeiten, um das Potenzial dieses Rahmungselements voll auszuschöpfen. Die Unterteilung der Titel orientiert sich an Gérard Genettes Unterscheidung zwischen thematischen und rhematischen Titeln. Es handelt sich dabei um eine Differenzierung „zwischen dem Thema (worüber man spricht) und dem Rhema (was man darüber sagt) […]“. 17 Dabei soll jedoch nicht verkannt werden, dass diese Grenze nicht immer scharf gezogen werden kann beziehungsweise dass es zu Überschneidungen kommt. a) Thematische Titel Thematische Titel sind laut Genette „Titel, die, auf welche Weise auch immer, den ,Inhalt‘ des Textes angeben […].“ 18 Diese Definition impliziert, dass ein Titel auf sehr unterschiedliche Weise thematisch sein kann. 12 Genette 2001, S. 12. 13 Wirth 2008, S. 105. 14 Vgl. Genette 2001, S. 82. 15 Vgl. Ebd., S. 58 f. 16 Vgl. Kruskopf 1992, S. 196. 17 Genette 2001, S. 80. 18 Ebd., S. 79. <?page no="118"?> 118 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Kometen kommer (Der Komet kommt) 19 fasst die Thematik dieser Erzählung quasi proleptisch kurz und knapp zusammen: Ein Komet von grösster Zerstörungskraft droht auf das Mumintal zu treffen. Dabei wird unmittelbar eine enorme Spannung aufgebaut und mit der Hoffnung auf ein gutes Ende verbunden. Thematische Titel sind daher in besonderem Masse „ l’hors-d’œuvre de l’œuvre .“ 20 Thematische Titel anderer Art sind Titel, welche einzelne Gegenstände betonen, die für die Erzählung zentral sind, so etwa Trollkarlens hatt (Der Hut des Zauberers). Der Hut ist ein Katalysator für das gesamte Narrativ, indem er stetig Situationen generiert, die die Handlung vorantreiben. Anstatt einen konkreten Hinweis auf die Handlung zu geben, provoziert dieser Titel vielmehr Fragen, weckt die Neugierde. Weiter finden sich im Korpus thematische Titel, die eine einzelne Figur hervorheben: Muminpappans memoarer (Muminpappans Memoiren) und Pappan och havet (Pappan und das Meer). Muminpappan ist die einzige Figur, welche im Titel vorkommt. Muminpappans memoarer ist in diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben, da hier der Titel des Buchs im Buch gleichzeitig auch der Titel der extradiegetischen Erzählung ist. Pappans Werk wird durch den Titel quasi in die Reihe der Muminbücher integriert. Der Titel Pappan och havet lenkt den Fokus ebenfalls auf Pappan. Betreffend den Protagonisten scheint es aufgrund des Titels keine Zweifel zu geben. Arnold Rothe betont diesbezüglich die Kongruenz zwischen Titel und Text: „Aufgrund der Konvention kann der Leser damit rechnen, dass der im Titel genannte Stoff von zentraler Bedeutung für den Text, der Titelheld also beispielsweise auch dessen Hauptperson ist.“ 21 Bei der Lektüre zeigt sich hingegen, dass Pappans Stellung als Hauptfigur keineswegs so deutlich ist. Eine derartige Leseweise vernachlässigt andere Figuren und ist so gesehen eine krasse Simplifizierung des Inhalts. Bei all diesen Titeln ist die Intention erkennbar, das „Konzentrat des Textes“ 22 widerzugeben, weshalb die Analyse der Titel auch Aufschluss gibt über die Setzung der Schwerpunkte durch die Titelgeber. b) Rhematische Titel Die Gegenüberstellung der zwei Typen sei „keine Opposition zwischen zwei Funktionen “, hält Genette fest. Sowohl thematische wie auch rhematische Titel „[…] beschreiben den Text durch eines seiner Kennzeichen, sei es nun ein thematisches (dieses Buch spricht von…) oder ein rhematisches (dieses Buch ist…).“ 23 Rhematische Titel unterscheiden sich also von thematischen Titeln durch die Art und Weise, wie Bezüge zum Inhalt hergestellt werden. Geschieht dies bei thematischen Titeln auf ganz konkrete Weise, funktionieren rhematische Titel auf einer abstrakten, emotionalen Ebene. Folgende Titel werden hier als rhematisch betrachtet: Farlig midsommar , Trollvinter und Sent i november . Die Gemeinsamkeit der in der Überschrift erwähnten Buchtitel offenbart sich bei einer Gegenüberstellung unmittelbar: Alle enthalten sie konkrete Verweise auf ganz spezifische Zeitpunkte und Feierlichkeiten im Jahreszyklus. Jahreszeiten evozieren sowohl eine bestimmte Stimmung 19 Um den Ausführungen folgen zu können, ist hier eine wörtliche Übersetzung der schwedischen Titel nötig. Bei den angegebenen deutschen Titeln handelt es sich daher nicht um die offiziellen Titel der deutschen Ausgaben. 20 Sánchez, Yvette. Titel als Mittel. Poetologie eines Paratexts. In: Arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 34 (1999), 2, S. 250. 21 Rothe Arnold. Der literarische Titel. Funktionen, Formen, Geschichte . (Das Abendland 16). Frankfurt a. M.: Klostermann 1986, S. 176. 22 Sánchez 1999, S. 254. 23 Genette 2001, S. 89. <?page no="119"?> 4.1. Titel 119 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) wie auch Spannung, konstatiert Vivi Edström und verweist dabei in ihrer Arbeit auf oben genannte Titel Janssons. 24 Farlig midsommar (Gefährliches Mittsommer) erinnert als Titel einerseits unmittelbar an William Shakespeare und A Midsummer Night’s Dream , andererseits an das wichtigste Fest im skandinavischen Sommer, welches grundsätzlich durch und durch positiv besetzt ist. Aufgrund der Bekanntheit und der Beliebtheit des Mittsommerfests kann in diesem Zusammenhang von gesellschaftlich etablierten Konnotationen ausgegangen werden, die damit verbunden sind. Durch den Titel wird dieses Fest mit einem negativen Attribut besetzt. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld, welches eine aus den Fugen geratene Ordnung suggeriert. Jahreszeiten im Titel, meint Arnold Rothe, begegnet man ansonsten vor allem in Gedichten. 25 Titel dieser Art sind insofern stark poetisch, als dass mit ihrer Hilfe Impulse gesetzt werden, um gewisse Gefühle zu evozieren. Hierbei treten Effekte in den Vordergrund, welche sich nach Gérard Genette als konnotativ bezeichnen lassen, „weil sie damit zusammenhängen, auf welche Weise der thematische oder rhematische Titel seine Denotation vornimmt.“ 26 Es herrscht eigentlich immer Sommer im Mumintal, so als böte die Sonne den Bewohnern die Kraft, sämtlichen Herausforderungen couragiert und geistreich zu begegnen. Vor diesem Hintergrund lassen Titel wie Trollvinter (Trollwinter) und Sent i november (Spät im November) den Glauben an ein Mumintal, in dem das Gute immer siegt, schwinden und zerstören Lesererwartungen jäh, ja brechen gar mit etablierten Prämissen der Muminwelt. Sie unterstreichen aber auch die Dramatik dieser Erzählungen und deuten den enormen Wandel an, der sich darin inhaltlich vollzieht. Die erwähnten Titel liefern, anders als diejenigen der ersten Gruppe, keine Hinweise zu Einzelheiten der Erzählung, locken vielmehr auf einer abstrakten, emotionalen Ebene. Ein Titel ist daher ebenfalls „[…] eine Synekdoche oder auch Abstraktion des Texts, seine Metapher oder Metonymie, er symbolisiert den Text.“ 27 , ist also bereits eine erste Interpretation des Inhalts. Während die Titel der ersten Gruppe ein zentrales Element der Handlung, einen bestimmten Gegenstand oder eine bestimmte Figur inszenieren, operieren die Titel der zweiten Gruppe auf einer abstrakteren Ebene. Dabei werden oft Begriffe aus der Natur verwendet. Sie geben vor der Lektüre jedoch keine Informationen zum Inhalt. Sämtliche Titel zielen darauf ab, zum Lesen zu animieren. Entweder wird bewusst die Neugierde geweckt oder die Titel verführen auf einer emotionalen Ebene, indem sie gezielt Gefühle provozieren. Die vorgenommene Aufteilung macht einen mehr oder weniger kontinuierlich wachsenden Abstraktionsgrad in der Titelei sichtbar. Die Diversität der Titel erstaunt in Anbetracht der Herausgabe der Muminbücher als Reihe. In ihrer Vielfalt sind sie Ausdruck der Eigenständigkeit jedes einzelnen Muminbuchs. Spannenderweise sind die Worte „Mumin“ oder „Troll“ in den Titeln äusserst spärlich vertreten, ganz im Gegensatz etwa zu den deutschsprachigen Ausgaben, wo der Begriff „Mumin“ oder „Mumintal“ in jedem Titel vorkommt. 24 Vgl. Edström, Vivi. Barnbokens form. En studie i konsten att berätta . (Skrifter utgivna av Svenska barnboksinstitutet 11). Göteborg: Stegelands 1980, S. 112. 25 Vgl. Rothe 1986, S. 189. 26 Genette 2001, S. 90. 27 Sánchez 1999, S. 261. <?page no="120"?> 120 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 4.2. Widmungen […] Erwähnt man als Auftakt oder Schlusstakt eines Werkes eine Person oder eine Sache als vorrangigen Adressaten, so wird sie zwangsläufig als eine Art idealer Inspirator einbezogen und auf die eine oder andere Weise angerufen, wie einst der Sänger die Muse anrief. 28 So beschreibt Gérard Genette die Bedeutung von Widmungen. Dadurch wird eine stets enge Verbindung zwischen Autor und Muse impliziert. Tatsächlich ist der erlauchte Kreis jener, denen Jansson ein Buch zudenkt, eine Art who is who in ihrem Umfeld. Herausragende Bedeutung kommt dabei ihrer Familie zu. So weiht sie Trollvinter ihrer Mutter Ham („Till min mor“ „Für meine Mutter“) und Sent i november ihrem Bruder Lasse („Till min bror Lasse“ „Für meinen Bruder Lasse“). Pappan och havet eignet Jansson „einem“ Vater zu („Till en pappa“ „Für einen Papa“). Die Dedikationen schliessen jedoch auch Personen aus ihrem Bekanntenkreis ein, die für die Künstlerin ganz besonders wichtig waren. Ein Beispiel dafür ist die Theaterregisseurin Vivica Bandler, der Farlig midsommar gewidmet ist („Till Vivica“ „Für Vivica“). Sie war für diese Erzählung im und über das Theater eine zentrale Inspirationsquelle. Eine Kategorisierung der gedruckten Widmungen schlägt Christian Wagenknecht im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft vor. Sie basiert auf dem grafischen Erscheinungsbild und umfasst die Widmungstafel, die Widmungsrede, den Widmungsbrief, die Widmungsgeste „als heute vorherrschende Schwundform, mit der bloss noch der Widmungsempfänger bezeichnet wird.“ und schliesslich der Widmungsvermerk. 29 Letztere Art von Widmungen findet sich auch in den Muminbüchern. Inhaltlich sind die Widmungen äusserst knapp gehalten und bestehen lediglich aus Personennamen. Widmungen in Form von einleitenden Worten oder Zitaten, wie man sie aus anderen literarischen Werken kennt, finden sich nicht. Die Widmungen sind in der Regel äusserst diskret angebracht. Sie befinden sich auf der Rückseite des Schmutztitels, wo auch das Impressum abgedruckt ist. Eine Ausnahme bildet eben erwähnte Widmung in Pappan och havet. Ihr Platz ist auf derselben Seite wie das Inhaltsverzeichnis und ist in Schreibschrift gesetzt. Weiter ist die Widmung mit einer Blumenranke verziert. 30 Dies macht die Widmung hier ebenfalls zu einem Gestaltungselement. Weiter ist Pappan och havet das einzige Buch, in dem die Widmung effektiv funktionalisiert wird, denn die Rolle als Vater und Familienoberhaupt wird in der Erzählung ausführlich verhandelt. Die Widmung öffnet das Tor zu einem elitären Kreis von Eingeweihten. Sie zeigt also eine persönliche Beziehung auf und richtet sich so gesehen gezielt an eine Person oder eine ausgewählte Gruppe. Gleichzeitig entfaltet sie ihr Wirkungspotenzial aber erst, wenn sie von einer grösseren Gruppe rezipiert wird. So meint auch Bonnie Mak: „While ostensibly directed to a single person, dedications are always constructed to be read by others.“ 31 Das angesprochene Wirkungspotenzial besteht vor allem in einer Wertsteigerung des Buchs, die dieses durch eine Widmung erfährt: 28 Genette 2001, S. 133. 29 Wagenknecht, Christian. Widmung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft . Bd. 3. Berlin und New York: de Gruyter 2003, S. 842 f. 30 Jansson 2010b, Inhaltsverzeichnis. 31 Mak, Bonnie. How the page matters . Toronto et al.: University of Toronto Press 2011, S. 36. <?page no="121"?> 4.3. Kapitelüberschriften 121 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Sie [die Widmung] stellt eine intellektuelle oder private, wirkliche oder symbolische Beziehung zur Schau, und diese Zurschaustellung steht als Argument für einen höheren Wert oder als Motiv für Kommentare immer im Dienst des Werkes […]. 32 In diesem Sinne funktionieren Dedikationen als eine Art Gütesiegel insofern, als dass sie ein gewisses Sensationsinteresse seitens der Leser befriedigen. Das Kunstobjekt erhält durch die Widmung eine neue Wertigkeit, die dem privaten Umfeld der Künstlerin entstammt. Durch diese persönliche Zusatzinformation wird eine emotionale Bindung zwischen Leser und dem Objekt Buch geschaffen. 4.3. Kapitelüberschriften Dieses Unterkapitel nimmt sich mit den Zwischentiteln einer weiteren Art von Titeln an. Zwischentitel finden sich einerseits gesammelt in einem Inhaltsverzeichnis, meist auf die Titelseite folgend, andererseits im Text. Mit anderen Worten, sie strukturieren nicht nur die Erzählung inhaltlich, sondern auch das Buch. Weiter richten sie sich an ein bereits interessiertes Publikum. Ihre Aufgabe besteht daher nicht mehr in erster Linie darin, reisserisch um die Aufmerksamkeit potenzieller Leser zu buhlen. Nachfolgend stehen die in Inhaltsverzeichnissen organisierten Kapitelüberschriften im Mittelpunkt. Aufgelistet im Inhaltsverzeichnis geben sie einen Überblick über den Aufbau der Erzählung. Je nach Abstraktionsgrad der Kapitelüberschriften liefern diese relativ dezidierte, oder umgekehrt lediglich äusserst vage, Hinweise auf den konkreten Inhalt. Erfahrene Leser, so Ingeborg Mjør, erhalten jedoch bereits durch das Lesen des Inhaltsverzeichnisses viele Informationen über die Spannungskurve und die Dramaturgie der Erzählung. 33 Nicht alle Muminbücher verfügen über Kapitelüberschriften, so wird in Kometen kommer und Sent i november gänzlich auf solche verzichtet. Der Vergleich der Inhaltsverzeichnisse offenbart unterschiedliche Arten von Kapitelüberschriften, welche darin zusammengestellt sind, sodass sich für den hiesigen Zweck eine Zweiteilung in deskriptive und abstrakte Kapitelüberschriften anbietet. a) Deskriptive Kapitelüberschriften Drei der Muminbücher, namentlich Trollkarlens hatt , Farlig midsommar und Muminpappans memoarer, verfügen über sogenannte deskriptive Kapitelüberschriften. Dabei handelt es sich gemäss Gérard Genette um Kapitelüberschriften in Form von Ergänzungssätzen: „,Wie…‘, ,Wo man sieht…‘, ,Welches erzählt…‘, ,Von… […]‘“. 34 Der Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis von Trollkarlens hatt offenbart, dass, wie für diese Art von Kapitelüberschriften typisch, der Inhalt des jeweiligen Kapitels in einer wie oben erwähnten Formel kurz zusammengefasst wird: 32 Genette 2001, S. 132. 33 Mjør, Ingeborg. I resepsjonens teneste. Paretekst som meiningsberande element i barnelitteratur. In: BLFT-Nordic Journal of ChildLit Aesthetics (2010). [nicht paginiert]. Online: http: / / www.childlitaesthetics.net/ index.php/ blft/ article/ view/ 5856. Aufgerufen am 23. 08. 2016. 34 Genette 2001, S. 287. <?page no="122"?> 122 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Sjätte kapitlet 115 i vilket Tofslan och Vifslan kommer in i historien, medförande en mystisk kappsäck och förföljda av Mårran, samt vari snorken leder en rättegång. Sista kapitlet 131 som är mycket långt och beskriver Snusmumrikens avfärd och hur den mystiska kappsäckens innehåll avslöjades, därjämte hur Mumintrollets mamma fick tillbaka sin väska och i glädjen ordnade en stor fest, samt slutligen hur Trollkarlen anlände till Mumindalen. ( TH , Inhaltsverzeichnis) Sechstes Kapitel 115 in dem Tofslan und Vifslan in die Geschichte kommen, einen mystischen Koffer mitführend und verfolgt von Mårran, und in dem Snorken eine Gerichtsverhandlung leitet. Letztes Kapitel 131 welches sehr lang ist und Snusmumrikens Wegfahrt beschreibt, und wie der Inhalt des mystischen Koffers entdeckt wurde, des Weiteren wie Mumintrollets Mama ihre Handtasche zurück bekam und vor Freude ein Fest ausrichtete, einschliesslich wie letztlich Trollkarlen im Mumintal ankam. Kapitelüberschriften dieser Art fussen in der älteren Romantradition, wie Boel Westin bemerkt und dabei auf Beispiele wie Jonathan Swifts Gulliver’s Travells oder Miguel de Cervantes’ Don Quijote hinweist. 35 Ausserdem sind sie ein Metakommentar, der explizit auf die Gemachtheit der Erzählung rekurriert und so die Fiktion immer wieder aufs Neue bricht, so etwa die Information über den Auftritt von zwei neuen Figuren, die in die Geschichte eingeführt werden, was stark an eine theatrale Praxis erinnert. Der Kommentar zur Länge des Kapitels verweist auf eine Autorinstanz, welche für diesen „Fehler“ verantwortlich ist. Kapitelüberschriften bieten ausserdem eine Möglichkeit, Höhepunkte der Handlung hervorzuheben. „[…] headings and subdivisions […] punctuate important moments in the story and thereby affect in what manner the treatise will be read.“, schreibt Bonnie Mak. 36 Entsprechend werden auch in den gezeigten Beispielen die Höhepunkte des jeweiligen Kapitels zusammengefasst. Im Auszug des Inhaltsverzeichnisses von Muminpappans memoarer zeigen sich die deskriptiven Kapitelüberschriften wie folgt: Fjärde kapitlet 76 Vari min färd över havet når sin toppunkt i en storartad skildring av stormen och avslutas men en förfärlig överraskning. Femte kapitlet Där jag (efter ett kort prov på min intelligens) ger en bild av Mymlans familj och den Stora Överraskningsfesten vid vilken jag ur Självhärskarens tass mottager förtrollande äretecken. ( MM , Inhaltsverzeichnis) Viertes Kapitel 76 In dem meine Fahrt über das Meer ihren Höhepunkt in einer grossartigen Schilderung des Sturms erreicht und beendet wird mit einer schrecklichen 35 Vgl. Westin 2007, S. 209. 36 Mak 2011, S. 34. <?page no="123"?> 4.3. Kapitelüberschriften 123 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Überraschung. Fünftes Kapitel In dem ich (nach einer kurzen Probe meiner Intelligenz) ein Bild gebe von der Familie Mymlans und dem grossen Überraschungsfest, bei dem ich aus den Tatzen des Selbstherrschers bezaubernde Ehrerweisungen erhalte. Im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen sind die Kapitelüberschriften in Muminpappans memoarer wichtige Stützpfeiler, die die (Autor)Fiktion aufrecht erhalten sollen, da darin Pappan als Schriftsteller inszeniert wird, der durch sein Werk führt. Gérard Genette beschreibt diese Transformation wie folgt: Der Ich-Erzähler ist so nicht mehr nur eine narrative Instanz, sondern wird zu einer literarischen Instanz, „[…] zu einem Autor, der für die Erstellung des Textes, seine Entstehung und Aufmachung verantwortlich zeichnet und sich seiner Beziehung zum Publikum bewusst ist.“ 37 Daneben ist auch die Wahl der Ich-Form bei der Erzählweise äusserst geschickt bestimmt, denn „bei gewissen Bezügen zwischen Text und Paratext kann die Wahl eines grammatikalischen Modus für die Abfassung der Zwischentitel dazu beitragen, den Gattungsstatus eines Werks zu determinieren (oder indeterminieren)“, konstatiert Genette. 38 Im Inhaltsverzeichnis von Farlig midsommar fallen die sprechenden Zwischentitel durch ihre Formelhaftigkeit auf. Alle beginnen sie mit dem beinahe identischen „Om hur man…“ „Darüber, wie man…“ oder lediglich „Om…“ „über“, wie nachfolgender Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis zeigt. Die Formulierungen weisen in einer belehrenden Art und Weise darauf hin, wie man sich in gewissen Situationen zu verhalten hat, oder warnen vor Konsequenzen. Die Zwischentitel beinhalten eine Abfolge höchst ungewöhnlicher und sehr unterschiedlicher Ereignisse. Diese liegen thematisch teilweise derart weit auseinander, dass sie auf den ersten Blick keinen Handlungsbogen erkennen lassen. So handeln die Kapitel von den Gefahren der Mittsommernacht, von einem unglücklichen Papa oder davon, wie man einen Gefängniswärter austrickst: Sjunde kapitlet 83 Siebtes Kapitel 83 Om farlighet på midsommarnatten. Über Gefahr in der Mittsommernacht. Åttonde kapitlet 93 Achtes Kapitel 93 Om hur man skriver ett skådespel. Darüber, wie man ein Schauspiel schreibt. Nionde kapitlet 103 Neuntes Kapitel 103 Om en olycklig pappa. Über einen unglücklichen Papa. Tionde kapitlet 109 Zehntes Kapitel 109 Om generalrepetitionen. Über die Generalprobe. Elfte kapitlet 119 Elftes Kapitel 119 Om hur man lurar fångvaktare. Darüber, wie man einen Gefängniswärter übers Ohr haut. Tolfte kapitlet 127 Zwölftes Kapitel 127 Om en dramatisk premiär. Über eine dramatische Premiere. ( FM , Inhaltsverzeichnis) 37 Genette 2001, S. 288. 38 Ebd. S. 290. <?page no="124"?> 124 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Ein Handlungsstrang lässt sich anhand der Kapitelüberschriften jedoch klar ausmachen: Die Kapitel, die sich mit dem Stück im Stück beschäftigen. Sie beschreiben die Entwicklung des Theaterstücks vom Schreiben, über die Probe bis schliesslich zur Premiere. Die Kapitel acht, zehn und zwölf könnten quasi als eine separate Erzählung gelesen werden. „Über die primäre Ordnung gemäss der Paginierung[…] können sich alle möglichen anderen Routen legen, zu denen wir durch den Text selbst eingeladen werden […].“, beschreibt Michel Butor einen solchen Fall. 39 Eine solche Route lässt hier das Inhaltsverzeichnis erkennen, was den Handlungsstrang um das Stück im Stück betrifft. b) Abstrakte Kapitelüberschriften Die Bücher Pappan och havet und Trollvinter bilden in Bezug auf die Zwischentitel eine weitere Gruppe. In beiden Erzählungen kommt der Natur eine tragende Rolle zu, was sich in den Zwischentiteln deutlich widerspiegelt. In Pappan och havet sind beinahe alle Kapitelüberschriften im Inhaltsverzeichnis Beschreibungen des Wetters. Die Struktur der Handlung wird in Naturbeschreibungen übersetzt. Die übrigen Kapitelüberschriften verweisen auf für die Erzählung so relevante Elemente wie Pappans Glaskugel, den Leuchtturm oder die Figur des Leuchtturmwärters. Kapitelüberschriften dieser Art lassen kaum Rückschlüsse auf Details der Handlung zu. Erst in der Retrospektive, nach der Lektüre, offenbart sich der Zusammenhang zwischen dem Inhalt des Kapitels und seiner Überschrift: INNEHÅLL Inhalt 1 Familjen i glaskulan 7 Erstes Kapitel DIE FAMILE IN DER GLASKUGEL 2. Fyren 23 Zweites Kapitel DER LEUCHTTURM 25 3. Västanvind 61 Drittes Kapitel WESTWIND 70 4. Nordosten 83 Viertes Kapitel NORDOSTWIND 94 5. Dimma 111 Fünftes Kapitel NEBEL 125 6. Månen i nedan 135 Sechstes Kapitel NEUMOND 152 7. Sydvästem 153 Siebtes Kapitel SÜDWESTWIND 172 8. Fyrvaktaren 185 Achtes Kapitel LEUCHTTURMWÄRTER 206 ( PH , Inhaltsverzeichnis) ( MWI , Inhaltsverzeichnis) Im Falle von Trollvinter lässt sich anhand der Kapitelüberschriften die Zeitspanne eruieren, über die sich die Erzählung erstreckt. Das erste Kapitel trägt den Titel „Den insnöade salongen“ „Der zugeschneite Salon“, das letzte Kapitel heisst „Den första våren“ „Der Frühlingsanfang“. Die Handlung setzt ausnahmsweise im Winter ein, einer Jahreszeit, die Mumintrolle eigentlich verschlafen, und endet mit dem Beginn des Frühlings. Die übrigen Zwischentitel sind sehr abstrakt und mystisch. Auch hier lassen sich aufgrund der Kapi- 39 Butor 1984, S. 51 f. <?page no="125"?> 4.4. Epiloge / Prologe 125 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) telüberschriften kaum Rückschlüsse auf deren genauen Inhalt ziehen. Sie unterstreichen jedoch die Exotik des Winters und die damit verbundenen Emotionen: Innehåll Inhalt Första kapitlet 7 Erstes Kapitel Den insnöade salongen Der zugeschneite Salon 7 Andra kapitlet 15 Zweites Kapitel Det förtrollade badhuset Das verzauberte Badehäuschen 16 Tredje kapitlet 30 Drittes Kapitel Den stora kölden Die grosse Kälte 32 Fjärde kapitlet 50 Viertes Kapitel De hemlighetsfulla Die Geheimnisvollen 54 Femte kapitlet 71 Fünftes Kapitel De ensamma gästerna Die einsamen Gäste 77 Sjätte kapitlet 107 Sechstes Kapitel Den första våren Der Frühlingsanfang 116 ( TV , Inhaltsverzeichnis) ( WM , Inhaltsverzeichnis) Gesamthaft betrachtet weisen die Kapitelüberschriften ein breites Repertoire an rhetorischen Strategien auf. Erzählende Kapitelüberschriften mit konkreten Informationen zum Inhalt des jeweiligen Kapitels wechseln sich mit abstrakten, beinahe poetischen Kapitelüberschriften ab. Sie werden instrumentalisiert, um die Eigenheiten der jeweiligen Erzählung zu unterstreichen und beugen sich so auch dem jeweiligen Charakter des Buchs. Das Inhaltsverzeichnis ist insofern eine Gebrauchsanweisung für den vorliegenden Text, als dass es gezielt Schwerpunkte setzt und Details hervorhebt. 4.4. Epiloge / Prologe Auf den ersten Blick verfügt kaum ein Muminbuch über ein Vorwort, respektive über ein Nachwort. Als Vorwort bezeichnet Gérard Genette […] alle Arten von auktorialen oder allographen Texten (seien sie einleitend oder ausleitend), die aus einem Diskurs bestehen, der anlässlich des nachgestellten oder vorangestellten Textes produziert wurde. Das ,Nachwort‘ wird also als Variante des Vorworts angesehen […]. 40 Lediglich Trollkarlens hatt und Muminpappans memoarer verfügen über ein Vorwort in einem klassischen Sinn, also schriftlich. In Trollkarlens hatt beginnt die eigentliche Handlung mit Mumintrollets Erwachen im Frühling. Die Einleitung hingegen beschreibt Geschehnisse, die sich ein paar Monate zuvor zugetragen haben. Ausführlich wird durch einen Erzähler beschrieben, wie sich die Muminfamilie auf den Winterschlaf vorbereitet. So erfährt man etwa, welche Nahrungsmittel sie vorher einnehmen. In Muminpappans memoarer sind gar zwei Vorworte auszumachen. Ein erstes mit dem Titel „Prolog“. Darin berichtet ein Erzähler über den Entstehungskontext von Pappans Memoiren. Im darauf folgenden „Företal“ (Vorwort) berichtet Muminpappan als Ich-Erzähler über dasselbe. Beide Vorworte enthalten also, wie Gérard Genette für das Vorwort 40 Genette 2001, S. 157. <?page no="126"?> 126 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) definiert, „die Ankündigung des Themas[…] und Bestimmung des narrativen Ausgangspunktes […].“ 41 Damit ist eine zentrale Funktion des Vorworts formuliert. Im vorliegenden Fall schildern die unterschiedlichen Erzählstimmen spannenderweise divergierende Entstehungsumstände der Memoiren. Weiter introduzieren die Vorworte die beiden Erzählebenen und präsentieren so die Architektur der mehrstimmigen Erzählung. Des Weiteren ist das Vorwort im Falle von Muminpappans memoarer auch ein wirkungsvolles Mittel, um Pappan als Autor zu inszenieren und die gewählte Gattung zu pointieren, denn das „[…] fiktive aktoriale Vorwort simuliert das Autobiografievorwort […].“ Es ist „[…] den Ich-Erzählern vorbehalten […].“ 42 Weiter betont Uwe Wirth die Bedeutung des Vorworts als Ort der Selbstreflexion: „[…] Das Vorwort stellt das Konzept jenes Werks vor, dem es vorangestellt ist.[…] Zugleich verkörpert das Vorwort aber auch das Konzept seiner eigenen Rahmungsfunktion […].“ 43 Muminpappans memoarer verfügt nicht nur über zwei Vorworte, sondern auch über einen Epilog. Das Originalnachwort sei eine Seltenheit, schreibt Genette. Als Grund dafür nennt er das Fehlen der zentralen Funktionstypen des Vorworts: „[…] den Leser bei der Stange halten und führen, indem man ihm erklärt, warum und wie er den Text lesen soll.“ 44 Im vorliegenden Fall ist der Epilog der Ort, an dem die beiden Erzählebenen schliesslich gänzlich kollidieren. Der Höhepunkt der Handlung ist in diesem Fall in den Epilog ausgelagert. 4.4.1. Visuelle Prologe Die Ausstattung der Muminbücher zeigt auffallend viele Karten, die jeweils auf dem Schmutztitel, gegenüber der Titelseite, von fünf Büchern gedruckt sind: Farlig midsommar, Trollkarlens hatt , Pappan och havet , Trollvinter und Sent i november . Bereits ihre Positionierung im Buch sieht Anthony Pavlik als ein Indiz dafür, dass sie weit mehr sind als nur schöner Schmuck: „[…] maps are usually separated from the text rather than fitting within the text or on facing pages, and this would seem to suggest a view of these maps as serving a larger purpose than that of simply adding decorative value.“ 45 Für die nachfolgende Analyse sind sie Teil des paratextuellen Rahmungsapparats und werden entsprechend als visuelle Vorworte gelesen. Victor Stoichita bezeichnet Karten als „eine ins Gemälde selbst eingebrachte Darstellungsoberfläche.“ 46 Analog sind die Karten als eine Metaebene zu sehen, die den Aufbau der Erzählung schildert. Klaus Müller-Wille vergleicht die Karten mit der Skizze, welche die Theaterratte Emma in Farlig midsommar über das Theater anfertigt, um dessen Funktionsweise zu erläutern. In gleichem Masse werde durch die Karten das „Maschinenwerk der Erzählung“ offenbart. 47 41 Genette 2001, S. 160. 42 Ebd., S. 278. 43 Wirth 2008, S. 119 f. 44 Genette 2001, S. 229. 45 Pavlik, Anthony. „A special kind of reading game“: Maps in children’s literature. In: International research in children’s literature 3 (2010), 1, S. 28. 46 Stoichita 1998, S. 201. 47 Müller-Wille, Klaus. Kartographien des Unbewussten. Tove Janssons Poetik des Raumes. In: Mairbäurl, Gunda et al. (Hrsg.). Kinderliterarische Mythen-Translation. Zur Konstruktion phantastischer Welten bei Tove Jansson, C. S. Lewis und J. R. R. Tolkien . (Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich 14/ Beiträge zur Kinder- und Jugendmedienforschung 2). Wien und Zürich: Praesens / Chronos 2013, S. 261. <?page no="127"?> 4.4. Epiloge / Prologe 127 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Karten in Büchern sind vor allem in der Kinderliteratur keine Seltenheit und erinnern unmittelbar an Fantasy-Literatur. In diesem Genre haben die Karten meist eine Funktion in der Erzählung, werden etwa von den Figuren verwendet, ja sind gar Kunstwerke der fiktionalen Welt, wie Ricardo Padrón für Karten in J. R. R. Tolkiens Werken erwähnt: „[…] they allow us to imagine that they themselves constitute artifacts from Middle Earth.“ 48 In den Muminbüchern ist dies nicht der Fall. In den Erzählungen selber kommen lediglich in Pappan och havet Karten vor: eine hängt im Muminhaus und zeigt Pappans entlegene Insel als winzigen Punkt im Meer. Die zweite fertigt Mamman auf der Insel an, eine Karte über das Mumintal. Diese Karten sind jedoch anderer Art als diejenigen, die als Vorworte als Einstieg in die Erzählung fungieren. Bei Tove Janssons Karten stammen Text und Bild aus der gleichen Feder, was laut Pavlik eher eine Ausnahmesituation darstellt. In seinem Artikel erwähnt er Jansson explizit als Beispiel. Für ihn spielt dies bei der Diskussion und Interpretation der Relation von Text und Bild eine wichtige Rolle. 49 Gemeinsam ist allen Karten eine Signatur, ein Rahmen und kartografische Elemente wie beispielsweise die Windrose. Auch tragen alle Karten einen Titel. Ansonsten weisen sie jedoch grosse Unterschiede auf, weshalb es angebracht erscheint, die Karten in szenische Karten einerseits und atmosphärische Karten andererseits einzuteilen. Dabei gilt jedoch nicht die Machart aus einer technischen Perspektive als Zuordnungskriterium, sondern deren Semiotik. a) Szenische Karten Die Karten der ersten beiden Muminbücher Trollkarlens hatt und Farlig midsommar gleichen sich von ihrer Architektur her stark und werden daher in einer Kategorie als szenische Karten zusammengefasst. Beide Karten zieren zahlreiche kleine Details, sodass sie auf den ersten Blick beinahe an Wimmelbilder erinnern. „Bei jedem Bild begründet der Rahmen die Identität der Fiktion. Einem Bild zusätzlich zu seinem wirklichen einen gemalten Rahmen zu geben, heisst die Fiktion zu potenzieren.“ 50 Potenzieren bedeutet in diesem Zusammenhang die Fiktion zu stärken. Betrachtet man die gerahmten Karten umgeben vom Rahmen, der die physische Beschaffenheit des Mediums Buch mit sich bringt, gilt dies auch für die hier zu untersuchenden Karten. In Trollkarlens hatt findet sich die detaillierteste der fünf Karten. 51 Ihre grobe topologische Struktur wird durch Wasser, Land und Berge definiert. Weiter lässt sich eine Einteilung des dargestellten Gebiets in einen Innen- und einen Aussenraum erkennen. Einerseits zeigt die Karte das Mumintal, welches den Innenraum ausmacht. Dessen Mittelpunkt scheint das Muminhaus (schw. Muminhuset) zu bilden. Dessen Beschriftung setzt sich durch die Grösse von den anderen ab, was den Status des Muminhauses als Zentrum weiter zementiert. Ein Gebäude im Jugendstil, wie Tove Holländer bemerkt. 52 Auf dieses laufen die beiden eingezeichneten Wege zu. Umgeben wird das Mumintal andererseits von den erwähnten 48 Padrón, Ricardo. Mapping imaginary worlds. In: Akerman, James und Robert Karrow (Hrsg.). Maps. Findig our place in the world . Chicago und London: University of Chicago Press 2007, S. 272. 49 Vgl. Pavlik 2010, S. 29. 50 Stoichita 1998, S. 75. 51 Jansson, Tove. Trollkarlens hatt [1968]. Stockholm: Alfabeta 2010c. Die Karte ist lediglich im schwedischen Original abgedruckt, nicht aber in der deutschen Übersetzung. 52 Vgl. Holländer 1983, S. 28. <?page no="128"?> 128 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Aussenräumen, auf die auch Klaus Müller-Wille verweist. 53 Sie sind mit Schriftbanderolen gekennzeichnet, so etwa die „Ensliga bergen“ (Die einsamen Berge). Wie man in Kometen kommer erfährt, ist dort eine Gruppe Wissenschaftler beheimatet, abgeschieden in einer Art Elfenbeinturm. Weiter die berüchtigte „Hattifnattarnas ö“ „die Insel der Hattifnattar“, die im Meer zu sehen ist. Dort hat Muminpappan sein sagenumwobenes Lotterleben geführt. Ebenfalls beschriftet ist die Grotte (schw. Grottan), welche der Muminfamilie und ihren Freunden Schutz vor dem Kometen bietet. Es handelt sich dabei um Örtlichkeiten, die in den Muminbüchern eine spezifische Funktion ausüben. Als verbindendes Moment zwischen den Innen- und Aussenräumen schlängelt sich der Fluss durch das ganze abgebildete Gebiet. Er zieht sich durch das Mumintal und verliert sich dann hinter den Bergen. „Symboliskt markerar floden också en övergång från en tillvaro till en annan, i detta fall från trygghet till det obekanta.“ „Symbolisch markiert der Fluss auch einen Übergang von einem Dasein in ein anderes, in diesem Fall von Sicherheit zum Unbekannten“, schreibt Janina Orlov. 54 Auch der Fluss ist zentraler Handlungsort vieler Abenteuer der ersten Muminbücher, wie Tove Holländer festhält. 55 Die erwähnten Elemente finden sich auch in anderen Karten wieder, verfügen über einen hohen Wiedererkennungswert. Erst auf den zweiten Blick erkennt man schliesslich die vielen wunderlichen Kreaturen zu Land und zu Wasser. Bei genauem Hinsehen sind mehrmals Tofslan und Vifslan auszumachen. Ferner steht Snusmumriken neben seinem Zelt, Bisamråttan schläft in der Hängematte und rund um das Muminhaus gibt es neben dem Holzschuppen (schw. vedbod) vielerlei Gewächs, das rein optisch zwar nicht genau zu bestimmen ist, jedoch sind die verschiedenen Pflanzen beschriftet. So weiss man um den Flieder (schw. syren), den Jasmin (schw. jasmin) und den Tabak (schw. tobak), der dort wächst. Bemerkenswert ist weiter die Karte in der Karte, denn diese enthält den Grundriss des Muminhauses. Es sind zwei Abbildungen, die jeweils eine Innenansicht des jeweiligen Stockwerks bieten. Sämtliche Räume sind eingezeichnet. Aus dem Plan wird weiter ersichtlich, wem die einzelnen Räume gehören. Jeder hat sein eigenes Zimmer im Muminhaus. Privaträume und Funktionsräume befinden sich auf unterschiedlichen Stockwerken. In den Zimmern sind gar Möbelstücke angedeutet. Deutlich zu erkennen ist etwa ein grosser runder Tisch im weitläufigen Salon (schw. Salong). Darum herum stehen ein paar Stühle. Die vorhin erwähnte Aufteilung in Innen- und Aussenraum wird hier nochmals wiederholt. „[…] the carefully depicted Moomin House functions as a slightly messy bohemian yet tolerant bastion against a neurotic and rigid outer world.“, schreibt Christina Ljungberg zu dieser Darstellung. 56 Das Muminhaus symbolisiert in seiner Art die Werte, welche die Muminfamilie vertritt. Ebenso detailreich ist die Karte von Farlig midsommar gestaltet. 57 Im Gegensatz zur Karte in Trollkarlens hatt zeigt sie jedoch nicht das Mumintal, sondern „Granviken“ „die Tannenbucht“, eine Bucht fernab vom Mumintal. Entsprechend befindet sich in der Mitte 53 Vgl. Müller-Wille 2013, S. 259 f. 54 Orlov, Janina. Den muminfierade texten. Frågan om barnlitteratur, i synnerhet finlandssvensk. In: Holmström, Roger (Hrsg.). Från kulturväktare till nightdrivers. Studier i finlandsvensk 1900-talslitteratur 2 . (Skrifter utgivna av Svenska litteratursällskapet i Finland 599). Helsingfors: Svenska litteratursällskapet i Finland 1996, S. 87. 55 Vgl. Holländer 1983, S. 28. 56 Ljungberg 2012, S. 82. 57 Jansson 2009b. <?page no="129"?> 4.4. Epiloge / Prologe 129 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) nicht das Muminhaus, sondern das neue Zuhause der Muminfamilie und ihren Freunden: das Theater. Weiter sind sowohl Publikum wie auch zwei Schauspieler zu sehen. Um das Theater herum gruppieren sich die übrigen Handlungsorte der Erzählung. So etwa das Gefängnis oder das Haus der Filifjonkan. Die unterschiedlichen Handlungsorte repräsentieren die verschiedenen Erzählstränge, die Basis für das komödiantische Verwirrspiel. Die Örtlichkeiten sind zusätzlich noch beschriftet, ja gar mit einem kurzen Kommentar zu ihrer Funktion in der Erzählung versehen: „Här körde de på grund“ „Hier stiessen sie auf Grund“ heisst es neben dem Theater. „Viken där de gömde sig“ „Die Bucht, in der sie sich versteckten“, „Rönnen där de sov“ „Die Eberesche, in der sie schliefen“ und „Lilla My i syskrinet“ „Lilla My im Nähkorb“ lauten weitere Spezifizierungen zu den Geschehnissen an den unterschiedlichen Handlungsorten. Der Weg des Nähkorbs, der Lilla My als Rettungsinsel dient, ist gar durch eine gestrichelte Linie eingezeichnet und so optisch nachzuverfolgen. Bei den schriftlichen Informationen ist weiter auf die verwendete Typografie hinzuweisen, die in dieser Karte in Szene gesetzt wird. Oben erwähnte Kommentare an den Leser sind in einer künstlerischen Schreibschrift gehalten. Dies erweckt den Eindruck eines persönlichen Kommentars. Die Aufschrift „Båtar uthyras“ „Boote zu vermieten“ auf einem Schild ist hingegen mit grossen Blockbuchstaben geschrieben. Alles weist bereits auf ein komplex gestaltetes Narrativ hin. Dabei ist die Karte eine willkommene Hilfe. Sie klärt die geografischen Zusammenhänge der unterschiedlichen Handlungsorte und führt den Leser durch das Tohuwabohu der turbulenten Handlung. Die Bedeutung der Hinweise offenbart sich erst in der Retrospektive gänzlich, wenn man den Inhalt der Erzählung kennt. Die Karte lädt daher dazu ein, immer wieder - vor, während oder nach der Lektüre - konsultiert zu werden. Schliesslich ist auch diese Karte, wie bereits angedeutet, voll mit kleinen Details: So sieht man etwa Snusmumriken beim Fischen. Eine weitere Darstellung zeigt ihn mit einem Ast in der Hand fuchtelnd. Mumintrollet und Snorkfröken stehen daneben. Vögel verteilen die Flugblätter mit den Informationen zur geplanten Theateraufführung. Es sind Szenen der Handlung, die auf der Karte quasi gleichzeitig geschehen, wodurch der zeitliche Ablauf kollabiert. b) Atmosphärische Karten Ein Blick in Pappan och havet , Trollvinter und Sent i november zeigt Karten ganz anderer Art. Die äussere Handlungslinie dieser Erzählungen ist stark reduziert. Der Fokus liegt auf emotionalen Prozessen. Diese Entwicklung spiegelt sich ebenfalls in den Karten wider, die im Vergleich zu den bereits behandelten weitaus spartanischer gestaltet sind. Statt zahlreicher kleiner Details werden Landschaften gezeigt, die die Gemütslage des Narrativs symbolisieren: „[..] rather than being an illustration of a particular moment in the story, the map encapsulates the essence of the narrative, the atmosphere of Moominvalley.“ 58 Sie stellen im Sinne Gernot Böhmes eine Atmosphäre dar, die er wie folgt beschreibt: […] In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt , auf der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stim- 58 Sundmark, Björn. „A serious game“: mapping Moominland. In: The Lion and the Unicorn 38 (2014), S. 168. <?page no="130"?> 130 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) mung teilhabe und darin gewahre, dass ich jetzt hier bin. Wahrnehmung qua Befindlichkeit ist also spürbare Präsenz. Umgekehrt sind Amtosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebung präsentieren . 59 In anderen Worten: Durch die Karten wird die Fiktion auf eine visuelle Art und Weise emotional aufgeladen und so für den Leser erfahrbar gemacht. Klaus Müller-Wille spricht in diesem Zusammenhang von einer seelischen Kartografie. 60 Abstrakte Karten lenken die Aufmerksamkeit der Leser weg von Details auf einen komplexen Plot. Dabei sind die Leser aufgefordert, selbständig die Zusammenhänge zu erarbeiten zwischen den Charakteren, ihren Handlungen und dem Terrain, in dem sie sich bewegen. 61 So steht die Karte in Pappan och havet im krassen Gegensatz zu den bereits gezeigten. 62 Sie ist gar die entleerteste von allen. Zu sehen ist eine karge Insel mitten im Meer. Prominent platziert und sofort auffallend ist der Leuchtturm, Sinnbild für Pappans Lebenskrise. Ebenfalls zu sehen ist ein kleines Boot. Der Besitzer ist nicht genau zu erkennen. Weiter ist der Gumpen auszumachen, Pappans Forschungsobjekt. Im Vordergrund des Bildes sind zwei Seeungeheuer abgebildet. Es handelt sich hierbei um eine Karte, die durch eine starke Metaphorik aufgeladen ist und damit die zentralen Themen der Erzählung zusammenfasst: Das Schiff steht für eine Reise, der Leuchtturm für Pappans Sinnkrise und die Ungeheuer im Meer für die Feindseligkeit desselben respektive auch für die Personifizierung der Natur. Ferner ist es die einzige Karte, die auf einen realen Ort ausserhalb der Bücherwelt referiert: „Finska viken“ „Finnische Bucht“. Um dies zu unterstreichen, sind gar die geografischen Koordinaten angegeben. Im Gegensatz zu all den anderen Karten fehlt bei dieser Karte der gemalte Rahmen, was der endlosen Weite des Meeres Ausdruck verleiht, gleichzeitig die Abbildung mehr als Gemälde denn als Karte „auslaufen“ lässt. Die Karte in Trollvinter zeigt eine Landschaft, die man bereits aus Trollkarlens hatt kennt: Das Muminhaus, der Fluss und die Aussenräume wie „Hattifnattarnas ö“ „die Insel der Hattifnattar“, „Ensliga Bergen“ „Die einsamen Berge“ und „Grottan“ „die Grotte“. 63 Alles ist jedoch unter einer dicken Schneedecke begraben. Ein krasser Wechsel zum bis anhin präsentierten Mumintal, in dem es immer Sommer zu sein schien. Es bleibt die einzige Karte, welche das Mumintal im Winter zeigt, umso deutlicher daher deren Symbolkraft. Auch hier sind kartografische Elemente vorhanden. Allerdings bricht das Dargestellte mit dem Kartografischen, indem der Schnee dargestellt wird. Ein Indiz dafür, dass diese Darstellung zwischen Gemälde und Karte oszilliert. Abgebildet sind deutlich weniger Figuren als in den bereits gezeigten szenischen Karten: fremde Wintergestalten, neben Mumintrollet und anderen auch bereits bekannten Figuren wie Lilla My, Hemulen und Mårran. Da man sie lediglich im Sommer kennengelernt hat, wirken sie reichlich fremd in der Winterlandschaft. Die Karte in Sent i november besteht aus zwei Karten, die jeweils mit einer Schriftbanderole beschriftet sind (Abb. 4). „Karta över Mumindalen“ „Karte über das Mumintal“ ist auf der ersten, grösseren Schriftbanderole zu lesen. Diese Karte nimmt auch den grössten Teil 59 Böhme, Gernot. Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik . 7. erw. und überarb. Aufl. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 96. 60 Vgl. Müller-Wille, Klaus. Topographie und Seelenlandschaften in der Muminwelt. In: Buch & Maus (2011), 4, S. 9. 61 Vgl. Goga, Nina. Kart i barnelitteraturen . Kristiansand: Portal 2015, S. 134. 62 Jansson 2010b. 63 Ebd. Trollvinter . Stockholm: Alfabeta 2004c. <?page no="131"?> 4.5. Fussnoten 131 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) der Abbildung ein. Die Bäume im Mumintal haben ihre Blätter verloren. Es ist Herbst. Es sind keine Figuren auszumachen, alles wirkt trostlos und verlassen. Sogar die Windrose in der linken oberen Ecke enthält keine schriftlichen Zeichen mehr. Im Wald sieht man Pappans Glaskugel auf einem Sockel stehen, ebenfalls verlassen. Als ein weiteres Detail ist Snusmumrikens Zelt zu erwähnen, welches abgebildet ist. Es ist eine Karte, die das Thema des Nichtseins und des Verlusts verarbeitet. Sie verheisst das Schlimmste, denn im Mumintal fehlt das Wichtigste: die Muminfamilie. Im unteren Drittel findet sich eine weitere Karte, eine Küstenkarte, wie auf der kleinen Schriftbanderole zu lesen ist (schw. Kustkarta). Die Perspektive ist, wie der Name bereits andeutet, eine gänzlich andere als bei der oberen. Das Mumintal zeigt sich hier als ein Punkt in seiner weiteren Umgebung. Ein Magnet, der Besucher von nah und fern anzieht. Markiert ist neben dem Mumintal das Tal der Filifjonkan (schw. Filifjonkans dal), die letzte Siedlung (schw. Den sista bebyggelsen), und schliesslich beginnt die Einöde (schw. Ödemarken börjar). Der Text ist auch hier wieder typografisch auffällig in einer Schreibschrift gestaltet, die an Schatzkarten aus Abenteuerromanen erinnern. Die präsentierten Karten als Vorworte verfolgen unterschiedliche Zwecke. Mit zahlreichen Details bezüglich der Handlungsorte, einzelner Szenen oder Figurenbewegungen bieten sie eine Orientierungshilfe durch das Narrativ. Immer wieder können sie während des Lesens konsultiert werden. Im Gegensatz zu den szenischen Karten zeigen die atmosphärischen keine Details der Handlung und scheinen auch nicht in erster Linie durch diese führen zu wollen. Der Fokus liegt auf der emotionalen Einstimmung auf die Erzählung. Alle Karten sind Ausdruck einer profunden Reflexion der jeweiligen Erzählung und offenbaren die Säulen, die diese im Wesentlichen ausmachen. 4.5. Fussnoten Wesentlicher Bestandteil von Tove Janssons Erzählkunst ist eine Mehrstimmigkeit, die jeweils eine neue Diskursebene eröffnet. Dabei sind Fussnoten ein Mittel, das sie einsetzt und zu eben diesem Zweck funktionalisiert. Ein Hilfsmittel, welches traditionell eher mit wissenschaftlichen Texten oder einer enzyklopädischen Praxis assoziiert wird. Fussnoten sind jedoch auch in narrativen Texten keine neue Erscheinung. 64 „Unter dem älteren Terminus Glosse […] reicht dieser Brauch auf das Mittelalter zurück“, führt Gérard Genette aus. 65 Diese Anmerkung weist auch sogleich auf die Problematik der Begrifflichkeit hin, denn im Zusammenhang mit der Fussnote haben sich unterschiedliche Bezeichnungen (Glosse, Anmerkung, Kommentar) etabliert, die nicht immer deutlich voneinander abgegrenzt respektive synonym verwendet werden. 66 Im Folgenden wird der Begriff Fussnote gebraucht. Dieser bezeichnet in Anlehnung an Sabine Zubarik alle Anmerkungsformen, 64 Vgl. Stang, Harald. Einleitung-Fussnote-Kommentar: Fingierte Formen wissenschaftlicher Darstellung als Gestaltungselemente moderner Erzählkunst . Bielefeld: Aisthesis 1992, S. 12. 65 Genette 2001, S. 305. 66 Vgl. Zubarik, Sabine. Die Strategie(n) der Fussnote im gegenwärtigen Roman . Bielefeld: Aisthesis 2014, S. 14. <?page no="132"?> 132 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) […] die auf räumlich und graphisch abgesonderter Ebene mit einem Verweis im Haupttext einen weiteren Diskurs führen, seien sie auf jeder Seite unterhalb des Textes, am Ende eines Abschnitts, eines Kapitels oder sogar des gesamten Textes angebracht. 67 Weiter treten Fussnoten nach Genette definitionsgemäss punktuell auf und sind auf ein Detail des Texts bezogen. 68 Dies bildet die Grundlage für die nachfolgende Gruppierung der Fussnoten. So wird geklärt, welche konkreten Funktionen die Fussnoten auf inhaltlicher Ebene haben. Denn sie ermöglichen unterschiedliche „punktuelle Nuancierungs- oder Dämpfungseffekte[…] oder, wie man in der Musik sagt, Registerwechsel, die dazu beitragen, die berühmte und mitunter unliebsame Linearität des Diskurses zu mildern.“ 69 Auf einer abstrakteren Ebene besitzt die Fussnote auch die Eigenschaft „[…] to extend, explain, or define the fictional premises of the work.“ 70 Sabine Zubarik bezeichnet die Fussnote gar als eine […] Referenz auf die Gemachtheit des Textes, sowohl in seiner Materialität als Schriftstück, als auch in seiner Eigenschaft als fiktives Erzählwerk. Sie lässt den Arbeitsprozess des Erfindens, Schreibens und Editierens durchscheinen und ist in ihrer Position am Rand des Textes oftmals der Ort, an dem der Autor den Leser in den kreativen Akt, samt seinen Schwierigkeiten, miteinbezieht. 71 Dabei betont sie nicht nur deren Funktion was die Leserführung betrifft, sondern ebenfalls dessen Fähigkeit, auf die Gegenständlichkeit des Buchs und die Fiktionalität dessen Inhalts zu referieren. In diesem Sinne werden auch in den Muminbüchern durch die Fussnoten Fiktionsbrüche herbeigeführt, indem unterschiedliche Aspekte der Erzählung kommentiert werden. So wird abermals die Gemachtheit der Erzählung in Erinnerung gerufen. Ferner eröffnet die Metabene der Fussnoten dem Leser einen tiefen Einblick in Denkmuster, die dem Narrativ strukturell zugrunde liegen. Schliesslich ist die Fussnote auch ein grafisches Gestaltungsmittel. Sie organisiert die Buchseite, indem sie auf deren Rand, wie auch in selbige hinein verweist. Im Folgenden sind die Fussnoten aufgrund ihres Inhalts in die drei Kategorien explikative, dialogische und informative Fussnoten unterteilt. a) Explikative Fussnoten Eine erste Funktion der Fussnoten in den Muminbüchern besteht darin, Begrifflichkeiten zu klären. So etwa in Trollvinter , wo erörtert wird, was ein evakuierter Igel ist: „*En evakuerad igelkott är en igelkott som mot sin vilja förflyttats från sitt hem och inte ens hunnit ta tandborsten med sig. Förf. anm. “ ( TV 41) „*Ein evakuierter Igel ist ein Igel, der gegen seinen Willen seine Wohnung verlassen musste und nicht einmal genügend Zeit hatte, um seine Zahnbürste mitzunehmen. Anmerkung der Autorin .“ ( WM 44). In Farlig midsommar wird etwa die Bedeutung erwähnter Gegenstände erklärt: „*En pott är en liten, djup vattensammling, typisk i Finland. Förf. anm. “ ( FM 11) „*Ein Pott ist eine kleine, tiefe Wasseransammlung, typisch für Finnland. Anmerkung d. Autors.“ ( SM 10). Auch spezielles, für Kinder allenfalls unverständliches Vokabular wird erläutert: „*Gör om det! Förf. anm.“ ( FM 137) 67 Zubarik 2014, S. 15. 68 Vgl. Genette 2001, S. 304. 69 Ebd., S. 312. 70 Benstock, Shari. At the margin of discourse: footnotes in the fictional text. In: Publications of the Modern Language Association of America 98 (1983), 2, S. 204. 71 Zubarik 2014, S. 21. <?page no="133"?> 4.5. Fussnoten 133 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) „,Noch einmal! ‘ Anmerkung d. Autors“ ( SM 160) ist ebenfalls in Farlig midsommar in einer Fussnote zu lesen, die sich auf das Wort „Dacapo“ bezieht, welches die Zuschauer nach der Vorstellung begeistert ausrufen. Auch in Pappan och havet werden Begrifflichkeiten dargelegt oder bestimmte Tätigkeiten erläutert. Pappan och havet nimmt jedoch insofern eine Sonderstellung ein, als es das einzige Buch ist, in dem die Fussnoten formelhaft gestaltet sind und durchwegs mit „I Sverige…“ „In Schweden“ beginnen. Inhaltlich beziehen sich die Anmerkungen ausschliesslich auf die Unterschiede zwischen dem Finnlandschwedischen und der Standardsprache. Mit anderen Worten, es wird auf dialektale Unterschiede hingewiesen: „*I Svergie skulle de ha sagt lånnor istället. Förf. anm. “ ( PH 23) „*In Schweden hätten sie stattdessen ‚lånnor‘ gesagt.“ b) Dialogische Fussnoten Eine zweite Gruppe von Fussnoten bilden diejenigen, welche den Adressaten direkt ansprechen, also dialogischen Charakter haben. In Trollvinter wird an einer besonders tragischen Stelle in einer Fussnote allzu traurigen Lesern geraten, auf eine bestimmte Seite vorzurücken: „*Om läsaren börjar gråta, se hastigt å sid. 45. Förf. anm .“ ( TV 44) „*Sollte der Leser hier weinen müssen, schnell S. 130 aufschlagen.“ ( WM 47). In Muminpappans memoarer verwendet sogar der fiktive Autor Pappan Fussnoten in seinem Werk: „*Om ni nu verkligen läser genom mina memoarer föreslår jag att ni börjar om från början igen.“ (MM 13) „*Wenn ihr nun wirklich meine Memoiren durchlest, schlage ich vor, dass ihr nochmals von vorne beginnt“, rät er seinen Lesern am Ende des Vorworts. Es handelt sich um die einzige Fussnote, die nicht signiert ist. Auch werden die Leser dazu angehalten, sich bei Verständnisproblemen Hilfe zu holen. Folgendes Beispiel stammt aus Trollkarlens hatt : „*Om du vill ha reda på vad bisamråttans löständer blev förvandlade till, kan du ju fråga din mamma. Hon vet nog. - Förf. anm. “ ( TH 57) „*Wenn du wissen willst, in was das Gebiss des Bisams verwandelt wurde, kannst du ja deine Mutter fragen. Sie weiss es bestimmt. - Anm. d. Autors“ ( DM 64). Diese Fussnoten sind instruktiver Art und provozieren einen Diskurs über die Handhabung der Erzählung und so über den Prozess der Rezeption. c) Informierende Fussnoten Schliesslich liefert die dritte Gruppe von Fussnoten Hintergrundinformationen zu den einzelnen Charakteren, das heisst, sie sind informierender Natur. So etwa in Muminpappans memoarer , wenn eine neue Figur eingeführt wird: „*Ett Rådd-djur är ett litet djur som råddar, vilket betyder att fnatta omkring med stor fart och tanklöshet medan man stjälper ut och tappar så mycket som möjligt. - Förf. anm. “ ( MM 36) „*Ein Schusseltier ist ein kleines Tier, das herumschusselt. Das heisst, dass es mit grosser Zerstreutheit durch die Gegend flitzt und dabei so viel wie möglich auskippt und fallen lässt. Anmerkung d. Autors“ ( MWJ 39). Auch in Trollkarlens hatt erfährt man dank den Fussnoten viel über die Eigenheiten einzelner Figuren, beispielsweise über die Kleidungsgewohnheiten eines Hemuls: „*) Hemulen gick alltid klädd i en klänning som han ärvt av sin moster. Jag misstänker att alla hemuler går i kjol. Det är konstigt, men det är så. - Förf. anm. “ ( TH 27) „*Der Hemul lief immer in einem Kleid herum, das er von seiner Tante mütterlicherseits geerbt hatte. Vermutlich tragen alle Hemule Röcke. Sehr eigenartig, aber so ist es nun mal. Anm. d. Autors.“ (DM 29). Oder über die Angewohnheit der Snorkar, bei starken Gefühlsregungen ihre Farbe zu verändern: „*) Snorkar förändrar ofta färg vid sinnesrörelse. - Förf. anm .“ ( TH 41) „*Bei <?page no="134"?> 134 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) heftigen Gemütsbewegungen pflegen die Snorks die Farbe zu wechseln. Anmerkung d. Autors“ ( DM 44). In allen drei Gruppen ist die Fussnote „[…] der Ort, kommentierend auf den Haupttext Bezug zu nehmen, also von einem bestimmten Aussen indexikalisch in den Text hineinzuwirken.“ 72 Daher ist die Fussnote ein ideales Werkzeug, um Polyphonie zu erzeugen, indem eine weitere narrative Instanz eingeführt wird, durch die einzelne Aspekte der Erzählung kommentiert werden. Genauer werden Begrifflichkeiten geklärt oder Zusatzinformationen zu einzelnen Figuren geliefert. Ausserdem offenbarte sich die Fussnote als Ort, in dem ein Dialog mit dem Leser gesucht wird. Die mannigfaltigen Funktionen der Fussnoten zeigen, dass sie zentraler Bestandteil der Erzählung sind und daher in keinem hierarchischen Verhältnis zum Haupttext stehen. Ferner wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Fussnote immer auch ein grafisches Gestaltungselement darstellt, das sich am Rand der Buchseite befindet. So ist sie eine Art visualisierter Souffleurkasten, die jedoch nicht die Charaktere der Fiktion, sondern die Leser mit Informationen versorgt. Oder wie Uwe Wirt festhält: […] Sie ist ein referenzieller Zeiger - eine „graphische Geste“, die an den Rand des Textes verweist. Dadurch bewirkt die Fussnote zugleich eine Differenzierung von Rahmen, das heisst, sie zieht eine Grenze in den Text ein und macht - in funktionaler Analogie zum Bühnenrahmen - verschiedene Ebenen sichtbar. 73 4.6. Klappentexte Gérard Genette beschreibt in seinen Ausführungen zum Klappentext (Waschzettel) in erster Linie dessen Karriere vom aussertextuellen Epitext (Mitteilung an die Presse) zum flüchtigen Peritext (Beilage für die Kritik und später für jedermann) und schliesslich in den dauerhaften Peritext (Umschlag). Dabei betont er die stetige Rangerhöhung. 74 Genette definiert den Klappentext wie folgt: „[…] ein kurzer Text (üblicherweise zwischen einer halben und einer ganzen Seite), der durch ein Resümee oder jedes andere Mittel auf meistens lobende Weise das Werk beschreibt, auf das er sich bezieht […].“ 75 Nach dem Titel auf der Vorderseite verrät der Klappentext also Genaueres zum Inhalt. Sowohl dem Titel als auch dem Klappentext ist die Aufgabe zuteil, den potenziellen Leser zum Lesen respektive zum Kaufen zu animieren, indem besonders spannende Aspekte hervorgehoben werden. Ferner wird der Klappentext vor allem zur Rezeptionssteuerung instrumentalisiert. Sämtliche Muminbücher sind mit einem Klappentext auf der Rückseite ausgestattet. Beim folgenden Beispiel handelt es sich um den Klappentext von Farlig midsommar : Där kommer en teater på drift och med den driver muminfamiljen in i en midsommarnatt som är full av trolldom och överraskning, av nya vänner och fiender. 72 Wirth 2008, S. 104. 73 Ebd., S. 104. 74 Genette 2001, S. 108. 75 Ebd., S. 103. <?page no="135"?> 4.6. Klappentexte 135 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Vet ni att hattifnattar kommer ur frö och att man måste så dem på midsommarnatten? Har ni nånsin borrat hål genom ert eget golv eller sett en självlysande parkvakt? Och är ni medvetna om hur hemskt farligt det är att vissla på teatern? Det här är berättelsen om vad som hände i den magiska månaden juni samma år som det eldsprutande berget rörde på sig och Mumintrollets mamma gjorde sin vackraste barkbåt. ( FM , Klappentext) Da kommt ein umherdriftendes Theater und mit diesem gleitet die Muminfamilie hinein in eine Mittsommernacht voller Zauber und Überraschung, neuer Freunde und Feinde. Wisst ihr, dass Hattifnattar aus Samen entstehen und dass man sie in der Mittsommernacht säen muss? Habt ihr schon einmal ein Loch durch euren eigenen Boden gebohrt oder einen leuchtenden Parkwärter gesehen? Und seid ihr euch bewusst, wie gefährlich es ist, im Theater zu pfeifen? Dies ist die Geschichte darüber, was in dem magischen Monat Juni geschah im gleichen Jahr wie der feuerspeiende Berg sich bemerkbar machte und Mumintrollets Mama ihr schönstes Rindenschiffchen fertigte. Der Text besteht aus drei Absätzen mit unterschiedlichen Funktionen. Der erste Absatz informiert quasi als Einstieg grob über die Grundzüge der Handlung. Vor allem auf das „Was? “, „Wo? “ und „Wann? “ der Erzählung wird eingegangen. Des Weiteren werden neue Bekanntschaften angedeutet, mit gut gesinnten wie auch schlecht gesinnten Figuren. Im zweiten Absatz wird der potenzielle Leser mit konkreten Fragen angesprochen und so eine Interaktion aufgebaut. Die Fragen machen auf spannende Punkte aufmerksam und wecken die Neugierde. Im letzten Abschnitt wird schliesslich nochmals auf die Handlung eingegangen. Mit „Det här är berättelsen om […]“ „Dies ist die Geschichte darüber […]“ wird die Interpretationsrichtung klar festgelegt und die wichtigsten Punkte der Erzählung nochmals betont. Technische, kritische wie aber auch explizit lobende Kommentare fehlen in diesem Klappentext jedoch gänzlich. Auch bei den übrigen Klappentexten handelt es sich um kurze Zusammenfassungen des Inhalts. Sie sind zwischen sieben und 15 Zeilen lang. Wie im obigen Klappentext werden die Leser teilweise mit konkreten Fragen direkt angesprochen oder es werden Aufforderungen an sie gerichtet. So steht am Ende des Klappentexts von Kometen kommer „Följ med! “ ( KK , Klappentext) „Komm mit! “ als expliziten Aufruf an den Leser, den Figuren auf ihren Abenteuern zu folgen. Hinweise, die eine bestimmte Leseart provozieren, finden sich ebenfalls in anderen Klappentexten. Bei Trollvinter lässt die Formulierung „Den här boken handlar om […]“ ( TV , Klappentext) „Dieses Buch handelt von […]“ keine Zweifel betreffend des Schwerpunkt des Inhalts. Muminpappans memoarer besitzt einen Klappentext, der gar subtil auf das Element der Parodie hinweist, indem mit einem Augenzwinkern auf den Wahrheitsgehalt von Pappans Ausführungen eingegangen wird: „Kanske har han skarvat lite, men det måste man för att en bok ska bli spännande…“ ( MM , Klappentext) „Vielleicht hat er etwas übertrieben, aber das muss man, damit ein Buch spannend wird…“ In Pappan och <?page no="136"?> 136 4. Das Buch als Artefakt DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) havet betont der Klappentext, dass die beschriebenen Veränderungen alle Figuren betreffen, mit Ausnahme von Lilla My, und nicht nur Pappan, wie der Titel vermuten lässt. Durch derartige Hinweise kann der Klappentext ein tieferes Verständnis des Texts fördern. 4.7. Zusammenfassung In den Muminbüchern findet sich das gesamte Spektrum an paratextuellen Rahmungselementen: So zeigt sich eine facettenreiche Verwendung unterschiedlicher Titel und Kapitelüberschriften. Sie variieren von äusserst konkret bis abstrakt. Mit einer Widmung erhalten die einzelnen Bücher zusätzlich eine individuelle Wertsteigerung, indem sie einen Blick erhaschen lassen in das private Umfeld Tove Janssons. Prologe und Epiloge stimmen auf die jeweilige Erzählung ein, in Wort und Bild. Sie sind ganz zentrale Orientierungshilfen und eröffnen Einblicke in die Strukturen und die Stimmung des Narrativs, die ansonsten verborgen bleiben würden. Ferner wird durch die Fussnoten die für Janssons Erzählen typische Polyphonie erzeugt. Die Fussnoten problematisieren, ergänzen oder erklären Aspekte der Erzählung und tragen so zu einem tieferen Verständnis bei. Eine letzte untersuchte Kategorie bilden die Klappentexte. Wie die Titel dienen die Klappentexte dazu, das Interesse potenzieller Leser zu wecken. Der Inhalt wird dabei auf möglichst ansprechende Art und Weise kurz zusammengefasst. Die untersuchten paratextuellen Rahmungselemente weisen, so die Ausgangsalge, den Text als Buch aus. Dies erwies sich insofern als zutreffend, als dass die Analyse eine Instrumentalisierung des Paratexts offenbarte, welche über die reine Rezeptionssteuerung hinausgeht. Vielmehr scheint der Paratext als „Schwelle“ der Ort, an dem Jansson mit dem Buch als Kunstwerk spielt, indem sie es auf unterschiedliche Weise rahmt. Durch seinen stark selbstreferenziellen Charakter reflektiert der Paratext die Gemachtheit von Literatur und deren materielle Erscheinungsform als Buch. Damit demonstriert Jansson in erster Linie Folgendes: „Kunst ist nicht nur zur Selbstbeobachtung, sondern auch zur Selbstrahmung durch den Akt der Selbstinszenierung fähig.“ 76 Der paratextuelle Rahmungsapparat ist dabei immer an die jeweilige Erzählung angepasst, betont deren individuellen Charakter als Kunstwerk. In diesem Sinne kann von den Muminbüchern nicht als einem Gesamtkunstwerk gesprochen werden. Der Paratext erhält von Lesern nicht selten lediglich geringe Aufmerksamkeit, ja wird oft gar gänzlich ignoriert. Im vorliegenden Fall ist der Paratext jedoch zentraler Teil der Konstruktion des Kunstwerks und verfügt daher über eine solch grosse Relevanz, dass dabei keinesfalls von einem Beiwerk gesprochen werden kann. 76 Wirth 2008, S. 121. <?page no="137"?> 4.7. Zusammenfassung 137 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung Ein grosses rundes Loch klafft auf dem Cover von Hur gick det sen? Zwei Figuren öffnen, scheinbar unter grosser Kraftanstrengung, dessen gezeichneten Deckel. Sie machen so den Blick ins Buchinnere frei. Vor einem hellblauen Himmel mit weissen Wolken blicken Mymlan und Mumintrollet heraus. Über der Perforation ist bogenförmig einerseits der Autorname in schwarzer Blockschrift zu lesen, andererseits der Untertitel boken om Mymlan, Mumintrollet och lilla My „Das Buch über Mymlan, Mumintrollet und lilla My“ in einer weissen Schreibschrift. Unterhalb der Perforation ist in grossen, gelben Lettern zu lesen Hur gick det sen? „Wie ging es dann? “. Weiter ist ganz unten auf dem Cover eine Milchkanne abgebildet, auf der der Name des Verlags steht. Sie wird an einer Schnur von Lilla My durch das Bild gezogen. Die Milchkanne ist ein zentrales Element der Handlung. Denn die Hauptaufgabe des Protagonisten Mumintrollet besteht darin, die Milch zu seiner Mutter zu bringen. Die rote Farbe des Covers erinnert an den Vorhang eines Theaters. Die Rückseite des Buchs zeigt eine Tür. Durch ein kleines Fenster darin blickt ein grosses Augenpaar hinaus. Weiter ist oberhalb der Türklinke eine kleine Öffnung in Form eines runden Lochs zu sehen, durch das man ebenfalls hineinrespektive hinausblicken kann. An der Tür hängt ein Schild, auf dem in kindlich anmutender Schrift zu lesen ist: „Kommer straks“ „komme gleich“. Neben der Tür hängt ein Schlüssel, ebenfalls mit einem Schild versehen. Dem Schild ist in der gleichen Schrift zu entnehmen, dass es sich dabei um den Schlüssel zum Muminhaus handelt (schw. Muminhuset). Ein mit weissen Steinplatten gepflasterter Weg führt zur Tür. Auf dem Weg erkennt man von hinten respektive im Profil, drei Figuren, die diese Tür voller Erwartung betrachten. Als Leser blickt man ihnen quasi über die Schultern, befindet sich ebenfalls vor dem Eingang oder Ausgang des Buchs. In der Einleitung zur vorliegenden Arbeit wurde bereits darauf hingewiesen, dass gerade Hur gick det sen? als Paradebeispiel für künstlerische Buchgestaltung gilt. Die Anmerkungen zum Umschlag des wohl berühmtesten Bilderbuchs Tove Janssons belegen dies abermals. Darauf zeigt sich ein Spiel mit Schriftarten, Formen und Farben, das sich zu einem künstlerischen Ganzen zusammenfügt. Dabei wird die Fiktionalität des Inhalts wie auch die Gegenständlichkeit des Mediums thematisiert: Die theatralen Elemente, also etwa die Präsentation der dramatis personae oder Lilla My als „Nummerngirl“, rufen die Gemachtheit des Inhalts in selbstreferenzieller Art und Weise in Erinnerung. Durch die Perforationen wird die blosse Materialität des Buchs auf schier brachiale Weise in Szene gesetzt, indem diese bewusst zerstört wird. Sie ermöglichen nicht nur einen Blick ins Buch hinein, beziehungsweise hinaus, sondern betonen gezielt dessen Dreidimensionalität. Kurz: Bereits diese knappen Ausführungen zur Umschlagsgestaltung offenbaren eine differenzierte und intensive Auseinandersetzung mit dem Buch als Artefakt. Die Wurzeln der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Buch als Medium und auch als künstlerische Form datiert Christoph Schulz auf den Beginn des 20. Jahrhunderts. 1 1 Vgl. Schulz, Christoph. Poetiken des Blätterns . (Literatur - Wissen - Poetik 4). Hildesheim et al.: Olms 2015, S. 289. <?page no="138"?> 138 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Ausserdem konstatiert er, dass dies vor allem für Künstlerbücher bezeichnend sei, wie dem folgenden Zitat zu entnehmen ist: Das Charakteristische an Künstlerbüchern ist demnach weniger, dass Künstler ihre Bücher mit anderen Themen füllen, als Schriftsteller es tun, sondern dass ihnen die Reflexion des Umstands, dass es sich bei dem Werk tatsächlich um ein Werk in Buchform handelt, immanent ist und somit einen zentralen Aspekt ihrer Semantiken darstellt. 2 Das Bücher-Machen sei schliesslich in den 1960er-Jahren zu einer eigenen Disziplin der bildenden Kunst geworden. Dabei ging es darum […] die Eigenheiten und Spezifika der medialen Form und der materiellen Struktur des Buches als Voraussetzung für die Vermittlung eines etwaigen Inhalts analytisch zu explorieren, dessen Möglichkeiten auszuloten und diese gezielt künstlerisch einzusetzen. 3 Der physischen Erscheinung des Buchs wird demnach eine grosse Bedeutung zugesprochen. „Boken som estetiskt objekt, dess fysiska form och attribut som storlek och format, omslag, färgverkan, den grafiska formgivningen och layouten, fungerar som bärare av budskap och uttryck.“ 4 „Das Buch als ästhetisches Objekt, dessen physische Form und Attribute wie Grösse und Format, Umschlag, Farbwirkung, die grafische Formgebung und das Layout, fungieren als Träger von Bedeutung und Ausdruck.“, betont in diesem Sinne auch Elina Druker in ihrer Abhandlung Modernismens bilder (2008). Damit erwähnt sie Aspekte, die laut Johnny Kondrup der analytischen und deskriptiven Bibliografie angehören. Im Gegensatz zur enumerativen Bibliografie, welche einen Katalog über Literatur erstellt, widmet sich Bibliografie in einem analytisch-deskriptiven Sinn dem Buch als Artefakt. 5 Auf dieser Grundlage werden nachfolgend die beschriebenen Elemente in ausgewählten Werken Janssons untersucht. Mit dem Ziel zu eruieren, welche Gestaltungselemente in den Werken Janssons genau eingesetzt werden und in welchem Verhältnis sie stehen. Geleitet von der übergeordneten Frage nach den Säulen einer spezifischen Buchästhetik. Das Buch ist der Sache nach vollkommen, wenn es angenehm zu lesen, köstlich anzuschauen ist; kurz, wenn der Übergang von der Lektüre zur Betrachtung, und wiederum von der Betrachtung zur Lektüre, ohne grosse Hindernisse erfolgt und es nur unmerklicher Umstellungen des leicht sich anpassenden Auges bedarf. 6 Derart definiert Paul Valéry in Die beiden Tugenden des Buches (1995) das ideale Buch, sowohl was dessen Funktionalität wie auch Ästhetik betrifft. Diesem Gedanken folgt die nachfolgende Analyse. Valéry spricht von der Buchseite als Gemälde, das als Ganzes betrachtet werden soll. Bonnie Mak weist in diesem Zusammenhang auf das steigende Interesse an der Buchseite hin: „As interest in the printed book has grown over the last fifty years, so too has interest in its particular version of the page.“ 7 Stehe jedoch das Buch als Artefakt im Mittelpunkt, so merkt Carlos Spoerhase dazu kritisch an, seien die Beobachtungen zur 2 Schulz 2015, S. 288 f. 3 Ebd., S. 287. 4 Druker 2008, S. 14. 5 Vgl. Kondrup, Johnny. Editionsfilologi . Kopenhagen: Museum Tusculanums 2011, S. 274 f. 6 Valéry, Paul. Die beiden Tugenden eines Buches. In: Schmidt-Radefelt, Jürgen (Hrsg.). Paul Valéry . Werke . Bd. 6, Zur Ästhetik und Philosophie der Künste. Frankfurt a. M.: Insel 1995, S. 469. 7 Mak 2011, S. 9. <?page no="139"?> DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung 139 Buchästhetik bis heute theoretisch auf die zweidimensionale Doppelseite begrenzt. 8 Mit anderen Worten, es wurde bis anhin vielmehr die Textgestaltung untersucht als die Buchgestaltung. Er postuliert weiter: „Ein Buch hat mehrere Dimensionen: Linie, Fläche, Raum. Wie diese beschrieben, diskutiert und bewertet werden, prägt immer auch unseren Blick auf und unsere Beschäftigung mit Literatur.“ 9 Damit legt er in seinen Betrachtungen den Fokus auf die Dreidimensionalität des Buchs. Nachfolgend wir ebenfalls von der Buchseite als künstlerisch komponiertes Ganzes ausgegangen. Darüber hinaus wird jedoch in Anlehnung an Spoerhase evaluiert, inwiefern das Buch in seiner Stofflichkeit als zentraler Bestandteil der Gestaltung miteinbezogen wird. Das Analysematerial umfasst sowohl die Muminbücher als auch die Bilderbücher. Während sämtliche Bilderbücher des Korpus in die Analyse miteinbezogen werden, wurde für die Muminbücher exemplarisch Kometen kommer ausgewählt. Es handelt sich dabei um eines der Muminbücher, welches in drei edierten Versionen existiert und umfassende Änderungen erfahren hat. Damit wird die Untersuchung von Gestaltungsaspekten im Rahmen einer Diskursanalyse möglich, die das Kunstwerk in seinen unterschiedlichen Formen vergleichbar macht. Es geht darum, im Sinne Don McKenzies jeder edierten Version ihren Status als Kunstwerk einzuräumen und zu zementieren: „Definitive editions have come to seem an impossible ideal in the face of so much evidence of authorial revision and therefore of textual instability. Each version has some claim to be edited in its own right, with a proper respect for its historicity as an artefact […|.“ 10 Agneta Rehal-Johansson beschäftigt sich in ihrer Arbeit zwar mit den unterschiedlichen Versionen der Muminbücher. Dabei konzentriert sie sich jedoch, wie bereits im Forschungsüberblick erwähnt, auf die inhaltlichen Veränderungen und ignoriert dabei die mannigfaltigen Formen, welche die verschiedenen Ausgaben gestaltungstechnisch annehmen, weitestgehend. Im Unterschied zu Boel Westin, die von den „Originalausgaben“ ausgeht und auch lediglich diese Versionen berücksichtigt, sind die jüngsten Versionen Rehal-Johanssons Ausgangspunkt. Westin betrachtet jedes Muminbuch als eigenständiges Kunstwerk, jedoch ebenfalls hauptsächlich auf der inhaltlichen Ebene. Eine Ausnahme ist etwa das Kapitel über Trollvinter . Darin geht sie auf die bedeutungsvolle Beziehung von Text und Bild ein. Kurz: Weder Boel Westin noch Agneta Rehal-Johansson widmen sich in ihren Analysen der Muminbücher dem Buch als Artefakt auf einer dezidiert materiellen Ebene. Dabei erscheint gerade dies im Falle Janssons besonders spannend. Einerseits aufgrund ihrer multiplen Künstlerpersönlichkeit, andererseits aufgrund ihrer Arbeitsweise beziehungsweise den mehrfachen Umarbeitungen der Bücher. Die Analyse der Bilderbücher geschieht chronologisch. Die Untersuchungskriterien sind paratextuelle Elemente nach Genette wie der Buchumschlag, die Titelseiten und, im Falle von Kometen kommer , Klappentexte. Damit knüpft die Analyse an das vorherige Kapitel an, der Fokus ist nun jedoch auf visuelle Aspekte verschoben. Ferner wird anhand ausgewählter Beispiele das Seitenlayout untersucht. Genauer handelt es sich dabei um buchgestalterische Aspekte betreffend die Beziehung von Text und Bild, Schriftsetzung, Typografie, und den Miteinbezug des Buchs als Objekt in das Gestaltungskonzept. Dabei handelt 8 Vgl. Spoerhase, Carlos. Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne . (Ästhetik des Buches 8). Göttingen: Wallstein 2016, S. 9. 9 Ebd., S. 9. 10 McKenzie, Don. Bibliography and the sociology of texts . Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 2. <?page no="140"?> 140 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) es sich um Aspekte, welche unter dem Begriff „Makrotypografie“ zusammengefasst werden. Die turbulente Herausgebergeschichte von Kometen kommer wird einleitend ebenfalls kurz geschildert, um dieses Muminbuch in seiner unterschiedlichen Materialität zu kontextualisieren. 5.1. Muminbücher: Kometen kommer - zur Editionsgeschichte Die Originalversion mit dem Titel Kometjakten „die Kometjagd“ erschien 1946 und ist deutlich geprägt von der Zeit des 2. Weltkriegs. Das Gefühl der Bedrohung und der Angst war lange omnipräsent und wurde in diesem Buch verarbeitet. Die Erzählung schildert ein Endzeitszenario: Ein gefährlicher Komet droht die heile Welt des Mumintals zu zerstören. Mumintrollet und seine Freunde machen sich mutig auf den Weg, um die Gefahr abzuwenden und die Welt respektive das Mumintal zu retten. Diese aussergewöhnliche Themenwahl macht Kometjakten zu einem äusserst originellen Kinderbuch, wie Tuula Karjalainen festhält. 11 Wie Janssons Debut Småtrollen och den stora översvämningen (1945) entpuppte es sich jedoch als Ladenhüter, obwohl die finnische Presse positiv auf dieses Buch reagierte, wie Boel Westin weiss. 12 Das Buch erschien in Finnland beim Verlag Söderströms und in Schweden bei Sörlins. 1956, also zehn Jahre nach Erscheinen von Kometjakten , erschien eine überarbeitete Version unter dem Titel Mumintrollet på kometjakt „Mumintrollet auf Kometjagd“. Tove Jansson war in der Zwischenzeit zum internationalen Megastar geworden und auf dem Zenit ihrer Popularität. Der schwedische Verlag Sörlins hatte bereits Kometjakten herausgegeben und plante eine Neuausgabe, die zusammen mit einer Neuausgabe von Småtrollen och den stora översvämningen erscheinen sollte. Letzteres erschien in Schweden aber im Verlag Hasselgrens. Jansson ihrerseits hatte mittlerweile sowohl ihren finnischen als auch ihren schwedischen Verlag gewechselt. In Finnland war sie nun bei Schildts, dem Verlag, dem sie danach während ihrer ganzen Karriere treu blieb, und in Schweden bei Gebers. Wer nun das Recht hatte, die neue Version von Kometjakten zu publizieren, musste unweigerlich zum Streitgegenstand werden. Die Arbeiten an Småtrollen och den stora översvämningen wurden von Janssons Seite her nicht beendet, das Buch wurde nicht neu aufgelegt. Schliesslich gab jedoch Sörlins die umgearbeitete Version von Kometjakten mit dem Titel Mumintrollet på kometjakt heraus, in Finnland war es Söderströms. 13 Für Jansson bedingte eine Neuausgabe eine Überarbeitung. Diese erste Umarbeitung hatte laut Agneta Rehal-Johansson verschiedene Ziele. Allgemein formuliert, wurde vor allem versucht, Inkonsequenzen auszumerzen. Rehal-Johansson weist ausserdem auf die sprachlichen Änderungen hin, welche die Texte für die jungen Leser leichter zugänglich machen sollten. Ferner wurde durch die Umarbeitung die Seitenanzahl frappant reduziert. 14 Was die Zusammenarbeit mit dem Verlag betrifft, betont Westin auch hier, in welch hohem Masse Jansson sich einbrachte, zum Beispiel in Bezug auf die Positionierung der Bilder oder auf das Format. Für den Titel schlägt Jansson Kometen kommer oder Mumintrollet på 11 Vgl. Karjalainen 2014, S. 146. 12 Vgl. Westin 2007, S. 198. 13 Vgl. Ebd., S. 304 ff. 14 Vgl. Rehal-Johansson 2006, S. 112. <?page no="141"?> 5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografie 141 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) kometjakt vor. Der Verlag entscheidet sich für letztere Variante. Das Buch war schliesslich ein enormer Erfolg und gehörte in den 1950er-Jahren zum meistverbreiteten Muminbuch. 15 1967 folgte eine weitere Phase der Überarbeitung. Neben den bereits überarbeiteten Büchern schloss diese Revision Farlig midsommar mit ein. Grund für diese zweite Überarbeitung war eine geplante Neuausgabe aller Muminbücher des schwedischen Verlags Gebers. 16 Sie bilden schliesslich die Versionen, welche in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Rehal-Johansson als Muminreihe bezeichnet werden. Die Änderungen waren diesmal dermassen umfassend, dass laut Rehal-Johansson von einem neuen Buch gesprochen werden kann. 17 Die neue Version erschien schliesslich 1968 unter dem Namen Kometen kommer „Der Komet kommt.“ „Författaren av år 1967 är en annan än 1940-talsförfattaren […]“ „Die Schriftstellerin des Jahres 1967 ist eine andere als die der 1940er Jahre“, kommentiert Westin die Umarbeitungen. 18 Sie zeugen von einer ständigen Metamorphose Janssons in ihrer Identität als Künstlerin, die sich in ihrem Schaffen niederschlägt, ja dieses erst ermöglicht, wie Boel Westin schreibt: „Utrensningarna ger utrymme för en ny författare och nya uttryck.“ 19 „Die Bereinigungen schaffen Raum für eine neue Schriftstellerin und neue Ausdrücke.“ Soweit eine kurze Herausgebergeschichte dieses Buchs. 5.2. „Gewand und Körper des Textes“ 20 : Makrotypografie „Die Frage ist: Was ist jetzt zu sehen, wird aber nie wieder zu sehen sein? “ 21 In der Schrift- und Textgestaltungsebene ist die Unterscheidung zwischen Mikrotypografie und Makrotypografie grundlegend. Nachfolgend steht, wie erwähnt, Letzteres im Mittelpunkt. Jürgen Spitzmüller definiert Makrotypografie wie folgt: Makrotypographie umfasst den Gesamtentwurf einer Drucksache und die Anordnung der Zeichen auf der Fläche, also die Auswahl des Trägermaterials und der Schriften, die visuelle Konzeption der Seite […], die Festlegung von Schriftgrössen und Abständen bestimmter Textelemente […], Seitenumbruch und die visuelle Konzeption des Gesamtdokuments. 22 a) Umschlagsgestaltung Mit einer Neuedierung ging nicht nur ein neuer Titel einher, auch das Cover wurde jeweils umgestaltet. Bereits diese Tatsache weist auf dessen Bedeutung hin. Im Gegensatz zu den Illustrationen, die in allen Muminbüchern schwarz-weiss gehalten sind, sind die Buchcover durchgehend bunt gestaltet. Das Cover von Kometjakten zeigt eine Gruppe von Figuren, 15 Vgl. Westin 2007, S. 306. 16 Ebd., S. 401. 17 Rehal-Johansson 2006, S. 171. 18 Westin 2007, S. 401. 19 Ebd., S. 402. 20 Stöckl, Hartmut. Typographie: Gewand und Körper des Textes - Linguistische Überlegungen zu typographischer Gestaltung. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 41, S. 5. 21 Pichler, Michalis. Statements zur Appropriation. In: Gilbert, Annette (Hrsg.). Wiederaufgelegt. Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern . Bielefeld: transcript 2012, S. 28. 22 Spitzmüller, Jürgen. Typographie. In: Dürscheid, Christa (Hrsg.). Einführung in die Schriftlinguistik . 5. akt. und korr. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, S. 216. <?page no="142"?> 142 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) die aus dem Mumintal flieht (Abb. 29). Ein weisser Komet stürzt vor einem rosa Hintergrund erbarmungslos auf sie zu. Die Farben sind sehr dezent gesetzt. Hinter einem Felsen in Deckung sind Mumintrollet, Snorkfröken und Snusmumriken zu sehen. Letzterer hält eine Blume in der Hand, die durch ihre rote Farbe deutlich hervorsticht. In der oberen linken Ecke ist der Autorname gesetzt. Unter dem Bild ist in grossen, blauen Buchstaben der Titel zu lesen. Die Illustration zeigt eine Flucht und keine Jagd und stellt sich so konträr zum Titel. Abb. 29: Cover Kometjakten. In der Version von 1956, Mumintrollet på kometjakt , hat sich das Cover markant verändert (Abb. 30). Zu sehen ist ein grosser, knallig gelber Komet vor einem roten Hintergrund. Er scheint jäh ein Loch in den Buchdeckel zu reissen. Ein Element, welches an die Perforationen in Hur gick det sen? erinnert. Während im Titel eine Figur hervorgehoben wird, ist auf dem Cover eine ganze Gruppe abgebildet: Sniff, Snusmumriken, Mumintrollet, Snorkfröken und Muminmamman. Sie alle fliehen vor dem Kometen, dabei rennen sie in unterschiedliche Richtungen. Alle scheinen sie dem Leser so aus dem Buch entgegenzulaufen beziehungsweise auch dem Buch entfliehen zu wollen. Der Titel ist in einer dramatisch wirkenden Schreibschrift in Schwarz darunter gesetzt. Das Cover wirkt durch die auffällige Farbkombination weitaus gefährlicher und spannungsgeladener als das von Kometjakten . Während die erste und die dritte Ausgabe in Bezug auf das Format beinahe identisch sind, ist die zweite Ausgabe deutlich kleiner. <?page no="143"?> 5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografie 143 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 30: Cover Mumintrollet på kometjakt. Für die jüngste Version, Kometen kommer , wurde ein Motiv gewählt, welches die Dramatik der Erzählung auf eine ganz andere Weise transportiert (Abb. 31). Das Coverbild ist stark an eine Illustration im Buch angelehnt. Die Illustration zeigt eine Szene, in der Mumintrollet und seine Freunde die Auswirkungen der drohenden Gefahr durch den Kometen zu spüren bekommen, denn das Meer ist plötzlich weg. Daher sind sie gezwungen, auf Stelzen über den ausgetrockneten Meeresboden zu wandern. Der Verlust des Meeres ist eine verstörende Entdeckung für die Gruppe, es handelt sich insofern also um eine ganz zentrale Stelle in der Erzählung. Die Illustration im Buch zeigt fünf Charaktere auf Stelzen, die eine befremdlich wirkende Landschaft durchqueren. Im Hintergrund ist der Komet am Himmel zu sehen. Das Coverbild zeigt dieselbe Landschaft mit dem Schiffswrack, jedoch nur drei Figuren auf Stelzen. Auf der linken Seite sind Mumintrollet und Snorkfröken zu sehen, die auf einem Felsvorsprung stehen und sie beobachten. Auf den Kometen deutet lediglich der rote Himmel hin, als latente Gefahr in der Ferne. So deutet es auch der Titel an. Damit ist es das einzige Cover, das die im Titel beschriebene Bedrohung nicht explizit darstellt. Dieser steht in schwarzen Majuskeln auf zwei Zeilen unter dem Bild. Der Autorname ist in einer Schreibschrift gesetzt. <?page no="144"?> 144 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 31: Cover Kometen kommer. Auf allen Covern bilden der Autornamen und der Titel eine Art obere beziehungsweise untere Grenze des Bildes. In den ersten beiden Versionen wird dadurch der Komet eingefangen respektive eingerahmt. Der Autorname steht immer oben, tritt jedoch, was die Grösse betrifft, jeweils deutlich hinter den Titel zurück. Die Typografie des Autornamens und des Titels unterscheiden sich immer. Die Analyse der Cover offenbarte ausserdem in den ersten beiden Ausgaben eine Dichotomie, welche durch die Kombination von Titel und Abbildung herbeigeführt wird. Beide Titel suggerieren eine aktive Suche nach dem Kometen. Dies stimmt mit dem Inhalt der Erzählung überein. Die Abbildungen zeigen jedoch in beiden Versionen die Protagonisten, wie sie in Panik vor dem Kometen fliehen. Erst das Cover der neusten Ausgabe führt einen Titel, der dies umkehrt: Der Komet kommt. Diese Tatsache scheint absolut unwiderruflich. Entsprechend zeigt das Coverbild bereits eine direkte Folge davon. Gemeinsam betrachtet widerspiegeln die Cover also die inhaltlichen Veränderungen. Der Klappentext von Kometjakten beginnt mit einer kurzen Beschreibung des Settings und des Figurenpersonals. Schliesslich wird die Motivation für den Aufbruch Mumintrollets und Sniffs genannt: das Gerücht über einen Kometen, der Richtung Erde fliegt. Anschliessend sind zahlreiche Abenteuer angedeutet, welche sie erleben. Der Klappentext betont, dass diese nicht nur schrecklich beziehungsweise gefährlich sind, sondern auch lustig. Zu lesen sind ferner lobende Worte betreffend Janssons Erzähltalent, ihr Gespür für die Interessen der (kindlichen) Rezipienten wie auch die Fähigkeit, nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene zu berühren: <?page no="145"?> 5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografie 145 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Detta är sagan om muminfamiljen i mumindalen, som har installerat sig i ett hemtrevligt blått hus med tre små rum: ett himmelsblått, ett solskensgult och ett prickigt - och det lilla djuret Sniff är förstås också med. De få höra talas om den hemska kometen, som med rasande fart närmar sej jorden. Nu gäller det att ta reda på när den ska slå ner - och så beger sej mumintrollet och Sniff iväg på en hiskligt spännande färd och upplever alla möjliga äventyr det ena mer hisnande än det andra. Men också allt möjligt trevligt händer dem på vägen, så det hela blir en enda bråkig härva av hemska och glada upplevelser. Tove Jansson är en talangfull och fantasirik författarinna som precis på prick vet vad barn tycker om att höra. Och hon berättar samtidigt så ledigt att hon också kan roa fulvuxna barn. ( KJ , Klappentext) Das ist die Erzählung über die Muminfamilie im Mumintal, die sich in einem gemütlichen blauen Haus mit drei kleinen Räumen eingerichtet hat: einer himmelblau, einer sonnenscheingelb und einer gepunktet - und das kleine Tier Sniff ist natürlich auch mit dabei. Sie hören von dem schlimmen Kometen, der sich mit rasender Fahrt der Erde nähert. Nun gilt es herauszufinden, wann er einschlägt - und so begeben sich Mumintrollet und Sniff auf eine furchtbar spannende Reise und erleben alle möglichen Abenteuer, das eine atemberaubender als das andere. Aber auch viele angenehme Dinge passieren ihnen auf dem Weg, sodass das Ganze zu einer wilden Geschichte schlimmer und fröhlicher Ereignisse wird. Tove Jansson ist eine talentierte und fantasiereiche Autorin, die auf den Punkt genau weiss, was Kinder hören mögen. Und gleichzeitig erzählt sie so frei, dass sie auch erwachsene Kinder bewegen kann. Mumintrollet på kometjakt verfügt über einen Klappentext, der sich auf den ersten Blick durch seine Länge von dem von Kometjakten unterscheidet. Zu Beginn schildert er die Spannung, die in der Luft liegt und die Gefahr andeutet. Bisamråttan kennt den Grund dafür und berichtet vom Kometen. Darauf ist beschrieben, wie sich die Gruppe auf den Weg macht und vielerlei Abenteuer erlebt. Das Happy End der Erzählung nimmt der Klappentext bereits vorweg, was einen Spannungsaufbau verunmöglicht. Zum Schluss wird abermals Tove Jansson als Autorin gelobt: De stora äventyren började egentligen samma morgon, som Sniff hittade sin hemliga grotta. Mystiska och svårtydbara tecken började visa sig överallt. Tecken, som såg ut som en stjärna med svans efter sig. Varken Mumintrollet eller Sniff visste riktigt vad de skulle tro, men som vanligt hade Mumintrollet sina aningar. För säkerhets skull frågade han Bisamråttan, och han visste på råd; en ondskefull komet var på väg mot Mumintrollens [sic] fridfulla lilla dal. För att få reda på mera begav sig Mumintrollet och Sniff på väg mot Observatoriet i Ensliga Bergen. Efter en tid slog de följe med Snusmumriken och de tre vännerna fick uppleva både hemska och roliga äventyr. Och under tiden var kometen på väg… allt närmare, och närmare kom den som ett ondskefullt öga. På hemväg träffade de på Snorkfröken och hennes broder, som Mumintrollet med sin rådighet räddade från en hemsk köttätande Angostura. Så efter många äventyr kom de slutligen hem igen till det lilla blå Muminhuset i dalen, lagom för att rädda sig och Mumintrollets mamma och pappa från den stora kometen som kom svepande med sin långa glödheta svans… Tove Jansson är en talangfull och fantasirik författarina, som precis på pricken vet vad barn tycker om att höra. Hon berättar samtidigt så ledigt att hon också roar fullvuxna barn. ( MK , Klappentext) <?page no="146"?> 146 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Das grosse Abenteuer begann eigentlich am selben Morgen, an dem Sniff seine geheime Grotte entdeckte. Mystische und schwer zu deutende Zeichen begannen sich überall zu zeigen. Zeichen, die aussahen wie ein Stern mit Schwanz dahinter. Weder Mumintrollet noch Sniff wussten so richtig, was sie davon halten sollten, aber wie gewöhnlich hatte Mumintrollet seine Ahnungen. Zur Sicherheit fragte er die Bisamratte, und die wusste Rat: Ein boshafter Komet war auf dem Weg in Mumintrollets friedliches, kleines Tal. Um mehr zu erfahren, begaben sich Mumintrollet und Sniff auf den Weg Richtung Observatorium in den Einsamen Bergen. Nach einer Weile begleitete sie Snusmumriken und die drei Freunde erlebten schlimme und lustige Abenteuer. Währenddessen war der Komet auf dem Weg… immer näher und näher kam er, wie ein böses Auge. Auf dem Heimweg trafen sie Snorkfröken und ihren Bruder, die Mumintrollet in seiner Geistesgegenwart von einer schlimmen, fleischfressenden Angostura rettete. Nach vielen Abenteuern kamen sie schliesslich nach Hause ins kleine blaue Muminhaus im Tal, genau richtig, um sich und Mumintrollets Mama und Papa vor dem grossen Kometen zu retten, der mit seinem langen, glühend heissen Schwanz angebraust kam. Tove Jansson ist eine talentierte und fantasiereiche Autorin, die auf den Punkt genau weiss, was Kinder hören mögen. Gleichzeitig erzählt sie so frei, dass sie auch erwachsene Kinder bewegen kann. In Kometen kommer schildert der Klappentext zuerst das idyllische Mumintal. Mit diesem harmonischen Bild wird jedoch anschliessend gleich wieder gebrochen, wenn von der Ankunft des Kometen berichtet wird, die alle in Angst und Schrecken versetzt. Man erhält weiter die Information, dass sich die Freunde dieser Gefahr zu stellen gedenken. Der Klappentext verspicht einen Thriller höchster Spannung, in dem die Charaktere gegen die Zeit und den Kometen kämpfen, um die Welt zu retten. Der Leser wird zudem gar explizit eingeladen, den Figuren in dieses Abenteuer zu folgen: Sommaren är som den brukar i Mumintrollets dal, varm och full av trevliga möjligheter. Det lilla djuret Sniff har hittat en egen grotta - en mycket stor händelse. Men sent på natten kommer stormen… Om man är mycket liten är det svårt att fatta att världsrymden är kolsvart och aldrig slutar, och att jorden är en förvinnande[sic] liten gnista av liv. Plötsligt - långt ute i mörkret - lyser ett rött öga, som blir större för varje dag. Det är kometen som kommer närmare och närmare Mumindalen! Himlen är röd och havet kryper längst ner i sina hålor. Vartenda litet knytt packar ihop sina saker och flyr. Men Snusmumriken tar sin munharmonika och spelar visan om äventyr som inte är lagom stora utan alldeles kolossala, och så ger de sig rakt ut i farligheten. Följ med! ( KK , Klappentext) Der Sommer ist wie immer in Mumintrollets Tal, warm und voller angenehmer Möglichkeiten. Das kleine Tierchen Sniff hat eine eigene Grotte gefunden - ein sehr grosses Ereignis. Aber spät in der Nacht kommt der Sturm… Wenn man sehr klein ist, ist es schwer zu begreifen, dass der Weltraum kohlschwarz ist und nie endet, und dass die Erde ein verschwindend kleiner Funke Leben ist. Plötzlich - weit draussen im Dunkeln - leuchtet ein rotes Auge, das jeden Tag grösser wird. Das ist der Komet, der immer näher und näher ans Mumintal kommt! Der Himmel ist rot und das Meer verkriecht sich ganz tief in seine Löcher. Jedes kleine Knytt packt seine Sachen zusammen und flieht. Aber Snusmumriken nimmt seine Mundharmonika und spielt das Lied über Abenteuer, die <?page no="147"?> 5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografie 147 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) nicht nur gerade gross genug sind, sondern gar kolossal, und so begeben sie sich hinaus in die Gefahr. Komm mit! Die Klappentexte sind insofern zentraler Teil der Buchkomposition, als dass sie zusammen mit dem Cover das Erste sind, was der potenzielle Leser erblickt, beziehungsweise liest. Die Analyse machte die enge Verbindung der Cover und Klappentexte evident, sodass gar dafür plädiert werden kann, die Vorder- und die Rückseite des Buchs als Ganzes zu betrachten. So ist der Buchumschlag etwa ein weiteres Beispiel für das Zusammenspiel von Bild und Schrift. In den ersten beiden Versionen berichtet der Klappentext vom Aufbruch der furchtlosen Protagonisten und liefert eine zum Coverbild diametrale Information. Dort ist in den ersten beiden Versionen, wie erwähnt, eine Flucht abgebildet. Im Falle von Mumintrollet på kometjakten wird der Schrecken, den der Komet verbreitet und auf einem dramatischen Cover dargestellt ist, durch den Klappentext relativiert, indem das Happy End verkündet wird. Auch hier vermitteln das Cover und der Klappentext gegensätzliche Informationen, sodass letztlich ein angemessenes Mass an „sich fürchten“ gewährleistet ist. In Kometen kommer hingegen löst der Klappentext auf, dass es sich beim Coverbild um den Meeresboden handelt, ist also eine schriftliche Ergänzung zur bildlichen Ouvertüre. So wird ebenfalls klar, dass sich die Dramatik der Erzählung metaphorisch gesprochen vom Weltall bis in die Tiefen des Meeres erstreckt. b) Titelseiten Der Begriff „Titelseiten“ umfasst hier den Schmutztitel und die Titelseite mit den jeweiligen Rückseiten. Kometjakten erscheint mit einem schmucklosen Schmutztitel, ohne Verzierung jeglicher Art. Er enthält lediglich den Titel in der Mitte der ansonsten leeren Buchseite. Die Titelseite wird gestaltet durch Titel, Autornamen und Angaben zum Verlag (Abb. 32). Diese drei schriftlichen Komponenten unterscheiden sich nicht nur in Schriftart, sondern auch in Schriftgrösse, wodurch eine klare Hierarchie geschaffen wird. Oben auf der Seite steht der Titel in Grossbuchstaben. Darunter allein auf einer Zeile steht „av“ „von“, auf der nächsten Zeile dann der Name der Autorin kursiv gesetzt. Ganz unten auf der Seite, unterhalb einer Linie entlanglaufend, sind schliesslich noch die Angaben zum Verlag zu lesen. Die Illustration, die zwischen dem Autornamen und den Verlagsangaben eingefügt ist, zeigt besagten Kometen an einem nächtlichen Sternenhimmel. Die Rückseite der Titelseite ist weiss, bis auf eine Widmung, „Till Peter“ „Für Peter“. <?page no="148"?> 148 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 32: Titelseite Kometjakten. Mumintrollet på kometjakt beinhaltet einen Schmutztitel mit einer Illustration, die Mumintrollet in der Denkerpose zeigt, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Über ihm ein Stern mit einem langen Schweif. Die Illustration des Sterns ist auch im Buch abgebildet. Über der Illustration ist auf zwei Zeilen der Titel gesetzt. Die Titelseite enthält neben dem Titel den Autornamen, nun jedoch mit dem Hinweis „Ritad och berättad av“ „gezeichnet und erzählt von“ (Abb. 33). Janssons Doppelfunktion als Autorin und Illustratorin wird hier hervorgehoben. Darunter die Illustration des Kometen, die sich bereits in der ersten Version findet. Weiter stehen unten an der Seite die Verlagsangaben auf zwei Zeilen. Auf der Rückseite der Titelseite ist in dieser Ausgabe keine Widmung angebracht. Während die Gestaltungselemente auf der Titelseite von Kometjakten durch unterschiedliche Grösse eine hierarchisch gegliederte Buchseite zeigen, ist das Verhältnis in Mumintrollet på kometjakt ausgeglichener. Das Erscheinungsbild des Texts ist insofern harmonisiert, als dass es aus drei zweizeiligen Blöcken besteht. Kometen kommer enthält einen Schmutztitel, gänzlich ungeschmückt. Der Titel steht in relativ kleiner Schriftgrösse im oberen Drittel der Seite. Die Titelseite enthält Autornamen und Titel, Name des Verlags sowie dieselbe Illustration des Kometen. Erstmals steht hier der Autorname über dem Titel, wenn auch in kleinerer Schriftgrösse. Daher ist der Titel auch durch seine kursive Schrift dominantes Gestaltungselement der Seite (Abb. 34). Auch diese Version verfügt über keine Widmung. <?page no="149"?> 5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografie 149 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 33: Titelseite Mumintrollet på kometjakt. Abb. 34: Titelseite Kometen kommer. <?page no="150"?> 150 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Die Titelseiten offenbaren ein Spiel mit unterschiedlichen Schriftarten und -grössen sowie unterschiedlichen Kompositionsstrategien. Dies unterstreicht auch Bonnie Mak: „[…] the structures for arranging these letter forms in manuscripts and printed books are graphic indications of how designers visualized ideas and organized them for themselves and other readers.” 23 Die Titelseiten sind also ebenfalls Bestandteil des künstlerischen Ausdrucks Tove Janssons. Auffallend dabei ist die im wörtlichen Sinne immer wieder unterschiedliche Positionierung der Künstlerin in Form ihres Namens auf der Buchseite. Somit wird die Titelseite zu einer Art Exlibris, einer Kennzeichnung des Kunstwerks. c) Layout Bereits beim Betrachten der ersten Textseite offenbart sich, wie sich die Gestaltung stetig ändert. In Kometjakten ist die erste Seite des Texts durch eine schwarze Linie zweigeteilt (Abb. 35). Im oberen Teil ist auf einer Illustration Mumintrollet zu sehen, wie er gedankenverloren auf einer Brücke steht, die über einen Fluss führt. Rechts von ihm ein Strauch, links von ihm ein Briefkasten, der an einem Pfahl befestigt ist. Darüber hängt ein Wegweiser, der nach links zeigt. Gegen unten wird die Illustration durch eine Linie vom Text abgetrennt. Ausserdem scheint sie eine Art Damm zu bilden für das Wasser des Flusses, welches sich sonst über die Seite zu ergiessen droht. Gegen unten wird der Text abermals durch eine Linie begrenzt, die jedoch wesentlich dünner ist und nicht über die ganze Seite verläuft. Darunter befindet sich eine Fussnote, die darüber aufklärt, wie man das Wort „Mumintrollet“ ausspricht: „*Uttalas med tonvikt på första stavelsen“ „*Wird mit Betonung auf der ersten Silbe ausgesprochen“. Abb. 35: Illustrierte Seite aus Kometjakten. 23 Mak 2011, S. 16. <?page no="151"?> 5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografie 151 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) In Mumintrollet på kometjakt kommt dieselbe Illustration vor, nur wurde sie in dieser Ausgabe in der unteren Hälfte der Seite gesetzt (Abb. 36). Die Fussnote findet sich nicht mehr, wie auch die beiden Linien, die in Kometjakten noch vorhanden waren. Dadurch ist die Dreiteilung der Buchseite der ersten Version aufgehoben. In Kometen kommer wandert die Illustration wieder in den oberen Teil der Seite, wodurch sie mehr ins Blickfeld rückt (Abb. 37). Die Linien wurden jedoch nicht wieder eingefügt. Ferner wird ebenfalls die Veränderung deutlich, die sich im Erscheinungsbild von Mumintrollet abzeichnet. Verfügt er in der neusten Version doch über deutlich rundere und fülligere Konturen. In allen Versionen ist der erste Buchstabe durch die Grösse stark hervorgehoben. Abb. 36: Illustrierte Seite aus Mumintrollet på kometjakt . Der Vergleich der ersten Seite offenbart, in welch hohem Masse die einzelnen Gestaltungselemente volatil sind und daher ihre Positionen immer wieder verändern. Das nächste Beispiel der Buchgestaltung ist die Szene, in der Mumintrollet und seine Freunde auf dem Weg zu den Wissenschaftlern einen Berg besteigen müssen. Dabei sind sie gezwungen, eine steile Felswand zu erklimmen, wobei sie von einem Kondor attackiert werden. In Kometjakten wird dies wie folgt dargestellt: Besagte Felswand verläuft entlang der Kante der linken Seite. Die physische Beschaffenheit des Buchs wird genutzt, um zu demonstrieren, wie steil und hoch die Felswand ist. Weiter zu sehen sind Snusmumriken, Sniff und Mumintrollet, die auf einem kleinen Vorsprung stehen und sich Schutz suchend an die Felswand drücken (Abb. 38). Mumintrollet blickt ängstlich über die linke Schulter nach hinten. Dort befindet sich besagter Kondor, mit weit gespreizten Flügeln und ausgefahrenen Krallen, als wolle er die Freunde jeden Augenblick packen. Er blickt die Gruppe wütend an. Der Kondor befindet sich auf der Buchseite unterhalb des Texts, wobei beim linken Flügel <?page no="152"?> 152 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Bild und Text miteinander zu verschmelzen scheinen. Als Ganzes rahmt die Illustration den Text in einer L-Form. Dabei handelt es sich um eine Einrahmungstechnik, die Westin bereits bei Janssons Illustrationsarbeiten für Solveig von Schoultzs Nalleresan (1944) feststellt und für die Künstlerin als charakteristisch befindet. 24 Inhaltlich ist der Text auf dieser Seite jedoch noch nicht an dieser Stelle angelangt. Erst auf der gegenüberliegenden Seite erfährt der Leser, was exakt geschieht und dass die Gruppe glimpflich davon kommt. Die Gestaltung trägt hier also auch zur Spannung bei. In Mumintrollet på kometjakt findet sich dieselbe Illustration dieser Szene, jedoch in stark abgeänderter Form (Abb. 39). Die vertikale Komponente ist gänzlich verloren gegangen und damit auch der visuelle Eindruck der imposanten Felswand. Die Illustration ist bedeutend kleiner und nicht annähernd gleich dominant. Sie verläuft nun horizontal am oberen Seitenrand. Die Felswand wird lediglich noch angedeutet und läuft nicht mehr, wie in der vorigen Version, entlang der ganzen Länge der Seite, was den Eindruck der Gefährlichkeit des Unterfangens der Gruppe deutlich dämpft. Text und Bild sind mehr oder weniger synchron. In Kometen kommer ist die Szene layouttechnisch abermals gänzlich umgestaltet (Abb. 40). Weder Mumintrollet und seine Freunde noch die Felswand sind zu sehen. Übrig geblieben ist lediglich der Kondor, der oben an der Seite schwebt, mit ausgebreiteten Flügeln, mit denen er den Text zu umarmen scheint. Sein Blick ist ebenfalls nach unten auf den Text 24 Vgl. Westin, Boel. Det flerdimensionala samspelet. En modell för interaktionsanalys av muminböckernas text och bild. In: Tidskrift för litteraturvetenskap 11 (1982), 3-4, S. 155. Abb. 37: Illustrierte Seite aus Kometen kommer. <?page no="153"?> 5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografie 153 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) gerichtet, wo berichtet wird, wie der mächtige Vogel genau über den Figuren stehen bleibt. Ausserdem trägt er noch zwei Jungtiere mit sich. Perry Nodelman schreibt bezüglich Bildern in Bilderbüchern: „[…] they exist primarily so that they can assist in the telling of stories.“ 25 Die Analyse offenbarte jedoch, dass die Funktionalisierung der Illustration weit darüber hinaus geht. “The page is an expressive space for text, space, and image […].” 26 Diese Aussage Bonnie Maks wird durch die analysierten Beispiele bestätigt. Nicht nur wird durch die Gestaltung eine spannungsgeladene Interaktion zwischen Text und Illustration herbeigeführt, sondern das Buch in seiner Gegenständlichkeit wird auch in dieses Gefüge integriert. Beim nachfolgenden Beispiel handelt es sich um die Begegnung von Mumintrollet und seinen Freunden mit einem Zyklon, wobei sowohl Hemulens Briefmarkenalbum wie auch Mumintrollet, Sniff und Snusmumriken von ihm erfasst werden. In Kometjakten ist diese Szene auf einer Doppelseite beschrieben (Abb. 41). Auf der linken Seite wird erzählt, wie der Zyklon die drei Freunde erfasst. Illustriert aber ist in der oberen linken Ecke Hemulens Briefmarkenalbum, aus dem zahlreiche Briefmarken herausfallen und den Text einrahmen. Das Album öffnet sich gegen rechts. Im Text wird diese Szene jedoch erst auf der gegenüberliegenden Seite beschrieben: „I detsamma kom en liten 25 Nodelman, Perry. Words about pictures . The narrative art of children’s picture books . Athen und Georgia: University of Georgia Press 1988, S. VII. 26 Mak 2014, S. 18. Abb. 38: Illustrierte Seite aus Kometjakten. <?page no="154"?> 154 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 40: Illustrierte Seite aus Kometen kommer. Abb. 39: Illustrierte Seite aus Mumintrollet på kometjakt. <?page no="155"?> 5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografie 155 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) cyklonunge farande, dök in under trädroten och fick tag i hemulens frimärksalbum och virvlade det högt opp i luften.“ ( KJ 151) „Im selben Moment kam ein kleiner Zyklonjunge angebraust, tauchte unter die Baumwurzel und erfasste Hemulens Briefmarkenalbum und wirbelte es hoch in die Luft hinauf.“ Oben auf der linken Seiten steht, wie die Freunde vom Zyklon erfasst werden: „Tjutande kom cyklonens första härolder farande genom den nakna och ödelagda skogen. De ryckte medaljstjärnan från mumintrollet och blåste den rätt opp i en grantopp, de snurrade Sniff fyra varv runt och försökte knycka snusmumrikens hatt ifrån honom.“ ( KJ 150) „Heulend kam der erste Bote des Zyklons über den nackten, zerstörten Wald. Er entriss Mumintrollet seinen Medallienstern und blies ihn hinauf auf einen Baumwipfel. Er wirbelte Sniff viermal herum und versuchte, Snusmumrikens Hut zu klauen.“ Zu sehen ist dies jedoch auf der rechten Buchseite. Entlang des unteren Seitenrandes sind hintereinander Sniff, Mumintrollet und Snusmumriken abgebildet, wie sie in die Fänge des Zyklons geraten. Durch die Anordnung der Illustrationen entsteht eine Klammer, die die Doppelseite als Bild rahmt. Von der oberen linken Ecke bis zur unteren rechten Ecke. Die Illustrationen, das Briefmarkenalbum und die Figuren sind einander zugewandt. Die Szene erhält so eine starke Dynamik, der Sog des Zyklons wird über die Seiten hinweg nachempfunden. Ferner sei hier noch auf die Fussnote hingewiesen. Abb. 41: Illustrierte Seite aus Kometjakten. In Mumintrollet på kometjakt ist dieses asynchrone Verhältnis von Bild und Schrift aufgelöst worden (Abb. 42). Das bedeutet, auf der Seite, auf der beschrieben ist, wie die Figuren vom Zyklon erfasst werden, ist auch dies oben horizontal abgebildet. Entsprechend ist auf der gegenüberliegenden Seite, auf der der Text vom Briefmarkenalbum erzählt, das vom Wind <?page no="156"?> 156 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) geraubt wird, auch dieses zu sehen. Ebenfalls horizontal oben an der Seite verlaufend, ohne den Text einzurahmen. Durch die Anordnung von Text und Bild entsteht quasi ein Windkanal, der über die Buchseiten hinweg zieht. In dessen Sog werden die Figuren und das Briefmarkenalbum von rechts nach links katapultiert, sodass sie beinahe Gefahr laufen, aus dem Buch hinaus respektive auf die nächste Seite geblasen zu werden. Der nachgebildete Sog des Windes hat nichts an Stärke eingebüsst, die Kreisförmigkeit des Zyklons, die bei der Komposition in Kometjaken deutlich zur Geltung kommt, findet sich hier jedoch nicht mehr. Durch diese Anordnung wird aber intensiver zum Blättern animiert. Dies wird zusätzlich durch den Text unterstützt, der unten auf der rechten Seite weiterläuft und so ebenfalls zum Blättern zwingt. Abb. 42: Illustrierte Seite aus Mumintrolet på kometjakt. In der jüngsten Ausgabe Kometen kommer sind die beiden Illustrationen nicht mehr auf der gleichen Doppelseite anzutreffen. Das bedeutet, der Akt des Blätterns wurde hier nochmals stärker in die Gestaltung miteinbezogen und damit eine Dimension, welche sich vor allem auf das Tempo und den Rhythmus der Erzählung auswirkt und tatsächlich auch das Buch in seiner physischen Form in die Gestaltung miteinbindet. 27 Auf der einen Seite befindet sich oben die Illustration der drei Figuren, die vom Wind erfasst werden (Abb. 43). Der Text auf der gleichen Seite endet jedoch mit Hemulens Aufschrei. „Och så skrek Hemulen, värre än en mistsiren. Stormen […].“ ( KK 123) „In diesem Moment fing der Hemul an zu schreien, und das klang schlimmer als eine Heulboje. Der Sturm […].“ ( KM 150). Der Text läuft auch in diesem Beispiel auf die nächste Seite aus und provoziert daher das Blättern. 27 Vgl. Rhedin 2001, S. 165. <?page no="157"?> 5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografie 157 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 43: Illustrierte Seite aus Kometen kommer. Abb. 44: Illustrierte Seite aus Kometen kommer. <?page no="158"?> 158 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Ausserdem endet der Text mit dem Wort „Stormen“ „der Sturm“ und damit auch an einer dramaturgisch geschickten, weil spannungsgeladenen, Stelle und lädt dadurch zusätzlich zum Blättern ein. Blättert man, so erblickt man in der linken oberen Ecke der nächsten Seite den Grund für Hemulens Aufschrei: Die Illustration zeigt Hemulens Briefmarkenalbum, wie es ebenfalls vom Zyklon erfasst wird (Abb. 44). Auch hier fallen Briefmarken heraus. Dies lässt bereits Dramatisches erahnen. 5.2.1. Zusammenfassung Titel wandeln sich um, Widmungen und Fussnoten werden entfernt oder hinzugefügt, Illustrationen werden umgestaltet, wandern und verändern ihre Position. Dies bringt die Analyse der unterschiedlichen Versionen von Kometen kommer deutlich zutage. Mit anderen Worten: Das Buch ist ein Objekt, in dem nichts konstant ist. Janssons Gestaltungskonzept erweist sich insofern als regelrecht subversiv, als dass es sich immer wieder, also in jeder Überarbeitung, überholt, für nichtig erklärt und so das Buch als Artefakt in Frage stellt. Die Betrachtung der unterschiedlichen Versionen zeichnet ein Bild eines Kunstprojekts, welches sich über mehrere Jahrzehnte stetig verändert hat. Die Prozesshaftigkeit von Janssons Wirken, welche in den vorherigen Kapiteln bereits angesprochen wurde, wird hier auf einer materiellen Ebene erneut zementiert durch die Unstetigkeit der Form. Es handelt sich bei jeder Umarbeitung um die erneute Appropriation des Kunstwerks im Sinne einer Aneignung. Aneignung wiederum „[…] ist im Kontext materieller Kultur auch als materielle Umgestaltung von Dingen zu verstehen.“ 28 Konkret wurde das visuelle Erscheinungsbild anhand des Umschlags, der Titelseiten sowie exemplarischen Beispielen der Seitengestaltung untersucht. Mit dem stetigen Verändern der Titel wird immer wieder ein Fokuswechsel vorgenommen: Von einer Jagd nach einem Kometen, bei der in der zweiten Version zusätzlich eine Figur in den Mittelpunkt gerückt wird, bis zum Gegenteil in der neusten Version, welche im Titel die Ankunft des besagten Kometen ankündigt. Die Cover zeichnen diese Entwicklung nach. Die Klappentexte stehen in einer engen Verbindung mit dem Cover, ergänzen dieses, was den Informationsgehalt betrifft oder widersprechen dem Cover. Das Cover und der Klappentext bilden den Buchumschlag, der erst als Ganzes betrachtet seine volle Wirkung entfaltet. Die Titelseiten offenbarten sich als grafische Formexperimente, bei dem vor allem die Positionierung der Künstlerin in Form des Autornamens wechselt. Das Seitenlayout basiert auf einer avancierten Inszenierung des Zusammenspiels von Bild und Schrift. Darüber hinaus offenbart das Gestaltungskonzept ebenfalls die Rolle des Buchs in seiner Körperlichkeit im Gestaltungskonzept. Es wird in die Gestaltung miteinbezogen und so auch inszeniert. Genauer wurde etwa evident, welche Bedeutung der Seitenkante oder dem Blättern zukommt. Entsprechend offenbart sich erst dann die ganze Komplexität des Arrangements, wenn man das Objekt Buch als Gestaltungselement in die Untersuchung miteinbezieht. Die Prozessualität von Tove Janssons Schaffen, welche sich hier durch die Umarbeitungen äussert, impliziert weiter einen äusserst pragmatischen Umgang mit ihrem Material, der einer hierarchischen Betrachtung, in der zwischen der Originalversion und den übrigen Ausgaben unterschieden wird, ihre Legitimation entzieht. Auf diese Weise laden die Muminbücher letztlich zum Sinnieren über die Finalität des Kunstwerks ein, was eine 28 Hahn, Hans Peter. Materielle Kultur. Eine Einführung . 2. überarb. Aufl. Berlin: Reimer 2014, S. 101. <?page no="159"?> 5.3. Die Bilderbücher 159 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) poetologische Reflexion fernab des Inhalts der Werke ermöglicht. Erst eine derartige Betrachtung lässt das „Buch als eigenständige und für sich genommen schon signifikante Form aus dem Schatten der Autorität seines Inhalts “ treten. 29 5.3. Die Bilderbücher 5.3.1. Hur gick det sen? a) Titelseiten Der Schmutztitel ist eine weisse Seite mit derselben Perforation, wie sie auf dem Cover zu finden ist. Es scheint, als reiche besagtes Loch durch das gesamte Buch. Auf diese Art wird dessen Tiefe, dessen Volumen in den Fokus gerückt. Die Rückseite des Schmutztitels und das Titelblatt bilden gemeinsam ein Bild, welches sich über einen Seitenaufschlag erstreckt. Auf der rechten Seite ist eine Figur in menschlicher Gestalt zu sehen, etwa ein Verleger oder auch eine Art Zirkusdirektor. Der theatrale Aspekt, der bereits beim Umschlag etwa mit der roten Farbe angedeutet wurde, verstärkt sich hier weiter. Mit einer einladenden Handbewegung präsentiert er dem Leser die Hauptfiguren, die auf der gegenüberliegenden Seite zu erblicken sind: Mymlan, Mumintrollet, der eine Milchkanne in der Hand hält, und Lilla My. In der anderen Hand hält die Figur eine überdimensionierte Schere. Daneben ist zerschnittenes Papier zu sehen. Ein Papierstreifen scheint sich durch das Ausschneiden des Lochs über ihm ergeben zu haben. Oben auf der Seite findet sich schliesslich mit dem Text „Hålen är klippta hos Gebers! “ „Die Löcher sind bei Gebers ausgeschnitten! “ ein expliziter schriftlicher Hinweis darauf, gekoppelt mit dem Namen des Verlags, für den die Löcher charakteristisch sein sollen. Damit wird das wohl zentralste Gestaltungselement des Kunstwerks als solches pointiert wie auch der mechanische Aspekt der Buchproduktion. 30 Die Schrift ist in roter Signalfarbe gesetzt und mit einem Ausrufezeichen versehen. Ferner findet sich in der unteren linken Ecke derselben Seite eine Widmung: „Tillägnat Putte“ „Putte gewidmet“. Die Widmung steht auf einer Tafel oder einem Blatt Papier. Zwischen dem Papier sitzt eine kleine Figur, die im Unterschied zum Verleger über kein menschliches Aussehen verfügt. Die rechte Seite ist dominiert vom erwähnten Ensemble der Erzählung. Von ihnen waren bis anhin nur die Porträts durch das Loch zu sehen. Hinter ihnen, in der Form der Perforation, der Himmel mit den weissen Wolken, der ebenfalls dank dem Loch bereits von aussen sichtbar war. Die Perforation wird dieses Mal lediglich durch die Form der Illustration angedeutet. Über ihnen ist in vergleichsweise kleiner, dezenter Schrift der Autornamen gesetzt, unterhalb der Figuren der Kurztitel des Buchs. Titel dieser Art bezeichnet Arnold Rothe als phatisch. Phatische Titel stellen eine kommunikative Verbindung her, 31 beispielsweise indem der Leser direkt angesprochen wird, wie dies hier der Fall ist. Mit der Frage „ Hur gick det sen? “ wird die zentrale Frage nach dem weiteren Verlauf der Erzählung an den Leser abgegeben. Sie erinnert ausserdem stark an die im Text vorkommende Frage „Vad tror du att det hände sen? “ „Was glaubst du, geschah dann? “, die am Ende jedes Textabschnitts schier mantrisch wiederholt wird und den Leser direkt auffordert, auf die nächste Seite zu 29 Schulz 2015, S. 288. 30 Vgl. Druker 2008, S. 85. 31 Vgl. Rothe 1986, S. 86. <?page no="160"?> 160 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) blättern. Der Titel ist Ausdruck des im Buch so zentralen Überraschungsmoments, welches durch den eben erwähnten Refrain im Text wie etwa auch durch die am Anfang des Kapitels besprochenen Perforationen provoziert wird. b) Tanzende, hüpfende und schreiende Buchstaben Der Text in Hur gick det sen? hat weder eine einheitliche Schriftart noch einen fixen Platz, wodurch Jansson mit den gängigen Traditionen bricht und die Leser vor neue Herausforderungen stellt. Jansson imitiert durchgehend eine Handschrift, die jedoch stark variiert. Solche Schreibschriften stehen je nach Kontext etwa für Exklusivität oder Individualität, konstatiert Jürgen Spitzmüller. 32 Im Falle von Jansson verstärkt die verwendete Schreibschrift das künstlerische Element. Der Text wird von den Bildern absorbiert und auf unterschiedlichste Weise in diese integriert. Text findet sich in Hur gick det sen? plötzlich überall auf der Seite, etwa in einer Wolke oder in einem Baum. Teilweise finden sich gar schriftliche Mitteilungen an die Leserschaft in Form eines Briefes oder auf Hinweisschildern. Durch diese metafiktionalen Elemente fördert Jansson ein partizipatives Lesen. Der Leser wird selbst Teil der Geschichte, kann diese sogar mitgestalten. Wenn sich Text nicht mehr an die Konventionen hält, wie und wo Worte in einem Buch platziert werden, verwandeln sich Worte in Bilder, erwähnt Elina Druker. 33 Dies wiederum bezeichnet Sybille Krämer als Schriftbildlichkeit. Ihre Definition lautet wie folgt: Sie [Schriften] verbinden Attribute des Diskursiven wie des Ikonischen und verkörpern in dieser ihrer Mischform ein Kraftfeld, das weder der „reinen“ Sprache noch dem „blossen“ Bild zueigen ist. Es ist dieses in der Verknüpfung von Sprachlichem und Bildlichem wurzelnde Potenzial der Schrift, auf welches der Begriff „ Schriftbildlichkeit “ zielt. 34 Tatsächlich sind in Hur gick det sen? die Grenzen zwischen Text und Bild unscharf. Dies manifestiert sich ebenfalls darin, dass der Text nicht immer deutlich durch ein Textfeld vom Bild getrennt ist. Das Bild, welches Hemulen zeigt, der Mumintrollet und Mymlan mit einem riesigen Staubsauger einsaugt, 35 demonstriert anschaulich, wie fliessend Jansson die Grenze zwischen Text und Bild gestaltet, indem Hemulens Füsse in das weiss grundierte Textfeld eindringen. Dadurch lässt sich auch nicht mehr klar erkennen, ob nun Bild oder Text die Basis der Erzählung ausmacht. Jansson erreicht so eine dominierende Wirkung des Visuellen, die sich durch das ganze Buch zieht. Eine solche Konzeption hat jedoch weitreichende Konsequenzen für die Rezeption. Indem Jansson mit Buchstaben Bilder malt, nimmt sie den Fokus weg vom lexikalischen Inhalt des Textes hin zur Typografie, zum Bildhaften, und setzt dessen Wirkung gezielt ein. Mit anderen Worten, Jansson arbeitet mit mikrotypografischen Elementen. Mikrotypografie beinhaltet unter anderem die Auszeichnung, das heisst die „[…] Hervorhebung durch Fettdruck, Kursiven, Kapitälchen, Unterstreichung, Sperrung, Schriftmischung etc. […].“ 36 Die Leserichtung wird nicht mehr klar vom Text gesteuert, wodurch der Adressat gefordert ist, die Seiten auf eine ganz neue Art zu lesen. Die Buchseiten in Hur gick det sen? gleichen eher künstlerisch gestalteten Gemälden, die als Ganzes gesehen werden können. 32 Vgl. Spitzmüller 2016, S. 231. 33 Vgl. Druker 2008, S. 103. 34 Krämer 2012, S. 14. 35 Jansson 1991. [Nicht paginiert] 36 Spitzmüller 2016, S. 216. <?page no="161"?> 5.3. Die Bilderbücher 161 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) So wie Bilder die Wirkung von Text verstärken können, so kann auch Text durch sein Erscheinungsbild seine lexikalische Bedeutung auf unterschiedlichste Weise verstärken, abschwächen, erklären oder ergänzen, da neben der bereits erwähnten Schriftart und der Platzierung auch typografische Gestaltungselemente wie Grösse, Dicke oder Schriftrichtung wichtige Bedeutungsträger sind, 37 deren sich auch Jansson bedient. Einerseits instrumentalisiert Jansson die Buchstaben, um das Geschehen bildlich nachzuahmen, indem sie etwa Bewegung oder Grösse der Charaktere in der Schrift sichtbar macht. So wird der Name der kleinen Lilla My in kleinen Lettern geschrieben, während der grossen Gestalt des Hemuls auch in Form von grossen Buchstaben Ausdruck verliehen wird, wie wie auf dem bereits erwähnten Bild von Hemulen mit dem Staubsauger ersichtlich ist. Dasselbe Bild zeigt weiter Mymlans und Mumins rasante Fahrt durch den Schlauch des Staubsaugers, die auch im Schriftbild durch wellenförmige Zeilen und schräge Buchstaben nachgeahmt wird. Andererseits werden auch im Text enthaltene Konnotationen durch die visuelle Ausgestaltung des Schriftbildes sichtbar gemacht. Auf dem Beispielbild stechen die Worte „hemska tratt“ „unheimlicher Trichter“ (Trichter steht für die Düse des Staubsaugers) durch grosse, fette, schwarze Buchstaben hervor, die die Gefahr ausdrücken, die vom Staubsauger ausgeht. Ausserdem ist die Grösse der Buchstaben auch ein Hinweis auf die Lautstärke des Staubsaugers. Weiter charakterisiert Jansson Figuren auch durch ein spezifisches Schriftbild. Besonders deutlich wird dies bei der liebenswürdigen Muminmamman. Spricht sie, sind die i-Punkte und die Punkte über den Umlauten Herzen. All dies veranschaulicht, wie Jansson die typografischen Stilmittel nicht nur unter ästhetischen, sondern auch unter emotionalen Gesichtspunkten verwendet und damit gezielt Emotionen transportiert. Das Transportieren von Gefühlen wird vor allem bei den zahlreichen emotionsgeladenen Ausrufen der Figuren deutlich und als Hinweis für den Leser interessant, da hier die Gestalt der Schrift Informationen liefert, die aus den Bildern nicht immer ersichtlich sind. In diesem Sinne nimmt Jansson hier, ähnlich wie die Regieanweisungen bei einem Theaterstück, selbst eine Textwertung vor, indem sie etwa Worte durch eine visuelle Hervorhebung betont und so auch die Leseart beeinflusst. Mündlichkeitsmerkmale wie Lautstärke, Betonung oder Rhythmik markiert Jansson ebenfalls optisch durch Schriftgestaltung und Interpunktion. Dadurch ergibt sich ein äusserst heterogenes Schriftbild, was die Ausdruckskraft der einzelnen Worte erhöht, da Schriftgestalt ihre Wirkung vor allem auch durch Kontraste entfaltet. 38 Die Bildlichkeit von Schrift mischt sich in das ein, was sich sprachlich vermittelt. Dabei stört, vertieft, ergänzt sie den Text oder codiert ihn mehrfach, äussert sich diesbezüglich Aleida Assman. 39 Schriftfarbe und Hintergrundfarbe können als weitere bedeutungstragende Elemente angeführt werden, die Jansson verwendet. Die Hintergrundfarbe der Schrift in Hur gick det sen? ist meistens weiss. Ausser wenn sich die Figuren in einem Raum befinden. Der Text ist dann vollständig im Bild integriert und nicht in einem Textfeld mit anderer Hintergrundfarbe vom Rest abgesetzt. So etwa beim Bild des Hauses der Hattifnattar (Abb. 1), da wechselt Jansson die Schriftfarbe von Schwarz in Weiss und in ein zur dramatischen Szene passendes aggressives, bedrohliches Purpur, das stark mit dem schwarzen Hintergrund kontrastiert, gleichzeitig aber das Purpur des dramatischen Nachthimmels wieder 37 Vgl. Druker 2008, S. 101. 38 Vgl. Spitzmüller 2016, S. 225. 39 Vgl. Assman 2015, S. 209. <?page no="162"?> 162 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) aufnimmt. Dies ist das einzige Mal, dass Jansson hier zu anderen Schriftfarben greift, was deren Signalwirkung verstärkt. c) Berstender Buchkörper Die Perforationen sind das wohl auffälligste Gestaltungsmerkmal von Hur gick det sen? Sie finden sich auf beinahe jeder Seite in den unterschiedlichsten Formen und Grössen in das Gesamtbild integriert. Sie sind jedoch nicht nur rein dekorativ, sondern erfüllen Funktionen verschiedenster Art. Indem sie eine Verbindung zwischen den Seiten schaffen, sind sie massgeblich beteiligt an Tempo und Rhythmus der Erzählung. Die Perforationen fungieren also in Elina Drukers Worten unter anderem auch als visuelle „pageturners.“ 40 Die Figuren bewegen sich durch die Perforationen von Seite zu Seite, beziehungsweise durch den ganzen Buchkörper in seiner Dreidimensionalität hindurch. Bis schliesslich das letzte Loch zu klein ist, als dass sie noch hindurch passen würden. Entsprechend schliesst die Erzählung mit den folgenden Worten: „Men. / …alldeles för litet var / det sista hålet som fanns kvar.. / Nu stannar vi i boken, ty- / Vi är för stora! ! ! Sa lilla My“ ( HGDS , unpaginiert) „Aber. / …viel zu klein war / das letzte Loch das übrig war.. / Jetzt bleiben wir im Buch, denn- / Wir sind zu gross! ! ! Sagte Lilla My.“ Sirke Happonen stellt jedoch fest, dass lediglich Filifjonkan die Kraft besitzt, den Buchkörper aktiv zu sprengen und ein Loch zu verursachen: In the story the characters move forward through the holes cut in the pages, but the Fillyjonk is the only minor character who has the power to ,split the page‘ and thereby burst into the following spread ahead of the main characters. 41 Auf dem entsprechenden Bild hüpfen Mymlan, Mumintrollet und Lilla My durch ein Loch, das aussieht wie eine Sonne oder ein Mond, auf die Seite und landen auf Filifjonkan: „Nu blev hon platt“ ( HGDS , unpaginiert) „Jetzt ist sie platt“ lautet Lilla Mys Kommentar dazu. Filifjonkan erschrickt derart, dass sie in Panik flieht und dabei die Buchseite durchbricht. Im Text daneben wird der Leser aufgefordert, Filifjonkan auf dem dafür vorgesehen weissen Feld wieder ins Buch hineinzuzeichnen. Dieser selbstreferenzielle Charakter der Inszenierung der Perforation rückt abermals die blosse Materialität des Mediums in den Mittelpunkt. Joachim Schiedermair äussert sich dazu wie folgt: […] auf der Seite, auf der Filifionka das Papier des Buchs zerreisst, in dem sie selbst als Figur vorkommt, ist das Loch jeder Repräsentationsfunktion enthoben. Es zeigt nur noch, was es tatsächlich ist: eine Aussparung im Papier. 42 Schliesslich ist noch zu erwähnen, dass die Perforationen bewusst eingesetzt werden, um das Farbspektrum der jeweiligen Doppelseite zu erhöhen, da durch die Löcher Farben der vorherigen respektive nachfolgenden Seite entliehen werden können. 40 Druker 2008, S. 80. 41 Happonen, Sirke. The Fillyjonk at the window: Aesthetics of movement and gaze in Tove Janssons illustrations and texts. In: McLoughlin, Kate und Malin Lidström Brock (Hrsg.). Tove Jansson rediscovered . Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2007, S. 57. 42 Schiedermair 2013, S. 246. <?page no="163"?> 5.3. Die Bilderbücher 163 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 5.3.2. Vem ska trösta knyttet? a) Umschlag und Titelseiten Das bunte Cover von Vem ska trösta knyttet? „Wer wird Knyttet trösten? “ zeigt eine Gruppe von Figuren, verschiedene Fabelwesen, die in einem Kreis stehen und sich unterhalten. Im Vordergrund, ausserhalb des Kreises, steht eine Figur mit menschlichem Aussehen, die sich betrübt vom Rest abwendet. Sie ist in schwarz-weiss gehalten. Darunter ist in grossen, roten Lettern der Titel zu lesen. Wie bei Hur gick det sen? besteht dieser aus einer Frage. Er steht für die verzweifelte Suche des Protagonisten nach einem Weg aus seiner Einsamkeit. Ferner wird im Titel eine Figur als Hauptfigur hervorgehoben. Sofort wird klar, dass es sich bei der isolierten Figur auf dem Cover um Knyttet handelt, dass sie also den Protagonisten der Erzählung darstellt. „The choice of the cover picture reflects the authors’ (or in some cases perhaps the publishers’) idea of the most dramatic or enticing episode in the story.“ 43 Knyttet fühlt sich allein. Auch oder gerade dann, wenn er sich inmitten anderer Kreaturen befindet. Die Rückseite zeigt im Vordergrund eine Blume. In dessen Blüte sitzt Snusmumriken mit seiner Mundharmonika. Im Hintergrund verschmelzen Himmel und Meer in einem einheitlichen Blau. Dadurch werden die Grenzen zwischen Himmel und Erde verwischt. Rechts beleuchtet ein grosser, gelber Mond das Wasser. In seinem Schein ist ein kleines Boot erkennbar. Darin sitzen Knyttet und Skryttet. Der Umschlag ist eine Zusammenfassung der gesamten Erzählung, in der gar das Ende vorweggenommen wird: Knyttet ist nicht mehr allein. Auf dem Vorsatz ist eine Widmung zu erkennen. Das Buch ist Janssons Partnerin Tuuliki Pietilä zugetan. Die Widmung steht auf der Vorderseite eines Buchs, das eine Figur in den Händen hält. Die Figur scheint das Buch zu öffnen. So zeigt die Illustration eine Leseszene, in der das Buch als Gebrauchsgegenstand dargestellt wird. „[…] Illustrations can refer to the world beyond the page and participate in a wider conversation about the book that involves the social status of the particular codex, its designers, and its owners.“, konstatiert diesbezüglich Bonnie Mak. 44 Das Titelblatt zeigt Knyttet, der unter einem Rosenbusch auf einem Stein sitzt. Dabei ist Knyttet jedoch beinahe auf gleicher Höhe wie das erste Wort des Titels: „Vem “ „wer“. Das Wort steht in grossen Blockbuchstaben. In der unteren Zeile folgt der nächste Teil des Titels: ska trösta knyttet? „wird Knyttet trösten“. Dieser ist in einer filigranen Schreibschrift geschrieben. Darunter folgt der Autorname, wieder in Blockschrift. Unten an der Seite ist eine kuhähnliche Figur zu erkennen, mit Hörnern und einem langen Schwanz. Die Grösse der grafischen Gestaltungselemente, seien es nun Illustrationen oder Schriftzeichen, nimmt in vertikaler Richtung stetig ab. Dadurch entsteht eine Trichterform. b) Sichtbarkeit als materieller Prozess Wie erwähnt, handelt die Erzählung von Knyttets Suche nach einem Weg aus seiner Einsamkeit. Dieser Prozess ist als eine Wanderschaft durch verschiedene Landschaften gestaltet, auf der er auf die unterschiedlichsten Kreaturen trifft. Dabei wechseln sich Bilder, auf denen er inmitten eines regen Treibens dargestellt wird, mit solchen ab, auf denen er allein oder lediglich mit einer weiteren Figur abgebildet ist. Die Bilder in Vem ska trösta knyttet? sind bis auf wenige Ausnahmen auf Doppelseiten konzipiert. Tove Holländer weist 43 Nikolajeva, Maria und Carole Scott. How picturebooks work . New York und London: Routledge 2006, S. 246. 44 Mak 2011, S. 17. <?page no="164"?> 164 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) darauf hin, dass in Vem ska trösta knyttet? die Farben stärker pastellig sind als in Hur gick det sen? . 45 Bei vielen Doppelseiten dominiert ein Farbfeld, meist der Himmel. 46 Lena Kåreland und Barbro Werkmäster deuten darauf hin, dass sich die Harmonie der Doppelseiten immer dadurch ergibt, dass sich die verschiedenen Elemente durch eine geschickte Platzierung ausbalancieren. 47 Im Text wird die Frage, durch wen und wie Knyttet getröstet werden soll, immer wieder wiederholt, vergleichbar mit der refrainartigen Frage „Vad tror du att det hände sen? “, die sich in Hur gick det sen? am Ende jeden Textabschnitts findet. „[…] svaret är en sammanfattande levnadsvisdom i havamalsk anda“ „[…] die Antwort ist eine zusammenfassende Lebensweisheit im Geiste der Hávámal“, stellen Kåreland und Werkmäster fest. 48 Im Beispiel geht es etwa darum, wie man Kontakte knüpft: „Men vem ska trösta knyttet med att säga sanningen: / om du bara springer undan så får du ingen vän.“ ( VSTK , nicht paginiert) „Aber wer wird Knyttet damit trösten, die Wahrheit zu sagen: / wenn du nur davonläufst, bekommst du keinen Freund.“ Der Text ist damit gespickt mit hoch philosophischen Gedanken und Ratschlägen, die dem Leser auf jedem Seitenaufschlag mitgegeben werden. Ein Bild zeigt Knyttet, der sich auf Wanderschaft begeben hat. Auf seinem Weg trifft er auf zahlreiche Charaktere. Dieses Ablaufen des Weges wird auf einer Doppelseite in einer Art Collage dargestellt. Vor einem weissen Hintergrund findet sich ein Gewimmel an Figuren, Dingen und Tieren, vieles in mehrfacher Ausführung. Auf deren genaue Anzahl wird im Text jeweils hingewiesen: „Och fyra filifjonkor körde visslande förbi / och två små gröna ekipage med åtta homsor i“ ( VSTK , nicht paginiert) „Und vier Filifjonkor fuhren pfeifend vorbei / und zwei kleine grüne Kutschen mit acht Homsor darin“. Bei der Aufteilung der verschiedenen Gestaltungselemente auf der Doppelseite scheint die Knickkante des Buchs eine entscheidende Rolle zu spielen. Sie definiert den Mittelpunkt, von dem aus die Gestaltungselemente gleichmässig verteilt werden. Knyttet ist zu schüchtern, um jemanden anzusprechen. Auf dem Bild versteckt er sich in der unteren rechten Ecke hinter einem Stein. Von dort aus beobachtet er das Geschehen aus sicherer Distanz. Alles scheint an ihm vorbeizuziehen. Knyttet wird in diesen Bildern immer am Rand des Bildes dargestellt, als gehöre er gar nicht dazu. Eine Interaktion mit den übrigen Figuren findet nie statt. Sein Kopf ist nach links gewandt, sein Körper jedoch nach rechts, als wollte er gleich auf die nächste Seite gehen beziehungsweise auf die nächste Seite blättern. Der Wendepunkt tritt ein, als Knyttet durch eine Flaschenpost von Skryttet erfährt, die ebenfalls einsam ist und Hilfe benötigt. Knyttet wird nun plötzlich vom Opfer zum Helfer. Nachfolgend findet er dadurch den Mut, auf andere zuzugehen. Die entsprechende Abbildung besteht aus drei horizontalen Ebenen: Himmel, Strand und Meer sowie ein Textfeld. 49 Das Bild stellt insofern eine Ausnahme dar, als dass sich Text ansonsten lediglich auf einer Hälfte des Seitenaufschlags findet. Im Gegensatz zu Hur gick det sen? ist das Buch jedoch weitaus weniger experimentell, was die Typografie betrifft. Der Text ist immer in derselben Schreibschrift gesetzt. Die zweite und die dritte Ebene des Bildes fliessen ineinander, sind 45 Vgl. Holländer 1983, S. 16. 46 Vgl. Kåreland, Lena und Barbro Werkmäster. Livsvandring i tre akter. En analys av Tove Janssons bilderböcker Hur gick det sen? , Vem ska trösta knyttet? , Den farliga resan . (Skrifter utgivna av Svenska barnboksinstitutet 54). Hjelm: Uppsala 1994, S. 51. 47 Vgl. Ebd., S. 51. 48 Ebd., S. 52. 49 Jansson, Tove. Vem ska trösta knyttet? . Stockholm: Alfabeta 2010d. [Nicht paginiert] <?page no="165"?> 5.3. Die Bilderbücher 165 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) durchlässig. Das Wasser ergiesst sich quasi von der mittleren Ebene in die unterste, in das Textfeld. Knyttet steigt ins Wasser, um die Flasche zu fassen. Die verschiedenen Motive sind auch hier gleichmässig auf der Doppelseite verteilt: Fünf rote Hügel auf der linken Seite stehen einem enormen weissen Mond auf der rechten Seite gegenüber, um die markantesten Elemente zu nennen. In diesem Zusammenhang ist auch auf die absurde Farbgebung hinzuweisen. Ausgangspunkt der symmetrischen Gestaltung bildet auch hier das Buch in seiner Form beziehungsweise die Knickkante. Das Wissen um Skryttet verleiht Knyttet nicht nur die Courage, auf andere zuzugehen, sondern läutet ebenfalls einen materiellen Wechsel in dem Sinne ein, dass er nun sichtbar wird, respektive ins Zentrum des Geschehens, und so ebenfalls ins Zentrum des Bildes, rückt. Auf einer folgenden Abbildung treibt Knyttet in seiner Tasche auf dem Meer, umgeben von Walen, Fischen, Homsor und Filifjonkor. 50 An ihm ziehen zahlreiche Boote vorbei. Auch hier sind Gestaltungselemente in mehrfacher Ausführung abgebildet: En festklädd filifjonka åkte vinkande förbi / och sex himmelsblåa båtar med nio homsor i, den femte homsan hälsade på knyttet som skrek: hej, / o, det har aldrig förut hänt att någon upptäckt mej! […]. ( VSTK , nicht paginiert) Eine festlich gekleidete Filifjonka fuhr winkend vorbei / und sechs himmelblaue Boote mit neun Homsas darin, der fünfte Homsa grüsste Knyttet, der schrie: hej, / o, bis jetzt ist es noch nie geschehen, dass mich jemand entdeckt hat. Nun findet also eine Interaktion statt. Filifjonkan und Knyttet sind einander zugewandt. Die Fische in der Bildmitte hüpfen über die Knickkante, als wollten sie zusätzlich eine Verbindung schaffen. 5.3.3. Den farliga resan a) Umschlag und Titelseiten Oben auf dem Cover steht der Autorname in einer weissen Schrift. Unten der Titel in einer schwarzen. Der dritte Bilderbuchtitel Den farliga resan (Die gefährliche Reise) unterscheidet sich stark von den zwei vorhergehenden. Das Motiv des Reisens ist in Titeln nichts Aussergewöhnliches, oft sind diese Titel jedoch stark metaphorisch und beschreiben meist innere Reisen, erklären Maria Nikolajeva und Carole Scott. 51 Im vorliegenden Fall referiert der Titel auf das Eintauchen der Protagonistin in eine neue und unbekannte Welt, in der sie auf krude Gestalten trifft, die dem Jansson-Kenner aus dem Mumintal jedoch sehr wohl bekannt sind. Ulla Rhedin weist darauf hin, wie schon die Typografie des Titels, schräge, schwarze Buchstaben in einer Schreibschrift, auf etwas Bedrohliches hinweist. 52 Das „f “ im Wort „farliga“ „gefährliche“ läuft nach unten aus und erinnert von der Gestaltung her etwa an einen Schauerroman. Die Buchstaben im Autornamen, in erster Linie die Initialen, wirken ebenfalls vom Wind deutlich havariert. Das Bild zwischen dem Autornamen und dem Titel zeigt eine Gruppe von Figuren in einer ausweglosen Situation. Sie stehen auf einem Felsvorsprung an einem Abgrund. Hinter ihnen ein bedrohlicher, schwarz-roter Himmel. Das Bild stammt aus einer Szene in der Erzählung und ist der linke Teil eines 50 Jansson 2010d. [Nicht paginiert] 51 Vgl. Nikolajeva / Schott 2006, S. 243. 52 Vgl. Rhedin 2001, S. 156. <?page no="166"?> 166 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Seitenaufschlags. Betrachtet man diesen als Ganzes im Buch, zeigt sich, dass die Situation für die Gruppe keineswegs so aussichtslos ist, wie es auf dem Cover den Anschein macht. Auf der rechten Seite ist nämlich Snusmumrikens Grotte zu sehen, die ihnen Schutz bietet. Auf der Rückseite des Umschlags findet sich ein Heissluftballon, darin ist eine Person zu erkennen. In der Erzählung ist es ein Ballonfahrer, der zu ihrer Rettung eilt. Den Hintergrund bildet ein Himmel, an dem gleichzeitig eine Gewitterwolke und eine Sonne steht: „[…] sol, blixt och moln förenas i en våldsam urladdning“ 53 „[…] Sonne, Blitz und Wolken werden in einer gewaltigen Entladung zusammengeführt“, kommentiert dies Rhedin. Der Ballon und dessen Führer rettet die Gruppe, welche auf der Vorderseite zu sehen ist. Der Umschlag besteht so aus einem Bild für Gefahr und einem für Rettung. Wie in Vem ska trösta knyttet? ist der Umschlag also eine visuelle Zusammenfassung des Inhalts. Die Titelseite nimmt das Thema des Covers erneut auf. Gross steht der Titel in der Mitte der Seite. Tofslan und Vifslan springen auf dem Wort „farliga“ „gefährliche“ herum. Die erste Figur schaut ratlos in den Abgrund, der sich am Ende des Worts auftut, die andere blickt ängstlich hinter sich. Das Wort „resan“ „Reise“ steht darunter und scheint im Wasser zu versinken. Ausserdem ist es im Gegensatz zum Wort „farliga“ in Grossbuchstaben geschrieben. Laut Ulla Rhedin verstärkt auch hier die Typografie die Dramatik der Situation, indem zwischen Klein- und Grossbuchstaben gewechselt wird, was eine Instabilität ins Bild bringt. 54 Auf der Rückseite der Titelseite befindet sich neben einem Impressum ebenfalls eine Widmung: „Till Malin och Mikael“ „Für Malin und Mikael“. b) Knickkanten überspringen und Seiten umblättern Den farliga resan erzählt von Susannas Reise in eine Fantasiewelt. Der Übergang in diese mystische Welt ist nicht wie so oft ein Buch, sondern eine Brille, die die Protagonistin im Gras findet und die offenbar die Fähigkeit besitzt, den Blickwinkel des Trägers zu verändern. Plötzlich sieht sie sich in wechselnden Szenerien mit unterschiedlichen Herausforderungen und kruden Kreaturen konfrontiert. Viele stammen aus der Muminwelt, sind ihr jedoch gänzlich unbekannt. Soweit erinnert der Plot stark an Lewis Carolls Alice in Wonderland . Entsprechend stellen die Bilder entweder die „Bilderbuchwirklichkeit“ oder die „Bilderbuchfantasie“ dar, wie es Westin nennt. 55 Allgemein ist zu den Bildern anzumerken, dass sie, entgegen Tove Janssons üblicher Arbeitsweise, vor dem Text entstanden. 56 Ausserdem sind sie in einer Aquarelltechnik gestaltet, was bei den Illustrationen unüblich war. Daher gleichen die Illustrationen in diesem Buch Janssons Malerei am meisten, betont Erik Kruskopf. 57 Die Bilder dieser beiden Ebenen unterscheiden sich stark. Diejenigen der Bilderbuchwirklichkeit sind rund und klein und erinnern so insofern an die Perforationen in Hur gick det sen? , als dass sie durch ihre Form an Löcher denken lassen. Genauer handelt es sich dabei um ein Prolog- und ein Epilogbild. Im Prologbild erkennt man die Protagonistin, Susanna, die auf einer Wiese sitzt. Neben ihr liegt eine friedlich schlafende Katze. Susanna ist gelangweilt und wünscht sich, aus dem monotonen Alltag ausbrechen zu können, so ist 53 Rhedin 2001, S. 157. 54 Ebd., S. 157. 55 Westin, Boel. Resan till Mumindalen. Om Tove Janssons bilderboksestetik. In: Hallberg, Kirsten und Boel Westin (Hrsg.). I bilderbokens värld 1880 - 1980 . Stockholm: Liber 1985, S. 240. 56 Westin 2007, S. 477. 57 Kruskopf 1992, S. 202. <?page no="167"?> 5.3. Die Bilderbücher 167 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) dem Text zu entnehmen. Der Text besteht aus fünf Vierzeilern. Dabei stehen drei auf einer Zeile, zwei auf einer Zeile darunter. Das Epilogbild zeigt Susanna in einem Wald. Die Katze folgt ihr. Beide gehen nach links, in das Buch hinein. Der Text besteht aus zwei Vierzeilern. Beide Male sind die Bilder umgeben vom Weiss der ansonsten leeren Buchseite. Die Bilder der Bilderbuchfantasie hingegen erstrecken sich über eine Doppelseite. Die Auswirkungen der Brille, respektive des veränderten Blicks werden nun offenbar. Nichts ist mehr so, wie es scheint. Die Katze verwandelt sich in ein wildes Monster, Susannas Spiegelbild ist komplett verzerrt und das Meer ist ebenfalls verschwunden. Obwohl es Sommer ist, beginnt es plötzlich zu schneien. Wie erwähnt, findet sich Susanna nun in verschiedenen, ihr unbekannten, Welten wieder, wo ihr unterschiedliche Gefahren drohen. Die Spannung der Erzählung basiert massgeblich auf dem Gegensatz von Gefahr und Rettung, den es in der Gestaltung umzusetzen gilt. Ferner liegt das Sequenzielle, welches der materiellen Struktur des Buchs eigen ist, ebenfalls dem Narrativ zugrunde: Das sukzessive Ablaufen Susannas von mehreren Posten. Unterstrichen wird dies weiter durch die gewählte Art der Position des Texts. Dieser verläuft auf den Bildern der Bilderbuchfantasie in einem weissen Balken unterhalb des Bildes von links nach rechts, von Seite zu Seite, wie auf einem endlos langen Band. Auf jeder Doppelseite sind vier Vierzeiler gesetzt. Text und Bild laufen dabei inhaltsmässig synchron. Eine weitere Abbildung verdeutlicht, wie das oben erwähnte Sequenzielle der Erzählung und des Buchs in der Gestaltung umgesetzt wird. Es vereint laut Ulla Rhedin dargestellte mit kinetischer Bewegung. 58 Die Gruppe auf dem Bild kämpft sich unter grossen Anstrengungen im Schneegestöber nach rechts Richtung Seitenende und provoziert dadurch das Blättern. Die darauf folgende Doppelseite zeigt die Auflösung dieser dramatischen Situation. Die Gruppe ist an einem Abgrund angelangt, wie auf der linken Seite zu sehen ist. Es handelt sich dabei um die Illustration des Covers. Auf der rechten Seite sieht man jedoch, dass die Rettung, Snusmumrikens Höhle, ganz nah ist. Dort bekommt die Gruppe etwas zu Essen wie auch ein behagliches Lager für die Nacht. 59 Es ist eine klare Aufteilung der beiden Hälften des Seitenaufschlags in Gefahr und Sicherheit zu erkennen. Wie in Vem ska trösta knyttet? ist die Knickkante gestaltungstechnisch relevant, da sie sozusagen die Grenze zwischen Gefahr und Rettung definiert. Die Freunde müssen vom Felsvorsprung lediglich über die Knickkante springen, um sich in Sicherheit zu bringen. Das Szenario wiederholt sich auf der nächsten Doppelseite. 60 Abermals ist die Gruppe gezwungen, zu fliehen. Abermals steht sie an einem Abgrund. Dies ist auf der rechten Hälfte zu erkennen. Blickt man mit der Gruppe über die Knickkante hinaus auf die linke Bilderseite, zeigt sich, dass Rettung naht in Form eines Heissluftballons. Susannas Reise endet schliesslich im Mumintal, wo sie auch wieder auf ihre Katze trifft. Von den Bewohnern des Mumintals wird sie umringt, begutachtet und beklatscht. Kurz: Sie wird zum Objekt. Oder in Lilla Mys Worten: „hon ser ju ut som nånting ur en fånig bilderbok! “ ( DFR , nicht paginiert) „Sie sieht ja aus wie etwas aus einem lächerlichen Bilderbuch! “. Dies verdeutlicht erneut, dass Janssons Gestaltungsstrategien immer auch ein Spiel mit der Buchhaftigkeit, der Fiktionalität, sind. 58 Vgl. Rhedin 2002, S. 178. 59 Jansson, Tove. Den farliga resan. Stockholm: Alfabeta 2009a. [Nicht paginiert] 60 Ebd. [Nicht paginiert] <?page no="168"?> 168 5. Wort - Bild - Buch: zur Buchgestaltung DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 5.3.4. Zusammenfassung Eine Seite ist ein Bild. Sie liefert einen Totaleindruck, bietet dem Auge ein Ganzes oder ein Gefüge von grösseren Blöcken und Schichten, von schwarzen Flächen und weissen Leerräumen, einen Fleck von mehr oder minder glücklicher Gestalt und Überzeugungskraft. 61 So schreibt Paul Valéry in Die beiden Tugenden des Buches (1995). In diesem Sinne offenbarten sich bei der Analyse der Bilderbücher Kompositionsprinzipien, welche die Bilderbuchseite als Gemälde verstehen - also als ein künstlerisch kreiertes Ganzes aus Farbe, Schrift und Bild. In diesem Sinne ist das Bilderbuch auch für Jansson eine ideale Plattform, um ihre unterschiedlichen Künstleridentitäten in einem Maximum an Kreativität zusammenzuführen. Darüber hinaus zeigte sich jedoch eine Gestaltungsstrategie, welche neben den erwähnten Faktoren auch das Medium Buch in seiner Körperlichkeit miteinbezieht. In einem weitaus extremeren Ausmass, als dies bei der Analyse der Versionen von Kometen kommer evident wurde. Für Christoph Schulz ist dies unabdingbar: „[…] die jeweilige Realisierung fügt ihnen [den Texten] notgedrungen etwas hinzu, nicht nur unterschiedliche Gestaltungen, sondern auch die mediale und materielle Struktur des Buches.“ 62 So etwa im Falle von Hur gick det sen? , wo der Buchkörper gar durch Perforationen zerstört wird, um dessen Präsenz zu untermauern. Des Weiteren erwiesen sich die Knickkante und das Blättern der Seiten als wichtige Gestaltungskomponenten, wodurch die zu Beginn angesprochene dritte Dimension des Buchs zu einem zentralen Bestandteil dessen Komposition wird. Die Knickkante ist der Ausgangspunkt für die Verteilung der Gestaltungselemente in Vem ska trösta knyttet? und bildet den Übergang von Gefahr zu Sicherheit in Den farliga resan . Weiter kommt dem Blättern in allen Bilderbüchern eine grosse Bedeutung bei der physischen Aufmachung zu, was wiederum das Volumen des Buchs betont. Carlos Spoerhase erklärt diesen Zusammenhang wie folgt: „Bücher können überhaupt nur deshalb tiefenstrukturierte Räume […] sein, weil sie sich durch diskontinuierliche Lektüreverfahren erschliessen lassen. Buch und Blättern gehören zusammen.“ 63 Die Gestaltungsstrategien der untersuchten Bilderbücher zeigten also eine Sensibilität für ihre Erscheinung in Buchform, die nicht nur fester Bestandteil des Gestaltungskonzepts ist, sondern regelrecht inszeniert und damit auch reflektiert wird. Joachim Schiedermair postuliert für Hur gick det sen? , dass Jansson durch das „Verfahren des Schneidens“ die “materiale Grundlage des Erzählens und damit zugleich die mediale Verfasstheit jeder Kommunikation“ 64 ins Zentrum rückt. Die Analyse beweist, dass damit ebenfalls definiert wird, zu welchen Zweck Tove Jansson Material einsetzt. Somit sind es nicht Text, Bild und Farbe, sondern vielmehr die Trias Text, Bild und Buch, so lässt sich folgern, die die Grundsäulen janssonscher Buchästhetik formt. Sowohl im Falle der Muminbücher als auch der Bilderbücher. 61 Valéry 1995, S. 468. 62 Schulz 2015, S 16. 63 Spoerhase 2016, S. 51. 64 Schiedermair 2013, S. 246. <?page no="169"?> DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 6. Die Buchkünstlerin Tove Jansson: Zusammenfassung und Fazit A book can call attention to the external factors which determine its structure or the book can become an object whose structural features are its subject matter. Finally, a book can be about the process of its own making - either its conception or production, or both. 1 So definiert Johanna Drucker die unterschiedlichen Arten der Thematisierung des Buchs in den artists’ books, auf die einleitend bereits eingegangen wurde . Für die vorliegende Arbeit fasst das Zitat den Facettenreichtum der Materialitätsaspekte zusammen, welche untersucht wurden. Janssons aussergewöhnlich gestaltete Werke, die wiederholt als Artefakte bezeichnet wurden, boten die Ausgangslage für eine Analyse, welche das Buch als Objekt ins Zentrum des Interesses stellt. Verschiedene Kapitel widmeten sich mit unterschiedlichen Fragestellungen den diversen Aspekten des Buchs als Artefakt. Konkret handelt es sich um Fragen, welche die künstlerischen Arbeitsprozesse, das künstlerische Selbstverständnis und die Literatur als Kunstform betreffen. Mit anderen Worten, sie kreisen um unterschiedliche Konzepte von Materialität, die sowohl stoffliche wie auch poetologische Aspekte beinhalten. Damit wird ein Aspekt von Tove Janssons Schaffen beleuchtet, der bis anhin nur wenig Beachtung gefunden hat und ihre herausragende Stellung auf eine neue Art zementiert. Dies erstaunt vor allem in Anbetracht des viel beschworenen material turn, dessen Fokus auf Aspekte der Materialität in zahlreichen Disziplinen Einzug gehalten hat. Das Buch als Artefakt ist für Jansson sowohl Gegenstand künstlerischen Ausdrucks wie auch Thema der Bücher, die sie kreiert. In der vorliegenden Arbeit wurde ein umfassendes Bild der Relevanz und des Bewusstseins dieser Thematik in all ihren Facetten aufgedeckt, die, so zeigte die Untersuchung, aussergewöhnlich hoch und auf äusserst intrikate Weise in den Werken verwoben ist. Dies äussert sich auf einer stofflichen Ebene, etwa durch die Art der Buchgestaltung. Dabei offenbarte sich ein äusserst pragmatischer Umgang Janssons mit ihrem Material. Mit anderen Worten: Die Materialität ihrer Kunstwerke setzt sie auch dadurch in Szene, indem sie einen stetigen Medien- und Materialitätswandel regelrecht sucht und zelebriert. Damit einher geht eine Prozessualität, die ihrem Schaffen inhärent ist. Die Muminbücher sind ein spannendes Kunstprojekt, das sich während 25 Jahren immer wieder erneuerte, inhaltlich wie auch gestalterisch. Zwischen 1945 und 1970 entstanden neun Erzählungen rund um die Figuren im Mumintal. Während dieser Zeit gab es zwei Umarbeitungsphasen, eine erste 1956, ein zweite fand zwischen 1968 und 1970 statt. Aus diesem Grund existieren einzelne Bücher in bis zu drei unterschiedlichen edierten Versionen. Die Muminbücher als Kunstwerk wachsen also nicht nur diachron, indem neue Erzählungen hinzugefügt werden, sondern auch synchron, indem bereits bestehende wieder umgearbeitet werden. Tove Janssons Affinität für die unterschiedlichen Aspekte der Materialität jedoch lediglich darauf zu gründen, wäre zu kurz gegriffen. Diese zeigt sich nämlich gleichermassen auf einer abstrakteren Ebene in der poetologische Reflexion von Materialitätsaspekten, wie dies etwa anhand der Schreib- und Leseszenen dargelegt wurde. Daher lässt sich schlussfolgern, dass sich diese unterschiedlichen Konzepte von Materialität 1 Drucker 1995, S. 162. <?page no="170"?> 170 6. Die Buchkünstlerin Tove Jansson: Zusammenfassung und Fazit DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) zu einem materiellen Ethos ausweiteten, welches Janssons Handeln als Künstlerin genuin zugrunde liegt. Insofern steht ihr Schaffen im Geist der artists’ books . Im ersten Analysekapitel gründete die Untersuchung auf ungedrucktem Material. Die Vorarbeiten im hiesigen Kontext in die Untersuchung einzuschliessen, macht die Werkgenese zu einem wertvollen Bestandteil der Betrachtung von Materialitätsaspekten, da dadurch der Schaffensakt in die Analyse miteinbezogen wird. Konkret konnte dabei eine Prozesshaftigkeit festgestellt werden, die Janssons Verständnis von „Kunst schaffen“ wie auch des Kunstwerks inhärent ist. Zwiegespräche mit sich selbst in schriftlicher Form zeugen von einem ständigen Dialog mit sich selbst, indem die Genese laufend reflektiert wird. Dies kommt etwa in Checklisten zum Ausdruck, in denen sie ihre eigenen Notizen mit „Ja“ oder „Nein“ kommentiert. Besagte Prozesshaftigkeit äussert sich auch in diffusen Grenzen zwischen Entwurf und Produkt: Gedruckte Versionen mutieren wieder zu Entwürfen durch den neuen Text, den Tove Jansson in den Marginalien um den bestehenden Text herum wachsen lässt. In der Textproduktion von Gedichten offenbart sich das Ringen um eine finale Version auf ähnliche Weise. Verschiedene Versionen des zu planenden Texts stehen dabei nebeneinander auf dem Papier - sozusagen als Mahnmale dieses Prozesses. „Werkgenese“, so wurde deutlich, hat in Bezug auf Tove Janssons Arbeiten somit keinen Anfang und kein Ende. Künstlerisches Schaffen wird vielmehr als ein Kreislauf inszeniert. Ihr Rollenbild ist dominiert vom Künstler als Handwerker. Mit Handwerk ist hier einerseits Professionalität gemeint, andererseits meint es in einem wörtlichen Sinn ein Von-Hand- Erarbeiten des Produkts. So zeigte sich Tove Jansson in den Vorarbeiten als Handwerkerin, die ihr Material auch mit Kleber und Schere manipuliert, um es umzugestalten. Auf diese Weise fertigt Jansson etwa Textcollagen an: ein Hybrid aus handgeschriebenem, neuem Text und ausgeschnittenen Textfragmenten aus bereits gedruckten Versionen. Auch wird Wert darauf gelegt, das Mosaikartige sichtbar zu machen, das heisst, der neue und der alte Text ist deutlich als solcher erkennbar, wodurch neben einer neuen Version gleichzeitig auch ein Memento an das vorige Œuvre geschaffen wird. Sowohl das marginale Annotieren wie auch die Collagentechnik offenbaren einen äusserst bewussten Umgang Janssons mit der Materialität ihres Arbeitsgegenstands, welcher die Funktionalität und die Ästhetik gleichermassen betrifft. So sind bereits diese Vorarbeiten Kunstwerke. Durch ein kreatives Spiel werden zeichnerische und schriftliche Komponenten in künstlerischer Art und Weise auf einer Seite zur Konzeptionalisierung des Inhalts oder der Buchgestaltung orchestriert. So entstehen etwa unterschiedliche Arten von Mindmaps und Diagrammen. Die Vorarbeiten bieten ausserdem einen Einblick in die minutiöse Planung und damit auch in eine exakte Vorstellung der materiellen Erscheinungsform des geplanten Kunstwerks. Sämtliche Vorarbeiten sind fachmännisch gemacht und Resultat einer profunden Ausbildung Janssons in diesem Bereich. Der Schaffensprozess wurde im darauf folgenden Kapitel erneut beleuchtet, anhand von Schreib- und Leseszenen. Im Fokus stand die Autorschaft Muminpappans. Dabei wurden unterschiedliche, ja gar widersprüchliche Konzepte von Autorschaft verhandelt: der Autobiograf, der Dramatiker und der Wissenschaftler. In Muminpappans memoarer erschreibt sich Pappan als Helden, mit Hilfe des Publikums, das sich engagiert einbringt. In Farlig midsommar wird anhand des Theaters demonstriert, wie man sich eine Kunstform zu eigen macht. Das Theater wird dabei sowohl als Raum wie auch als literarisches Genre erörtert. Pappan och havet schliesslich zeichnet Pappan als Wissenschaftler. In den Schreibszenen wurden stoffliche wie auch poetologische Aspekte von Materialität verhandelt. So wurde <?page no="171"?> DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) 6. Die Buchkünstlerin Tove Jansson: Zusammenfassung und Fazit 171 wiederholt auf Werkzeuge rekurriert, die der Schriftsteller zum Schreiben benötigt (Stift und Papier), also die Schreibszene in ihrer Materialität betont. Der Schreibakt ist meist dialogisch gestaltet. Die Rezipienten kommentieren das Geschriebene, wodurch sich der Schreibakt schliesslich zu einem Diskurs über die Literatur als Kunstform entwickelt. Die Schreibszene wird dabei durch die erwähnten materiellen Parameter wie das Öffnen und Schliessen des Stifts oder Hefts markiert, wird also als „Szene“ gerahmt. Die Interaktion zwischen dem Autor und den Lesern erweist sich als essenziell für die Lösungsfindung. Mit anderen Worten, Schreiben wird immer auch als eine soziale Praxis und der Schaffensakt als ein Prozess dargestellt. So manifestiert sich die Prozessualität des Arbeitens, welche sich bereits im vorigen Kapitel bezüglich Janssons Arbeitsweise zeigte, auch deutlich auf inhaltlicher Ebene. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der sich im geistigen wie auch körperlichen Sinne als herausfordernd darstellt. Für Pappan als Autor wird der Schreibakt ebenfalls zu einem Diskurs, der sich im Spannungsfeld von Wirklichkeit und Fiktion abspielt. Im besonderen Masse gilt dies für seine autobiografische Arbeit. Immer wieder ist er gezwungen, sich zu diesen Polen zu verhalten. Die Muminbücher werden so letztlich auch zu Erzählungen ihrer eigenen Entstehung. Nachdem die Figuren in Farlig midsommar das Theater als Erstes in seiner Körperlichkeit erfahren und so dessen materielle Ausstattung kennenlernen, widmen sie sich danach dem Theater als Kunstform - genauer dessen Material beziehungsweise dessen Inhalt und den Paradigmen (etwa das Versmass), denen es untersteht. Die Schreibszene wird im wahrsten Sinne des Wortes als „Szene“ im Sinne von „Inszenierung“ dargestellt, indem der Schaffensakt des Schriftstellers, die Kreation von Fiktion, tatsächlich auf einer Bühne dargestellt und problematisiert wird. In Pappan och havet steht die Suche nach dem Material, in der Bedeutung „Inhalt“, für das geplante Werk noch stärker im Mittelpunkt, indem Pappans Forschungstätigkeiten ausführlich beschrieben werden. Spricht man vom Buch als Objekt, ja gar als Artefakt, impliziert dies ebenfalls Überlegungen bezüglich einer Definition des Begriffs „Buch“. Laut Gérard Genette ist es das Konzept des Paratexts, welches aus einem Text ein Buch macht, ihm das „Buchhafte“ verleiht. Dieser Statuswechsel vollzieht sich in einer Rahmung, welche sich durch die Fähigkeit der Selbstdarstellung ergibt, die der Paratext inne hat. Es geht also weniger um eine klare Grenze als vielmehr um einen Raum, der durch einen selbstreferenziellen Charakter Diskurse ermöglicht. Diskurse, welche die Literatur als Kunstprodukt und das Medium Buch betreffen. Indem der Paratext sich selbst reflektiert, wird er für ein Spiel mit Begriff „Buch“ beziehungsweise mit dessen Gemachtheit instrumentalisiert. Diesem Aspekt der Materialität wurde in einem weiteren Analysekapitel nachgegangen. Trollkarlens hatt beispielsweise verfügt über Kapitelüberschriften, die auf den Auftritt gewisser Figuren oder die Länge des Kapitels hinweisen. Der paratextuelle Rahmungsapparat wird gezielt verwendet, um Polyphonie zu erzeugen. So wird eine Metaebene erschaffen, in der der Leser direkt angesprochen wird. Aspekte der Erzählung werden problematisiert oder erklärt. Die Fiktion als Ganzes wird durchbrochen, wie im eben erwähnten Beispiel der Kapitelüberschriften aus Trollkarlens hatt , oder zementiert, wie etwa im Falle von Muminpappans memoarer , wo der Paratext bereits mit dem Titel Pappan als Autor gestaltet. Namentlich wurden Titel, Prologe / Epiloge, Widmungen, Kapitelüberschriften, Fussnoten und die Klappentexte untersucht, also der Paratext als Gesamtkonstrukt. Auf diese Art offenbarte sich dessen volles Potenzial zur Selbstdarstellung des Textes als Buch und als fiktionales Konstrukt. Ferner offenbarte sich der Paratext als Ressource ästhetischer Interpretation und keinesfalls lediglich als ein Beiwerk. <?page no="172"?> 172 6. Die Buchkünstlerin Tove Jansson: Zusammenfassung und Fazit DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Im letzten Analysekapitel wurden abermals paratextuelle Rahmungselemente analysiert. Jedoch wurde der Begriff einerseits erweitert, andererseits stand nun die Buchgestaltung im Vordergrund. Genauer handelte es sich bei den Analysekriterien um Umschlag, Titelseiten, Klappentexte sowie ausgewählte Beispiele der Seitengestaltung. Der Begriff Seitengestaltung beinhaltet die Beziehung zwischen Text und Bild, Typografie und Farbgebung. Die jeweiligen Analysekriterien variierten jedoch je nach Untersuchungsgegenstand, der sowohl aus Muminbüchern als auch aus Bilderbüchern bestand. Immer war es jedoch zentraler Teil der Analyse, von einer zweidimensionalen Betrachtung beziehungsweise von einer Betrachtung, welche die Buchseite betrifft, zu einer dreidimensionalen zu gelangen, welche das Buch in seiner Gegenständlichkeit als Gestaltungselement miteinbezieht. Für die Muminbücher geschieht die Untersuchung exemplarisch anhand von Kometen kommer . Dabei wurden auch dessen Vorläufer Kometjakten und Mumintrollet på kometjakt in die Analyse miteinbezogen. So konnte veranschaulicht werden, wie sich die erwähnten Gestaltungskomponenten von Ausgabe zu Ausgabe verändert haben. Dieser stetige Materialitätswechsel ist ein Charakteristikum der Muminbücher. Die langjährige Tätigkeit an diesem Kunstprojekt schafft immer wieder Distanz und ein meist eher zwiespältiges Verhältnis zum bereits Geschaffenen, was wiederum Umarbeitungen provoziert. Janssons künstlerisches Wirken ist insofern ein autopoietisches System, als dass das Kunstwerk in seiner Art nach seiner Fertigstellung bereits wieder überholt erscheint und einer Überarbeitung bedarf. So entsteht ein künstlerischer Kreislauf, wie er sich auch in den Vorarbeiten wiederfindet, beispielsweise in den untersuchten Textcollagen, der sich aus sich selbst speist und theoretisch unendlich ist. Dabei handelt es sich also letztlich um eine künstlerische Programmatik, welche den finalen Status des Kunstwerks und damit auch jedes hierarchische Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Versionen der einzelnen Muminbücher und den Muminbüchern untereinander aushebelt. Des Weiteren schwindet auch die Relevanz der Originalität, die in früheren wissenschaftlichen Arbeiten zu Janssons Schaffen oft betont wurde. Die Bilderbücher ihrerseits offenbarten sich als Kunstwerke, in denen die Grenzen zwischen Schrift und Bild schwinden beziehungsweise die Symbiose von Jansson als Malerin und Autorin am deutlichsten spürbar ist. Durch die Gestaltung wird wiederholt auf die Gegenständlichkeit des Buchs rekurriert. Am eindrücklichsten geschieht dies im Bilderbuch Hur gick det sen? . So inszenieren etwa die Perforationen den Buchkörper in seiner Dreidimensionalität, Figuren durchbrechen Buchseiten und der Leser wird aufgefordert, die Filifjonkan auf einen dafür vorgesehen Platz zu malen. Auch in Vem ska trösta knyttet? gibt es eine Aufforderung, einen Brief zu verfassen. Ferner wurde ebenfalls evident, welch zentrale Rolle etwa Seitenränder, Knickkanten oder das Blättern in der Gestaltung inne haben. So ist die Knickkante die gestalterische Grenze zwischen Gefahr und Sicherheit, auf dessen Dichotomie das Narrativ von Den farliga resan basiert. In Vem ska trösta knyttet? ist die Knickkante Orientierungspunkt für die häufig collagenartig gestalteten Doppelseiten. Die erwähnten Buchteile sind somit Bestandteil der Seitengestaltung in einem technischen Sinne und / oder erzählstrukturierend, unterstützen das Sequenzielle des Buchs oder dienen dem Spannungsaufbau. Dies gilt ebenfalls für Kometen kommer . So kann man konstatieren: Die Form des Mediums ist Janssons (Bilder)Buchästhetik inhärent. Entsprechend erschöpft sich die janssonsche Buchgestaltung nicht im Zusammenspiel von Schrift und Bild, sondern besteht in einer künstlerischen Verschmelzung von Schrift, Bild und Buch. <?page no="173"?> 5.3. Die Bilderbücher 173 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Siglenverzeichnis ÅA Åbo Akademi DM Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft FM Farlig midsommar HGDS Hur gick det sen? KJ Kometjakten KK Kometen kommer KM Komet im Mumintal MM Muminpappans memoarer MK Mumintrollet på kometjakt MWI Mumis wundersame Inselabenteuer MWJ Muminvaters wildbewegte Jugend PH Pappan och havet SM Sturm im Mumintal TH Trollkarlens hatt TV Trollvinter VSTK Vem ska trösta knyttet? WM Winter im Mumintal <?page no="175"?> 5.3. Die Bilderbücher 175 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abbildungs- und Rechtsnachweis Abb. 1: Illustrierte Seite aus Hur gick det sen? . Jansson, Tove. Hur gick det sen? Boken om Mymlan, Mumintrollet och lilla My. Stockholm: Awe / Gebers 1991. [nicht paginiert]. Abb. 2: Skizze zu Pappan och havet . ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 4: MS : Pappan och havet 1963 + skisser. Blatt [nicht paginiert]. Abb. 3: Skizze zu Sent i november . ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 6: MS : Sent i november 1969. Blatt [nicht paginiert]. Abb. 4. Karte aus Sent i november . Jansson, Tove. Sent i november . Stockholm: Alfabeta 2004. Abb. 5: Konzeptarbeit Farlig midsommar . ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 3: MS : Farlig midsommar 1953. Blatt [nicht paginiert]. Abb. 6-7: Konzeptarbeit Pappan och havet . Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson- Sammlung, Kapsel 4: MS : Pappan och havet 1963 + skisser. Skizzenblock [nicht paginiert]. Abb. 8: Konzeptarbeit Sent i november. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 6: MS : Sent i november 1969. Agenda „November i Mumindalen“ [nicht paginiert]. Abb. 9: Konzeptarbeit Pappan och havet . Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 4: MS : Pappan och havet 1963 + skisser. Notizblock [nicht paginiert]. Abb. 10: Entwurf Inhaltsverzeichnis Muminpappans Memoarer . Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 2: MS : Muminpappans memoarer 1949. Blatt [nicht paginiert]. Abb. 11-13: Entwurf Layout Sent i november . ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 18: Korrektur & ombrytningsex. Buch „Sent i november“, S. 2 f. Abb. 14: Entwurf Layout Sent i november. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 18: Korrektur & ombrytningsex. Buch „Sent i november“, S. 56 f. Abb. 15: Entwurf Layout Sent i november . Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 18: Korrektur & ombrytningsex. Buch „Sent i november“, S. 90. Abb. 16: Konzeptarbeit Vem ska trösta knyttet? . Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson- Sammlung, Kapsel 5: Vem ska trösta kyttet 1958. Blatt [nicht paginiert]. Abb. 17: Konzeptarbeit Hur gick det sen? . Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 1: MS : diverse Mumin, se förteckning. Blatt [nicht paginiert]. Abb. 18: Entwurf Layout Hur gick det sen? . ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 1: MS : diverse Mumin, se förteckning. Blatt [nicht paginiert]. Abb. 19: Konzeptarbeit Hur gick det sen? . ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 1: MS : diverse Mumin, se förteckning. Blatt [nicht paginiert]. Abb. 20: Textentwurf Den farliga resan . Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 1: MS : diverse Mumin, se förteckning. Manuskript „En hemsk bok“, S. 1. Abb. 21: Textentwurf Den farliga resan . Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 1: MS : diverse Mumin, se förteckning. Blatt, S. 63. Abb. 22: Textentwurf Trollvinter . ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 18: Korrektur & ombrytningsex. Blatt [nicht paginiert]. Abb. 23: Marginales Annotieren Muminpappans bravader . ÅA , Handschriftenabteilung. Tove- Jansson-Sammlung, Kapsel 18: Korrektur & ombrytningsex. Muminpappans bravader. Skrivna av honom själv, S. 22 f. Abb. 24: Marginales Annotieren Kometjakten . ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson-Sammlung, Kapsel 18: Korrektur & ombrytningsex. Kometjakten, S. 166 f. Abb. 25: Marginales Annotieren Kometen kommer . ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson- Sammlung, Kapsel 18: Korrektur & ombrytningsex. Kometjakten. Blatt [nicht paginiert]. <?page no="176"?> 176 Abbildungs- und Rechtsnachweis DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Abb. 26: Textcollage Muminpappans memoarer. Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson- Sammlung, Kapsel 2: MS : Muminpappans memoarer 1949. Heft „Memoarerna“, S. 68. Abb. 27: Textcollage Muminpappans memoarer . Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson- Sammlung, Kapsel 2: MS : Muminpappans memoarer 1949. Heft „Memoarerna“, S. 49. Abb. 28: Textcollage Muminpappans memoarer . Detail. ÅA , Handschriftenabteilung. Tove-Jansson- Sammlung, Kapsel 2: MS : Muminpappans memoarer 1949. Heft „Memoarerna“ [nicht paginiert]. Abb. 29: Cover Kometjakten . Jansson, Tove. Kometjakten . Norrköping: Sörlins 1947. Abb. 30: Cover Mumintrollet på kometjakt . Jansson, Tove . Mumintrollet på kometjakt. Ritad och berättad av Tove Jansson . Norrköping: Sörlins 1956. Abb. 31: Cover Kometen kommer. Jansson, Tove. Kometen kommer [1968]. Stockholm: Alfabeta 2010. Abb. 32: Titelseite Kometjakten. Jansson, Tove. Kometjakten . Norrköping: Sörlins 1947. Abb. 33: Titelseite Mumintrollet på kometjakt . Jansson, Tove . Mumintrollet på kometjakt. Ritad och berättad av Tove Jansson . Norrköping: Sörlins 1956. Abb. 34: Titelseite Kometen kommer. Jansson, Tove. Kometen kommer . Stockholm: Alfabeta 2010. Abb. 35: Illustrierte Seite aus Kometjakten . Jansson, Tove. Kometjakten . Norrköping: Sörlins 1947, S. 5. Abb. 36: Illustrierte Seite aus Mumintrollet på kometjakt . Jansson, Tove . Mumintrollet på kometjakt. Ritad och berättad av Tove Jansson . Norrköping: Sörlins 1956, S. 7. Abb. 37: Illustrierte Seite aus Kometen kommer . Jansson, Tove. Kometen kommer . Stockholm: Alfabeta 2010, S. 5. Abb. 38: Illustrierte Seite aus Kometjakten . Jansson, Tove. Kometjakten . Norrköping: Sörlins 1947, S. 74. Abb. 39: Illustrierte Seite aus Mumintrollet på kometjakt . Jansson, Tove . Mumintrollet på kometjakt. Ritad och berättad av Tove Jansson . Norrköping: Sörlins 1956, S. 66. Abb. 40: Illustrierte Seite aus Kometen kommer . Jansson, Tove. Kometen kommer . Stockholm: Alfabeta 2010, S. 57. Abb. 41: Illustrierte Seite aus Kometjakten . Jansson, Tove. Kometjakten . Norrköping: Sörlins 1947, S. 150 f. Abb. 42: Illustrierte Seite aus Mumintrolet på kometjakt . Jansson, Tove . Mumintrollet på kometjakt. Ritad och berättad av Tove Jansson . Norrköping: Sörlins 1956, S. 130 f. Abb. 43: Illustrierte Seite aus Kometen kommer. Jansson, Tove. Kometen kommer . Stockholm: Alfabeta 2010, S. 123. Abb. 44: Illustrierte Seite aus Kometen kommer . Jansson, Tove. Kometen kommer . Stockholm: Alfabeta 2010, S. 124. Sämtliche Abbildungen wurden publiziert mit der freundlichen Genehmigung von Moomin Characters Oy Ltd. <?page no="177"?> Sekundärliteratur 177 DOI 10.2357/ 9783772056550 BNPh 62 (2019) Bibliografie Primärliteratur Jansson, Tove. Kometjakten . Norrköping: Sörlins 1947. —. Mumintrollet på kometjakt. Ritad och berättad av Tove Jansson . Norrköping: Sörlins 1956. —. Hur gick det sen? Boken om Mymlan, Mumintrollet och lilla My . Stockholm: Awe / Gebers 1991. —. Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft . Übers. von Birgitta Kicherer. Würzburg: Arena 2001a. —. Komet im Mumintal . Übers. von Birgitta Kicherer. Würzburg: Arena 2001b. —. Sturm im Mumintal . Übers. von Birgitta Kicherer. Würzburg: Arena 2002a. —. Muminvaters wildbewegte Jugend . Übers. von Birgitta Kicherer. Würzburg: Arena 2002b. —. Mumins wundersame Inselabenteuer . Übers. von Birgitta Kicherer. Würzburg: Arena 2003a. —. Herbst im Mumintal . Übers. von Birgitta Kicherer. Würzburg: Arena 2003b. —. Muminpappans memoarer [1968]. Stockholm: Alfabeta 2004a. —. Sent i november . Stockholm: Alfabeta 2004b. —. Trollvinter . Stockholm: Alfabeta 2004c. —. Winter im Mumintal . Übers. von Birgitta Kicherer. Würzburg: Arena 2004d. —. Den farliga resan . Stockholm: Alfabeta 2009a. —. Farlig midsommar [1968]. Stockholm: Alfabeta 2009b. —. Kometen kommer [1968]. Stockholm: Alfabeta 2010a. — .Pappan och havet [1969]. Stockholm: Alfabeta 2010b. —. Trollkarlens hatt [1968]. Stockholm: Alfabeta 2010c. —. Vem ska trösta knyttet? . Stockholm: Alfabeta 2010d. Sekundärliteratur Amstutz, Nathalie. Autorschaftsfiguren. Inszenierung und Reflexion von Autorschaft bei Musil, Bachmann und Mayröcker. Köln et al.: Böhlau 2004. Antonsson, Birgit. 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Mit anderen Worten, es werden unterschiedliche Konzepte von Materialität behandelt, die sowohl stoffliche wie auch poetologische Aspekte beinhalten. Dabei handelt es sich um Themen, die in der Jansson- Forschung bis anhin vergleichsweise wenig Beachtung fanden. Dies erstaunt vor allem in Anbetracht des viel beschworenen material turn, dessen Fokus auf Aspekte der Materialität in zahlreichen Disziplinen Einzug gehalten hat. Diese unterschiedlichen Konzepte von Materialität lassen sich letztlich zu einem materiellen Ethos ausweiten, welches Janssons Handeln als Künstlerin genuin zugrunde liegt und ihre herausragende Stellung auf eine neue Art zementiert. Autoreninfo: Kathrin Hubli studierte Nordische Philologie, Publizistikwissenschaft und Englische Literaturwissenschaft an den Universitäten Zürich und Uppsala (Schweden). Kathrin Hubli Kunstprojekt (Mumin-)Buch 62 Kunstprojekt (Mumin-)Buch Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission Kathrin Hubli ISBN 978-3-7720-8655-7 Die finnlandschwedische Künstlerin Tove Jansson (1914-2010) war Autorin, Malerin und Karikaturistin zugleich. Dieses künstlerische Spannungsfeld aus der Fusion unterschiedlicher Talente und der Experimentierfreudigkeit mit Materialität und Medium wird in der vorliegenden Studie fruchtbar gemacht, um Fragen zum Buch als Artefakt, zur Reflexion von Literatur als Kunstform, betreffend kreativer Strategien und künstlerischem Selbstverständnis zu erörtern. Mit anderen Worten, es werden unterschiedliche Konzepte von Materialität behandelt, die sowohl stoffliche wie auch poetologische Aspekte beinhalten. Dabei handelt es sich um Themen, die in der Jansson- Forschung bis anhin vergleichsweise wenig Beachtung fanden. 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