Literatur und Mehrsprachigkeit
Ein Handbuch
0828
2017
978-3-8233-7911-9
978-3-8233-6911-0
Gunter Narr Verlag
Till Dembeck
Rolf Parr
10.2357/9783823379119
CC BY-NC-ND 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de
Das Forschungsgebiet "Literatur und Mehrsprachigkeit" erfährt in der internationalen Literatur- und Kulturwissenschaft zurzeit einen beachtlichen Aufschwung, denn die Analyse literarischer Mehrsprachigkeit verspricht einen neuartigen Zugang zum Verhältnis von Literatur und Phänomenen kultureller sowie sozialer Differenz. Das Handbuch geht davon aus, dass sich die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit in erster Linie durch ihre Fragerichtung und ihre Methodik auszeichnet. Es stellt daher die Methoden vor, die für die Analyse literarischer Mehrsprachigkeit zur Verfügung stehen, und bietet zugleich kulturhistorische Hintergrundinformationen für ihre Interpretation. So eröffnet es auch neue Perspektiven auf die spezifische Sprachlichkeit literarischer Texte. Damit stellt das Handbuch angehenden ebenso wie etablierten Literatur- und Kulturwissenschaftlern dringend benötigte Werkzeuge zur Erschließung der Sprachvielfalt in der Literatur zur Verfügung.
<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-6911-0 Das Forschungsgebiet „Literatur und Mehrsprachigkeit“ erfährt in der internationalen Literatur- und Kulturwissenschaft zurzeit einen beachtlichen Aufschwung, denn die Analyse literarischer Mehrsprachigkeit verspricht einen neuartigen Zugang zum Verhältnis von Literatur und Phänomenen kultureller sowie sozialer Differenz. Das Handbuch geht davon aus, dass sich die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit in erster Linie durch ihre Fragerichtung und ihre Methodik auszeichnet. Es stellt daher die Methoden vor, die für die Analyse literarischer Mehrsprachigkeit zur Verfügung stehen, und bietet zugleich kulturhistorische Hintergrundinformationen für ihre Interpretation. So eröffnet es auch neue Perspektiven auf die spezifische Sprachlichkeit literarischer Texte. Damit stellt das Handbuch angehenden ebenso wie etablierten Literatur- und Kulturwissenschaftlern dringend benötigte Werkzeuge zur Erschließung der Sprachvielfalt in der Literatur zur Verfügung. www.narr.de Dembeck/ Parr (Hrsg.) Literatur und Mehrsprachigkeit Literatur und Mehrsprachigkeit Ein Handbuch Till Dembeck/ Rolf Parr (Hrsg.) <?page no="1"?> Literatur und Mehrsprachigkeit <?page no="3"?> Till Dembeck / Rolf Parr (Hrsg.) unter Mitarbeit von Thomas Küpper Literatur und Mehrsprachigkeit Ein Handbuch <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Véronique Schons: »Melusina’98«, in: Gerd Heger, Jhemp Hoscheit, Paula de Lemos, Véronique Schons: mélusina. Esch-sur-Alzette: Éditions Phi 1999 © Abdruck mit freundlicher Genehmigung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar Prof. Dr. Till Dembeck Associate Professor Institut für deutsche Sprache und Literatur und für Interkulturalität Université du Luxembourg Campus Belval 11, Porte des Sciences L-4366 Esch-Belval https: / / orcid.org/ 0000-0001-6113-9135 Prof. Dr. Rolf Parr Universität Duisburg-Essen Fakultät für Geisteswissenschaften Germanistik (Literatur- und Medienwissenschaft) Universitätsstraße 12 45141 Essen https: / / orcid.org/ 0000-0002-4444-3730 www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® DOI: https: / / doi.org/ 10.2357/ 9783823379119 © 2020 · Till Dembeck / Rolf Parr Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung | CC BY-NC-ND 2.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-nc-nd/ 2.0/ de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle ordentlich nennen, das Material nicht für kommerzielle Zwecke nutzen, keine bearbeitete Fassung verbreiten und einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-6911-0 (Print) ISBN 978-3-8233-7911-9 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0045-8 (ePub) <?page no="5"?> 9 I. 15 1. 17 a) 17 b) 17 c) 22 2. 27 a) 27 b) 28 c) 31 3. 35 a) 35 b) 35 c) 39 d) 41 4. 45 a) 45 b) 45 c) 46 d) 47 e) 49 5. 53 a) 53 b) 55 c) 59 II. 67 1. 69 a) 69 b) 71 c) 73 2. 77 3. 85 Inhalt Mehrsprachige Literatur. Zur Einleitung (Till Dembeck und Rolf Parr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle und soziale Rahmenbedingungen literarischer Mehrsprachigkeit . . . . . . . . Sprache und Kultur (Till Dembeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die historische Semantik von Kultur in ihrem Verhältnis zur Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche und kulturelle Identität (Till Dembeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Semantiken sprachlicher und kultureller Identität . . . Systematische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit (David Gramling) . . . . . Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systematische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische und andere Mehrsprachigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache als Medium von (Des-)Integration ( Jörg Roche) . . . . . . . . . . . . . . Grundbegriffe: Leitsprachigkeit, Quersprachigkeit und Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wertschätzung und Wertschöpfung: Sprache als kulturelles Kapital Sprache und Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monolinguale Grundorientierung und Leitkultur . . . . . . . . . . . . . . Zur integrativen Wirkung der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik der Mehrsprachigkeit (Arvi Sepp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik und Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alterität und Sprachreflexivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzung und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachliche Rahmenbedingungen literarischer Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Ebenen der Sprachstandardisierung (Heinz Sieburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . Standardsprache, Nationalsprache, Literatursprache . . . . . . . . . . . . Dialekt, Soziolekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mündlichkeit/ Schriftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Heilige Sprachen‹, Weltsprachen, Lingua Franca (Heinz Sieburg) . . . . . . Sprachkontakt: Pidgins und Kreolsprachen (Heinz Sieburg) . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 4. 5. 97 6. 101 7. 105 a) 105 b) 107 c) 108 8. 113 a) 113 b) 115 c) 115 d) 119 e) 120 III. 123 1. 125 a) 125 b) 126 c) 145 d) 153 e) 161 2. 167 a) 167 b) 169 c) 181 d) 184 e) 189 3. 193 a) 193 b) 195 c) 205 d) 208 e) 217 4. 221 a) 221 b) 222 c) 231 Künstliche Sprachen (Plansprachen/ Welthilfssprachen) (Heinz Sieburg) Spezialsprachen: Fachsprachen, Wissenschaftssprachen etc. (Heinz Sieburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriftsysteme, Sprachen, Mehrsprachigkeit (Monika Schmitz-Emans) . . Durchsetzung von Sprachstandards (Helmut Glück) . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kodifikation von Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agenturen von Sprachstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pragmatik der Mehrsprachigkeit ( Jörg Roche und Gesine Lenore Schiewer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pragmalinguistische Grundlagen: Von der Einzur Mehrsprachigkeitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Linguistik der Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pragmatik der Mehrsprachigkeit in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . Vermittlungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Desiderate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basisverfahren literarischer Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachwechsel/ Sprachmischung (Till Dembeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungs-/ Analysebeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit in der Figurenrede (Till Dembeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungs-/ Analysebeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitat und Anderssprachigkeit (Till Dembeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungs-/ Analysebeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrschriftlichkeit (Monika Schmitz-Emans) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typologie und Analysebeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 91 <?page no="7"?> IV. 233 1. 235 a) 235 b) 235 c) 244 d) 245 2. 249 a) 249 b) 250 c) 252 d) 253 e) 255 V. 257 1. 259 a) 259 b) 260 c) 267 d) 270 e) 274 2. 277 a) 277 b) 279 c) 284 d) 285 e) 289 3. 293 a) 293 b) 293 c) 294 d) 296 4. 299 a) 299 b) 300 c) 302 d) 303 e) 306 5. 309 a) 309 b) 313 c) 315 d) 316 Formen der Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semantische Übersetzung (Henri Bloemen und Arvi Sepp) . . . . . . . . . . . . Beschreibung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungs-/ Analysebeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homophone Übersetzung (Till Dembeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungs-/ Analysebeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gattungs- und medienspezifische Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit . . . . . . . Versform (Till Dembeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungs-/ Analysebeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dramatik/ Theater (Claude D. Conter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungs-/ Analysebeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählen (Rüdiger Zymner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liedtexte (Anne Uhrmacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung des Verfahrens und Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . Sachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungs-/ Analysebeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hörspiel/ Hörbuch (Natalie Binczek) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungs-/ Analysebeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 <?page no="8"?> e) 317 6. 321 a) 321 b) 322 c) 324 d) 328 7. 32 a) 329 b) 330 c) 330 d) 335 VI. 339 1. 341 a) 341 b) 342 c) 344 2. 347 363 36 7 381 Offene Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Film (Claude Kremer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fernsehen (Rolf Parr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren der Präsentation von Mehrsprachigkeit im Fernsehen . Rote Fäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionen mehrsprachiger Literatur und ihrer Erforschung . . . . . . . . . Literaturpreis für mehrsprachige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung und Lehre (Verbände, Vereinigungen, Institute) . . . . . . Wissenschaftliche Zeitschriften und Buchreihen . . . . . . . . . . . . . . . Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 9 <?page no="9"?> 1 Setiono Sugiharto, »The Multilingual Turn in Applied Linguistics? A Perspective from the Peri‐ phery«, in: International Journal of Applied Linguistics 25.3 (2015), S. 414-421. Mehrsprachige Literatur. Zur Einleitung Till Dembeck und Rolf Parr a) Zum Stand der literaturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung In der internationalen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung ist das Interesse an Mehrsprachigkeit in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Ein Stück weit schließen die Philologien damit an eine Entwicklung an, die in der Linguistik, vor allem in der Sozi‐ olinguistik, und in den Erziehungswissenschaften schon länger Fahrt aufgenommen hat und die vor allem aus dem Gebiet, in dem sich beide Disziplinen überschneiden, nämlich in der sog. Fremdsprachendidaktik (die aber teils nicht mehr so heißen will), nicht mehr wegzudenken ist. Mit Blick darauf ist unlängst bereits der unvermeidliche ›Turn‹ konsta‐ tiert worden. 1 Von einem Mehrsprachigkeits-Turn zu sprechen wäre mit Blick auf die Phi‐ lologien jedoch stark übertrieben: ›Literarische Mehrsprachigkeit‹ ist weit entfernt davon, als eigenes Forschungsgebiet neben den Nationalphilologien anerkannt zu werden. Mit der wie auch immer zögerlichen Hinwendung zu Fragen der Mehrsprachigkeit rea‐ gieren die Literaturwissenschaften unter anderem auf eine Neuausrichtung, die auch an‐ dere Forschungsfelder der Disziplin betrifft: auf die Anreicherung philologischer Forschung um vormals der Linguistik vorbehaltene Beschreibungsmodelle und auf die Überschreitung nationalphilologischer Eingrenzungen. Die Literaturwissenschaften jenseits der National‐ philologien haben das Paradigma der ›Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissen‐ schaft‹ längst hinter sich gelassen und operieren mit Begriffen wie Inter- und Transkultu‐ ralität, Hybridität und anderen mehr. Demgegenüber ist der Einfluss der Linguistik auf die Literaturwissenschaften ungleich weniger gut sichtbar. Er artikuliert sich beispielsweise in einem vorsichtig erwachenden neuen Bewusstsein für die sprachliche Formanalyse (von Lyrik wie von Erzähltexten). Alles in allem lassen sich mindestens drei gute Gründe dafür anführen, die erwachende Konjunktur literaturwissenschaftlicher Mehrsprachigkeitsforschung zu begrüßen: Erstens verspricht die Beschäftigung mit und die Analyse von Mehrsprachigkeit und insbesondere mehrsprachiger Literatur allen, die sich für Fragen der Inter- und Transkulturalität sowie der Migration interessieren, einen wichtigen Zugang zu Phänomenen sprachlicher, kultu‐ reller und auch sozialer Differenz. Zweitens kommen mehrsprachige literarische Texte dem neu erstarkten Interesse an der sprachlichen Struktur der literarischen Textualität ent‐ gegen. Damit stellen sie auch eine Herausforderung an die philologischen Arbeitsinstru‐ mente dar, die sich zunehmend linguistischer Konzepte und Terminologien bedienen bzw. diese sogar adaptieren müssen, um ihren Gegenständen gerecht zu werden. Drittens schließlich bietet Mehrsprachigkeit die Möglichkeit, die Einschränkungen der nationalphi‐ <?page no="10"?> lologischen Betrachtungsweise zu überwinden. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um ›Weltliteratur‹ und die sich wandelnde Rolle der ›Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft‹ reizvoll. Das Handbuch will allen drei Perspektiven auf den Gegenstand ›Mehrsprachige Lite‐ ratur‹ gerecht werden und deren fachpolitische Konsequenzen ausloten. Neuere Diskussi‐ onen haben nämlich gezeigt, dass sich das Forschungsfeld ›Mehrsprachige Literatur‹ kei‐ neswegs über die Sammlung ihrer Gegenstände konstituieren lässt, denn dann findet sich kaum noch eine Möglichkeit zur Eingrenzung. Das liegt nicht nur daran, dass - welthisto‐ risch betrachtet - keinesfalls Einsprachigkeit, sondern Mehrsprachigkeit den Normalfall menschlicher Kommunikation darstellt; hinzu kommt nämlich, dass es letztlich definito‐ risch kaum möglich ist, zu sagen, was ein einsprachiger Text eigentlich ist. Denn Span‐ nungen und Interferenzen zwischen unterschiedlichen Sprachstandards (im Sinne von Po‐ lyphonie oder Heteroglossie) finden sich immer und überall, und es spricht vieles dafür, auch hier von Mehrsprachigkeit zu reden. Von daher liegt es nahe, zu sagen, dass sich die Forschung zur literarischen Mehrspra‐ chigkeit in erster Linie durch ihr spezifisches Interesse, durch ihre Fragerichtung und durch ihre Methodik auszeichnet, was nichts anderes bedeutet, als dass sie im Grunde eine neue disziplinäre Ausrichtung der Literaturwissenschaft mit sich bringt. Will man das damit entstehende Arbeitsfeld umreißen, muss man sich also in erster Linie der Methodik widmen, die seine Erschließung allererst möglich macht. Damit kommen die drei eingangs aufge‐ zeigten Perspektiven ins Spiel, denn die Methodik einer literaturwissenschaftlichen Philo‐ logie der Mehrsprachigkeit hat einerseits das strukturelle Gefüge von Sprachdifferenzen im Text zu beschreiben, andererseits aber auch deren kulturpolitischen Einsatz. b) Konzeption des Handbuchs Aus diesen Vorüberlegungen leitet sich die Konzeption des Handbuchs ab: Geboten wird kein Überblick über den Gegenstand ›Mehrsprachige Literatur‹, sondern ein Überblick über die Voraussetzungen ihrer Analyse und über das Inventar an Verfahren, die für die Analyse zur Verfügung stehen. Das bedeutet unter anderem, dass ein Stück weit offengelassen wird, was Mehrsprachigkeit eigentlich ›ist‹. Relevanter erscheint demgegenüber die Frage, was auf welcher Grundlage als Mehrsprachigkeit oder sprachliche Vielfalt wahrgenommen wird. Aus linguistischer Perspektive ist es relativ unproblematisch, unterschiedliche Ebenen zu beschreiben, auf denen sich einzelne Idiome unterscheiden lassen - man kann dann etwa Dialekte, Soziolekte oder standardisierte Nationalsprachen voneinander ab‐ grenzen. Von literarischer Mehrsprachigkeit kann man aber nicht nur dann sprechen, wenn sich in einem Text Segmente aus diversen derart voneinander unterschiedenen Idiomen finden, wenn also beispielsweise Deutsch und Französisch in dem Roman eines deutschen Nobelpreisträgers vorkommen oder wenn ein amerikanischer Romancier des 19. Jahrhun‐ derts die unterschiedlichen Soziolekte der amerikanischen Bevölkerung abzubilden ver‐ sucht. Beobachten lassen sich darüber hinaus beispielsweise Formen von ›latenter‹ Mehrspra‐ chigkeit - so etwa dann, wenn gesagt wird, eine Person spreche jetzt Spanisch, die Worte, in denen man diese Rede vor sich sieht, aber klar dem Englischen zugehören. Aber auch Till Dembeck und Rolf Parr 10 <?page no="11"?> die Verwendung ›fremdsprachlicher‹ metrischer Muster, die ›wörtliche Übersetzung‹ an‐ derssprachiger idiomatischer Wendungen, die Verwendung übersetzter anderssprachiger Zitate - um nur einige Beispiele zu nennen - sind unter dem Schlagwort literarischer Mehrsprachigkeit zu diskutieren. Schließlich ist festzuhalten, dass Mehrsprachigkeit in der Literaturwissenschaft nicht nur durch Übernahme linguistischer Begrifflichkeiten und Verfahren behandelt werden kann und darf, sondern dass sich die Verbindung dieser Be‐ grifflichkeiten und Verfahren mit genuin philologischen anrät. Denn auch im Grunde nur als rhetorisch zu beschreibende Textverfahren - beispielsweise die freiwillige Beschrän‐ kung der französischen Schriftsprache auf alle Buchstaben außer dem ›e‹ - erzeugen Ef‐ fekte, die denen der Verwendung einer anderen Sprache nahekommen. Im Einzelfall - und für den sollte sich Philologie ja interessieren - muss man neben der Vielfalt linguistischer ›Codes‹ im literarischen Text auch zu beschreiben versuchen, welchen rhetorischen, sti‐ listischen, diskursiven oder sonstigen Strategien ihre Anwendung, Mischung und Dekon‐ struktion gehorcht. Eine solche Herangehensweise verspricht nicht zuletzt Aufschluss über die Frage, wie literarische Mehrsprachigkeit kulturell zu werten und zu beschreiben ist. Die in der ›All‐ gemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft‹ geführte Debatte über ›Weltliteratur‹ steht dazu durchaus in Bezug. Einer der wichtigsten Punkte in dieser Debatte besteht in der Einschätzung des Stellenwerts von Übersetzung. Einerseits wird Weltliteratur als Netz‐ werk von Texten und Übersetzungen beschrieben, die weltweit migrieren. Weltliteratur erscheint dann als sprachgrenzüberschreitende Textbewegung. Andererseits beharrt man auf der Unübersetzbarkeit von Literatur, so dass die Weltliteratur gerade ihre intrinsische Inkommensurabilität ausmacht. Geht man methodisch von Mehrsprachigkeit aus, versucht man also, wie es hier vorgeschlagen wird, immer abzuschätzen, wie beliebige Texte mit sprachlicher Vielfalt umgehen oder zu ihr Stellung beziehen, so lassen sich Sprachgrenz‐ überschreitungen - glückende und scheiternde - auch in den einzelnen Texten feststellen. Weltliteratur lässt sich dann als Netzwerk nicht nur von Texten fassen, sondern auch von wie auch immer näher aussehenden mehrsprachigen Textverfahren. Insofern Sprachdiffe‐ renzen immer auch eine kulturelle Wertigkeit haben, gewinnt man durch dieses Vorgehen auch die Möglichkeit, eine Art kulturpolitische ›Agency‹ der literarischen Texte selbst zu analysieren: die Art und Weise, wie sie schon in ihrer sprachlichen Form, in ihrem Umgang mit Sprachdifferenz, kulturell und sozial wirken wollen. c) Aufbau des Handbuchs Der Aufbau des Handbuchs entspricht diesen methodischen Grundüberlegungen: Die ersten zwei Kapitel bieten einen Überblick über die im Weiteren vorausgesetzten grundle‐ genden Begrifflichkeiten und Hintergründe; die dem folgenden drei Kapitel widmen sich konkret den unterschiedlichen Verfahren des literarischen Umgangs mit Sprachvielfalt bzw. den Möglichkeiten ihrer Analyse. Gegenstand der ersten beiden Kapitel sind die sozialen bzw. kulturellen und die sprachlichen Rahmenbedingungen literarischer Mehrsprachigkeit: Es geht um unterschiedliche Varianten von Sprachdifferenz und Einsprachigkeit (wobei hier nicht nur Nationalsprachen in den Blick kommen, sondern alle Formen und Ebenen von Sprachstandards), um den Zusammenhang von Kultur und Sprache, um die Pragmatik Mehrsprachige Literatur. Zur Einleitung 11 <?page no="12"?> der Mehrsprachigkeit und um die ethischen Fragen, die Sprachvielfalt aufwirft. Dabei werden zum einen die derzeit noch erheblichen konzeptionellen und terminologischen Differenzen zwischen linguistischen und philologischen Beschreibungen von Mehrspra‐ chigkeit dargestellt; zum anderen wird versucht, auf dieser Grundlage eigenständige phi‐ lologische Beschreibungsmodelle von Sprachdifferenz zu entwickeln. Mit dem ersten Teil des Handbuchs wird ein Instrumentarium bereitgestellt, auf das die Kapitel III bis V dann Bezug nehmen. Dieser zweite Teil des Handbuchs widmet sich den Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit, wie sie Gegenstand der Analyse und Grundlage von Interpretationen sein können. In diesem Teil wird die eigentliche Syntheseleistung des Handbuchs erbracht, wird hier doch eine Metaperspektive auf das eröffnet, was die For‐ schung zur literarischen Mehrsprachigkeit schon seit einiger Zeit praktiziert, ohne dies bisher jedoch immer systematisch reflektiert zu haben. Behandelt werden zunächst die Basisverfahren der literarischen Mehrsprachigkeit (Kapitel III ). Darunter verstehen wir alle diejenigen Verfahren, die dafür sorgen, dass Sprachdifferenzen aller Art in (literarischen) Texten in Erscheinung treten können. Dabei gehen wir davon aus, dass sich diese Verfahren medien- und gattungsunabhängig und natürlich auch außerhalb der Literatur finden lassen. Zu diesen Verfahren zählen erstens Sprachwechsel und Sprachmischung ( III .1) - wobei der Unterschied zwischen Wechsel (Segmente in unterschiedlichen Sprachen wechseln sich ab) und Mischung (Strukturvorgaben unterschiedlicher Sprachen werden miteinander ver‐ schränkt oder eben vermischt) letztlich fließend ist. Zweitens wird Mehrsprachigkeit in der Figurenrede behandelt, also die Zuordnung von Sprechern zu einzelnen Sprachen ( III .2). Dem ähneln Verfahren der anderssprachigen Zitation ( III .3), denn auch hier werden un‐ terschiedliche Sprachen auf unterschiedliche Quellen zurückgeführt. Ein bemerkenswertes Basisverfahren literarischer Mehrsprachigkeit stellt schließlich die Mehrschriftlichkeit dar, also die Verwendung unterschiedlicher Arten von Schrift in ein und demselben Text. Ein eigenes Kapitel widmet sich der Übersetzung ( IV ) - einem Verfahren, das zwar auch eine grundlegende Art und Weise des literarischen Umgangs mit Mehrsprachigkeit darstellt, das aber zumindest in seiner ›Normalvariante‹, der semantischen Übersetzung ( IV .1), darauf aus ist, Sprachdifferenzen eher unsichtbar zu machen. Die homophone Übersetzung ist demgegenüber ein Verfahren, das Formen der Sprachmischung nahesteht, denn sie setzt sich zum Ziel, (auch) die klangliche Gestalt des Originals in der Übertragung beizubehalten ( IV .2). Das Kapitel V ist gattungsbzw. medienspezifischen Verfahren gewidmet. Hierbei wird nicht die vollständige Abdeckung ›aller‹ literarischen Genres und Medien angestrebt. Viel‐ mehr werden nur solche Gattungstraditionen und Medien behandelt, die spezifische Ver‐ fahren der literarischen Mehrsprachigkeit entwickelt haben; diese Gattungstraditionen und Medien werden zudem vor allem mit Blick auf diese spezifischen Verfahren betrachtet. Für die Versform (V.1) beispielsweise ist charakteristisch, dass versbauliche Formen über Sprachgrenzen hinweg verwendet werden können; für Dramatik (V.2), dass mit der Mög‐ lichkeit der Ergänzung des sprachlich vermittelten Geschehens durch die Mittel der Bühne gerechnet werden kann. Mit Blick auf das Erzählen (V.3) ist insbesondere die Selbstreflexion auf die Sprachigkeit des Erzählakts entscheidend. Hörspiel und Hörbuch bieten als litera‐ rische Gattungen (V.4) erstmals die Möglichkeit, fremde, ungewöhnliche oder einfach nur dialektale Sprachklänge analog zu reproduzieren. Im (Ton-)Film schließlich wird diese Till Dembeck und Rolf Parr 12 <?page no="13"?> Möglichkeit kombiniert mit der Möglichkeit, Sprachdifferenz zu zeigen; durch Untertite‐ lung und durch die Verwendung diegetisch eingebetteter Schriften (V.5). Diese Möglich‐ keiten bestehen im Fernsehen grundsätzlich auch, allerdings tritt hier als Besonderheit hinzu, dass in der Regel mehr noch mit einem ›einsprachigen‹ Publikum und dementspre‐ chend einer ›Grundsprache‹ gerechnet wird, was zur Entwicklung spezifischer Formen der Mehrsprachigkeitssimulation in Fernsehformaten wie der Serie geführt hat (V.6). Die Artikel der Kapitel III bis V sind jeweils ähnlich aufgebaut: An die Beschreibung des Verfahrens und Begriffsgeschichte (a) schließen sich ein Überblick über die Sachgeschichte (b) und die Forschungsgeschichte (c) an. In den Analysebeispielen (d) sollen die jeweils betrachteten Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit konkret vor Augen geführt werden; nicht zuletzt kann so auch die Leistungsfähigkeit einer ›Philologie der Mehrsprachigkeit‹ unter Beweis gestellt werden. Am Ende der Kapitel steht jeweils die Erörterung offener Forschungsfragen (e). Im Anschluss an die Artikel findet sich jeweils eine Bibliographie; Texte, die nicht zum einschlägigen Forschungsbestand zum Thema des Artikels zählen, aber dennoch nachgewiesen werden müssen, finden sich ebenso wie Referenzen auf literarische Beispieltexte in den Fußnoten. Die Gesamtbibliographie am Ende des Bandes umfasst einen Überblick über die derzeit wichtigsten Arbeiten des noch jungen Forschungsfeldes ›Mehr‐ sprachige Literatur‹. Das abschließende Kapitel VI bietet eine Zusammenstellung über aktuelle Institutiona‐ lisierungen literarischer Mehrsprachigkeit - in Gestalt von Forschungsschwerpunkten, Studienprogrammen, Literaturpreisen, Verlagsprogrammen etc. Dieses Kapitel sucht po‐ tentielle Anschlussstellen der im Handbuch betriebenen methodischen Theoriebildung an die wissenschaftliche Erschließung literarischer Mehrsprachigkeit in der Gegenwart und der mit ihnen verbundenen Kulturpolitiken zu markieren. d) Eine erste Grundlegung Seine methodische Ausrichtung und der Stand der Forschung bringen es mit sich, dass das Handbuch insgesamt eine für dieses Genre ungewöhnliche Forschungsleistung für sich beanspruchen kann: In vielen Bereichen, vor allem in denjenigen, die in den Kapiteln III bis V abgedeckt werden, existiert zwar eine Vielzahl an relevanten Arbeiten, die aber in eher zerstreuter Form vorliegen und weit davon entfernt sind, einen wirklich systemati‐ schen Überblick zu bieten. Das hat zur Folge, dass insbesondere die Abschnitte zur Sach‐ geschichte teils noch eher skizzenhaft gestaltet sind. Wir hoffen allerdings, dass die erste methodische Grundlegung, die mit diesem Handbuch erreicht wird, nicht nur für diesen Mangel entschädigt, sondern auch dazu beiträgt, dass diese Forschungslücken in Zukunft geschlossen werden. Mit Blick insbesondere auf die Sachgeschichte ist zudem einzuräumen, dass die in erster Linie germanistische Kompetenz der Herausgeber dazu führt, dass über die weitgehende Beschränkung auf europäische und amerikanische Literatur hinaus ein gewisses germa‐ nistisches Übergewicht besteht. Dennoch handelt es sich nicht um ein Buch, das nur für Germanisten gedacht ist, auch wenn es vor allem von Germanisten erarbeitet wurde. Das Zielpublikum bilden vielmehr die Studierenden und Lehrenden aller Philologien sowie auch Mehrsprachige Literatur. Zur Einleitung 13 <?page no="14"?> Sprachwissenschaftler, die sich dafür interessieren, wie einer ›ihrer‹ Gegenstände von an‐ deren Disziplinen aus in den Blick genommen wird. * Unser Dank gilt in allererster Linie den Autorinnen und Autoren der Beiträge dieses Hand‐ buchs, insbesondere dafür, dass sie es auf sich genommen haben, sich durch das ›Dickicht‹ eines Forschungsfeldes zu arbeiten, in dem es an einschlägigem Orientierungswissen zur‐ zeit zum Teil noch fehlt. Die Idee für dieses Handbuch geht auf Veranstaltungen zurück, die im Zuge des vom Fond National de Recherche Luxembourg ( FNR ) finanzierten Projekts MULTILING sowie des Pendant-Projektes an der Universität Duisburg-Essen durchgeführt wurden. Unser Dank gilt dem FNR sowie allen an diesem Projekt Beteiligten: Georg Mein und Isabell Baumann (Universität Luxemburg), Claude D. Conter (Centre national de litté‐ rature, Luxemburg), Thomas Ernst (Amsterdam), Liesbeth Minnaard (Leiden) und Anke Gilleir (Leuven). Die Teilnehmer an den durch das Projekt veranstalteten Tagungen und Workshops haben entschieden dazu beigetragen, dass wir einen hinreichenden Überblick über die Materie gewinnen konnten. Ihnen allen sei ebenso herzlich gedankt wie Tillmann Bub, der das Projekt als Lektor sachkundig und vor allem geduldig betreut hat. Ohne die Übernahme des Druckkostenzuschusses durch das Institut für deutsche Sprache und Lite‐ ratur und für Interkulturalität der Universität Luxemburg hätte das Handbuch nicht er‐ scheinen können. Wir sind dem Institut ebenso zu Dank verpflichtet wie all denen, die der Bitte um Unterstützung nachgekommen sind, mit der wir uns an die Fachöffentlichkeit gewandt haben, um einen Überblick über gegenwärtige Formen der Institutionalisierung der Beschäftigung mit literarischer Mehrsprachigkeit zu gewinnen. Luxemburg / Essen, im Juni 2017 Till Dembeck und Rolf Parr 14 <?page no="15"?> I. Kulturelle und soziale Rahmenbedingungen literarischer Mehrsprachigkeit <?page no="17"?> 1. Sprache und Kultur Till Dembeck a) Begriffsbestimmung Literarische Mehrsprachigkeit wird in der jüngeren Forschung schwerpunktmäßig mit Blick auf Fragen der Kulturdifferenz diskutiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass Sprachdifferenzen für Kulturdifferenzen stehen können oder sie überhaupt erst erzeugen. Im Folgenden werden die begrifflichen und historischen Voraussetzungen dieser Engfüh‐ rung erläutert. Dabei stehen weniger die beispielsweise in der Soziologie geführten Grund‐ lagendiskussionen im Vordergrund, etwa zum Zusammenhang von Gesellschaftsstruktur und Kultur. Vielmehr wird Kultur aus einer dezidiert philologischen Perspektive in den Blick genommen. Obgleich (oder weil) der Kulturbegriff grundlegend für die Geisteswissenschaften ist, gehört er zu ihren umstrittensten Konzepten. Grob lassen sich dabei zwei Tendenzen der Begriffsbestimmung erkennen: Kultur gilt einerseits als gesellschaftliches Gedächtnis und mithin als Grundlage für gesellschaftliche Bedeutungskonstitution (›Kultur als Text‹). An‐ dererseits wird die normative Funktion von Kultur geltend gemacht. Dann gilt Kultur als Inbegriff gesellschaftlicher Regeln. Beiden Vorstellungen von Kultur ist gemeinsam, dass sie deren Grundlagen als kontingent ansehen, ihr aber dennoch Determinationskraft zu‐ schreiben. Vorgeschlagen wird hier, Kultur als Bezeichnung für das (grundsätzlich offene) Bündel von Mechanismen zu verstehen, die einer Gesellschaft Signifikanz bereitstellen, d. h., bedeutungsunterscheidende Differenzen (nicht bereits Bedeutungen). Aus dieser Be‐ stimmung lassen sich sowohl der semantische als auch der regulative Stellenwert von Kultur ableiten (dazu Abschnitt c). Insofern Sprachsysteme auf Phonemen und Graphemen (und ihren Korrespondenzen) als ihren kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten aufbauen, ist der Zusammen‐ hang zum Kulturbegriff evident: Sprache ist, weil sie systematisch Signifikanz erzeugt, Teil von Kultur. Sprachdifferenzen lassen sich daher auch als Differenzen in der Art und Weise der Signifikanzerzeugung beschreiben und damit wiederum auch als Kulturdifferenzen. Diese Beschreibung setzt voraus, dass es neben Sprache weitere Mechanismen und Struk‐ turebenen von Kultur gibt, z. B. ikonische oder akustische Zeichensysteme, das individuelle Gedächtnis inklusive der psychischen bzw. neuronalen Mechanismen, auf denen es beruht, oder auch digitale Algorithmen, die unabhängig von psychischen und/ oder sozialen Ope‐ rationen Signifikanzen erzeugen. b) Die historische Semantik von Kultur in ihrem Verhältnis zur Sprache Vieles spricht dafür, dass die abendländischen Semantiken von Kultur und Sprache mehr oder weniger gleichursprünglich sind. So gilt der griechischen Antike die Beherrschung <?page no="18"?> 1 Laut Arno Borst wird in diesen Passagen der Genesis erstmals die Auffassung vertreten, die Mensch‐ heit bilde in ihren Sprachen eine (gottgewollte) Einheit in der Mannigfaltigkeit (Borst, Der Turmbau zu Babel, 126). Später entwickele sich auf der Grundlage der der Babelerzählung vorangehenden Völkertafel die das gesamte Mittelalter und Teile der Frühen Neuzeit prägende Auffassung, es gäbe 70 bzw. 72 unterschiedliche Sprachen auf der Welt (ebd., 183). Die Geschichte dieser Aufassung ist der eigentliche Gegenstand von Borsts enzyklopädischem Buch, dessen Bedeutung für die literatur‐ wissenschaftliche Mehrsprachigkeitsforschung noch zu erschließen ist. ihrer Sprache als Ausweis von ›Kultur‹, so dass alle diejenigen, die nicht über das Griechi‐ sche verfügen, als sprachunfähige Barbaren gelten. Die griechische Kultur ist einerseits strikt einsprachig (Trabant, Europäisches Sprachdenken, 25 f.), dabei zugleich offen für bin‐ nensprachliche Varianz, verfügt aber andererseits nicht über die Vorstellung von Sprach‐ einheiten, also von in irgendeiner Form abgeschlossenen und voneinander abgrenzbaren Idiomen (Stockhammer, Grammatik, 303-305). Die Differenz Kultur/ Barbarei bleibt zu‐ nächst die einzig denkbare Unterscheidung, auch wenn sie in ganz unterschiedlicher Art relativiert wird, etwa in Herodots Ausführungen über die Ägypter, für die u. a. die Griechen βάρβαροι (Barbaren) sind (Stockhammer, Grammatik, 303 f.); in der Stoa, die asymmetri‐ sche Gegenbegriffe für die Einteilung der Menschheit zu überwinden versucht, und schließ‐ lich insofern, als die Differenz zwischen Griechen und Barbaren zum Teil auch zeitlich gedacht wird, so dass die Griechen sich mit der Kulturalität ihrer Sprache zugleich auch Fortschrittlichkeit attestieren (Koselleck, »Zur historisch-politischen Semantik«, 222-229; zur Spannweite der griechischen Auffassungen über Sprach- und Völkervielfalt siehe Borst, Der Turmbau von Babel, 89-108). Auch wenn sich bereits in Aristoteles’ Poetik Überlegungen zu den ›Wortarten‹ finden, bezeugt die sich verdichtende Überlieferung grammatischer Traktate im Hellenismus und um die Zeitenwende ein erstarkendes Bewusstsein für die Regelhaftigkeit von Sprachsys‐ temen und damit auch für die Differenzen zwischen unterschiedlichen Idiomen. Hinter‐ grund dieser Entwicklung ist nicht zuletzt die Etablierung des Lateinischen als einer zweiten überregionalen und zunehmend kodifizierten Sprache, die insbesondere ihr Verhältnis zum Griechischen zu regeln hat (Leonhardt, Latein, 53-89). Es etablieren sich so einerseits ver‐ gleichsweise strikte Begriffe von Sprachrichtigkeit (latinitas) und damit auch striktere Vor‐ stellungen von ›sprachlicher Einheit‹; andererseits wird Sprachrichtigkeit - insbesondere bei Quintilian - als grundsätzlich offen für rhetorisch motivierte Grenzüberschreitung be‐ schrieben (Stockhammer, Grammatik, 45-55). Pointiert lässt sich formulieren, dass damit die Sprache im Licht der Rhetorik als eine Art Mechanismus kultureller Variation erscheint. Allerdings empfehlen die Rhetoriker, Abweichungen von der Sprachrichtigkeit behutsam und wenn möglich unter Berufung auf Autoritäten einzusetzen. Auch die wichtigsten Belegerzählungen der jüdischen und dann der christlichen Tradi‐ tion für Fragen der Sprachdifferenz, die Babel- und die Pfingstwundererzählung, weisen Sprache als Anzeichen oder Instrument von Kultur aus. So hat der Bau des Turms zu Babel das Ziel, den Zusammenhalt der Menschheit zu sichern (Gen 11) - widerspricht damit aber dem göttlichen Willen, der mit der Besiedlung der Erde durch die Menschen offenbar auch die Zerstreuung ihrer Sprachen vorgesehen hat (Gen 1.26-28). 1 Umgekehrt ist die Verhei‐ ßung des Pfingstwunders auch eine der Aufhebung aller Sprachdifferenzen im und durch den christlichen Glauben. Till Dembeck 18 <?page no="19"?> Die im weitesten Sinne kulturelle Unterscheidung zwischen Christen und Heiden, die in vielerlei Hinsicht die ältere Differenz zwischen Hellenen und Barbaren beerbt (Koselleck, »Zur historisch-politischen Semantik«, 229-244), hat so einerseits einen sprachtranszen‐ dierenden Impetus. Ein Beispiel dafür ist die Abwendung des Kirchenvaters Augustinus von der Kunst der Rhetorik. Augustinus spielt in Paulinischer Tradition das Wort Gottes gegen das menschliche, auf die Pluralität von Wörtern angewiesene Sprechen aus (Stock‐ hammer, Grammatik, 83-91) und bereitet so die Verknüpfung christlicher Theologie mit einem sich auf Aristoteles rückbeziehenden Denken vor, das Gedanken bzw. Logik unab‐ hängig von Sprache und damit auch von partikularen Kulturdifferenzen konzipiert (Tra‐ bant, Europäisches Sprachdenken, 25-34, 45-52). Andererseits entwickelt das Christentum - auch hier ist Augustinus eine prägende Kraft - in Fortschreibung antiker Rhetorik und Grammatik eine sehr konkrete und folgenreiche Sprachpolitik, denn es macht hochgradig kodifizierte ›heilige‹ Sprachen, vor allem das Lateinische und nur in Nebenrollen das Grie‐ chische und das Hebräische, zum zentralen Organon der kirchlichen Verwaltung des See‐ lenheils aller Menschen. Die u. a. von Augustinus ausgehende Aneignung und Umschrift der antiken Überlieferung durch das Christentum führt schließlich - vermittelt u. a. über die sog. karolingische Bildungsreform, durch die das Lateinische überdies zur zentralen Verwaltungssprache avanciert - zur Sammlung des christlich fundierten Weltwissens in Systemen der hochmittelalterlichen Scholastik. Das scholastische Latein, in dem dieses System formuliert wird, avanciert zum zentralen Medium christlich-abendländischer Sprach- und Kulturpolitik (zu den Veränderungen, die es dabei durchläuft, siehe Leon‐ hardt, Latein, 172-186). Einen weiteren entscheidenden Schritt hin zu einem modernen Kulturbegriff leistet - ausgehend von der Zeit der karolingischen Reformen (Leonhardt, Latein, 140-148) - seit dem Hochmittelalter einerseits das zunehmende Erstarken der Volkssprachen, andererseits die humanistische Bewegung zur Wiederherstellung der antiken Quellen und des antiken Lateins. So erfolgt der Rückgriff auf möglichst originale Sprachzeugnisse des Griechischen wie des Lateinischen zumindest implizit - wie man am Ausufern der kommentierenden Vermittlung der Texte ablesen kann - vor dem Hintergrund eines neuen Bewusstseins für ihre Fremdheit (vgl. Grafton, »The Humanist as Reader«). Der Humanismus ist so auch eine Bewegung zur Wiederaneignung einer fremdgewordenen (und zugleich in der Wiederan‐ eignung in dieser Fremdheit affirmierten) Vergangenheit des kulturell Eigenen (vgl. Tra‐ bant, Europäisches Sprachdenken, 76-83). Das Erstarken der Volkssprachen wiederum kann einerseits als Emanzipationsbewegung verstanden werden. Dies signalisiert insbesondere die Semantik der Muttersprache, deren Beginn in Dante Alighieris Schrift De vulgari elo‐ quentia (1303-1305) zu sehen ist: Dantes Bemühungen gelten einer Sprache jenseits der grammatica, also jenseits des Lateinischen. Dabei wird der besondere Wert dieser Sprache damit in Verbindung gebracht, dass sie der Mensch ›natürlich‹ entwickelt, wohingegen Latein ›künstlich‹ gelehrt wird (Bonfiglio, Mother Tongues and Nations, 72 f.). Allerdings ist andererseits schon Dantes Schrift, die überdies für etwa zwei Jahrhunderte keine An‐ schlüsse findet, keineswegs darauf aus, die tatsächlich gesprochenen Volkssprachen zu no‐ bilitieren; noch geht es um die Entwicklung einer Nationalsprache; vielmehr interessiert Dante die Konstitution einer literarischen Hochsprache (Trabant, Europäisches Sprach‐ I. 1. Sprache und Kultur 19 <?page no="20"?> 2 Johann Gottfried Herder, »Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesetzten Preis erhalten hat«, in: Ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Martin Bollacher u. a., Bd. 1: Frühe Schriften, hrsg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt/ M. 1985, S. 695-810, hier S. 722 f. denken, 70-72). Auf die Volkssprache wird so der Anspruch der grammatica übertragen - wodurch aus ihr allerdings auch eine andere Sprache wird. Eine wesentliche kultur- und sprachpolitische Konsequenz der neuen Muttersprachen‐ semantik ist seit der Frühen Neuzeit gleichwohl die Identifizierung der zunehmend kodi‐ fizierten modernen Sprachen mit denjenigen Idiomen, die die jeweilige Nation ›von Natur aus‹ spricht. Anders formuliert: In Kontexten wie der italienischen Diskussion über die ›Questione della lingua‹ (Trabant, Europäisches Sprachdenken, 84-106), in der Entwicklung der ersten neusprachlichen Grammatiken, Wörterbücher und Orthographien wird zwar die grammatische Einheitlichkeit der jeweiligen Volkssprachen behauptet und sprachpolitisch etabliert (Stockhammer, Grammatik, 327-338), zugleich wird dieses Faktum aber ausge‐ blendet und zunehmend durch die Behauptung der natürlichen Einheit der nationalen Sprachen überdeckt. Am Ende dieser Entwicklung steht spätestens um 1800 die Auffassung, der Muttersprachler sei als Verkörperung ›seiner‹ Muttersprache aufzufassen, wie sie etwa bei Johann Gottfried Herder oder bei Jacob Grimm zu finden ist (vgl. Martyn, »Es gab keine Mehrsprachigkeit«). Die Volkssprachen haben in diesem Moment einerseits die Heiligen Sprachen beerbt, so dass es nur konsequent ist, wenn das Lateinische zum Ende des 18. Jahrhunderts plötzlich als ›tote Sprache‹ bezeichnet wird (Leonhardt, Latein, 6-16). Andererseits erhalten sie einen gänzlich neuen Status, denn in ihnen wird die grammatica als Quasi-Natur zum Garanten kultureller Einheit. Diese Entwicklung betrifft aber nur einen Aspekt des sich in der Neuzeit formierenden Verhältnisses von Kultur- und Sprachbegriff. Komplementär, wenn auch in leichter Span‐ nung zur Muttersprachensemantik, etabliert sich der moderne Kulturbegriff im 18. Jahr‐ hundert als Korrelat einer neuartigen Praxis des Vergleichens (Baecker, Wozu Kultur, 44-57). Sie stellt die Selbstverständlichkeiten der sozialen Praxis und vor allem der gesell‐ schaftlichen Erzeugung von Signifikanz grundsätzlich und systematisch in Frage und macht ihre Kontingenz sichtbar. Die Bereitschaft zur Einräumung von Kontingenz ist wahrschein‐ lich das eigentlich Moderne an diesem Kulturbegriff, der so betrachtet in erster Linie eine Verunsicherung mit sich bringt. Gleichwohl steht diese Auffassung von Kultur in enger Relation zu derjenigen, dass die Muttersprache kulturelle Einheit garantiere. Beide werden teils von denselben Autoren vertreten, beispielsweise von Herder. Dessen epochemachende Arbeit zum Sprachursprung führt die Sprache des Menschen unmittelbar auf die Fähigkeit zurück, aus der Masse der Sinnesdaten wiederholt Merkmale herauszufiltern und sie damit als wiederholbare Zeichen zu konstituieren. 2 Dabei legt Herder besonderen Wert darauf, diese Operation mit Blick auf die Sinnesdaten als kontingent auszuweisen: Die Dinge selbst legen nicht schon fest, was an ihnen für den Menschen zeichenhaft werden kann. Auf diese Weise erklärt sich für Herder auch, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Arten und Weisen entwi‐ ckelt haben, Sprachzeichen zu konstituieren, woraus er wiederum die kulturelle Vielfalt der Menschheit und auch die Spannungen und Konflikte zwischen den Völkern ableitet (vgl. Dembeck, »X oder U? «). Diese Vielfalt mit kontingenten Grundlagen kann dann ebenso Till Dembeck 20 <?page no="21"?> Ausgangspunkt des modernen kulturellen Vergleichs werden, wie sie auch Anlass geben kann zu jener Wertschätzung kultureller Ursprünglichkeit, für die Herders Name einsteht, d. h., zur Wertschätzung von kultureller und sprachlicher Partikularität, die Herder und nach ihm beispielsweise Wilhelm von Humboldt gerade als Ausweis humanistischer Uni‐ versalität gilt (Trabant, Europäisches Sprachdenken, 226-229, 260-267). Die Wertschätzung kultureller und sprachlicher Partikularität weicht in der Folgezeit oftmals der emphatischen Affirmation einzelner sprachlicher und kultureller Identitäten. Die Vorstellung der Nation als Einheit von Volk, Staat und Sprache ist bis heute (kultur-)po‐ litisch ein extrem wirksames Konzept (vgl. Anderson, Imagined Communities). Die Unsi‐ cherheit, die die Wahrnehmung kultureller Differenz ihrem Ursprung nach impliziert, weil sie vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage stellt, wird so invisibilisiert. Affirmierte Ursprünglichkeit überdeckt die Kontingenz dessen, was konkret hier und jetzt kulturell beobachtet werden kann. Das hat zur Folge, dass zwar einerseits »asymmetrisch[e] Ge‐ genbegriffe« (Koselleck, »Zur historisch-politischen Semantik«, Titel) im Bereich der Kultur fragwürdig werden, weil an ihre Stelle die Unterscheidung zwischen unterschied‐ lichen Nationen und ihren Sprachen und Kulturen tritt. Andererseits ist der Kulturbegriff nur schlecht gegen die potentielle Substantialisierung kultureller Differenzen und ihre an‐ schließende Wertung gewappnet. Die historische Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts etwa kann die letztlich kulturell begründete, wenn auch sich in quasi-naturwissenschaft‐ licher Terminologie tarnende Ab- und Aufwertung ganzer Sprachfamilien betreiben; und das Projekt der Kolonialisierung geht einher mit der Etablierung rassistischer Kultur- und Sprachtheorien. Im 20. Jahrhundert schließlich kann die Unterscheidung zwischen ›Men‐ schen‹ und ›Unmenschen‹ die Funktion der alten Unterscheidung zwischen Hellenen und Barbaren übernehmen - und radikalisieren (vgl. Koselleck, »Zur historisch-politischen Se‐ mantik«, 244-259). Die emphatische Affirmation kultureller Identität, die all diesen Tendenzen gemeinsam ist, lässt sich nicht nur als Konsequenz eines ›falschen‹ Kulturbegriffs verstehen, sondern auch als Reaktion auf die Zumutungen, die der moderne Kulturbegriff schon in der Se‐ mantik des 18. Jahrhunderts mit sich bringt. Das Beharren auf Identität dient so letztlich der Entschärfung sprachlicher wie kultureller Unsicherheiten. Die u. a. in der postkolo‐ nialen Theorie zu Recht geäußerte Kritik an westlicher kultureller Identitätspolitik ist in‐ sofern auch eine Fortsetzung und Radikalisierung von Impulsen, die dem modernen Kul‐ turbegriff von Beginn an eigen sind. Es gibt allerdings eine weitere Strategie zur Entschärfung sprachlich und kulturell in‐ duzierter Unsicherheiten, die spätestens seit dem ausgehenden Mittelalter an Aktualität gewinnt und in einigen Strömungen der gegenwärtigen Linguistik ihren vorläufigen Hö‐ hepunkt erreicht. Diese Strategie besteht in dem Versuch, Kultur und Sprache auf je un‐ terschiedliche Weise voneinander zu entkoppeln. Dies geschieht entweder durch die Los‐ lösung des Denkens von den sprachlichen Formen; oder durch den Versuch, in der Vielfalt der Idiome universal gültige Strukturen ausfindig zu machen. Die erste Variante wird quer durch die Geistesgeschichte immer wieder im Rückbezug auf Aristoteles formuliert; sie postuliert letztlich eine Ablösung der Logik von der Sprache und etabliert damit einen Bereich des Denkens jenseits jeder kulturellen Partikularität (Trabant, Europäisches Sprach‐ denken, 29-38; vgl. Stockhammer, Grammatik, 55-62). Die zweite Variante setzt spätestens I. 1. Sprache und Kultur 21 <?page no="22"?> in der Frühen Neuzeit mit den Bemühungen um eine Universalgrammatik (grammaire gé‐ nérale) an; sie vereinigt sich im Rationalismus, ausgehend von Port-Royal und kulminierend in René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz wie auch in Teilen der modernen analytischen Philosophie, insofern mit der ersten Strategie, als das Ziel nun darin besteht, die natürlichen Sprachen so zu reinigen, dass sie zugleich auf ihre Grundstrukturen zurückgeführt und mit den Gesetzen der Logik in Einklang gebracht werden (Stockhammer, Grammatik, 127-143; Bunia, Romantischer Rationalismus, 33-51; Trabant, Europäisches Sprachdenken, 131-139, 178-195). Teile der modernen Linguistik, insbesondere in der Nachfolge Noam Chomskys, die sich dem Paradigma der Naturwissenschaften annähern und Sprache als anthropolo‐ gische Universalie begreifen, schließen hier an - und nehmen damit zugleich, wahrschein‐ lich entgegen ihren Intentionen, Ansprüche der historischen Sprachwissenschaften des 19. Jahrhunderts wieder auf, die Sprachgeschichte als Naturprozess beschreiben wollten (Stockhammer, Grammatik, 168-175, 202-242). c) Systematische Überlegungen Die im engeren Sinne wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kulturbegriff setzt spätes‐ tens mit dem sehr wirkmächtigen Bestimmungsversuch von Edward B. Tylor ein: »Culture, or civilization, taken in its broad, ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society.« (Tylor, Religion in Primitive Culture, 1) Tylors additiver Kulturbegriff hallt noch heute in zahlreichen Bestimmungen von Kultur in Nachschlage‐ werken nach. Dies zeigt, dass es schwierig ist, Kultur als Gegenstand auf den Begriff zu bringen. Hinter den von Tylor aufgelisteten Bestimmungsmomenten verbergen sich aller‐ dings auch (unterschiedliche) funktionale Beschreibungen von Kultur, und zwar in min‐ destens zwei Ausprägungen: 1. Kultur als Vorrat gesellschaftlicher Normen: Dieser Kulturbegriff trägt dem Umstand Rechnung, dass man als Kultur etwas bezeichnet, das prägende, zuweilen gar determinie‐ rende Wirkung für gesellschaftliche Prozesse hat. Kultur wird zum Inbegriff der einzelnen und auf unterschiedlichen Strukturebenen anzusiedelnden Regeln, die eine Gesellschaft prägen. Dieser Kulturbegriff ist für die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit insofern relevant, als er gesellschaftlichen Prozessen eine Art ›Grammatik‹ unterstellt, sie also in Analogie zu sprachlichen Strukturen beschreibt. Es ist insofern kein Zufall, dass dieser Kulturbegriff solchen (Teil-)Disziplinen der Linguistik nahesteht, die sich für die Regula‐ ritäten der konkreten Sprachverwendung interessieren, also etwa der Pragmatik und spe‐ ziell der linguistischen Diskursanalyse. Die durch letztere geprägte Metapher des Skripts, das kulturelle Normen als Vor-Schriften ausweist (vgl. Abelson, »Script Processing«; Schank/ Abelson, Scripts), zeigt dabei schon an, dass dieser Begriff von Kultur mit dem zweiten hier relevanten Kulturbegriff durchaus Gemeinsamkeiten hat. 2. Kultur als Text bzw. als Vorrat gesellschaftlicher Semantiken: Seine bekannteste Aus‐ prägung hat dieser Kulturbegriff in der ethnologischen Theorie von Clifford Geertz erfahren, die Kultur als einen Vorrat an Bedeutungsmustern beschreibt, von deren Entzif‐ ferung die Interpretierbarkeit gesellschaftlicher Prozesse abhängt. Ethnologische Darstel‐ lungen müssen daher mit ebenso viel Skepsis betrieben und mit ebenso viel Kontextwissen Till Dembeck 22 <?page no="23"?> angereichert werden, wie es die texteditorische Entzifferung eines alten Manuskripts er‐ fordert (vgl. Geertz, »Thick description«). Es finden sich allerdings auch viele weitere Be‐ schreibungen von Kultur, die beim Zeichenbegriff ansetzen. Dies gilt beispielsweise für Jurij M. Lotmans Kultursemiotik, die u. a. zu dem Ergebnis kommt, dass Kultur letztlich immer auch als Mechanismus zur Bereitstellung von interpretatorischer Unbestimmtheit funktioniert und damit die Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft absichert (Lotman, »Zum kybernetischen Aspekt der Kultur«). Auch die breit rezipierte wissenssoziologische Theorie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann setzt letztlich beim Zeichen bzw. bei der (vor allem sprachlichen) Konstruktion von Zeichenhaftigkeit an (Berger/ Luckmann, Die gesell‐ schaftliche Konstruktion). Noch bei der postkolonialen Kulturtheorie von Homi K. Bhabha handelt es sich um eine mit dem Zeichenbegriff operierende Dekonstruktion der Vorstel‐ lung von Kulturen als Einheiten (vgl. Bhabha, The Location of Culture). Kulturelle Hybri‐ dität, wie sie in Bhabhas Beschreibung jeder kulturellen Grenzziehung vorgängig ist, ist nicht zuletzt zeichenbzw. texttheoretisch gedacht. Auch wenn moderne Beschreibungen von Kultur beider Richtungen in je unterschied‐ licher Weise auf Sprache bezogen sind, misst die Systemlinguistik dem Faktor Kultur in der Regel einen nur marginalen Stellenwert zu. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Linguistik in der Nachfolge Ferdinand de Saussures (dem damit teilweise Unrecht getan wird) als erklärende und nicht als interpretierende Wissenschaft versteht. Damit aber fällt Kultur als zu interpretierender Sachverhalt aus ihrem Gegenstandsbereich heraus. Dem widerspricht aktuell der Vorschlag der kulturanalytischen Linguistik, die auf unterschied‐ lichen Ebenen der Sprachstruktur Verfahren der Mustererkennung beschreibt und mit kultur-, sozial- und medienhistorischen Kontexten in Verbindung bringt (vgl. Linke, »Sig‐ nifikante Muster«). Auch die Rezeption der Diskursanalyse Michel Foucaults durch die Linguistik führt teilweise zu einer Neuentdeckung von Kultur als Rahmenbedingung von Sprache, wenn auch in erster Linie (funktional ausdifferenzierte) Einzeldiskurse in den Blick geraten und gerade nicht das diffuse Bündel dessen, was anderenorts als Kultur beschrieben wird (vgl. Kuße, Kulturwissenschaftliche Linguistik). Eine gewichtige Ausnahme bildet hier die Interdiskursanalyse, die sich für die Regularitäten von Aussageweisen interessiert, die in Spezialwie auch verbindenden Interdiskursen anzutreffen sind. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier u. a. »[k]ulturspezifische synchrone Systeme von Kollektivsym‐ bolen« (Link, »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse«, 297), die als diskursverbindende Elemente, d. h. als der kulturelle Kitt moderner Gesellschaften und ihrer ausdifferenzierten Spezialdiskurse fungieren (siehe für einen daraus zu entwickelnden Kulturbegriff Link, »Zur Frage«). Von den großen Theorievorschlägen aus dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat die soziologische Systemtheorie erstaunlich wenig zum Kulturbegriff beigetragen, zumindest nicht bei Niklas Luhmann selbst, der Kultur u. a. als semantisches Gedächtnis beschrieben hat (Luhmann, »Kultur als historischer Begriff«). In Dirk Baeckers ausführlicher Ausei‐ nandersetzung mit dem Kulturbegriff wird Kultur demgegenüber als Korrelat einer (histo‐ rischen) Praxis des Vergleichs beschrieben und sodann systematisch als eine Form der mit‐ laufenden Beobachtung bestimmt, die Doppelwertigkeit erzeugt und dazu in der Lage ist, gegenüber zweiwertigen Unterscheidungen dritte Alternativen einzubringen (Baecker, Wozu Kultur? ). Auf der Basis des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs und dessen I. 1. Sprache und Kultur 23 <?page no="24"?> philologischer Präzisierung (Stanitzek, »Was ist Kommunikation? «; Baßler, Die kulturpoe‐ tische Funktion) ist schließlich vorgeschlagen worden, grundsätzlich davon auszugehen, dass Kommunikation, um sich als Rekursion (ereignishaft) entfalten zu können, auf vor‐ gängige Kommunikation zurückgreifen können muss, die wiederum in quasi-textueller Form vorliegen muss (sei es im individuellen Gedächtnis von Menschen, sei es in Textform). Dabei erfolgt der Rückgriff letztlich durch die ›Entzifferung‹ von bedeutungsunterschei‐ denden Einheiten. Kultur ist systematisch an dieser Stelle zu verorten: Sie sorgt dafür, dass Kommunikation als Ereignis auf ihr quasi-textuelles Substrat zugreifen kann (vgl. Dembeck, »Reading Ornament«). Aus dieser Funktion von Kultur ergibt sich die Möglichkeit, sie (mindestens) in einer doppelten Perspektive wahrzunehmen: Einerseits ist der Vorrat von Semantiken, der Gesellschaft zur Verfügung steht, nicht denkbar, wenn keine bedeutungs‐ unterscheidenden Merkmale ausgemacht werden können. Insofern hat Kultur unmittelbar etwas mit Textualität zu tun, auch wenn sie nicht mit Textualität gleichgesetzt werden kann. Denn Kultur besteht eben andererseits aus Mechanismen, die sich rekursiv erhalten, sta‐ bilisieren, aber auch verändern, wodurch der zutreffende Eindruck entsteht, dass Kultur an entscheidender Stelle an der Konstitution gesellschaftlicher Regeln Teil hat. Für die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit ist diese Doppeldeutigkeit des Kul‐ turbegriffs von besonderem Interesse: Als Kulturdifferenzen verweisen Sprachdifferenzen einerseits auf unterschiedliche etablierte Arten und Weisen der Interpretation gesellschaft‐ licher und anderer Strukturen und Prozesse. Andererseits aber sind Sprachdifferenzen immer auch Anzeichen von potentiellen Konflikten darüber, wie gesellschaftlich Signifi‐ kanz konstituiert werden soll. Sie haben in diesem Sinne ein kulturpolitisches Potential. Die Untersuchung von Sprachdifferenzen im literarischen Text erlaubt Rückschlüsse auf beides. Damit wird insbesondere die (kultur-)politische ›Agency‹ von Literatur be‐ schreibbar. Das Interesse für kulturpolitisch engagierte Formen der Literaturwissenschaft (insbesondere mit postkolonialem Hintergrund) für Mehrsprachigkeit rührt wahrscheinlich auch daher. Literatur Abelson, Robert P., »Script Processing in Attitude Formation and Decision Making«, in: John S. Car‐ roll/ John W. Payne (Hrsg.), Cognition and Social Behavior, Hillsdale, N. J. 1976, S. 33-67. Anderson, Benedict, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/ New York 2006 [1983]. Arens, Hans, Sprachwissenschaft. 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Sprachliche und kulturelle Identität Till Dembeck a) Begriffsbestimmung Die sprachliche und damit auch kulturelle Bildung von Einheiten und ihre Konturierung durch Grenzziehung einerseits und die Subversion sprachlicher und kultureller Grenzen andererseits sind Grundoperationen von Literatur, deren Untersuchung unmittelbar Auf‐ schluss über den kulturpolitischen Stellenwert von literarischer Mehrsprachigkeit ver‐ spricht. Diskutiert wird dies unter dem Schlagwort der Identität. In die Kulturtheorie ist der Identitätsbegriff in erster Linie durch die Übertragung aus psychologischen Diskussionszusammenhängen eingegangen. Entscheidend ist hierbei die Auffassung, dass sich Identität nur durch Abgrenzung erzeugen lässt, so dass dem jeweils Ausgeschlossenen eine konstitutive Bedeutung für das Selbst zukommt. Diese Operation wird auch auf Gruppen bezogen und dann als Mechanismus der Konstruktion kultureller Identität bzw. Alterität beschrieben. Bateson spricht in diesem Zusammenhang von »Schis‐ mogenesis« (Bateson, »Culture Contact and Schismogenesis«). Die Zuschreibung von An‐ dersartigkeit (›Othering‹) wird so zum Mechanismus der Stabilisierung von kultureller oder Gruppen-Identität. Das wahrscheinlich wirkmächtigste Werkzeug zur Normierung und Kodifizierung von Einzelsprachen und damit zur Konstitution der Identität von Sprachen ist die Identifikation von Fehlern. Diese Operation ist unmittelbar mit Mechanismen der kulturellen Identitäts‐ bildung verbunden. Sprachkompetenz ist in der europäischen Geschichte seit jeher Ausweis kultureller Zugehörigkeit. Mit Blick auf die Geschichte der Grammatik lässt sich behaupten: »Zur Grammatik gehört wesentlich eine Migrations- und Integrationspolitik« (Stock‐ hammer, Grammatik, 318), die regelt, wer und was der jeweiligen Sprache zugehörig ist und wo demnach die Grenzen dieser Sprache zu anderen Idiomen verlaufen. Gerade der Begriff der (Sprach-)Kompetenz verweist allerdings auch auf die Grenzen eines Begriffs von kultureller Identität, der auf der Operation der »Schismogenesis« auf‐ baut. Denn Sprachkompetenz muss in jedem Einzelfall als komplexes Gefüge von Fähig‐ keiten angesehen werden, die sich auf unterschiedliche Strukturebenen der Sprache und auf unterschiedliche Einzelsprachen beziehen können. Auch Kulturkompetenz umfasst im Einzelfall dann sehr divergente, nach Rollen und Gesellschaftsbereichen ausdifferenzierte Fertigkeiten. Daher wird im Folgenden vorgeschlagen, kulturelle Identitäten als je unter‐ schiedlich definierte Bündel kultureller Fähigkeiten zu bestimmen, also als Bündel von Fä‐ higkeiten, bedeutungsunterscheidende Differenzen erkennen und einsetzen zu können, insbesondere auch sprachliche. <?page no="28"?> b) Historische Semantiken sprachlicher und kultureller Identität Der Geschichte des Kulturbegriffs ist von Beginn an eine Semantik der Gruppenidentität eingeschrieben. Die Wirkmächtigkeit von Unterscheidungen wie Hellenen/ Barbaren, Christen/ Heiden und Menschen/ Unmenschen legt davon Zeugnis ab. Von Beginn an dienen dabei auch sprachliche Merkmale zur Identifikation von Gruppenzugehörigkeit. So besagt eine in der Antike und nachmals populäre Semantik des Begriffs ›Solözismus‹, er beziehe sich ursprünglich auf das durch Sprachmischung unsauber gewordene Griechisch der An‐ hänger des Solon im kilikischen Soloi (Reisigl, »Solözismus«, 960) - so dass der Solözismus als Fehler gilt, an dem man zumindest die Abschwächung der kulturellen Zugehörigkeit ablesen kann. Eine prominentere Parallelgeschichte hierzu findet sich im Buch der Richter (12, 5 f.), das von der Ermordung der Ephraimiter erzählt, die man daran erkannte, dass sie das Wort ›Schibboleth‹ nur als ›Sibboleth‹ aussprechen konnten - wobei beide Varianten eigentlich als phonematisch identisch gelten (siehe Derrida, Schibboleth, 59). Als ›Schibbo‐ leth‹ gilt noch heute jede lautliche Markierung kultureller Differenz. Historisch betrachtet sind sehr unterschiedliche Kopplungen sprachlicher und kultu‐ reller Identitätsbildung zu beobachten. So ist es keineswegs zwingend, bereits dem antiken Griechenland die Konzeption von Sprache als Idiom, also als abgrenzbarer Einheit, zu un‐ terstellen, so dass ein ›Solözismus‹ durchaus nicht notwendig kulturelle Fremdheit signa‐ lisiert, sondern eher eine territoriale Zugehörigkeit markiert. Dementsprechend offen zeigt sich Aristoteles für Abweichungen vom herrschenden Sprachgebrauch. ›Fremde‹, d. h., aus anderen dialektalen Zusammenhängen stammende Wörter, γλῶττα, werden analog zu Me‐ taphern als Ergebnisse eines Übertragungsvorgangs angesehen (Stockhammer, Gram‐ matik, 303-308). Demgegenüber verleiht die Zweisprachigkeit des antiken Rom, die lange vor der Zei‐ tenwende u. a. das Bedürfnis erzeugt, das Lateinische als Kultursprache aufzuwerten, der Kategorie der Sprachrichtigkeit eine neue Dimension (Kraus, »Sprachrichtigkeit«, 1121). Anders als in der griechischen Antike kommt es daher spätestens im ersten Jahrhundert vor Christus zu einer Kodifizierung und Fixierung der Sprache (Leonhardt, Latein, 61-74) - und zugleich zu einem genaueren Bewusstsein für die Fremdheit anderer Idiome. Vergleicht bereits Aristoteles den Umgang mit Wörtern aus der Fremde mit Prozessen der Einbürge‐ rung, so wird diese Metaphorik von Marcus Fabius Quintilian ausgebaut, der wörtlich von migrierenden Wörtern, verba peregrina, spricht (Stockhammer, Grammatik, 307 f., 317-322). Im Detail wird nun diskutiert, wie fremde Wörter zu flektieren seien und inwie‐ fern beispielsweise im Interesse der metrischen Form Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit, die latinitas, gerechtfertigt sein können. Quintilian, dessen Institutio Oratoria wirkmächtig die Vergleichbarkeit von (immer ›verfremdenden‹) rhetorischen Figuren und grammati‐ schen Fehlern herausstellt (und im selben Atemzug durch die strikte Trennung von Rhetorik und Grammatik wieder zu kassieren sucht), bemüht sich ausführlich um eine Klassifizie‐ rung der Barbarismen, die sich im Übrigen als identisch erweist mit derjenigen, die er für Figuren der Rede vorsieht (Stockhammer, Grammatik, 313-316). Die Problematik der Un‐ terscheidung von Figur und Fehler lässt so den Status des sprachlich Fremden selbst unsi‐ cher werden: die gute Rede ist auf fremde Strukturen angewiesen, obwohl diese zugleich die Einheit des Idioms gefährden. Till Dembeck 28 <?page no="29"?> Die christliche Aneignung des Lateinischen (und seiner Schrifttradition) in der Spätan‐ tike und im Mittelalter schreibt zwar einerseits die Semantik der latinitas und der Barba‐ rismen fort, zeigt aber andererseits eine gewisse Toleranz gegenüber abweichenden Sprach‐ formen im Lateinischen. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass schon Augustinus die perspicuitas, also die Transparenz des sprachlichen Ausdrucks, vor allem auf die sprach‐ unabhängige Botschaft des Glaubens hin, höher wertet als seine puritas, also die Reinheit (Reisigl, »Solözismus«, 970). In der hierin zum Ausdruck kommenden Sprachtheorie mag der Grund dafür liegen, dass im Mittelalter das Interesse an einer Systematisierung sprach‐ licher Fehler und Abweichungen gegenüber der römischen Antike stark abnimmt - eine Tendenz, die sich in der Neuzeit weiter fortsetzt (Reisigl, »Solözismus«, 974). Gleichwohl ist das Lateinische als Sprache des Glaubens entscheidender Identifikationsfaktor des mit‐ telalterlichen Abendlandes, und der Erhalt der Sprache in ihrer standardisierten Form (etwa durch die karolingische Bildungsreform) oder ihre Weiterentwicklung im Sinne der christ‐ lichen Theologie (etwa durch die Scholastik) hat auch die Funktion, kulturelle Einheitlich‐ keit zu gewährleisten. Ein neuer Impetus zur Befestigung sprachlich-kultureller Grenzziehungen ist ab dem Spätmittelalter festzustellen, und zwar sowohl mit Blick auf das Lateinische als auch mit Blick auf die Volkssprachen, deren Emanzipation ja - schon nach dem Programm ihres Vordenkers Dante Alighieri - in erster Linie Standardisierung zum Ziel hat. Die durch den Humanismus, etwa durch Lorenzo Valla und Erasmus von Rotterdam, propagierte Rück‐ bindung des Lateinischen an die antiken Vorbilder ist dabei nicht nur als sprachliche, son‐ dern auch als kulturelle Reinigung aufzufassen. Sie umfasst weniger die im engeren Sinne grammatische, als vielmehr die idiomatische Seite der Sprache und steht letztlich im Zei‐ chen einer abendländischen Identitätspolitik, die sich aus dem fremd gewordenen Ursprung in der Antike speist. Im Zuge der Standardisierung der Volkssprachen kommt es insbesondere zu einer Sys‐ tematisierung der Begrifflichkeit, mit der unterschiedliche Idiome kategorisiert werden können. Genauer verfestigt sich die Differenz zwischen Sprachen und Dialekten, wobei den Dialekten all jene Eigenschaften der Volkssprachen zugerechnet werden, die die Heiligen Sprachen überwunden hatten: Dialekte gelten als tendenziell regellos, schwer fixierbar, kontinuierlich ineinander übergehend. Zunehmend national definierte (Standard-)Spra‐ chen hingegen können eine Grenze für sich beanspruchen, die sie von anderen nationalen Sprachen unterscheidet. Sprachen gelten als zählbar, Dialekte als zahllos, aber immerhin einer (und zwar genau einer) Sprache zugehörig, in der sie aufgehoben sind (vgl. Bon‐ figlio, Mother Tongues and Nations, 63-121). Die klare Differenzierung zwischen Sprache und Dialekt ist klar kulturpolitisch motiviert: Spracheinheit ist nur denkbar, wenn die di‐ alektale Entgrenzung eingehegt wird. Als Folge der Kolonialisierungspolitik vieler europäischer Staaten steigt im 18. und 19. Jahrhundert die Zahl der in Europa bekannten Sprachen und es ergeben sich identi‐ tätspolitisch folgenreiche weitere Differenzierungen: zum einen zwischen den europä‐ ischen Kultursprachen und den angeblich ›ursprünglicheren‹ Sprachen vieler kolonisierter Völker; zum anderen zwischen unterschiedlichen Formen des Standardisierungsdrucks. Ist es für die europäischen Volkssprachen entscheidend, die interne dialektale Zerstreuung zu überwinden, so müssen die Sprachen beispielsweise der neuen Welt erst passfertig gemacht I. 2. Sprachliche und kulturelle Identität 29 <?page no="30"?> werden, um mit den Mitteln der europäischen, grundsätzlich an das Lateinische ange‐ lehnten Grammatik kontrolliert werden zu können. Die Erforschung der indoeuropäischen Sprachverwandtschaft im 19. Jahrhundert gibt der europäischen Kulturpolitik nicht nur Gelegenheit, sich als ganze gegen die Sprachen der Welt zu profilieren, sondern stimuliert auch einen internen Wettbewerb mit Blick auf die Nähe der jeweiligen Nationalsprachen zu den hypothetischen Ursprüngen des Indoeuropäischen. In diesem Sinne ist beispiels‐ weise Jacob Grimms Deutsche Grammatik (1819-1840) geschrieben. Insgesamt herrscht im 19. und 20. Jahrhundert in Europa klar die Tendenz vor, die Einheit der Standardsprachen an die Einheit von Nation und Kultur zu binden und zugleich (siehe I.1) als Natur auszu‐ geben. Die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts findet mit der de Saussure’schen Differen‐ zierung zwischen langue und parole die Möglichkeit, Spracheinheiten systematisch zu iso‐ lieren und als voneinander zu unterscheidende, in sich geschlossene Regelsysteme zu denken, die es jeweils ermöglichen, potentiell unendlich viele unterschiedliche gramma‐ tisch korrekte Sätze zu generieren. Zahllose Arbeiten der synchronen Sprachwissenschaft haben sich der Beschreibung der so greifbar gemachten langues der Welt gewidmet und damit indirekt auch sprachliche Identitätspolitik betrieben. Auch hier spielen Zusammen‐ hänge mit den Prozessen der Kolonialisierung und der Dekolonialisierung eine gewichtige Rolle. Die nicht zuletzt linguistisch begründete Macht über Sprache(n) ist Werkzeug sowohl kolonialer Herrschaft als auch der Befreiung und der Re-Etablierung neuer Herrschafts‐ formen (vgl. Makoni/ Pennycook, »Disinventing and (Re)Constituting Languages«). Die Engführung sprachlicher, kultureller und nationaler Identität entfaltet in der Neuzeit eine so große Wirkmächtigkeit, dass sie in der Forschung nicht ganz zu Unrecht als »mo‐ nolingual paradigm« (Yildiz, Beyond the Mother Tongue, 2) bezeichnet worden ist. Dennoch stellt sie nicht die einzige Form der sprachlichen und kulturellen Identitätspolitik in Europa dar. In der Sprachursprungstheorie Herders, die mit der Beschreibung eines sprachlich-kul‐ turellen Identifikationsmechanismus’ einsetzt, werden Argumente artikuliert, die Zweifel an der Zählbarkeit, also an der Identifizierbarkeit aller Arten von Idiomen ins Spiel bringen. Wilhelm von Humboldts sprachhistorisches Werk verweigert sich ebenfalls weitgehend der vorherrschenden Tendenz, aus Beschreibungen des Baus unterschiedlicher Sprachen weiter reichende kulturpolitische Wertungen abzuleiten, ähnlich später die Arbeiten Hugo Schu‐ chardts (vgl. Trabant, Europäisches Sprachdenken, 260-269; Stockhammer, Grammatik, 344-348). Die durch Graziadio I. Ascoli in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begrün‐ dete Substratlinguistik erklärt die Differenz zwischen den unterschiedlichen Sprachen der indoeuropäischen Sprachfamilie durch Migration und die darauf folgende Verschmelzung indoeuropäischer mit anderen, heute nicht mehr existierenden Sprachen. Gegen die Vor‐ stellung der zeitgenössischen indoeuropäischen Sprachforschung, welche die unterschied‐ liche Entwicklung der einzelnen Sprachen als organische Fortentwicklung versteht, be‐ hauptet Ascoli so die grundlegende Hybridität dieser Sprachen (Arens, Sprachwissenschaft, 369 f., 473 f.). Ähnliche Argumente lassen sich aus den Ergebnissen der späteren linguisti‐ schen Kreolforschung ableiten. In der spätestens um 1900 sich etablierenden Disziplin der Ethnologie artikulieren sich Zweifel an den Voraussetzungen des Einsprachigkeitsparadigmas in erster Linie als Be‐ obachtungsprobleme. Die Annahme, dass kulturelle und sprachliche Prägungen determi‐ Till Dembeck 30 <?page no="31"?> nieren, was wir als bedeutsam wahrnehmen, führt in Verbindung mit der Vorstellung, es gebe sprachliche und kulturelle Grenzen, zu der generelleren Frage, wie sich andere Kul‐ turen überhaupt beschreiben lassen. Bronislaw Malinowskis Forderung nach ›teilneh‐ mender Beobachtung‹ hat dieses Problem, das sich ohnedies für jeden hermeneutischen Prozess stellt, allenfalls verschoben. Diese hermeneutische Dimension der ethnologischen Diskussion ist schließlich zum Anlass geworden, das ethnologische Beschreibungsinteresse selbst zu dekonstruieren. Dies geschieht beispielsweise in Edward Saids Analysen des Phä‐ nomens ›Orientalismus‹ (Said, Orientalism). Die sich damit andeutende ›Identitätsfalle‹, dass es kein Entkommen aus der Eingrenzung in das ›Eigene‹ gibt, man ihm aber ent‐ kommen muss, um dem ›Anderen‹ gerecht zu werden, prägt bis heute viele Debatten um kulturelle Identität. c) Systematische Überlegungen Ist die Geschichte des Identitätsbegriffs weitgehend dadurch geprägt, dass man unter‐ schiedliche Bezugsbereiche gleichermaßen durch ihn zu erfassen und miteinander in Ver‐ bindung zu setzen versucht, so gilt es in systematischer Hinsicht zunächst zu differenzieren. Denn Identität bedeutet mit Blick auf Bewusstsein, Sprache, Kultur, soziale Systeme und Gruppen jeweils etwas anderes. Die wissenschaftliche Verwendung des Identitätsbegriffs leitet sich aus der Psychologie her, er bezieht sich also ursprünglich auf Prozesse der Subjektkonstitution, wurde aber dann schnell auch auf Gruppendifferenzierung übertragen. Für die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit können beide Aspekte fruchtbar gemacht werden, wenn sie auf die so‐ ziale Einbettung von Autoren bezogen werden. Wichtiger ist aber zunächst die Frage, wie sprachliche und kulturelle Identität überhaupt zu beschreiben sind. Mit Blick auf Kultur ist vielfach davon die Rede, Identität sei immer nur ›konstruiert‹, also keinesfalls naturge‐ geben. Ähnliches gilt auch für Sprache, insbesondere für Standardsprachen, die das Er‐ gebnis hochgradiger Normierungsbemühungen sind. Von translationswissenschaftlicher Seite ist darauf hingewiesen worden, dass die Iden‐ tität von Sprachen nur konstituiert werden kann, wenn mindestens zwei einander ko-fi‐ gurative, d. h., ineinander übersetzbare Sprachen angenommen werden (vgl. Sakai, »How Do We Count a Language? «). Der linguistische Begriff der langue bezeichnet gerade dieses Moment der Ko-Figuralität. Entscheidendes Instrument der systematischen Schließung von Idiomen ist dabei wiederum die Identifizierung von Sprachrichtigkeit bzw. von Fehlern, deren Unterscheidbarkeit von rhetorischen Figuren allerdings von jeher in Frage steht (siehe hierzu auch Martyn, »› ‹«). Gegen das Konzept der langue lassen sich auch auf an‐ deren Ebenen Einwände vorbringen. So hat die Soziolinguistik, die sich für die soziale und kulturelle Einbettung der Sprachverwendung interessiert, darauf hingewiesen, dass auch viele Formen der ›schwachen‹ Regelhaftigkeit im Bereich der nicht-funktionalen Sprach‐ gestaltung existieren, und für ihre Beschreibung einen weicheren Normbegriff vorge‐ schlagen (Coșeriu, Einführung, 293-302). Die Forschung zur Mehrsprachigkeit interessiert sich nicht mehr nur für den Wechsel, den mehrsprachige Sprecher zwischen unterschied‐ lichen, jeweils als langue zu beschreibenden Idiomen vollziehen (das sog. Code-Switching), sondern beschreibt mit dem »translanguaging« eine Form der Sprachverwendung, die eine I. 2. Sprachliche und kulturelle Identität 31 <?page no="32"?> klare Zuordnung zu unterschiedlichen langues unterläuft (vgl. García, »Education, Multi‐ lingualism and Translanguaging«). Von literaturwissenschaftlicher Seite ist vorgeschlagen worden, die (immer in unterschiedlichen Graden gegebene) Zuordenbarkeit sprachlicher Elemente und Strukturen zu einer langue mit dem Begriff »Sprachigkeit« zu bezeichnen (Arndt/ Naguschewski/ Stockhammer, »Einleitung«, 26). Für den über die langue hinaus‐ gehenden strukturellen Überschuss der Sprachverwendung, also der parole im Sinne de Saussures, ist der Begriff »remainder« ins Spiel gebracht worden (Lecercle, The Violence of Language, 103-143), der für die spezifisch literarische Sprachverwendung eine zentrale Rolle spielt. Daher sollte sich gerade die kulturpolitische Interpretation literarischer Mehr‐ sprachigkeit stets genau Rechenschaft darüber ablegen, welche Konstitutionsebenen von sprachlicher Identität in den behandelten Texten eine Rolle spielen. Zumindest in de Saussures ursprünglichen Entwürfen stellt die langue (ebenso wie die eng mit ihrer Konstitution verbundene Differenzierung in Synchronie und Diachronie) eine bewusste Reduktion von Komplexität dar. Auch der Beschreibung von Kulturen als Ergebnis von »Schismogenesis« oder ›Othering‹ liegt eine solche - wenn auch allzu oft unbewusste - Reduktion von Komplexität zugrunde. Das ändert zwar nichts daran, dass entsprechende Semantiken erhebliche historische und gesellschaftsstrukturelle Folgen gezeigt haben. Al‐ lerdings umfasst jede kulturelle Abgrenzung durch ›Othering‹ in Wirklichkeit nur einen sehr geringen Teil der kulturellen Kompetenz der Beteiligten: Im Extremfall des Schibboleth wird die richtige oder falsche Aussprache eines einzelnen Phonems zum Entscheidungs‐ kriterium, aus dem weitreichende Konsequenzen abgeleitet werden. Anders als solche For‐ mationen wie die von Niklas Luhmann beschriebenen Funktionssysteme der Gesellschaft verfügen die sog. ›Kulturen‹ nicht über die Fähigkeit, mittels universal einsetzbarer Leit‐ differenzen klare Grenzen aufrechtzuerhalten. Die kulturelle Identität Einzelner lässt sich systematisch nur als das Bündel ihrer Kompetenzen zur Identifizierung signifikanter Un‐ terscheidungen fassen. Einzelne dieser Kompetenzen oder ganze Komplexe von Kompe‐ tenzen verbinden das einzelne Individuum mit vielen anderen Individuen. Daraus ergibt sich aber keine segmentäre Gesellschaftsdifferenzierung, wie sie das nationale Paradigma aus dem Kulturbegriff abzuleiten versucht. Kulturelle ›Identitätspolitiken‹ sind immer mit Blick auf diejenigen kulturellen Kompe‐ tenzen zu beschreiben, die sie selektieren, und mit Blick auf die Signifikanz, die sie ihnen jeweils zumessen. Dies gilt für Individuen, deren Individualität sich nicht zuletzt durch die Selektion gesellschaftlicher Identitätsangebote konstituiert (siehe Parr, »Wie konzipiert«; Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, 231-249), aber auch für Texte, die einerseits in Auseinandersetzung mit vorgängigen kulturellen Mustern Identität aus‐ bilden, damit aber andererseits auch versuchen, selbst identitätspolitisch zu wirken. Dies muss für die kulturpolitische Analyse literarischer Mehrsprachigkeit beachtet und mit der potentiell identitätspolitischen Wertigkeit der im Text beschreibbaren Sprachdifferenzen in Verbindung gebracht werden, wenn die kulturpolitische ›Agency‹ der Werke beschrieben werden soll. Literatur Arens, Hans, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Frank‐ furt/ M. 1974 [1955]. Till Dembeck 32 <?page no="33"?> Arndt, Susan/ Dirk Naguschewski/ Robert Stockhammer, »Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache«, in: Dies. (Hrsg.), Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur, Berlin 2007, S. 7-27. Bateson, Gregory, »Culture Contact and Schismogenesis«, in: Man 35 (1935), S. 178-183. Bonfiglio, Thomas Paul, Mother Tongues and Nations. The Invention of the Native Speaker, New York 2010. Coșeriu, Eugenio, Einführung in die allgemeine Sprachwissenschaft, Tübingen 1988. Derrida, Jacques, Schibboleth. Für Paul Celan, übers. v. 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Einsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit David Gramling a) Begriffsbestimmung Es ist keinesfalls selbstverständlich, dass eine Unterscheidung zwischen Ein- und Mehr‐ sprachigkeit getroffen werden kann, denn die setzt einen Begriff von ›Sprachigkeit‹ voraus, also die Vorstellung, es gebe einheitliche, klar voneinander unterscheidbare und damit ›zählbare‹ Sprachen (Arndt/ Naguschewski/ Stockhammer, »Einleitung«, 26). Diese Vor‐ stellung ist nicht nur Ergebnis komplexer historischer Prozesse, sondern überdies in sys‐ tematischer Hinsicht für illusorisch erklärt worden. Für die Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit ist die genaue historische wie sys‐ tematische Beschreibung der jeweils gegebenen Auffassungen von Ein- oder Mehrspra‐ chigkeit bzw. von Sprachigkeit im allgemeinen vor dem Hintergrund des jeweiligen sozi‐ alen, politischen und kulturellen Rahmens unabdingbar. Einschlägig ist insbesondere das von der Forschung so benannte neuzeitliche »monolingual paradigm« (Yildiz, Beyond the Mother Tongue, 2), also die Auffassung, es sei natürlich, dass jedem Individuum genau eine Sprache eigen sei und dass es daher natürliche Sprachgemeinschaften gebe, die wiederum als Grundlage staatspolitischer Einheitenbildung genutzt werden können. Vor dem Hin‐ tergrund dieser Auffassung ist Mehrsprachigkeit nichts weiter als die Vervielfältigung von Einsprachigkeit. Nicht nur angesichts der Einsicht in die historische Gebundenheit des Einsprachigkeitsparadigmas, sondern auch aus systematischen Gründen ist es aber ge‐ boten, weitere Begriffe von Sprachvielfalt zu erschließen und genau zu verstehen, wie und auf welchen Grundlagen die neuzeitliche Politik der Einsprachigkeit funktioniert. b) Historische Bestandsaufnahme Seit ungefähr 350 Jahren tendieren die politischen Eliten Westeuropas dazu, sich die Welt kartographisch als Ensemble aneinandergrenzender und einander nicht überlappender, je für sich einsprachiger Territorien vorzustellen. Man nimmt dann beispielsweise an, es gebe einen Teil auf der Weltkarte namens Frankreich, in welchem man als sprechendes Subjekt logischerweise und völlig selbstverständlich die französische Sprache nutzt. Diese wie‐ derum sei eine universal einsetzbare und semantisch flächendeckende Sprache, in welcher der nüchterne und ausgereifte Sprecher alles Sag- und Denkbare erörtern könne. Natürlich gesteht dieses Modell Ausnahmen zu - ›translinguale‹ Texte und Menschen -, die je nach Bedarf berücksichtigt und flexibel kategorisiert werden können. Diese individuellen Son‐ derfälle - Diplomaten, Übersetzer, Exilanten, Dolmetscher, subnationale Minderheiten, Götter, Zugewanderte, Schizophrene oder Gebärdensprecher - werden aber dann immer an ihrer jeweiligen Distanz zur territorialen ›Sprachigkeit‹ gemessen und entsprechend markiert (Dorostkar, (Mehr-)Sprachigkeit und Lingualismus). Mit dem britischen Sozialpsy‐ <?page no="36"?> chologen Michael Billig lässt sich also sagen, dass es erst in der Neuzeit zu einer Denknot‐ wendigkeit geworden ist, davon auszugehen, man spreche etwas (Billig, Banal Nationa‐ lism, 31). Im Rahmen der mehr oder weniger ›offiziellen‹ Ordnung von Sprachigkeit in der Gegenwart gilt daher, aller Rede vom »postmonolingualen Zustand« und von der Obso‐ letheit der Einsprachigkeitsideologie zum Trotz, weiterhin, dass die moderne Welt (Globa‐ lisierung, Interkulturalität, Kulturtransfer und Weltliteratur einbegriffen) zunächst aus pa‐ rallelen, gleichwertigen und panfunktionalen Einsprachigkeiten besteht, die kollektiv, ordentlich und übersichtlich das globale Sprachsystem ausmachen. Mehrsprachigkeit gilt in diesem märchenhaften Denkmodell als absichtliche, strategische oder auch zufällige Er‐ weiterung des natürlichen Zustands der Einsprachigkeit. Und literarische Mehrsprachig‐ keit sticht dann gleichsam aus ›unseren‹ einsprachigen Alltagsroutinen hervor als das edle Vermögen eines Joseph Conrad, einer Christine Brooke-Rose oder einer Yoko Tawada, die allen Widrigkeiten zum Trotz die kreativen Ressourcen mehrerer Einzelsprachen ästhetisch auszuschöpfen verstehen. In beiden Fällen - im sozialen wie im literarischen - gilt die Mehrsprachigkeit letzten Endes als Sonderzustand, der aus der Vervielfachung der norma‐ tiven Einsprachigkeit resultiert (Pennycook, Language as a Local Practice, 132). Diese Beständigkeit der parallel territorialisierten und zählbaren Spracheinheiten - in‐ sofern sie denn existiert - musste allerdings in der westeuropäischen Frühmoderne erst mühsam, teilweise gewalttätig und unermüdlich vor- und dann vor allem hergestellt werden (vgl. Makoni/ Pennycook, »Disinventing and Reconstituting Languages«). Trotz des enormen politischen Aufwands, der hierzu seit dem 17. Jahrhundert betrieben wurde, ist das erhabene kartographische Narrativ über ›die Weltsprachen‹ faktisch aber noch das Minderheitsparadigma auf einem Planeten, der nach wie vor eher durch komplexe ›mehr‹- und ›minder-‹sprachige Ökologien charakterisiert ist, die jedwede Herleitung aus der einen oder anderen Einsprachigkeit bockig zurückweisen - auf dem europäischen genauso wie dem afrikanischen Kontinent. Gerade den Mediävisten ist beispielsweise der für Literatur‐ historiker der Moderne eher lästige Tatbestand schon lange bewusst, dass die disziplinär gepflegten europäischen ›Nationalliteraturen‹ einem mehrsprachigen und national indif‐ ferenten Zusammenhang entstammen. Im 13. Jahrhundert wurde eines der wichtigsten Werke der mittelalterlichen ›deutschen‹ Literatur, Der Wälsche Gast des Thomasîn von Zerclaere, von einem friaulischsprachigen Kleriker niedergeschrieben, der sich zu Beginn seines Textes für die Unzulänglichkeit seiner bairisch gefärbten mittelhochdeutschen Sprachkompetenz entschuldigt. Bis tief in die europäische Moderne haben (männliche) Wissenschaftler fast aller Disziplinen nicht in der sog. Nationalsprache, sondern auf Latein korrespondiert, und die frühmodernen Versuche eines Martin Opitz, die deutsche Sprache zu fördern, strebte eigentlich keine nationale Einsprachigkeit unter den Deutschen im spätmodernen Sinne an, sondern eine umfassendere Mehrsprachigkeit unter polyglotten Dichtern und Denkern (siehe z. B. Kilchmann, »Monolingualism, Heterolingualism, and Poetic Innovation«). Eine solche ›unordentliche‹ Mehrsprachigkeit, die das hegemoniale Territorialprinzip der Spätmoderne unterminiert, war aber keinesfalls nur das luxuriöse Privileg europäischer Eliten. In den böhmischen Kronländern des 19. Jahrhunderts sahen sich viele mehrspra‐ chige Dörfer dazu gezwungen, die Annährungsversuche urbaner Partisanen abzuwehren, die ihre Einwohner zur nationalistischen Einsprachigkeit der einen oder anderen politi‐ David Gramling 36 <?page no="37"?> schen Partei bekehren wollten (Judson, Guardians of the Nation). Im osmanischen Reich konnten die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mit der Hofsprache und den Gesetz‐ texten ›ihres‹ Staates gar nichts anfangen; und umgekehrt verfügten die osmanischspra‐ chigen Repräsentanten des Hofs in den anatolischen Provinzen über eine stark einge‐ schränkte Sprachkompetenz auf Türkisch. Diese endemisch hierarchisierte Mehrsprachigkeit führte schon im 16. Jahrhundert zu der regimekritischen Schattenthea‐ tertradition ›Karagöz und Hacivat‹, die dann wiederum im ›postmonolingualen Zustand‹ des späten zwanzigsten Jahrhunderts zum sozialkritischen Zitatenschatz mehrsprachiger türkisch- und kurdischstämmiger Literaten in Deutschland werden konnte (Yildiz, Beyond the Mother Tongue). Jeweils auf unterschiedliche Weise verweisen solche Phänomene auf die transhistorische Normalität menschlicher Mehrsprachigkeit und auch darauf, dass die Durchsetzung staatsbürgerlicher Einsprachigkeit, wie sie sich besonders in hochzentrali‐ sierten Ländern wie den Staaten Westeuropas und den Vereinigten Staaten etabliert hat, eigentlich ein technisches Wunderwerk darstellt (Sollors, Multilingual America; Miller, Accented America). Allerdings würde auch die Behauptung, die Einsprachigkeit sei ein modernes globales Ordnungsraster ohne historische Vorläufer, in die falsche Vorstellung münden, das mittel‐ alterliche Europa habe eine translinguale Utopie verwirklicht, welche die unversöhnlichen und gewalttätigen politischen Sprachhierarchien der kolonialen und nationalstaatlichen Ordnung ab dem 18. Jahrhundert ganz und gar nicht gekannt habe. Gewiss haben Sprach‐ differenzen auf Gruppenebene schon immer Gewalt erzeugt, spätestens seitdem die Eph‐ raimiten 1200 v. Chr. den Jordan überkreuzen wollten (Richter 12: 5-6). Dass man sich an der Sprechpraxis anderer stört und sich das Missfallen an abweichenden Sprachpraxen zunutze macht, ist kein neuartiges Phänomen. Es ist daher gar nicht so einfach, die spezi‐ fisch modernen Mechanismen der Einsprachigkeit zu begreifen und von vormodernen Me‐ chanismen abzugrenzen. Man muss sich dazu die Lebensgrundlage eines vormodernen Sprechers vor Augen führen, dem das Abstraktum ›Sprachigkeit‹ nicht zur Verfügung steht und der dementsprechend (a) sich in seinem Alltag nicht persönlich einer bestimmten Spracheinheit zugehörig fühlt, (b) nicht die Fähigkeit besitzt verschiedene ›Sprachen‹ zu unterscheiden, dessen Sprachpraxis (c) grammatischen oder orthographischen Schwan‐ kungen unterworfen ist und dem (d) das abstrakte, rational wohl entworfene Raster von Äußerungspotentialen einer systematischen Spracheinheit fehlt. Gerade die Herstellung eines persönlichen Bedürfnisses nach solchen Kompetenzen wurde aber zur tragenden Säule des Idioms der Kolonisierung im späten 16. Jahrhundert, als man damit begann, ein‐ heimische Sprecher in der neuen wie der alten Welt systematisch um ihre herkömmlichen sprachlichen Kompetenzen zu bringen und zu einsprachigen Sprechern zu erziehen (Hanks, Converting Words; Pratt, »›If English was Good Enough for Jesus…‹«). Die Gegenwart mit ihren Literaturen und Literaturwissenschaften, ihren Sprachigkeiten und Sprachpolitiken hat also gewissermaßen einen gespenstischen Begleiter, ein einspra‐ chiges Über-Ich, das den alltäglichen Erfahrungen, Repertoires, Referenzen und Praxen der mehrsprachigen Welt kaum Rechnung trägt, dessen Sprachethik aber gleichwohl auf Kon‐ zepte wie ›Zugänglichkeit‹, ›interkulturelle Verständigung‹, ›Übersetzbarkeit‹ und ›Ge‐ meinsamkeit‹ abzielt. Es handelt sich dabei allerdings um die Tugenden einer utopischen Einsprachigkeit, die eigentlich einen Ausnahmefall der menschlichen Sprachgeschichte I. 3. Einsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit 37 <?page no="38"?> darstellt. In manchen politischen Zusammenhängen gelten diese Tugenden als schwer er‐ kämpfter Fortschritt entwickelter Länder, die gegen Ungleichheit, Intoleranz und Unmün‐ digkeit Posten stehen: Die Einsprachigkeit, so das entsprechende Argument, biete prophy‐ laktische Transparenz besonders in Zuwanderungsgesellschaften, die es mit multikulturellen und ›superdiversen‹ Phänomenen zu tun haben (Vertovec, »Superdiver‐ sity and its Implications«). Innerhalb dieses Paradigmas gelten (Welt-)Literatur und (Welt-)Literarizität dann als Garanten eines Ethos der gegenseitigen Verständigung, die der Versöhnungsbund der internationalen Übersetzer tagtäglich herzustellen bemüht ist. Literatur ist seit Schiller und Goethe - oder gar seit Sophokles - unter anderem ein Verfahren, die Bedeutungsentschlüsselung zu verlangsamen und von politischen Zwecken zu entbinden. Seit Gilgamesch und Homer ist sie auch eine fremdsprachliche Gedächtnis‐ stütze, die es uns erlaubt, Unerlebtes, Ungesehenes und linguistisch ohne die Hilfe des (mündlichen) Textes nicht Nachvollziehbares vor Augen zu halten. Fremdsprachlich be‐ deutet in diesem eher vormodernen, vornationalen Sinne dann die affektive oder phäno‐ menale Evokation eines Bedeutungsschaffens, das nicht ›von hier‹ ist - ob dieses ›hier‹ nun ›unser Dorf‹, ›diesseits des Walds‹, im ›Hörbereich der Burg‹ oder noch etwas anderes meint. Ein fremdsprachlicher Text bringt insofern ein Sprechen mit sich, das einem Ort zugehört, zu dem man höchstwahrscheinlich nie körperlich Zugang haben wird. Dahin‐ gegen ist ein fremdsprachiger Text einer, der nachweisbar in einer fremden Sprache verfasst wurde, einer Sprache, die nicht die hiesige oder die unsrige ist. Wollte man diese Unter‐ scheidung mit derjenigen zwischen Mehr-/ Einsprachigkeit verbinden, so würde man dazu tendieren zu sagen, das Lesen eines fremdsprachlichen Textes wäre womöglich eine ›ein‐ sprachige‹ Situation, wohingegen das Lesen eines fremdsprachigen Textes eher eine ›mehr‐ sprachige‹ Situation wäre. Diese glückliche Unterscheidung bezieht aber moderne Begriffe auf eine Situation, in der das Wort ›Sprache‹ selbst in einem für uns im 21. Jahrhundert fremdsprachlichen Sinne verwendet wird. Eine vormoderne Sprachpraxis hat nicht ›eine Sprache‹ als ihr Sprechob‐ jekt. Wenn ich in der Schweiz des 15. Jahrhunderts Wortgruppen und Satzfragmente äu‐ ßerte, so ließe sich nicht induktiv sagen, dass ich ›Deutsch‹ oder ›Schwyzerdütsch‹ spräche. Ich würde ohne weiteres erwarten, von meinen Nachbarn verstanden zu werden, ohne dass ich die logische Voraussetzung machte, dass das auch im nächsten oder übernächsten Dorf gelingen wird. Würde ich gefragt, würde ich auf keinen Fall erwidern, dass ich - oder meine Freunde, meine Mutter oder mein Gott - ein linguistisches ›Etwas‹ spräche. Wenn Besuch vom übernächsten Dorf oder gar aus der Stadt käme, würde ich naturgemäß erwarten, sehr wenig von dem Gesagten zu verstehen. Weder würde ich das bereuen, noch auf meine mangelhafte Sprachkompetenz zurückführen, noch analytisch syntaktische oder semanti‐ sche Schwierigkeiten diagnostizieren, denn ich nähme weder Wortklassenunterschiede noch Satzbau wahr. Wenn der Besucher einen ganzen oder mehrere Sätze ausspräche, die vollständig aus mir unbekannten Worten bestehen, würde ich seine ›Sprache‹ bzw. ›was er da sagt‹ nicht unmittelbar als ›fremdsprachig‹ einordnen. Fremdsprachlich wäre es mir schon, sobald es eine Bedeutung ausspräche, die es ›hier‹ nicht gibt oder geben kann. So sind die Grenzen zwischen Anders- und Einsprachigkeit, oder vielmehr zwischen Fort- und Hiersprachigkeit, kaum zu ziehen. In diesem vernakulären Zusammenhang wurden die Literatur, die Liturgie, die Literarizität und die Literalität - also alles, was Martianus Capella David Gramling 38 <?page no="39"?> ›litteratura‹ nannte - das Fremdsprachliche schlechthin. Erst mit dem Fall der Burgmauern und der langsamen Etablierung eines sich einer Nation zugehörig und zusammengehörig fühlenden Lesepublikums zwischen 1640 und 1780 wurde allmählich Sprachigkeit - und daher auch Fremdsprachigkeit - wahrnehmbar. Erst durch die allgemeine Konstitution der Sprachigkeit des deutschsprachigen Raums im Laufe des 17. Jahrhunderts war die einspra‐ chige Literatur dazu in der Lage, sich gegenüber anderen erlebten Nationalsprachigkeiten zusammenzuschließen. c) Systematische Überlegungen Jeder Versuch, ein umfassendes Verständnis für ein so komplexes Konzept wie ›Einspra‐ chigkeit‹ herzustellen, sollte es von Anfang an von verwandten Begriffen wie Sprachpu‐ rismus, linguistischer Nationalismus und Sprachimperialismus (Phillipson, Linguistic Im‐ perialism) unterscheiden. Eine analytische Auseinandersetzung mit Einsprachigkeit sollte also nicht damit beginnen, zu beschreiben, wie eine Sprache - sei es globalisiertes Englisch, republikanisches Türkisch, nationalsozialistisches Deutsch oder neoklassisches Franzö‐ sisch - in einem bestimmten historischen Moment andere Weltsprachen allmählich oder schlagartig zu dominieren vermochte. Solche Fragen sind eher mit Blick auf Fragen der politischen Hegemonie zu beantworten. Bei Einsprachigkeit geht es eher darum zu be‐ stimmen, wie Sprechen ›sprachig‹ und ›eins‹ oder ›einheitlich‹ werden konnte und kann. Welche Sprecher oder Schreiber haben dieses Sprachig- und Einswerden wann benötigt? Welchen Beitrag leistete und leistet die Literatur zur Erfüllung dieses mutmaßlichen Be‐ dürfnisses? Um der Einsprachigkeit ins Auge zu schauen, müssen wir auf die Neigung verzichten, sie vor dem Hintergrund der einen oder anderen politischen bzw. territorialen Tradition verorten zu wollen. Obschon Zerrbilder, etwa das des ›monolingualen Amerika‐ ners‹, stets zur Verfügung stehen, schmälern solche ebenso pejorativen wie ungenauen Karikaturen jegliche gründliche Auseinandersetzung mit Einsprachigkeit als einem syste‐ matischen Phänomen, das nicht wesentlich in individuellen Subjekten verankert ist. Der mittlerweile landläufige Spruch, Einsprachigkeit sei eine Behinderung (Pratt, »Building a New Public Idea about Language«) oder gar eine Art Blindheit (Oller, »Monoglottosis«, 469; Peel, »The Monotony of Monoglots«), vernebelt den historischen Werdegang dieses Phänomens und politisiert zugleich die körperliche Andersartigkeit behinderter Menschen. Demgegenüber ist ein Ansatz zu vertreten, der nicht auf der positivistischen Etikettierung einzelner Sprecher beruht. Die Forschung ist sich über die Kosten und Gewinne, die das Einsprachigkeitsparadigma bislang mit sich gebracht hat, nicht einig. Aus einer radikalen Perspektive und ausgehend vom Konzept linguistischer Menschenrechte haben beispielsweise Tove Skutnabb-Kangas und Robert Dunbar (»Indigenous Children’s Education«) von erkenntnismindernden Ef‐ fekten der Einsprachigkeit auf einheimische sowie Siedlersprachen gesprochen. Dagegen behauptet der Linguist Alastair Pennycook (Language as a Local Practice), das Wort Ein‐ sprachigkeit sei nichts als ein elitäres akademisches Konstrukt, das unsere Aufmerksamkeit von den diversen und kaum einheitlich zu beschreibenden Sprachpraxen in unserer un‐ mittelbaren Umgebung ablenke. Die Soziolinguisten Sinfree Makoni und Barbara Trudell (»Complementary and Conflicting Discourses«) sind der Meinung, jede Konzentration auf I. 3. Einsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit 39 <?page no="40"?> ›Sprachigkeit‹ - egal ob auf Mehr-, Ein-, Zwei- oder Metrosprachigkeit (Pennycook/ Ot‐ suji, Metrolingualism) - ignoriere die lebenden Sprecher und ihre situativ sehr unterschied‐ liche Art und Weise der Sprachverwendung. Unbeeindruckt von der gegenwärtigen ›mul‐ tilingualen Wende‹ in der angewandten Linguistik insistiert Setiono Sugiharto (»The multilingual turn«) darauf, der wissenschaftliche Angriff auf die Einsprachigkeit in den letzten Jahrzehnten vernachlässige die jahrhundertealten mehrsprachigen und kreolischen Sprachpraxen, die im globalen Süden völlig normal und normgebend sind. Das leiden‐ schaftliche Feiern der geordneten zivilen Mehrsprachigkeit in der heutigen Europäischen Union übersehe die vollkommene Unauffälligkeit mehrsprachiger Lebensweisen insbeson‐ dere in Staaten wie Indonesien. In den Literaturwissenschaften glaubt freilich der Slawist und Bachtin-Übersetzer Michael Holquist (»What would Bakhtin Do? «), die Rede von Ein‐ sprachigkeit sei ein logischer Fehlschluss in einer linguistisch heterogenen Welt, und die Philologin und Romanistin Brigitte Jostes (»Monolingualism«) - Sprecherin mehrerer Sprachen - hat sich kürzlich in einem wissenschaftlichen Aufsatz als ›monolingual‹ ge‐ outet. In ihrer Interpretation von Jacques Derridas Jeremiade über das koloniale Französi‐ sche beschreibt Rey Chow die Einsprachigkeit nachgerade als messianische Verheißung (Not Like a Native Speaker, 29). Die Einsprachigkeit empfehle sich uns nicht im Gewand der Überlegenheit und Dominanz, sondern verführe durch den sonoren Klang des Fortschritts‐ begriffs und verspreche politische Erlösung in einer ›superdiversen‹ Welt. Alle diese Stellungnahmen sind, auch wenn sie einander widersprechen, für sich ge‐ nommen haltbar und verteidigungsfähig; auch in heuristischer Verbindung miteinander lassen sie sich fruchtbar machen. Eine Gemeinsamkeit aller oben genannten Ansätze ist es, dass sie der Einsprachigkeit sowohl Gewinne als auch (unspezifische) Kosten zuschreiben. Im Kern macht diese Kosten eine ebenso wirksame wie unauffällige strukturelle Beschrän‐ kung des sozialen Bedeutungsverkehrs aus - mit Blick auf, unter anderem, literarische, politische, ökologische, historiographische, künstlerische, theologische, interkulturelle, methodologische und metalinguistische Bereiche der Sinngebung. Unabhängig davon, ob wir die Einsprachigkeit für einen Mythos, eine Pathologie, ein Paradigma oder eine Schikane halten, ist sie bis in die kleinsten und komplexesten Winkel in die politischen Verfahren und überhaupt die gesellschaftlichen Prozesse der Moderne verwoben, und sie ist noch nicht geneigt, von der weltliterarischen Bühne abzutreten. Die frühe Einsprachigkeit gönnte Denkern des 17. Jahrhunderts die Vision, alle Aussagefunk‐ tionen sowie soziale Kapazitäten des Redens unter dem Dach der jeweils ›einen‹ Sprache unterzubringen - ein mächtiger und fantasievoller Fall dessen, was wir heute (Makro-)Op‐ timierung nennen würden. Die unzählbare und unprognostizierbare formale und perfor‐ mative Vielfalt der gottgegebenen Sprache verwandelte sich in ein weltliches, rationales Raster, das Sprecher der (Früh-)Aufklärungszeit wie Martin Opitz, Antoine Arnauld, Thomas Sprat und Gabriel de San Buenaventura als einheitliches Eigentum namens ›eine Sprache‹ auffassten, dessen Kern es war, zu versprechen, dass es grundsätzlich alles werde wissen, sagen und übersetzen können. Diese Männer konnten nicht wissen, dass ihre Arbeit in der Globalisierungsindustrie des einundzwanzigsten Jahrhunderts gipfeln würde, aber ihre Schriften weisen darauf hin, dass Plattformen wie Google Translate nicht außerhalb ihres Vorstellungshorizonts lagen. Anders als die Muttersprachen des 16. Jahrhunderts waren diese Einsprachigkeiten ›too big to fail‹. Heim, Boden, Familienliebe, Herkunft, David Gramling 40 <?page no="41"?> mütterliche Zuwendung und der Begriff der Nation reichten nicht aus, um die Erfindung der Einsprachigkeit zu motivieren. Seit ihrer Erfindung im 17. Jahrhundert wurde die Ein‐ sprachigkeit vielmehr zum grundlegenden Katalysator der europäischen Aufklärung, der Massenalphabetisierung, des organisierten Absolutismus und des Anti-Absolutismus sowie zum Medium von Bevölkerungen, die ihre Regierungen und Gesetze verstehen können wollten; zur Voraussetzung für die Etablierung akademischer Fachbereiche, koordinierter und liberaler Marktwirtschaften, gewisser Formen der internationalen Solidarität und schließlich des globalen Datentransfers. In ihrer bescheidenen Weise vermochte es die Ein‐ sprachigkeit, zur Basis für einen enormen Überbau ästhetischer und epistemischer Para‐ digmen zu avancieren, denen man sich nur schwer entziehen kann - einschließlich des modernen Buchs, wie wir es kennen, und eines Kanons der Weltliteratur, der das einspra‐ chige (übersetzte oder übersetzbare) Buch als Grundeinheit verwendet. Auch in den bil‐ derstürmerischsten Bereichen der kulturellen Produktion - sei es im Surrealismus, in der Dekonstruktion, in der Kybernetik oder im Anarchismus - spielt die Einsprachigkeit eine zentrale Rolle. Sie bestimmt, was verlässlich kommuniziert, verkehrsfähig übersetzt, poli‐ tisch operationalisiert, international verteilt und auch privat im Gedächtnis behalten werden kann. d) Literarische und andere Mehrsprachigkeiten Wenn wir uns trotz des historischen Erbes der Einsprachigkeit nach Mehrsprachigkeit in der Literatur erkundigen, tendieren wir bislang eher dazu, sie in der experimentellen Prosa von Fräulein Else (Arthur Schnitzler), In Between (Christine Brooke-Rose) oder Simultan (Ingeborg Bachmann) zu suchen, wo das intratextuelle Code-Switching ein allgegenwär‐ tiger literarischer Kniff ist. Solche Texte sind der dynamische Schauplatz einer mehrspra‐ chigen Stilistik der Literatur und bieten mehr als nur die schmückende Einfügung gele‐ gentlicher Fremdworte. Manche Literaturwissenschaftler, die sich für Mehrsprachigkeit interessieren, bevorzugen zwar die Arbeit an solchen Texten, die ihre poetischen Res‐ sourcen textinterner Mehrsprachigkeit widmen. Beispielsweise möchte Manfred Schmeling den Begriff Mehrsprachigkeit »nicht auf Autoren« beziehen, »die mehrere Sprachen spre‐ chen und trotzdem ihre konkreten Texte monolingual gestalten« (»Multilingualität und Interkulturalität«, 221-235), sondern ausschließlich auf literarische Texte selbst. Schme‐ lings Ansatz spielt so aber die eher rigiden Beschränkungen der Einsprachigkeit eher he‐ runter, die der heteroglotten Differenzierung ›der Sprachen‹ eines konkreten Textes vo‐ rangehen. Die Ausblendung der Beziehung, die zwischen ›einsprachigen‹ und/ oder ›mehrspra‐ chigen‹ Texten und ihren wie-auch-immer-sprachigen Autoren und Lesern besteht, kann allerdings dem Phänomen der literarischen Mehrsprachigkeit kaum gerecht werden, denn zumindest die moderne Literatur - das Terrain, dem sich die meisten nationalphilologischen Curricula widmen - beruht auf der beständigen und konsequenten Nichtübereinstimmung zwischen den Texten und der mehrsprachigen Welt. Letzten Endes ist spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts das ›Buch‹ einer der einsprachigsten Gegenstände, die je erfunden wurden. Alle Sprecher (auch die angeblich ›einsprachigen‹) und alle Kulturen, Gemein‐ schaften, Gesellschaften oder Institutionen (auch die dogmatischsten) sind faktisch mehr‐ I. 3. Einsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit 41 <?page no="42"?> sprachiger als die sprachlich heterogensten Romane. Auch mit seinen vielen Seiten auf Französisch weist Thomas Manns Der Zauberberg extrem monolingualisierende Tendenzen in Lexik, Syntax, Stilistik und Diskurs auf. Daraus lässt sich schließen, dass die moderne Literatur eine Hochburg der Einsprachigkeit ist. Insofern die Höhenkammliteratur bis vor ungefähr drei Jahrzehnten als Verkörperung des nationalsprachlichen Stils galt, konnte die Paarung von (nationaler) Literatur und (nationaler) Einsprachigkeit, auch in ihrer nur scheinbaren Relativierung durch komparatistische Ansätze, kaum als umstritten gelten. Dennoch ist das Bild einer flexiblen und gewissermaßen ›föderativen‹ Optimierung der vielen Einsprachigkeiten so visionär und optimistisch wie zugleich unmöglich und welt‐ fremd. Mit Recht insistieren Philologen wie Sprachwissenschaftler darauf, dass Einspra‐ chigkeit weder logisch noch phänomenal existieren kann. Mehrsprachigkeit, Zweispra‐ chigkeit und Einsprachigkeit sind demnach lediglich die bescheidenen positivistischen Heuristika, deren sich Forschungstraditionen und Realpolitik bedienen, um mit der ver‐ blüffenden Unüberschaubarkeit der menschlichen Kommunikationstätigkeit umgehen zu können. Irgendwann, so das Argument, werden wir vielleicht eine Begrifflichkeit entwi‐ ckeln, die den minutiösen Details von Sprachdifferenzen konzeptionell und technisch an‐ gemessen begegnet. Problematisch an diesem Ansatz ist allerdings nicht nur, dass die Welt nicht auf eine solche adäquat nuancierte Begrifflichkeit wartet, sondern, dass ›Einsprachigkeit‹ und ›Mehrsprachigkeit‹ keine rein wissenschaftlichen Begriffe (mehr) sind. Sie finden vielmehr Verwendung in der Gesetzgebung, in sozialpolitischen Regelungen, in Staatsangehörig‐ keitsverfahren und wahlpolitischen Initiativen, die das normative Modell etwa des euro‐ päischen Bürgers neu bestimmen möchten. Diese Entwicklung gilt weniger nationalisti‐ schen Parteiprogrammen, die immer schon gerne auf Sprachpurismus oder linguistisch codierte Xenophobie zurückgreifen, um Heimatstreue zu demonstrieren oder ›ihre‹ Wäh‐ lerschaft wegen immanenter Überfremdung wachzurütteln. Vielmehr hat man in den ver‐ gangenen zwei Jahrzehnten die Sprachigkeit als technokratisches Werkzeug entdeckt, mit‐ tels dessen bestimmte Formen von Zivilgesellschaft befördert oder überhaupt erst erzeugt werden können. Im Zuge der Implementierung des Gemeinsamen Europäischen Referenz‐ rahmens für Sprachen, der die Mehrheit der europäischen Bürger auf dreisprachige Kom‐ petenz verpflichten möchte, entdecken viele Europäer, dass ihre eigene linguistische Sub‐ jektivität demnächst implizit oder explizit als unterdurchschnittlich gelten wird (Pitkänen-Huhta/ Hujo, »Experiencing Multilingualism«). Eine spezifische Auffassung von Mehrsprachigkeit ist so quasi gesetzlich für den Bildungsroman des europäischen Werde‐ gangs vorgesehen. Es ist nicht nur deswegen nötig, die außerliterarische Verwendung der Begriffe Ein- und Mehrsprachigkeit zu berücksichtigen, weil sich Literatur immer irgendwie historisch, ide‐ ologisch und ästhetisch auf ihre zeitgenössische Umgebung bezieht. Denn die kritische Spannung zwischen literarischen Texten einerseits und alltäglichen Sprachstilen, um‐ gangssprachlichen Rhetoriken und Registern oder soziolinguistischen Normen andererseits steht nicht schlicht in Analogie zur Beziehung zwischen Literatur und Mehrsprachigkeit. Natürlich sind diese zwei Gegensätze Literatur vs. Welt und Literatur vs. Alltagssprache nicht nur für die aktuelle Literaturwissenschaft wichtig, sondern sie konstituieren teilweise auch historisch die Literatur-(Mehr-)Sprachigkeit. Allerdings verhält sich Literatur zu David Gramling 42 <?page no="43"?> Mehrsprachigkeit auf äußerst einzigartige und widerständige Weise, denn beide konkur‐ rieren in ihrem Einsatz mit Blick auf die Evozierbarkeit, Repräsentierbarkeit und Bedeut‐ samkeit der Welt. Grob formuliert verlässt sich der Einsatz der Mehrsprachigkeit auf die ökologische Zerstreuung symbolischer Koppelungen in Tausende von Sprachen und Vari‐ etäten, wohingegen es der Einsatz der Literatur auf die essenzielle Tiefe eines als Einheit wahrnehmbaren Sprachsystems anlegt, nicht unbedingt mit der Absicht, eine abschlie‐ ßende Erfassung der Welt zu liefern, aber doch mit Blick auf eine politisch, ästhetisch und sozial holistische Begegnung mit ihr. Beide Haltungen - die der einsprachigen Literatur und die der mehrsprachigen Welt - sind in sich unanfechtbar und untadelig; beide bieten anthropologisch tragfähige Verfahren von Kreativität an. Im ersten Fall erzeugen jeweils unterschiedliche Gemeinschaften qua Übersetzung eine kooperative Epistemologie und konstituieren die Welt dementsprechend jeweils mnemotechnisch und sozial partiell; im zweiten Fall werden die Heteroglossien des täglichen Sprachgebrauchs kombiniert, erweitert, ausgewechselt, verschärft und nebenei‐ nandergestellt. Beide Verfahren - die sich natürlich in der Praxis nie gegenseitig aus‐ schließen müssen - gehen von einem vorpolitischen In-der-Welt-Sein aus. Wenn Sprachen sich nicht hätten allgemein setzen können, würden auf Dauer keine Sprachen existieren. Die Vorstellung, eine Sprache als solche solle und könne dem ihr inhärenten universali‐ sierenden Ethnozentrismus entgehen, ihn sozusagen verlernen, die Vorstellung, die Sprache an sich könne interkultureller oder benutzerfreundlicher werden, überträgt der Sprache politische und moralische Aufgaben, zu deren Erfüllung sie sich schlicht nicht eignet. In der Tat ist der Versuch, Sprachen zugänglicher und übersetzbarer werden zu lassen, ein seltsam moderner Zwang, von dem noch nicht sicher ist, ob er sich ideologisch auf Ein‐ sprachigkeit oder Mehrsprachigkeit zurückführen lässt. Literatur Arndt, Susan/ Dirk Naguschewski/ Robert Stockhammer, »Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache«, in: Dies. (Hrsg.), Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur, Berlin 2007, S. 7-27. Billig, Michael, Banal Nationalism, London 1995. Chow, Rey, Not Like a Native Speaker: On Languaging as a Postcolonial Experience, New York 2014. Dorostkar, Niku, (Mehr-)Sprachigkeit und Lingualismus. Die diskursive Konstruktion von Sprache im Kontext nationaler und supranationaler Sprachenpolitik am Beispiel Österreichs, Wien 2014. Hanks, William, Converting Words: Maya in the Age of the Cross, Berkeley 2010. 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Fragen der gesellschaftlichen und kulturellen Integration werden in der Forschung in erster Linie, aber bei weitem nicht ausschließlich, mit Blick auf die Integration von Mi‐ granten in westliche Gesellschaften untersucht. Denkbar sind aber sehr unterschiedliche Konstellationen sprachlich-kultureller Integration. Im Folgenden geht es weitgehend um solche Konstellationen, die in der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit beobachtet werden können. Historische Studien zum Zusammenhang von Sprache und Integration sind relativ selten. Die Beherrschung einer Nationalsprache gilt verbreitet als Ziel und Beleg gelungener Integration in eine Gesellschaft. Dieser politisch gewollten »Leitsprachigkeit« steht aber die natürliche Variabilität der Sprachen und die Mehrsprachigkeit der Sprecherinnen und Sprecher entgegen. Mario Wandruszka (Die Mehrsprachigkeit des Menschen) bezeichnet sie als ›innere Mehrsprachigkeit‹. Sie entwickelt sich zeitlebens mit dem Erschließen neuer Lebens- und Arbeitsbereiche weiter, obwohl gesellschaftliche Sanktionen und mangelnde Förderung in den frühen Lebensjahren nicht selten ihre volle Entfaltung behindern. Zu den Dimensionen des Variationskontinuums der inneren Mehrsprachigkeit gehören diatopi‐ sche, diastratische, diasituative, diaphasische, mediale, modale, adaptive, pragmatische und andere mehr. Die Beherrschung der jeweils relevanten Umgebungssprache, auch wenn diese von den Normen der Leitsprache abweicht, ist das eigentliche Symbol gelungener Integration. Eine »quersprachige Kompetenz« besitzen Gudula List (»Eigen-, Fremd- und Quersprachigkeit«, 133) zufolge diejenigen, die in unterschiedlichen Umgebungen inte‐ griert sind und zwischen den Umgebungen wechseln und deren Symbolsysteme gegebe‐ nenfalls mischen können. b) Wertschätzung und Wertschöpfung: Sprache als kulturelles Kapital Die Vorstellung von Sprache als gesellschaftlichem ›Produktionsmittel‹, als entschei‐ dendem ›Kapital‹ zur Erschließung sozialer und wirtschaftlicher Potentiale, geht auf Pierre Bourdieu zurück (Bohn/ Hahn, »Pierre Bourdieu«). Die herkömmliche Vorstellung von Ka‐ <?page no="46"?> pital als materiell-ökonomischer Größe wird damit um weitere Kapitalformen ergänzt, unter anderen um das Konzept des kulturellen Kapitals. Das kulturelle Kapital umfasst die inkorporierten Wissensbestände (inklusive der Sprachenkenntnisse), die Mehrwerte er‐ zeugen können, und zwar entweder durch die Anreicherung weiteren Wissens (kulturellen Kapitals) oder durch die Transformation dieses Kapitals in andere Kapitalformen. Diese Modellvorstellung ist hilfreich, um die strukturelle Beschaffenheit einiger typischer Zu‐ gangsprobleme von Migranten zur gesellschaftlichen Teilhabe darzustellen. Die Transfor‐ mationsmöglichkeiten für bestimmte Kapitalformen sind nicht beliebig, sondern von den vorliegenden Macht- und Herrschaftsstrukturen einer jeweiligen Gesellschaft abhängig. Typisch für die Situation von Migranten ist es daher, dass sie einen großen Anteil ihres kulturellen Kapitals für Transformationen nicht einsetzen können, obwohl das Kapitalvo‐ lumen an sich einen beträchtlichen Umfang aufweisen kann. Das liegt daran, dass die ent‐ sprechenden sprachgebundenen Bestandteile ihres kulturellen Kapitals in der Zielgesell‐ schaft als nicht konvertierbar - also integrierbar - gelten, die Migranten aber andererseits nicht ausreichend über die integrierbaren Kapitalformen der Zielkultur verfügen. Wohin dieses Dilemma bei Zuwanderern führt, illustriert Katharina Brizić (»Ressource Familiensprache«) anhand einer exemplarischen Studie zur Mehrsprachigkeit von Kurden in Österreich. Dabei zeigt sich, dass die autochthonen Sprecherinnen und Sprecher des Kurdischen zwar Kurdisch als ihre Muttersprache nennen, sie aber selbst abwertend ein‐ stufen, da sie für die Sprache in ihrer neuen Umgebung (Wien) außerhalb der Familie kaum kommunikative Funktionen oder Konvertierbarkeit erkennen. Sie empfinden sie selbst als nicht integrierbar oder nicht integrationswürdig. Diese Art der Selbstexklusion in Bezug auf die eigene Sprachkompetenz oder Verwendungsabsicht, die individuelle und gesell‐ schaftliche Ambivalenz in der Bewertung des Nutzens oder die Einschätzung der vermeint‐ lichen Nutzlosigkeit einer Sprache sowie die negative Einschätzung des Sprachstatus er‐ zeugen damit negative Wirkungen auf den Erwerb, den Gebrauch und die Weitergabe einer Sprache an die nächste Generation, die oft nur in (folkloristischer) Literatur und Musik und durch eine Besinnung auf das kulturelle Erbe korrigiert werden. c) Sprache und Milieu Wie stark Integration und Sprachenkenntnisse zusammenhängen, zeigt am deutlichsten die Sinus-Studie (Migranten-Milieus in Deutschland) in einer differenzierten Milieuland‐ schaft auf. Die insgesamt acht Migranten-Milieus unterscheiden sich in Bezug auf den so‐ zialen Status und die damit verbundenen Wertvorstellungen, Lebensstile und ästhetischen Vorlieben, nicht aber auf Grund ethnischer Kriterien. Die Sinus-Studie kommt zu dem Schluss, Menschen des gleichen Milieus mit unterschiedlichem Migrationshintergrund, in‐ klusive der autochthonen deutschsprachigen Milieus, verbinde mehr miteinander als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen Milieus. Der Integrationsgrad in die Zielgesellschaft ist wesentlich von der Bildung und der sozialen Herkunft abhängig: Je höher das Bildungs‐ niveau und je urbaner die Herkunftsregion, desto leichter und besser gelingt die Integration in die Aufnahmegesellschaft und desto besser ausgeprägt sind auch die sprachlichen Kom‐ petenzen der entsprechenden Milieus. Die Ausbreitung transnationaler Lebensweisen und die Annäherung unterschiedlicher Kulturen durch neue Kommunikationsmedien und Jörg Roche 46 <?page no="47"?> Transporttechnologien führt zu einem Bedarf an adäquaten transkulturellen und anders‐ sprachlichen Kommunikationsmitteln (Beck, Generation Global, 241) und damit zu einem erhöhten Bedarf an Mitteln und Strategien zur Integration in neue Diskursgemeinschaften. Diese Integration bedeutet entsprechend den Normen und Normenspielräumen der jewei‐ ligen innergesellschaftlichen oder internationalen Diskursgemeinschaften Erwerb, Beherr‐ schung und Gebrauch angemessener kommunikativer Kompetenzen. d) Monolinguale Grundorientierung und Leitkultur Der Versuch, den differenzierten, variantenreichen Bedarf an internationaler Kommuni‐ kation, der durch die Vielfalt der pragmatischen, interkulturell geprägten Konstellationen von Sprechern/ Schreibern, Hörern/ Lesern und Sachverhalten potenziert wird, durch eine Ausrichtung auf monolinguale Codes in Form einer Lingua Franca zu umgehen - etwa eine natürliche oder künstliche Leitsprachigkeit -, scheint zwar basale Kommunikationsbe‐ dürfnisse abdecken zu können, führt oft aber auch zu einer intellektuellen und linguakul‐ turellen Verarmung. Mit monolingualen und monokulturellen Normen, wie sie mit dem Englischen als dominierender Sprache der Wissenschaft und Bildung gesetzt werden, ergibt sich de facto auch eine Beschränkung und eine Zensur multiperspektivischer Wissenspo‐ tentiale, also eine erzwungene Anpassung. Diese manifestiert sich etwa in einer internati‐ onal sehr verbreiteten Englisch-als-einzige-Fremdsprache-Politik in den Schulen, in wis‐ senschaftsmethodisch und sprachlich restriktiven Publikationsnormen von Zeitschriften oder einer ›English-only‹-Gutachtenpolitik der wissenschaftlichen Förderinstitutionen. Bemerkenswert daran ist, dass eine auf Monolingualität und Monokulturalität reduzierte Internationalität im Gegensatz zur mehrsprachigen und mehrkulturellen Realität oft nicht den funktionalen Kommunikationsanforderungen genügt und ironischerweise nicht selten gerade von den prominenten Akteuren propagiert wird, die die internationale Varietät selbst nicht beherrschen oder sich in ihr nur unverständlich ausdrücken können. Bereits aus früheren Zeiten ist bekannt, dass internationale Verkehrssprachen wie das Arabische, das Griechische, das Lateinische, das Deutsche, das Russische oder andere Gelehrten- und Wissenschaftssprachen meist nur für eine begrenzte Dauer bestimmte Funktionen erfüllen, sich dann aber auch zunehmend entwicklungshemmend auf die Wissenschaften auswirken. Das internationale Modell der monolingualen Leitsprachigkeit findet ihre Parallele auch im nationalen Integrationsdiskurs. Nach diesem reduktionistischen Modell wird in deutsch‐ sprachigen Ländern der Erwerb des Deutschen als Landes- und Verkehrssprache propagiert oder auch der Versuch unternommen, Deutsch als Landessprache im Grundgesetz zu ver‐ ankern. Ähnlich verfahren andere Länder mit ihren Nationalsprachen. Auch im verfas‐ sungsrechtlich zweisprachigen Kanada sehen etwa die Einwanderungsbestimmungen in Québec vor, dass sich nur diejenigen Migranten dort niederlassen dürfen, die hinreichende Französischkenntnisse nachweisen können. Außerdem schreiben rigide Sprachgesetze vor, dass alle öffentlichen Beschilderungen, z. B. auch von Geschäften, in französischer Sprache abgefasst sein müssen. Nach diesem Modell der Leitsprachigkeit soll Französisch als Mehr‐ heitssprache in einem anglophonen Umfeld als dominante Sprache im öffentlichen Sprach‐ gebrauch festgeschrieben und gegen den unvermeidbaren Einfluss des Englischen von außen und den quantitativ geringen, aber ethisch und ethnisch anspruchsvollen Einfluss I. 4. Sprache als Medium von (Des-)Integration 47 <?page no="48"?> der Cree-Sprachen von innen (First Nations) verteidigt werden. Dieses Modell wird zwar dem gesellschaftlichen Bedarf nach einer gemeinsamen, integrativen Verkehrs- und Bil‐ dungssprache gerecht, limitiert aber die mögliche Wertschöpfung aus mehrsprachigem und mehrkulturellem Kapital. Das Beispiel Finnlands illustriert jedoch, dass es entgegen dieser allgemeinen Tendenz unterschiedlich assimilative Sprachenpolitiken gibt. Während in Finnland das Schwedische als Minderheitensprache trotz eines niedrigen Bevölkerungsan‐ teils auf eine lange Fördertradition zurückblickt, wird das Russische als Migranten-, Min‐ derheiten- und internationale Verkehrssprache trotz hoher Sprecherzahlen weitestgehend ignoriert (vgl. Stolle, »Integrationspolitik und -praxis«, zu einer Charakterisierung der un‐ terschiedlichen Sprachenpolitiken Frankreichs, Deutschlands und Schwedens in Bezug auf eine assimilative Ausrichtung). Etwas anders ist dagegen das Modell mehrsprachiger Leitsprachigkeit, wie es unter an‐ derem in vielen Ländern Afrikas praktiziert wird. Dort sind Länder mit vielen gleichbe‐ rechtigten Nationalsprachen nichts Ungewöhnliches (zum Beispiel 11 in Südafrika und 10 in Nigeria, von 500 dort verwendeten Sprachen). Bemerkenswert an diesem System ist jedoch, dass trotz eines dynamischen Verständnisses von Mehrsprachigkeit im Alltag die Schulsysteme der Länder Subsahara-Afrikas die traditionellen Schulsprachen Französisch, Englisch oder Portugiesisch weitgehend immer noch als Leitsprachen so vermitteln, dass sie nur schwer eine Integration des mit ihnen vermittelten Wissens in die Sprachen der autochthonen Bevölkerung erlauben. Sie werden also gar nicht als Kommunikationsmittel behandelt, wie die autochthonen Sprachen, sondern als abstraktes, meist formbasiertes Sonderwissen vermittelt. Ein drittes Modell nutzt mehr oder weniger pidginisierte Misch‐ sprachen aus indigenem Substrat und kolonialem Superstrat, die heute oft in einer Art Diglossie neben anderen Sprachen als Verkehrssprachen stehen, als Bildungs- und Haupt‐ sprache und für wichtige integrative Funktionen in der Alltagskommunikation. Dazu ge‐ hören etwa das Hiberno English oder das African American Vernacular English oder stärker kreolisierte Sprachen wie das Unserdeutsch in Papua-Neuguinea, das Barbadian Creole, das Réunionnais, das Rural Guyanese und die Jamaican, Belize, Haitian Creoles (Winford, »Ir‐ realis in Sranan«, 74). Die Frage der erfolgreichen gesellschaftlichen Integration, so die Annahme bei allen Modellen, kann dabei vergleichsweise einfach an der angemessenen Beherrschung der po‐ litisch gewünschten zielsprachlichen Haupt-Varietät(en) abgelesen werden. Folglich werden in Deutschland die mit viel Aufwand betriebenen Integrationskurse mit dieser Zielsetzung begründet und nicht die Aus- und Weiterbildung mehrsprachiger Bürger als primäre Ziele anerkannt. Gesetzliche Regelungen und Prüfungen zu Minima von Kennt‐ nissen der Zielsprache werden daraufhin als Vorbedingung für die Einwanderung festge‐ legt. Bei Nichterfüllung dieser Anforderungen werden (nicht nur in Deutschland) in der Regel Zuwanderung und Arbeitserlaubnis verweigert sowie soziale Integrationsmöglich‐ keiten vorenthalten. Bemerkenswerterweise gilt das im Kontext der eingangs dargestellten fehlverstandenen Orientierung auf das Englische als internationaler Norm nicht in gleichem Maße für Migranten aus englischsprachigen Ländern, wie es die Befragungsstudie des Forschungszentrums des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zeigt (Heß, Zu‐ wanderung von Hochqualifizierten). Nicht selten führen aber restriktive politische Normie‐ rungen in Bezug auf die Leitsprachigkeit gerade nicht zu integrativen Effekten, sondern zu Jörg Roche 48 <?page no="49"?> 3 Vgl. als literarische Quelle Feridun Zaimoglu, »Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesell‐ schaft«, in: Ders., Kanak Sprak/ Koppstoff. Die gesammelten Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Köln 2011 [1995], S. 11-115. massiver Verweigerung der verordneten Zielsprache. Ganz deutlich geworden ist dies am Soweto-Aufstand im mehrsprachigen Südafrika, der sich 1976 daran entzündet hat, dass Afrikaans als einzige Bildungssprache verordnet wurde, obwohl es von großen Teilen der Bevölkerung nicht gesprochen wurde (Afrikaans Medium Decree). e) Zur integrativen Wirkung der Literatur Ethnolekte bilden sich als Gruppensprachen in einer fremdsprachigen Umgebung. Sie kor‐ respondieren nicht mit den leitsprachigen Integrationsprinzipien, weil sie eine Distanz zur Leitsprache darstellen oder markieren sollen. Das Beispiel der Kanaksprak 3 und des Kiez‐ deutsch (Wiese/ Freywald/ Mayr, Kiezdeutsch as a Test Case, 2; Wiese, Kiezdeutsch) zeigt jedoch, wie ein Ethnolekt sich über die sprachkünstlerische Verdichtung zu einem Medium der Integration entwickeln kann. Die Kanaksprak lehnt sich an den Ethnolekt junger Türken an und ist als »Nachdichtung« von Adelbert von Chamisso-Preisträger Feridun Zaimoglu als Literatursprache geschaffen und damit einer größeren Zielgruppe zugänglich gemacht worden. Aus dem primären Ethnolekt (Kiezdeutsch) unterschiedlicher gramma‐ tischer Ausprägungen bildeten sich in der Folge sekundäre und tertiäre Formen, die mitt‐ lerweile vor allem als literarische und kabarettistische Varietäten weit über die ursprüng‐ liche Nutzergruppe hinaus verwendet werden. Als Gruppencode sind diese Varietäten inzwischen aber auch unter vielen deutschen Jugendlichen verbreitet, die ansonsten mit dem Türkischen kaum Kontakt haben und sich damit von der Mehrheitssprache der El‐ terngeneration desintegrieren wollen. Zwar beherrschen die Jugendlichen neben dem po‐ litisch inkorrekten Kiezdeutsch in der Regel auch Standarddeutsch und weitere Sprachen, aber das Kiezdeutsch dient als In- oder Gruppensprache, die damit auch nicht-integrie‐ renden Sprechern der Mehrheitssprache Möglichkeiten der Integration in die markierte Außenseitersprache gibt. Diese Beobachtungen zeigen, wie Sprecher mit der Sprache ihre Rolle in der sozialen Interaktion konstruieren und diese an ihre Gesprächspartner und die Außenwelt kommunizieren. Pia Quist und Normann Jørgensen (»Bilingual children in mo‐ nolingual schools«, 386) zeigen am dänischen Äquivalent des Kiezdeutschen, dass diese Rollenmarkierungen wechseln können und dabei selbst die ›most monolingual speakers‹ Code-Wechsel betreiben. Dieser Wechsel muss nicht situativ oder kontextuell, sondern kann auch metaphorisch sein, und die soziale Konstruktion kann ihren Ausdruck in un‐ terschiedlicher sprachlicher Form finden. Sie kann durch syntaktische, morphologische oder phonetische Registermarkierungen unterstützt werden. Quist/ Jørgensen (»Bilingual children in monolingual schools«) illustrieren dies am Wechsel von einem labio-dentalen / w/ zu einem dentalen Verschlusslaut / v/ in dänischer Jugendsprache, durch die eine Kiez‐ sprachen-ähnliche Identitätskonstruktion entsteht. Auch Peter Auer und Inci Dirim (»Socio-cultural Orientation«) zeigen in ihrer Studie, wie Jugendliche in Hamburg Strate‐ gien zur Identitätskonstruktion und Markierung von Gruppenzugehörigkeiten verwenden. Dabei spielt es keine Rolle, ob die aus einer der beteiligten Sprachen entlehnten Elemente I. 4. Sprache als Medium von (Des-)Integration 49 <?page no="50"?> reale Wörter oder Chunks dieser Sprache sind. Sie können auch als Anlehnungen an diese Sprachen zur Markierung der Fremdsprachigkeit oder eines Identifizierungs- oder Dis‐ tanzverhältnisses zu einer Sprache verwendet werden. Damit können sich Sprecher von dieser Sprache oder von einer Gruppe abgrenzen, der diese Sprache zugeordnet wird, zum Beispiel indem sie sich über die Sprache lustig machen (vgl. Hinnenkamp, »Mixed Language Varieties of Migrant Adolescents«). Normann Jørgensen (»Languaging and Languagers«) nennt dieses Verfahren »Languaging« und Bernhard Wächli (Relexicalization vs. Relexifi‐ cation) bezeichnet den Vorgang der Neu- oder Umbenennung mittels fremdsprachiger Ele‐ mente in Anlehnung an Kreolisierungsprozesse der Relexifizierung vs. Relexicalisation. Auch als Foreignizing kann dieses Verhalten bezeichnet werden. Gerade die Genese und Dynamik der Kanaksprak belegt entgegen der Priorisierung von Leitsprachigkeit den weit‐ reichenden, integrativen und innovativen Einfluss von Mehrsprachigkeit auf die ›Mehr‐ heitssprache‹. 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Eine kommunikative Ethik des Gesprächs, des Sich-Verstehen-Wollens als einer Überset‐ zung, macht beispielsweise Zafer Şenocak geltend: »Jedes Gespräch, das mehr sein möchte als ein Zusammentreffen von Monologen, ist Übersetzung« (Şenocak, Deutschsein, 17). Um den Anderen zu verstehen, muss man sich auf dessen Wahrheitssinn einlassen, und dieses Verstehen ist immer sprachbedingt, wie Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode, seiner sprachphilosophischen Hermeneutik, hervorhebt. Sprache fungiert dementspre‐ chend immer als »Grenzhorizont einer hermeneutischen Seinserfahrung« (Stolze, Herme‐ neutik und Translation, 71), auch derjenigen des je anderen und derjenigen anderer Sprach‐ lichkeit. Dennoch mag die Ausformulierung einer spezifischen Ethik der Mehrsprachigkeit auf den ersten Blick problematisch erscheinen, wie Walter Lesch hervorhebt, »[d]enn die Viel‐ falt der ›natürlichen‹ Sprachen stellt ja nicht automatisch ein normatives Problem dar« (Lesch, Übersetzungen, 16). Mehrsprachigkeit kann man nämlich auch »als ein Faktum zur Kenntnis nehmen, ohne es mit irgendwelchen Werturteilen und Dimensionen des guten Lebens oder der Gerechtigkeit zu verknüpfen« (ebd., 20). Nichtsdestotrotz ist die Funktion mehrsprachiger Literatur nicht primär pragmatischer Natur, sondern vielmehr ästhetisch und ethisch bedingt. Ihr Ziel ist eher symbolisch als realistisch: Sie symbolisiert die Varietät, den Kontakt und die Vermischung von Kulturen und Sprachen (Wilson, »Cultural Media‐ tion«, 244f.). Entsprechend wird in François Osts Arbeit Traduire. Défense et illustration du multilinguisme eine Ethik der Mehrsprachigkeit zum Standard einer gerechten Gesellschaft erhoben, die sich als dritter Weg zwischen universeller Sprache und Rückzug auf Einzel‐ sprachen des Anderen versteht (Ost, Traduire, 289). Die Auseinandersetzung mit Fragen der Mehrsprachigkeit hat also eine ausgeprägte ethische Dimension: Man wird in familiäre, ökonomische, politische und nationale Umstände hineingeboren, die die sprachliche Ent‐ wicklung und Zukunft des Individuums und der Gemeinschaft bestimmen. Der sprachliche Habitus des Sprechers umfasst voneinander nicht zu trennende technische und soziale Kompetenzen, die die Fähigkeit zu sprechen und die Fähigkeit, sich auf eine bestimmte, sozial geforderte bzw. angemessene Art und Weise zu artikulieren, determiniert. Vor diesem Hintergrund ist die sprachliche Kompetenz als Grundlage der sprachlichen Kommunikation <?page no="54"?> 4 »Die Sprache ist eine Waffe. Es ist ein Verbrechen, sie denjenigen vorzuenthalten, die sie am meisten benötigen.« (Meine Übersetzung, A. S.) auch immer von Herrschaft und Macht durchzogen (Bourdieu, »Die verborgenen Mecha‐ nismen«, 81). Sprachen sind infolgedessen ein Thema für Gerechtigkeitstheorien geworden, die über die Kompensation von Ungleichheiten nachdenken. So schlägt beispielsweise Phi‐ lippe Van Parijs in Linguistic Justice for Europe and the World (2011) vor, Mitglieder privi‐ legierter Sprachgemeinschaften zu besteuern, um damit so die Übersetzungen für weniger sprecherstarke Sprachen zu finanzieren, denn Übersetzungsleistungen sind an fachliche Kompetenzen und finanzielle Mittel gebunden, die ungleich verteilt sind (Lesch, Überset‐ zungen, 26). Eine ethisch vertretbare Organisation sprachlicher Diversität tritt angesichts der Dominanz des Englischen als globale Lingua Franca vermehrt in den Mittelpunkt (ebd., 23). Die schriftstellerische Wahl einer Vehikularsprache statt einer Kleinsprache hat vor diesem Hintergrund, so Georg Kremnitz, auch unmittelbar ethische Implikationen für die Auseinandersetzung zwischen sprachlich-kultureller Peripherie und Zentrum (Kremnitz, Mehrsprachigkeit in der Literatur, 202-212). Eine Ethik der Mehrsprachigkeit bezieht sich auf die Präferenz für Kommunikationssituationen, in denen man Perspektivenwechsel ein‐ üben und sich »in die Sichtweise von anderen Gesprächsteilnehmern hineinversetzen kann« (Lesch, Übersetzungen, 21). Hier ist die Nähe zur Diskursethik, wie sie beispielsweise von Jürgen Habermas vertreten wird, kaum zu übersehen. In Habermas’ Diskursethik ist jede ethische Kommunikation primär sprachlich verfasst, und aus diesem Grund müssen denn auch die sprachlichen Strukturen als Begründung und Mitteilung von Normen und Werten unter die Lupe genommen werden. Als endgültiges Moralprinzip gilt bei Habermas das diskursethische Prinzip, dass »[e]ine Norm nur dann Geltung beanspruchen« dürfe, »wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), daß diese Norm gilt« (Habermas, »Diskursethik«, 76). Die Gleichberechtigung aller Gesprächspartner, die Anerkennung des Anderen und der Möglichkeitshorizont einer sprachlich bedingten konsensorientierten Auseinandersetzung mit Normen und Werten gilt auch als ethische Grundvoraussetzung für die mehrsprachige Kommunikation in der Literatur. Die implizite Verbindung von Mehrsprachigkeit und Rechtsstaatlichkeit wird auch von Lesch pointiert formuliert: Eine »Ethik der Mehrsprachigkeit« ist ihm zufolge »ein leidenschaftliches Plädoyer für die Zu‐ kunftsfähigkeit rechtsstaatlicher Verhältnisse und liberaler Demokratie und gerade nicht ein Rückzug in eine elitäre Sphäre von Kultur« (Lesch, Übersetzungen, 28). Jeder Ethik der Mehrsprachigkeit liegt indes auch eine fundamentale Aporie zugrunde: Die prinzipielle Wertschätzung sprachlicher Diversität widerspricht der ethischen Zielset‐ zung kommunikativer Verständigung. Es ist aus ethischer Perspektive einerseits not‐ wendig, den Muttersprachendiskurs zu dekonstruieren, da dieser die Öffnung auf den Anderen und seine Sprachigkeit verhindert; andererseits ist es notwendig, die Mutterspra‐ chensemantik zu unterstützen, da sie emanzipatorische Kraft hat und gesellschaftliche Dif‐ ferenzen aufzulösen sucht. So weist Danièle Sallenave in À quoi sert la littérature? darauf hin, dass in Frankreich eine möglichst einwandfreie Beherrschung der Standardsprache durch alle Bevölkerungsgruppen ein ethisches Hauptanliegen der Republik sei: »La langue est une arme. Il est criminel d’en priver ceux qui en ont le plus besoin.« 4 (Sallenave, À quoi Arvi Sepp 54 <?page no="55"?> sert la littérature? , 48) Diese emanzipatorische Sicht auf die Nationalsprache gilt auch - obschon ex negativo - für den gesamten arabischen Sprachraum, dessen Einwohner weit‐ gehend der Ansicht sind, dass ihnen eine tatsächliche Muttersprache fehlt. Der niederlän‐ disch-marokkanische Autor Fouad Laroui zum Beispiel betont vor diesem Hintergrund, dass das klassische Arabisch genauso wenig wie das Französische Sprachen der marokka‐ nischen Nation sind. Aus dieser Tatsache folgt auch die Unmöglichkeit, eine marokkanische Nationalliteratur zu etablieren: »The Moroccan writer uses the language of the Other or the language of others: either way, it’s mission impossible.« (Laroui, »A Case of ›Fake Monolingualism‹«, 43) Im vorliegenden Artikel wird aus zwei Perspektiven ein Licht auf die Ethik der Mehr‐ sprachigkeit geworfen. Zum einen steht das Verhältnis zwischen Alterität und Sprachre‐ flexivität im Vordergrund, zum anderen wird die ethische Bedeutung der Übersetzung erläutert. Die Mehrsprachigkeit in der Literatur ist oft ein Zeichen für eine hohe Sprach‐ reflexivität, die die Kontingenz sprachlicher Regelsysteme beleuchtet (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 38). Durch die Hervorhebung der Arbitrarität sowie der Referenzlosigkeit der Sprachzeichen wird die Idee des ›Sprachbesitzes‹ einer dekonstruktiven Kritik unter‐ zogen. Die Sprache kommt immer schon vom Anderen, was im Endeffekt dazu führt, dass der Unterschied zwischen Mutter- und Fremdsprache in der mehrsprachigen Literatur oft relativiert wird (Heimböckel, »Einsprachigkeit - Sprachkritik - Mehrsprachigkeit«, 142; Sabisch, Inszenierung der Suche, 56). Der Übersetzung als analytischer Kategorie, theoreti‐ schem Konzept und sprachlicher Praxis kommt in der Auseinandersetzung mit Mehrspra‐ chigkeit und Ethik eine besondere Bedeutung zu. Im Zuge der kulturellen Wende in der Literatur- und Kulturwissenschaft ist die Übersetzung als Medium fremder Kulturen und interkultureller Kommunikation sowie auch als Dekonstruktion der Ideologie der Mutter‐ sprache vermehrt in den Blick gerückt worden (Baumann, »Übersetzungstheorien«, 679). Angesichts der Vielfalt der Lebenswelten im Zeitalter der Globalisierung ist die Auseinan‐ dersetzung mit Fragen der Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit von ethischer Bedeu‐ tung, weil die fundamentale Aporie einer Ethik der Mehrsprachigkeit, ihre »unmöglich[e] Notwendigkeit« bzw. »notwendig[e] Unmöglichkeit« (Martyn, »Unmögliche Notwendig‐ keit«) in ihr in besonderem Maße aufleuchtet. Auf der einen Seite dient die Übersetzung der intersubjektiven Kommunikation: »[I]t is as objects of communication that texts, any text, can be subjected to translation. All translations, in this sense, are communicative acts.« (Neubert, »Some of Peter Newmark’s Translation Categories Revisited«, 71) Auf der an‐ deren Seite macht die Übersetzung, wie Michael Wetzel betont, das Fehlen eines Eins-zu-Eins-Verhältnisses zwischen Ausgangs- und Zielkultur offensichtlich und somit auch die Einzigartigkeit und Fremdheit jeder einzelnen Sprache: »Das Monitum der Un‐ übersetzbarkeit fordert auch die Achtung der anderen Sprachen als Sprachen der anderen in ihrer Einzigartigkeit, die sich nicht übertragen, in ihrer Fremdheit reduzieren läßt.« (Wetzel, »Alienationen«, 154) b) Alterität und Sprachreflexivität Rainier Grutman definiert literarische »Mehrsprachigkeit« als »the use of two or more languages within the same text« (Grutman, »Multilingualism«, 183). Die sprachliche Dif‐ I. 5. Ethik der Mehrsprachigkeit 55 <?page no="56"?> ferenz in der Literatur kann auch durch eine »sprachliche Binnenfremdheit« inszeniert werden (Pasewalck, »›Als lebte ich …‹«, 389). Anknüpfend an Michail M. Bachtins Konzept der Polyphonie lässt sich literarische Mehrsprachigkeit auch mit gesellschaftlichen Sprach‐ differenzen und Redevielfalt verbinden. Dabei handelt es sich nicht nur um Sprachmi‐ schung, sondern an erster Stelle um verschiedene Diskurse, Ideolekte, Soziolekte sowie auch Dialekte und historische Varietäten einer Sprache, deren Zusammenspiel Grutman (1997) in seiner Arbeit zum Roman in Québec im 19. Jahrhundert als »Heterolingualismus« bezeichnet hat (Grutman, Des langues qui résonnent). Diese heterolingualen Differenzen im Text können Sprecherdifferenzen entsprechen (Bourdieu, »Die verborgenen Mecha‐ nismen«), indem die soziale und kulturelle Verortung der jeweiligen Sprecher zum Aus‐ druck gebracht wird (Dembeck, »Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit«, 28). Bachtin bestimmt den Roman als inhärent mehrsprachige Gattung. In seiner Arbeit über Dosto‐ jewski unterstreicht Bachtin die »karnevalistische Ambivalenz« des Romans (Bachtin, Pro‐ bleme der Poetik Dostoevskijs, 141). Die Polyphonie, die aus dieser Ambivalenz hervorgeht, stellt die Einheit des Subjekts in Frage, diskursive Einheit wird ausgeschlossen und dadurch der »ideologisch[e] Monolog« zerstört (ebd., 354 f.). Die Ethik der Mehrsprachigkeit in der Literatur verabschiedet dabei nicht die Einsprachigkeit, denn ausgehend von den verschie‐ denen Einzelsprachen kann Wesentliches über das abstrakte System der Sprache ausgesagt werden (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 16). Die durch Standardisierung zustande gekommene Einheit der nationalen Einzelsprachen wird spätestens im 19. Jahrhundert als eine Form von symbolischer Reinheit aufgefasst. Sie verkörpern somit etwas, das vorher nur den Heiligen Sprachen vorbehalten war (Dembeck, »Für eine Philologie der Mehrspra‐ chigkeit«, 23). Diesen säkularisierten Sprachen kommt damit eine kulturkonstitutive Rolle zu, die eng an die Auffassung des ›Besitzes‹ der Muttersprache geknüpft ist. Johann Gott‐ fried Herders ›Muttersprachenpoetik‹ etwa setzt voraus, dass der Mensch nur eine Sprache hat und dass diese Sprache den Muttersprachlern gehört. In diesem Sinne wird davon aus‐ gegangen, dass ein Sprecher nur durch seine Muttersprache seine wahre Identität zum Ausdruck bringen könne, während zugleich nur dank des Muttersprachlers das Wesen dieser Sprache in Erscheinung treten kann (Martyn, »Es gab keine Mehrsprachigkeit«, 45). Gleichzeitig sind Muttersprache und Fremdsprache jedoch dadurch unlöslich miteinander verbunden, dass die Fremdsprache die zentrale Stelle der Muttersprache in der Sprachen‐ hierarchie des 19. Jahrhunderts etabliert und ihr stets untergeordnet wird (ebd., 44). Johann Wolfgang von Goethe vertritt nicht nur das traditionsreiche Argument, dass Dichten nur in der Muttersprache möglich bzw. erwünscht sei, sondern führt auch an, dass Literatur, auch in der Muttersprache, per se immer ein Medium fremder bzw. verfremdeter Sprache sei. Die Verbindung von Fremdheit und Eigenheit in der Muttersprache wird bis heute von vielen anderen Autoren hervorgehoben, wie beispielsweise auch von Herta Müller. In Heimat ist das, was gesprochen wird stellt Müller dar, wie gerade die ›eigene‹ Sprache prin‐ zipiell von ›fremden‹ Elementen durchsetzt ist: »Es tut keiner Muttersprache weh, wenn ihre Zufälligkeiten im Geschau anderer Sprachen sichtbar werden. Im Gegenteil, die eigene Sprache vor die Augen einer anderen zu halten, führt zu einem durch und durch beglau‐ bigten Verhältnis, zu einer unangestrengten Liebe.« (Müller, Heimat ist, 21) Auch Walter Benjamin hebt in »Die Aufgabe des Übersetzers« hervor, dass erst im Bewusstsein der Kontraste zwischen den Sprachen ihr originäres Verwandtschaftsverhältnis zwischen ei‐ Arvi Sepp 56 <?page no="57"?> 5 Terézia Mora, Alle Tage, München 2004, S. 430. nander offensichtlich wird, das sich in der Unvollständigkeit der einzelnen Sprachen und der Notwendigkeit ihrer Ergänzung durch andere artikuliert (Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, 19). Die Verarbeitung sprachlicher Differenzen in der Literatur bedeutet oft zugleich auch die Demontage einer nationalstaatlichen Sprachideologie und die Hervorhebung sprach‐ lich-kultureller Grenzüberschreitungen im Text. In Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Kafka. Pour une littérature mineure (1975) wird darauf hingewiesen, wie Kafka, als tsche‐ chischer, deutschsprachiger Jude, in seinen literarischen Texten fremdsprachliche - tsche‐ chische, jiddische - Elemente aufnimmt (Montandon, Désirs d’hospitalité, 245-259; Rada‐ elli, Literarische Mehrsprachigkeit, 34). Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und des Nationalismus in Europa wird auch in der historischen Avantgarde die Verbindung von Nationalsprache und Kollektividentität radikal in Frage gestellt. Die internationale DADA -Bewegung führt den Nationalismus ad absurdum, indem sie ihre Performances be‐ wusst mehrsprachig gestaltet und zugleich die vorgebliche ›Reinheit‹ der Einzelsprachen dekonstruiert, dadurch dass sie sie durch ein kindliches, prärationales Idiom ersetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Rechtfertigung der ›Treue‹ zur deutschen Sprache bei Exi‐ lanten bzw. Opfern des Nationalsozialismus wie Paul Celan, Thomas Mann und Theodor W. Adorno oft Anlass für eine Auseinandersetzung mit der NS -Sprache und ihrer gewalttätigen Dimension gegeben (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 35-38). In Terézia Moras Roman Alle Tage wird dem Leser aus transnationaler Perspektive vor Augen geführt, welche ethischen Implikationen die Orientierung am Einsprachigkeitspostulat der ›Leitkultur‹ be‐ inhalten kann. Im Exil verliert der Migrant Abel Nema nach einem Überfall seine Erinne‐ rungen: »Die Amnesie hat sich bestätigt, er erinnert sich an nichts mehr, wenn man ihm sagt, was man über ihn weiß, sein Name sei Abel Nema, er sei aus dem und dem Land gekommen, und habe einst ein Dutzend Sprachen gesprochen, übersetzt, gedolmetscht, schüttelt er höflichverzeihend-ungläubig den Kopf.« 5 Die physische Gewalt gegen den Einwanderer führt nicht nur zur Aphasie, sondern auch zur Amnesie. Er spricht letztendlich nur noch in der Landessprache, und dies am besten in höchst verkürzter und somit ver‐ einfachter Form. Der Preis für die gewaltsame Assimilation scheint das Vergessen der ei‐ genen Identität, Herkunft und Mehrsprachigkeit zu sein. Die Ethik der Mehrsprachigkeit wird auf diese Weise durch die Einsprachigkeit der Assimilation zunichte gemacht (Tatas‐ ciore, Con la lingua, contro la lingua, 137-156). Terézia Moras Dekonstruktion der natio‐ nalpolitischen Ideologie der Einzelsprachen zeigt, wie die Mehrsprachigkeit sowohl mit ihrem Begegnungsals auch mit ihrem Konfliktpotential als gezielte Einmischung in ge‐ sellschaftliche Verständigungsprozesse literarisch inszeniert wird (Lesch, Übersetzungen, 423). In der postkolonialen Literatur kann die übernommene Kolonialsprache paradoxer‐ weise auch als Idiom der Emanzipation bzw. Subversion benutzt werden, wie dies nicht nur in der britischen postkolonialen Literatur beobachtet werden kann, sondern es auch des Öfteren in der frankophonen maghrebinischen Literatur der Fall ist. Der algerische Schrift‐ steller Kateb Yacine bezeichnet das Französische vor diesem Hintergrund daher auch als I. 5. Ethik der Mehrsprachigkeit 57 <?page no="58"?> 6 Kateb Yacine, Le Poète comme un boxeur, entretiens 1958-1989, hrsg. v. Gilles Carpentier, Paris 1994, S. 132. 7 »die französische Sprache kolonisieren« (meine Übersetzung, A. S.). eine »Kriegsbeute«, als »butin de guerre«, 6 um auf Französisch dem französischen Lese‐ publikum zu sagen, er sei explizit nicht französisch. In einem Interview behauptet die fran‐ zösisch-algerische Autorin Malika Mokeddem, die arabischen Wörter in ihren französi‐ schen Texten hätten eine politische Bedeutung, da sie in und mit ihrer sprachlich hybriden Literatur »coloniser le français« 7 wolle (Mokeddem in Helm, Malika Mokeddem, 29). Nicht nur in der postkolonialen Literatur, sondern auch im Wissenschaftsdiskurs der postkolo‐ nialen Literaturtheorie kommt der Hybridisierung der ehemaligen Kolonialsprache eine wichtige ethische Rolle zu. So bemüht sich Gayatri Chakravorty Spivak, in ihren Werken das Englische durch das Bengalische zu bereichern. Sie fasst es, vor allem dann, wenn man in einer postkolonialen Fremdsprache schreibt, als eine ethische Verantwortung auf, aus der Muttersprache zu schöpfen, um die ›Ziel‹-Sprache durch das ethische Konzept des ›matririn‹ (Mutterschuld) zu hybridisieren (Spivak, »Translation as Culture«, 14 f.). Die ausgeprägte Sprachreflexivität in der mehrsprachigen Literatur, die mit einer Beto‐ nung der fundamentalen Polysemie sprachlicher Äußerungen einhergeht, hat insoweit eine ethische Dimension, als sie die Mehrgleisigkeit des Denkens und somit auch die Vielfäl‐ tigkeit menschlichen Zusammenlebens vor Augen führen kann. In der Sprachkritik, wie man sie beispielsweise bei Autoren wie Yoko Tawada oder Philosophen wie Jacques Derrida vorfindet, wird die Vorstellung von Sprache als ›Besitz‹ immer wieder neu ad absurdum geführt. Jenseits des ›Einsprachigkeitsparadigmas‹ spricht Yasemin Yildiz in Beyond the Mother Tongue (2012) von einer »postmonolingual condition«, in der man sich derzeit be‐ finde. In Le monolinguisme de l’autre (1996) stellt Derrida im Begriff ›Muttersprache‹ den Bezug zwischen Geburt und Blut auf der einen Seite und Sprache auf der anderen Seite in Frage. Auch Giorgio Agamben weist in Mittel ohne Zweck auf die Verquickung von ›factum loquendi‹ und ›factum pluralitatis‹ als seit der Romantik von Sprach- und Politikwissen‐ schaft vorausgesetzte Fiktionen hin. Das Verhältnis von Sprache und Gemeinschaft, die im nationalstaatlichen Kontext unhinterfragt aufeinander bezogen werden, wird von Agamben dekonstruiert, indem die grundsätzliche und indefinite Fremdheit von »Sprache« und »Volk« in den Mittelpunkt gerückt wird: »Die Relation Zigeuner-argot stellt diese Ent‐ sprechung im gleichen Moment, da sie sie parodistisch übernimmt, radikal in Frage. Die Zigeuner verhalten sich zum Volk, wie der argot sich zur Sprache verhält; aber in dem kurzen Moment, den die Analogie andauert, lässt sie ein Schlaglicht fallen auf die Wahrheit, die zu verdecken die Entsprechung Sprache-Volk insgeheim angelegt war: Alle Völker sind Banden und ›coquilles‹, alle Sprachen sind Jargons und ›argot‹.« (Agamben, Mittel ohne Zweck, 68) Wenn das Fremde jeder Sprache prinzipiell eingeschrieben ist, dann ist demzu‐ folge jede Sprache bereits eine Übersetzung, »keine ursprünglich natürliche, sondern eine ursprünglich kultivierte, überbaute Sprache« (Haverkamp, »Zwischen den Sprachen«, 9). Illustrieren kann das auch ein Brief von Klaus Mann vom 18. 2. 1949 aus dem amerikani‐ schen Exil an Herbert Schlüter; ein Brief, in dem Mann hervorhebt, wie der deutsch-eng‐ lische Bilingualismus seine ursprüngliche Idee einer lebenslänglichen Beheimatung in der ›Muttersprache‹ erschüttert habe: »Damals hatte ich eine Sprache, in der ich mich recht Arvi Sepp 58 <?page no="59"?> 8 Klaus Mann, Briefe und Antworten 1922-1949, hrsg. v. Martin Gregor-Dellin, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 603. 9 Feridun Zaimoglu, »Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft«, in: Ders., Kanak Sprak/ Koppstoff. Die gesammelten Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Köln 2011 [1995], S. 11-115, hier S. 17. flink auszudrücken vermochte; jetzt stocke ich in zwei Zungen. Im Englischen werde ich wohl nie ganz so zuhause sein, wie ich es im Deutschen war - aber wohl nicht mehr bin …« 8 Die Mehrsprachigkeit dekonstruiert somit die Auffassung der Ursprünglichkeit bzw. Na‐ türlichkeit der Erstsprache, wie dies auch Thomas Paul Bonfiglio in Mother Tongues and Nations (2010) beschreibt. Auch aus pädagogischer Perspektive, in der Sprachendidaktik, kann auf die ethische Bedeutsamkeit der Vermittlung mehrsprachiger Literatur an ein studentisches Publikum hingewiesen werden. Aus einer multilingualen Einstellung als Lernattitüde soll bei der Lektüre die Berücksichtigung der spezifischen Literarizität mehrsprachiger Literatur sowie die Anerkennung transnationaler Autoren hervorgehen: »When we adopt a multilingual orientation, we view writers as making distinct choices based on their multilingual status, rather than making ›mistakes‹ because of their multilingual status.« (Olson, »Rethinking our Work«, 3) Diese Wertschätzung der sprachlichen Diversität und die Betonung der multilingualen Poetik der transkulturellen Literatur wird von Feridun Zaimoglu aufs Korn genommen. In der Rezeption wird die in Kanak Sprak verwendete ungrammatische, unidiomatische ›Zwi‐ schensprache‹ oft als ethisch-politische Chiffre und Aufforderung zur Toleranz und Em‐ pathie aufgefasst. Das Verlangen des Lesers nach exotischer ›Authentizität‹ und ›Wahr‐ haftigkeit‹ wird von Zaimoglu radikal abgelehnt, weil auf diese Weise seinen literarischen Texten die Autonomie aberkannt werde: »Die ›besseren Deutschen‹ sind von diesen Er‐ güssen ›betroffen‹, weil sie vor falscher Authentizität triefen, ihnen ›den Spiegel vorhalten‹, und feiern jeden sprachlichen Schnitzer als ›poetische Bereicherung ihrer Mutterzunge‹. Der Türke wird zum Inbegriff für Gefühl, einer schlampigen Nostalgie und eines faulen ›exotischen‹ Zaubers.« 9 c) Übersetzung und Ethik Die alttestamentliche Erzählung des Turmbaus zu Babel wird regelmäßig herangezogen, um die theologische Bedeutsamkeit der Übersetzung als Überwindung der Sprachverwir‐ rung vor Augen zu führen. Die Verwirrung der Sprachen nach Gottes Eingriff in Babel führt, so Giulia Radaelli (Literarische Mehrsprachigkeit, 15), zu einer Inkommensurabilität der Einzelsprachen, zwischen denen in der Übersetzung kein Eins-zu-Eins-Verhältnis mehr be‐ stehen kann. Durch Babel wird das zwischenmenschliche ›Sich-Verstehen-Können‹ aufge‐ hoben. Demzufolge kann der Mensch nicht anders als übersetzerisch tätig sein, da die ur‐ sprüngliche, paradiesische Unschuld einfacher Kommunikation verlorengegangen ist (Lesch, Übersetzungen, 19). Nach Benjamin gehört es gerade zur »Aufgabe des Übersetzers«, »[j]ene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien« (Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, 19). Übersetzen bedeutet demnach, etwas zu übersetzen, das nicht übersetzbar ist und das I. 5. Ethik der Mehrsprachigkeit 59 <?page no="60"?> utopisch in allen Sprachen aufleuchtet, um so einen unmittelbaren Zugang zum heiligen Text als »das Urbild oder Ideal aller Übersetzung« zu eröffnen (ebd., 21). Die vom Übersetzer herbeigeführte Desorientierung des Lesers und seine Konfrontation mit dem Fremden stehen in der Übersetzungswissenschaft, von Friedrich Schleiermacher über Antoine Berman bis Lawrence Venuti, im Zentrum ethischer Überlegungen. Die sprachliche Fremderfahrung wird normativ aufgeladen, indem vorausgesetzt wird, dass sich eine gute Übersetzung von Ethnozentrismus distanziert, sich gegen Machtasymmetrien wehrt und Schriftsteller und Leser miteinander in Verbindung bringt. In dieser Vermittler‐ position übernimmt der Übersetzer die gesellschaftspolitische Aufgabe, in der Übersetzung »selbst ethisch sichtbar zu werden« (Stolze, Hermeneutik und Translation, 126). Die Sicht‐ barmachung des Übersetzers ist denn auch, wie Venuti in The Translator’s Invisibility (1995) argumentiert, eine Sichtbarmachung sprachlich-kultureller Differenz (vgl. Giusti, »Que viva letteratura! «, 189 f.). Die ethische Bedeutsamkeit der Spannung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Übersetzers bezeichnet zugleich auch eine Spannung zwischen dargestellter Identität und Nicht-Identität der Kulturen. Anselm Haverkamp behauptet vor diesem Hintergrund, Übersetzung sei »die Agentur der Differenz, welche die trügerische Identität von Kulturen sowohl schafft, als auch sie im Zwiespalt ihrer ursprünglichen Nicht-Identität erneuert und vertieft.« (Haverkamp, »Zwischen den Sprachen«, 7) Aller‐ dings sollte die Alteritäts- und Differenzorientierung ethisch begründeter Traditionen der Übersetzungswissenschaft nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Übersetzung des Öf‐ teren eher die Einsprachigkeit als die Mehrsprachigkeit größerer Sprachgemeinschaften zu fördern scheint und somit volens nolens die Grenzen einer homogenen Sprachgemeinschaft konsolidiert (Lesch, Übersetzungen, 26). Ähnliche ideologiekritische Überlegungen werden von den zieltextorientierten »De‐ scriptive Translation Studies« vorgebracht, vertreten beispielsweise durch Susan Bass‐ nett, André Lefevere, José Lambert, Gideon Toury und Theo Hermans. Deren Arbeiten rücken diejenigen Eingriffe in Texte in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses, die einen Text einer Zielkultur angleichen. Die »[t]ranslatorische Ethik oder Fremderfahrung« (Stolze, Hermeneutik und Translation, 125), die der Übersetzung zugrunde liegen soll, gilt als normativer Orientierungspunkt, an den sich der Übersetzer zu halten habe. Das ethische Moment der literarischen Übersetzung besteht vor diesem Hintergrund in der Anerken‐ nung und in der Aufnahme des Anderen als eines Anderen (Godard, »L’Éthique du tra‐ duire«, 54); und die Übersetzung wird auf diese Weise zum ethischen Akt, der eine Bewe‐ gung vom Anderen als Alter Ego zu »soi-même comme un autre« (Ricœur, Soi-même comme un autre) ermöglicht. Der Glaube an die prinzipielle Übersetzbarkeit eines Textes deutet, so Umberto Eco in La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea (1993), auch auf die Überzeugung hin, dass der Mensch den Grundsätzen einer originären Mehrsprachigkeit, einer »perfekten Sprache«, auf die Spur kommen kann. Die übersetzerische Dimension des Zwischensprachlichen lässt sich, wie Georg Mein hervorhebt, als eine »ethische Haltung« beschreiben, die auf der Lücke zwischen den Sprachen beharrt, ohne die wie auch immer geartete Aufhebung der zwischensprachlichen Spannung zum Ziel zu haben (Mein, »›Ist mir doch fast …‹«, 90). Diese ethische Haltung betrachtet das Fremde nicht vom Eigenen her, sondern steht der Sprache des Anderen offen gegenüber. Eine Ethik der Übersetzung ist Mein zufolge vor diesem Hintergrund daher auch als eine Ethik der Dekonstruktion Arvi Sepp 60 <?page no="61"?> 10 »das Wesen der Übersetzung Offenheit, Dialog, Mischung, Dezentrierung. Sie wird in Beziehung gesetzt, oder sie ist gar nichts.« (meine Übersetzung, A. S.) 11 »eine genuine Hommage an Antoine Berman« (meine Übersetzung, A. S.). 12 »in einem messianischen Elan hin zum wahren Wort« (meine Übersetzung, A. S.). aufzufassen, denn erst durch die Dekonstruktion wird eine Beziehung zur Alterität möglich, die das Unbenennbare nicht verweigert (ebd., 90 f.). Auch in Antoine Bermans L’Épreuve de l’étranger (1984) wird eine »übersetzerische Ethik« entwickelt (Weissmann, »Erfahrung des Fremden als Einübung des Eigenen? «, 93; Godard, »L’Éthique du traduire«). Berman stützt sich in seinem Werk über Übersetzung in der deutschen Romantik auf Friedrich Schleiermachers Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens, um eine nicht-ethnozentrische Übersetzungstheorie zu entwickeln (Weiss‐ mann, »Erfahrung des Fremden als Einübung des Eigenen? «, 87). Er plädiert unter Rückgriff auf Schleiermacher für eine sprachliche und kulturelle Hybridisierung, ohne das Paradoxon der Herausbildung des Nationalen durch die Erfahrung des Fremden aus den Augen zu verlieren: Die Erfahrung des Fremden, so heißt es bei Schleiermacher, dient der ›Einübung des Eigenen‹. Schleiermachers Theorie gründet auf dem romantischen Modell der kultu‐ rellen Distanz und hat als Ziel, einer ganzheitlichen, deutschen Nationalliteratur als Kata‐ lysator sprachlich-kultureller Einigung den Rücken zu stärken. Für Berman ist Übersetzung sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Gefahr für jede Kultur: Das Überleben jeder Kultur basiert auf einem Ausgleich zwischen Fremdem und Eigenem (ebd., 89-91). Der Ausgleich zwischen beiden Polen ist wesentlich für die Übersetzung. Berman zufolge ist »l’essence de la traduction […] d’être ouverture, dialogue, métissage, décentrement. Elle est mise en rapport, ou elle n’est rien.« 10 (Berman, L’Épreuve de l’étranger, 16) In The Scandals of Translation. Towards an Ethics of Difference pflichtet Lawrence Venuti der ethischen Sicht auf Übersetzung bei, die Berman vertritt: »I follow Berman […]. Good translation is demystifying: it manifests in its own language the foreignness of the foreign text.« (Venuti, The Scandals of Translation, 11) Die verfremdende Übersetzung zeige die Autonomie des fremden Textes: »This translation ethics does not so much prevent the assimilation of the foreign text as aim to signify the autonomous existence of that text behind (yet by means of) the assimilative process of the translation.« (ebd.) Anthony Pym schlägt vor diesem Hintergrund eine Brücke von der ethisch-textuellen Bedeutung der Übersetzung zur ethisch bedeutsamen Rolle des Übersetzers. Sein Buch Pour une éthique du traducteur sei »un véritable hommage à Antoine Berman« 11 (Pym, Pour une éthique du tra‐ ducteur, 11). Aufgrund der Gastfreundschaft des Fremden im Eigenen liegt der verfrem‐ denden Übersetzung Venuti zufolge eine »metaphysics of the foreign« zugrunde (Venuti, Translation Changes Everything, 187). Die metaphysische Zielsetzung der Übersetzung suche »dans un élan messianique vers la parole vraie« 12 die Begrenztheit der Sprachen zu übersteigen (Berman, L’Épreuve de l’étranger, 23). Die Übersetzung veranlasst somit zu Diskussionen, die weit über das rein Sprachliche hinausgehen und Fragen der Metaphysik bzw. des Messianismus berühren. Die ›Überset‐ zung‹ als Konzept wird so zu einer Metapher der Vermittlung von Ideen, Auffassungen, Normen und Werten. Doris Bachmann-Medick spricht im Rahmen des »translational turn« in den Kulturwissenschaften von »Kultur« als einem ständigen »Prozess der Überset‐ zung […] im Sinne eines neuen räumlichen Paradigmas von Über-Setzung« (Bachmann-Me‐ I. 5. Ethik der Mehrsprachigkeit 61 <?page no="62"?> dick, Cultural Turns, 247). Diese breit gefasste räumliche Metapher der kulturellen ›Über-Setzung‹ geht zwangsläufig auch mit der ›Dezentrierung‹ des Bekannten einher. Die Dezentrierung des Eigenen sowie die Offenheit dem Fremden gegenüber ist schließlich auch grundlegend für ein adäquates Verständnis der sprachlichen Verfremdung in der mo‐ dernen Literatur, in der gerade die Dekonstruktion von Monologie und Identitätsdenken im Mittelpunkt steht. In ihr sind, so Peter V. Zima, »die offene Antinomie, die Ambiguität und das Singuläre gegen die systematische Integration« ausgerichtet (Zima, Ideologie und Theorie, 348). Die Literatur der Moderne, also Texte wie etwa die von Kafka, Broch oder Musil, versteht sich als Textur des Anderen, in einer eigenen Sprache des Anderen (Heim‐ böckel, »Einsprachigkeit - Sprachkritik - Mehrsprachigkeit«, 143 f.). Die Sprachskepsis, die in der Moderne zum Ausdruck gebracht wird, geht eindeutig mit einer Subjektkrise einher: Die moderne Literatur verfremdet das Gewohnte, keine Sprache bleibt in ihr selbst‐ identisch, genauso wenig wie das Subjekt, das die Möglichkeit verloren hat, sich als au‐ tonom und ganzheitlich zu definieren. In Kindheit und Geschichte vollzieht Giorgio Agamben eine radikale sprachkritische Trennung zwischen Sprache als langue bzw. λόγος und Sprache als einem konkreten Handeln, als einer Stimme. Zwischen den beiden Polen sei eine Leere, die im Besonderen in der modernen Literatur zum Ausdruck gebracht werden könne: »Der Raum zwischen Stimme und Lógos ist ein leerer Raum […]. Nur weil der Mensch in die Sprache geworfen ist, nur weil er sich im experimentum linguae aufs Spiel setzt […], werden für ihn so etwas wie ein éthos und eine Gemeinschaft möglich.« (Agamben, Kindheit und Geschichte, 15) Die Ermöglichung einer ›Gemeinschaft‹ ist gleich‐ zeitig auch eine Voraussetzung kollektiver ›Gastfreundschaft‹ in der Sprache, die Ricœur in seiner ethisch orientierten Übersetzungstheorie in die Mitte rückt. Richard Kearney hebt in seiner Einführung zur englischen Übersetzung von Sur la tra‐ duction hervor, dass Paul Ricœur Übersetzung letztendlich als »interlinguistic hospitality« konzipiert (Kearney, »Introduction«, xx). Ricœur gehe so weit zu sagen, dass das künftige politische Ethos der europäischen, ja, sogar der Weltpolitik, auf einem Austausch von Er‐ innerungen und Erzählungen zwischen verschiedenen Nationen basieren solle, denn Ver‐ söhnung könne nur dann stattfinden, wenn wir die eigenen Wunden in die Sprache der Fremden sowie die Wunden der Fremden in unsere eigene Sprache übersetzen. Die kol‐ lektiven Traumata zweier Weltkriege führten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Bewusstwerdung einer notwendigen europäischen Versöhnung und letztendlich zur Entstehung der Europäischen Union. Das gemeinsame europäische politische Projekt gründet auch auf sprachlicher Verständigung, die letztendlich Teil eines Gerechtigkeits‐ diskurses ist (Balibar, Nous, citoyens d’Europe? , 316 f.; Toledo, Le Hêtre et le Bouleau, 171). Die ethische Verbindung von Übersetzung und Gerechtigkeit wird auch von James Boyd White in Justice as Translation ins Licht geführt: »Translation and justice first meet at the point where we recognize that they are both ways of talking about right relations, and of two kinds simultaneously: relations with languages, relations with people.« (White, Justice as Translation, 233) Unter Rückgriff auf Émile Benveniste in Le vocabulaire des institutions indo-européennes (1969) weist Paul Ricœur darauf hin, dass die Begriffe hospes (Gastgeber) und hostis (Fremder) etymologisch miteinander verwandt sind (Ricœur, Sur la traduction, 19f.). Die Urszene aller Gastlichkeit kann dabei als darin liegend angesehen werden, dass zwei Arvi Sepp 62 <?page no="63"?> 13 »sprachliche Gastfreundschaft« (meine Übersetzung, A. S.). Fremde, die aufeinander treffen, voneinander erzählen müssen, um abzuschätzen, ob je‐ mand mit freundlicher oder feindlicher Absicht kommt. Das aber bringt unweigerlich das Übersetzen als geradezu ethische Forderung ins Spiel (Friedrich/ Parr, Gastlichkeit). Daher kann Ricœur ungeachtet der spannungsvollen Aufgabe des Übersetzers als traduttore tra‐ ditore davon sprechen, dass die Eigenheit des Übersetzens gerade in der »hospitalité lang‐ agière« 13 liegt (Ricœur, »Le paradigme de la traduction«, 136). Die sprachliche Gastfreund‐ schaft des Übersetzens sei vor diesem Hintergrund als ethischer Akt zu verstehen: Das Wort des Anderen wird ›bewohnt‹, genau so, wie das Wort des Anderen ›zuhause‹ empfangen wird (Ost, Traduire, 293-295). Die Übersetzung eröffnet einen symbolischen Raum, in dem eher die Möglichkeit einer Symbiose von Selbst und Anderem als die Vorstellung des An‐ deren als Alter Ego in Aussicht gestellt wird. Sie übernimmt Verantwortung, indem sie die Ansprache durch den Anderen beantwortet. Literatur Agamben, Giorgio, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, übers. v. Sabine Schulz, Freiburg/ Berlin 2001. 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Ebenen der Sprachstandardisierung Heinz Sieburg Begriffe für Einzelsprachen wie Deutsch, Französisch, Englisch oder Arabisch sind unter varietätenlinguistischer Perspektive Sammelbegriffe, die von nationalen, regionalen, sozi‐ alen und medialen Differenzierungen und damit den sie konstituierenden Varietäten abs‐ trahieren. Die spezifische Ausgestaltung der Varietätensysteme, verstanden als komplexe Struktur unterschiedlicher Sprachausprägungen (Varietäten), kann nach den je einzel‐ sprachlichen Gegebenheiten (vor allem aufgrund unterschiedlicher historischer, kultureller und politischer Bedingungen) unterschiedlich sein. Aus pragmatischen Gründen liegt das Hauptaugenmerk nachstehend auf den deutschsprachigen Verhältnissen. a) Standardsprache, Nationalsprache, Literatursprache Seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich in der (deutschen) Sprachwissenschaft, dabei dem englischen bzw. amerikanischen Wortmuster folgend, der Begriff der Standard‐ sprache als mehr oder weniger synonym zu Begriffen wie Hochsprache, Nationalsprache, Literatursprache, Gemeinsprache oder Einheitssprache etabliert bzw. diesen gegenüber durchgesetzt. Standardsprache steht für die überregionale (und damit die Dialekte überda‐ chende) historisch etablierte, schriftliche wie mündliche Sprachform, die stilistisch diffe‐ renziert und in Hinblick auf das Spektrum ihrer Verwendungsweisen polyvalent ist. Sie ist u. a. Orientierungsgröße des Deutschunterrichtes, und obwohl eine de facto Orientierung (vor allem) an der Sprache der Mittelschicht kaum zu leugnen ist, ist eine soziale Markierung intentional ausgeklammert. Unter diachroner - die Aspekte der überregionalen Verein‐ heitlichung und zunehmenden Schriftsprachlichkeit (neben der Mündlichkeit) beto‐ nender - Perspektive kann Standardsprache auch als letzter Entwicklungsschritt einer Ab‐ folge von Dialekt, Schreibdialekt und Schriftsprache verstanden werden (vgl. Besch, Dialekt, Schreibdialekt). Der Wortteil Standard weist dabei auf die Allgemeinverbindlichkeit, die durch Normen‐ kodifikation auf unterschiedlichen grammatischen Ebenen bzw. durch Rechtschreibung (Orthografie) und Hochlautung (Orthoepie) etabliert wurde. Demgegenüber ist der weniger neutrale Begriff Hochsprache stärker wertend (und abgrenzend), ebenso wie der alltags‐ sprachlich weit verbreitete Parallelbegriff Hochdeutsch. Besonders letzterer ist mit Bezug auf die sprachwissenschaftliche Verwendung von Hochdeutsch mehrdeutig und damit problematisch: Sowohl in sprachhistorischer als auch in areallinguistischer (dialektologi‐ scher) Hinsicht ist hoch geografisch bzw. topografisch aufzufassen und dient der Bezeich‐ nung der eben hochdeutschen Varietäten des (gebirgigen) Südens, dem die niederdeutschen des flachen Nordens gegenübergestellt sind. Entsprechend zu unterscheiden sind etwa hochdeutsche von niederdeutschen (plattdeutschen) Dialekten oder etwa, bezogen auf his‐ <?page no="70"?> torische Sprach- und Literaturverhältnisse, die mittelhochdeutsche von einer mittelnieder‐ deutschen Literatur und Sprache. In Abgrenzung zur Standardsprache betont der Begriff Nationalsprache die nationale, auch politische, kulturelle oder auch ideologische Ausrichtung und Relevanz der hierdurch bezeichneten Varietät (vgl. Reichmann, »Nationalsprache als Konzept der Sprachwissen‐ schaft«). Grundlage hierfür sind vor allem im 19. Jahrhundert verbreitete Vorstellungen entsprechend dem im Kern heute überholten, romantischen Konzept der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, welches eine Gleichsetzung von Sprache und Nation zum Zweck der Etablierung einer Kulturnation propagierte. Nationalsprachen können politisch gefördert und künstlich geschaffen werden, um ein Nationalbewusstsein zu etablieren oder zu stärken. Die damit mitunter verbundene Abwertung und Zurückdrängung von Minderhei‐ tensprachen macht diesen Ansatz fragwürdig. Problematisch ist der Begriff zudem nicht nur aufgrund der verbreiteten Tatsache, dass zahlreiche Länder (Nationen) mehrere offizi‐ elle Amtssprachen (in diesem Sinne Nationalsprachen) haben können (z. B. Belgien, Ka‐ nada), sondern auch, weil in vielen Fällen in nationaler Hinsicht unterschiedliche Länder einer Sprache zugeordnet sind. So ist das Deutsche etwa alleinige Amtssprache in Deutsch‐ land, Österreich und Liechtenstein und Co-Amtssprache in der Schweiz, in Luxemburg, (Ost-)Belgien und (Nord-)Italien. Dem etwa von Michel Clyne und Ulrich Ammon entwi‐ ckelten Plurizentrizitätskonzept folgend (vgl. Ammon u. a., Variantenwörterbuch des Deut‐ schen), das die Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit unterschiedlicher nationaler Ausfor‐ mungen betont, wäre hier in weiterer Differenzierung von nationalen Varietäten der (deutschen) Standardsprache zu sprechen, was als ›einzelsprachliche Mehrsprachigkeit‹ beschrieben werden könnte. Beispiel hierfür ist das Schweizer Hochdeutsch (oder Schrift‐ deutsch), das zumeist in formellen Kommunikationssituationen (Nachrichtensprecher), vor allem aber in der Schriftlichkeit verwendet wird, und dem das auf alemannischen Dialekten basierende, zumeist mündlich verwendete Schweizerdeutsch (Schwytzerdütsch) gegen‐ übersteht. Auch die ›Standardsprache in Deutschland‹ (deutschländisches Deutsch) ist in diesem Sinne nur eine Standardausprägung neben anderen, eine unreflektierte Gleichset‐ zung mit ›deutscher Standardsprache‹ verbietet sich demzufolge. Unterschiedliche natio‐ nale Ausformungen von Standardsprachen (meist bezogen auf Unterschiede in der Lexik) sind weit verbreitet und beziehen sich auf diverse Sprachen (z. B. auch Englisch, Franzö‐ sisch, Niederländisch, Spanisch). Das Beispiel Luxemburg steht für ein mehrsprachiges Land, das eine Sprache (das Luxemburgische) 1984 per Sprachgesetzgebung als National‐ sprache gegenüber den beiden flankierenden offiziellen Sprachen (Französisch und Deutsch) erhoben hat, und damit den identitätsstiftenden Gehalt des Begriffs National‐ sprache unterstreicht. Der Begriff Literatursprache steht dem der Standardsprache - je nach Verwendungs‐ weise - synonymisch oder antonymisch gegenüber. Als Parallelbzw. Konkurrenzbegriff zu Standardsprache etablierte sich in der DDR der vor allem nach russischem Vorbild (литературный язык, literaturnyj jazyk) gebildete Terminus Literatursprache in Hinsicht auf die Betonung der engen Verbindung des sprachlichen Standards zur geschriebenen Sprache. Dagegen hebt sich die Verwendung des Begriffs Literatursprache für die Sprache der (schöngeistigen) Literatur ab. Die hierdurch markierte funktionale und ästhetische Sonderstellung (unter Einbeziehung der durch dichterische Freiheit sanktionierten Sprach‐ Heinz Sieburg 70 <?page no="71"?> kreativität und Normüberschreitung) erweist Literatursprache hier als Gegenbegriff zur polyvalenten Standardsprache. Literatursprache in diesem Sinne betont zugleich die Dif‐ ferenz gegenüber anderen (schriftlichen) Sprachausprägungen (z. B. Pressesprache, Ver‐ waltungssprache, Sprache von Gebrauchstexten; siehe II .5). Gemeinsprache und Einheitssprache sind Termini, die einer deutschsprachigen Benen‐ nungs-Tradition folgen und den sprachhistorischen Prozess zur Etablierung allgemeinver‐ bindlicher bzw. einheitlicher Sprachstandards gegenüber regionalen oder auch sozialen Ausprägungen (Subvarietäten) betonen. Beide Begriffe sind heute eher ungebräuchlich. Auch der Begriff Volkssprache ist historisch fundiert und bezeichnet die im Mittelalter auf‐ kommenden, (nur) in der Schriftlichkeit überlieferten Varietäten, die sich allmählich in Abgrenzung zum Latein der Kleriker etablierten. Erste volkssprachliche Zeugnisse datieren bezogen auf die deutsche Sprache um die Mitte des 8. Jahrhunderts, bezogen auf die fran‐ zösische Sprache etwa hundert Jahre später. b) Dialekt, Soziolekt Im Gegensatz zur Standardsprache (bzw. den genannten Parallelbegriffen) verweist der Terminus Dialekt auf Sprachausprägungen, die vornehmlich durch areale Begrenztheit und mediale Einschränkung auf die Mündlichkeit bestimmt sind. Letzteres wird durch den meist synonym verwendeten (jüngeren) Begriff Mundart betont, der Resultat der Verdeut‐ schungsarbeit Philipp Zesens (17. Jahrhundert) ist. Da unterschiedliche Dialekte einer Stan‐ dardsprache zugeordnet sind und damit von dieser überdacht werden, sind Dialekte auch als Substandardvarietäten zu bezeichnen. Im Vergleich zur Standardsprache fehlt ihnen eine Normenkodifikation, wiewohl auch Dialekte eigenen Sprachnormen (im Sinne einer langue) folgen und sich demnach linguistisch wie jede Standardsprache auf allen Ebenen beschreiben lassen. Insbesondere die zum Teil immer noch vorherrschende, linguistisch aber unhaltbare Ansicht, Dialekte seien ›Verwilderungen‹ der Hochsprache bzw. stünden dem Schulerfolg und dem sozialen Aufstieg entgegen, führte zeitweilig zu einer verbreiteten Negativbewertung der Dialekte (und ihrer Sprecher) und damit mittelbar zum Dialekt‐ abbau. Bedeutsam in diesem Zusammenhang war die problematische Bernsteinrezeption (›schichtenspezifische Sprachverwendung‹, ›Sprachbarrierendiskussion‹) in Deutschland, die den von Basil Bernstein bezogen auf die soziolinguistischen Verhältnisse in London in den 1960er Jahren entwickelten Begriff des ›restringierten Codes‹ auf die Dialekte bezog und diesen die Standardsprache als ›elaborierten Code‹ gegenüberstellte. Gegenüber der Standardsprache ist die kommunikative Reichweite von Dialekten nicht nur areal und me‐ dial begrenzt, sondern auch in Hinsicht auf die Leistungsfähigkeit in bestimmten Rele‐ vanzfeldern wie Wissenschaft und (›hoher‹) Literatur. Der Mehrwert der Dialekte liegt demgegenüber in ihrer Funktion als ›Nähesprache‹ (innerhalb der Familie, im nahen Be‐ kanntenkreis etc.). Eine ›binnensprachliche Zweisprachigkeit‹ (Besch, Dialekt, Schreibdia‐ lekt, 984) von Standardsprache und Dialekt kann in diesem Sinne durchaus als Kompe‐ tenzerweiterung (gegenüber nur standardsprachkompetenten Sprechern) betrachtet werden. Nicht nur bezogen auf das Beispiel der deutschen Sprache gilt das im Vergleich zu Stan‐ dardsprachen höhere Alter der Dialekte. Bezogen auf den deutschen Sprachraum ergibt II. 1. Ebenen der Sprachstandardisierung 71 <?page no="72"?> sich ein entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang mit den vormaligen germanischen Stammessprachen, der in Bezeichnungen wie Sächsisch, Fränkisch, Alemannisch und der‐ gleichen nachwirkt. Wie oben angedeutet, bilden die Dialekte historisch den Ausgangs‐ punkt der sich über mehrere Stufen (›Schreibdialekte‹ des Mittelalters, ›Schriftsprachen‹ des 16. bis 18. Jahrhunderts) vollziehenden - dabei insgesamt hochkomplexen - Entwick‐ lung zur deutschen Standardsprache. Die heutige sprachareale Gliederung des deutschen Sprachraumes setzt im Kern dia‐ lektale (bzw. stammessprachliche) Differenzierungen fort, die bereits seit den Anfängen einer deutschen Volkssprachigkeit im 8. Jahrhundert existierten. Prägende Grundlage sind die durch die sog. 2. oder hochdeutsche Lautverschiebung bewirkten räumlich differen‐ zierten Veränderungen im Bereich der stimmlosen Plosivreihe p, t, k (Tenuesverschiebung) zu - abhängig vom Lautkontext - Affrikaten (pf, tz, kch) oder Doppelfrikativen (ff, ss, hh) sowie die Entwicklung von b, d, g zu p, t, k (Medienverschiebung). Demgemäß trennt die sog. maken-machen-Linie (Benrather Linie) das südliche Hochdeutsche vom nördlich an‐ grenzenden Niederdeutschen. Innerhalb des hochdeutschen Sprachraumes ist das Mittel‐ deutsche vom südlichen Oberdeutschen durch die Appel-Apfel-Linie (Speyrer-Linie) ge‐ trennt. Weitere Differenzierungen führen zu einer mehr oder weniger engmaschigen Netzstruktur, in die die gebräuchlichen Dialektbezeichnungen eingebunden sind. So ist das Ripuarische etwa Teil des westmitteldeutsch-mittelfränkischen Dialektraumes, während das Bairische im ostoberdeutschen Dialektraum zu situieren ist (und im Wesentlichen das Bundesland Bayern sowie Österreich umfasst). Grundlage der heutigen Dialektkarten sind die auf einer indirekten Fragemethode basierenden Erhebungen Georg Wenkers (ab 1876) und die Arbeiten des daraus hervorgegangenen Forschungszentrums Deutscher Sprach‐ atlas ( DSA ). Eine nur binäre Gegenüberstellung von Standardsprache und Dialekt greift bezogen auf die reale Varietätenstruktur zu kurz, vielmehr ist von Zwischenstufen auszugehen, die als Umgangssprachen bezeichnet werden. Umgangssprachen verbinden Ausprägungen der Standardsprache mit denen von Dialekten (oder auch Soziolekten), fungieren damit als Ausgleichsvarietäten, wobei die Nähe zur einen oder anderen Seite variieren kann, so dass letztlich von einem Varietätenkontinuum zwischen beiden Polen auszugehen ist. Während umgangssprachliche Elemente in der geschriebenen Sprache als markiert und stilistisch unangebracht gelten, sind sie in der gesprochenen Sprache eher toleriert und auch ver‐ breiteter bzw. können dort auch als (soziolektal) positiv wahrgenommen werden (z. B. Ho‐ noratiorenschwäbisch, Hanseatendeutsch). Regionale Umgangssprachen werden im Lai‐ enurteil häufig mit Dialekten gleichgesetzt, was Erhebungen auf der Grundlage von Selbsteinschätzungsdaten problematisch macht. Daneben wird der Begriff Umgangs‐ sprache auch auf eine Sprachlage in eher informellen, privaten Kommunikationszusam‐ menhängen bezogen, die dort unter Umständen angemessener erscheint als die formelle, stilistisch höherstehende und in eher formellen situativen Kontexten verwendete Sprach‐ lage. Soziolekte (auch Gruppensprachen) können sich von ihrem Begriffsinhalt her zwar mit den Dialekten und (regionalen) Umgangssprachen berühren, sie rekurrieren aber nicht auf regionale, sondern auf soziale Stratifizierungen von Sprachgemeinschaften. Dabei sind nicht nur die - je nach Gesellschaft kaum praktikabel bestimmbaren - Strata wie Unter‐ Heinz Sieburg 72 <?page no="73"?> schicht, Mittelschicht, Oberschicht im Blick, sondern auch Differenzierungen nach Alter (z. B. Jugendsprache), Geschlecht (Genderlekt) oder Herkunft (Migrantensprache). Eine be‐ griffliche Nähe zeigt sich gegenüber den Fachsprachen (im Sinne von Berufsgruppenspra‐ chen) (vgl. II .6) sowie den Pidgin- und Kreolsprachen (vgl. II .3). Zur Verdeutlichung zwei Beispiele: Jugendsprache (auch Slang oder Jargon) gehört als ›transitorischer Soziolekt‹ (Löffler, Germanistische Soziolinguistik) zu den (wechselnden) ›Lebensalter-Sprachen‹, die durch Sprachspezifikationen unterschiedlicher Lebensphasen (Kindersprache, Schüler-/ Jugendsprache, Erwachsenensprache, Seniorensprache) be‐ stimmt sind. Schon aufgrund gravierender Unterschiede nach z. B. Bildungsvorausset‐ zungen oder regionalen bzw. städtischen/ dörflichen (biografischen) Hintergründen der Jugendlichen kann von einer einheitlichen Jugendsprache nicht die Rede sein. Allgemein‐ konstitutive Elemente sind aber eine bewusst saloppe, die Standards unterlaufende, dabei durchaus sprachspielerisch-kreative Sprachverwendung. Ihre Funktion ist die Gruppen‐ bildung (Inklusion) nach innen bei gleichzeitiger Exklusion (der Erwachsenenwelt) nach außen. Wie beim Alter interessiert unter soziolinguistischer Perspektive auch beim Geschlecht weniger die biologisch‐physiologische als vielmehr die soziale Komponente. Die lange Zeit fast exklusive Hinwendung zur ›Frauensprache‹ implizierte deren (vermeintlichen) Status als markierte Sondersprache, der die Sprache der Männer als Normalsprache gegenüber‐ gestellt wurde. Innerhalb der (vorwissenschaftlichen) Ethnolinguistik wurden Frauenspra‐ chen insbesondere bei den sog. primitiven Völkern beobachtet. Eine auch sozialpolitische Relevanz kommt dem Thema ›Sprache und Geschlecht‹ im Rahmen der feministischen Linguistik zu, wobei in einer frühen radikalen Phase viele Sprachen (darunter auch Deutsch) als ›Männersprachen‹ ›entlarvt‹ werden sollten, die, so die Behauptung, als Instrumente zur Unterdrückung der Frau dienten. Derlei plakative und pauschalisierende Aussagen sind im Zuge differenzierterer Analysemethoden und der Weiterentwicklung der Gendertheorie heute nicht aufrechtzuerhalten. Ein nach wie vor wichtiges Untersuchungsfeld der femi‐ nistischen (Sozio-)Linguistik ist die Frage der Geschlechtergerechtigkeit von Sprachen, wobei - nicht nur bezogen auf das Deutsche - häufig das sog. generische Maskulinum zum Diskussionspunkt und Streitpunkt wird (vgl. Sieburg, »Zur Problematik des generischen Maskulinums«). Neben den Dialekten und Soziolekten lassen sich weitere Varietäten benennen, die je‐ weils spezifische Orientierungskriterien in den Mittelpunkt stellen, für die linguistische Begriffsbildungen insgesamt aber weniger relevant sind. Dazu zählt der Begriff Idiolekt, der (meist) für den persönlichen und charakteristischen Sprachgebrauch von Einzelsprechern steht. Zur Bezeichnung der Sprache innerhalb einer Familie wird bisweilen der Begriff Familekt verwendet, durchgesetzt hat sich dieser (bislang) allerdings nicht. c) Mündlichkeit/ Schriftlichkeit Die beschriebenen Varietäten lassen sich bezogen auf den Grad der Standardisierung ordnen, womit zugleich die Frage von Mündlichkeit und Schriftlichkeit stärker in den Blick kommt. Hochgradig standardisiert sind dabei vor allem die Standardsprachen, wobei Stan‐ dardisierung im Sinne der Kodifikation von Normen verstanden werden soll, die zugleich II. 1. Ebenen der Sprachstandardisierung 73 <?page no="74"?> einen präskriptiven Charakter haben und damit die Sprachrichtigkeit bestimmen. Diese sollen etwa im Zuge des Schulunterrichts vermittelt und durchgesetzt werden, mit der Folge, dass Normabweichungen hier negativ sanktioniert werden. Die korrekte Beherr‐ schung der Standardsprache ist zudem ein relevanter Faktor in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe, insbesondere mit Blick auf eine akademische Orientierung. Dialekte sind dem‐ gegenüber nicht-standardisierte Varietäten, wenngleich das Kriterium der Sprachrichtig‐ keit auch hier gilt und diese im Spracherwerbsprozess informell (ungesteuert) vermittelt wird. Insbesondere Jugendsprachen zeichnen sich dagegen durch gezielte Überschrei‐ tungen der in der Standardsprache gültigen Normen aus. Die Standardsprache ist zugleich die einzige Varietät, für die Bimedialität, verstanden als Nebeneinander von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, konstitutiv ist, wohingegen Dialekte prinzipiell auf das Medium der Mündlichkeit beschränkt sind (und daher mit den vorhan‐ denen orthografischen Systemen auch nur unzureichend erfasst werden können). Münd‐ lichkeit (gesprochene Sprache) und Schriftlichkeit (geschriebene Sprache) beziehen sich jeweils auf ein identisches Sprachsystem, sind aber kategorial zunächst dadurch unter‐ schieden, dass sie verschiedene mediale Ausdrucksformen (phonisch vs. graphisch) ver‐ treten, die zwar prinzipiell einen kategorial klar abgrenzbaren Kommunikationsrahmen etablieren, Übergangsformen aber dennoch zulassen. Zu den Parametern der Mündlichkeit lassen sich etwa Dialogizität, Sprecherwechsel, face-to-face-Interaktion und Spontaneität zählen, während Schriftlichkeit stärker durch Kriterien der Monologizität, des nicht vor‐ handenen Sprecherwechsels, der räumlich-zeitlichen Distanz und der Reflektiertheit be‐ stimmbar ist. Eine Differenzierung nach den Gesichtspunkten der Ausdrucksweise bzw. Versprachlichungsstrategie (konzeptionelle Dimension) und Realisierung (mediale Dimen‐ sion) zeigt unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten, worauf insbesondere Peter Koch und Wulf Oesterreicher (»Schriftlichkeit und Sprache«) hingewiesen haben. Demnach ist etwa eine Grußkarte oder eine SMS zwar medial der Schriftlichkeit zuzuordnen, konzep‐ tionell aber (eher) der Mündlichkeit, während etwa ein wissenschaftlicher (medial) münd‐ licher Vortrag als konzeptionell schriftlich zu bestimmen ist. Demgegenüber sind Gespräche unter Freunden sowohl konzeptionell als auch medial mündlich, Gesetzestexte sowohl konzeptionell als auch medial schriftlich. Merkmale gesprochener Sprache (konzeptioneller Mündlichkeit) sind Häufungen parataktischer Satzstrukturen oder auch Konstruktionsab‐ brüche, ein eher eingeschränkter Wortschatz, häufigere Wiederholungen, regionale/ dialektale Merkmale sowie der Einsatz von nonverbalen Mitteln (Mimik, Gestik). Gespro‐ chene Sprache ist insofern weniger stark normiert als geschriebene. Aufgrund der unter‐ schiedlichen situativen Rahmungen (Raum/ Zeit-Kontinuum) und sonstiger kategorialer Differenzierungen lässt sich Mündlichkeit eher als ›Sprache der Nähe‹, Schriftlichkeit eher als ›Sprache der Distanz‹ bestimmen. Eine Differenz besteht zudem in Hinblick auf die prinzipielle Flüchtigkeit der mündlichen gegenüber der Festigkeit (im Sinne der Fixierung auf einem Speichermedium und der Archivierbarkeit) der geschriebenen Sprache. In historischer Sicht ist Schrift gegenüber der Mündlichkeit generell als sekundäres System anzusehen, wobei der Grad der Abhängigkeit deutlich differieren kann. Insbeson‐ dere moderne phonetische Schriften (Alphabetschriften), deren nahöstliche Vorläufer etwa 3500 Jahre alt sind, zeigen eine im Verhältnis zu piktografischen oder logografischen Schriften enge Anbindung an die Mündlichkeit durch Nachbildung der Lautlichkeit (siehe Heinz Sieburg 74 <?page no="75"?> II .6). Für die Verschriftlichung vieler europäischer Volkssprachen erfolgte dieser Prozess unter Verwendung lateinischer Buchstaben, wobei über einen langen Zeitraum eine be‐ trächtliche Variabilität erkennbar bleibt, die auch durch die Problematik begründet ist, dass die Lautwerte der (lateinischen) Buchstaben nicht ohne Weiteres mit der Lautlichkeit der Volkssprachen zur Deckung gebracht werden konnte. In der deutschen Sprache erfolgte die allmähliche Etablierung zur voll entwickelten (polyvalenten) Schriftsprache parallel zu einer immer stärkeren Normierung der Rechtschreibung, wobei eine erste allgemeingültige Normierung im Sinne einer Orthografie (bezogen auf das deutsche Kaiserreich) erst 1903 (Duden) erfolgte. Zwar unterliegt auch die Aussprache einer Normierung, im Vergleich zur Schriftlichkeit sind in der Mündlichkeit Normabweichungen - zumindest bezogen auf das Deutsche - aber eher tolerabel, bzw. besteht eine größere Normvarianz. So verzeichnet Theodor Siebs (Deutsche Aussprache, 19 1969) neben einer ›reinen‹ auch eine (durchaus stan‐ dardgemäße) ›gemäßigte‹ Aussprache, entsprechend auch der Ausspracheduden. Die un‐ terschiedliche Festigkeit der mündlichen und schriftlichen Sprachebene kann im Zuge des allgemeinen Sprachwandels zu einem mehr oder weniger großen Abstand zwischen den medialen Ausprägungen führen, wodurch sich Sprachen (bezogen auf ihre Schriftlichkeit) als mehr oder auch als weniger phonetisch bestimmen lassen: Relativ unphonetisch sind etwa das Französische und Englische, während das Deutsche als eher phonetisch zu be‐ trachten ist. Eine Eins-zu-Eins-Entsprechung bezogen auf Phonem/ Graphem-Beziehungen besteht aber auch hier nicht. So hat beispielsweise die Graphie <s>, abhängig vom Laut‐ kontext, (zum Teil) unterschiedliche Lautqualität ([z] in Sonne, [ʃ] in Spiel, [s] in Wespe). Wenngleich in historischer Sicht vom Primat der Schriftlichkeit gegenüber der Münd‐ lichkeit auszugehen ist, ist eine Umkehrung dieses Verhältnisses durchaus möglich. Beispiel hierfür ist die Etablierung von Nationalsprachen wie das moderne Hebräisch (Ivrit) oder Litauisch, die zunächst in der Schriftlichkeit (normierend) vorgeformt wurden. Eine Vor‐ rangigkeit der Schriftlichkeit zeigt sich daneben insbesondere bei künstlichen Sprachen wie Esperanto (vgl. II .4), die als ›Schreibtischkonstrukte‹ angesehen werden können. Bei na‐ türlichen Sprachen können die Abhängigkeiten im Entwicklungsprozess auch variieren. So folgt bezogen auf das Deutsche die Schriftlichkeit zunächst der Mündlichkeit (in einem engen Sinne bezeichnet durch den Terminus Verschriftung). In späteren Phasen und unter dem Einfluss bewusster Spracharbeit (etwa durch die Grammatiker im Barock) wurde die Schriftsprache dagegen zum Muster der Mündlichkeit bzw. ging die schriftliche Seite bei der Etablierung der Standardsprache voran. In areallinguistischer Hinsicht gilt dies bezogen auf den niederdeutschen Raum auch in Hinblick auf die Etablierung einer überregionalen Standardsprache durch ›Sprechen nach der Schrift‹. Literatur Ammon, Ulrich/ Hans Bickel/ Alexandra N. Lenz (Hrsg.), Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Stan‐ dardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Süd‐ tirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen, Berlin/ Boston 2016. Besch, Werner, »Dialekt, Schreibdialekt, Schriftsprache, Standardsprache. Exemplarische Skizze ihrer historischen Ausprägung im Deutschen«, in: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und all‐ gemeinen Dialektforschung, 2. Halbbd., Berlin/ New York 1983, S. 961-990. II. 1. Ebenen der Sprachstandardisierung 75 <?page no="76"?> Koch, Peter/ Wulf Oesterreicher, »Schriftlichkeit und Sprache (Writing and Language)«, in: Hartmut Günther/ Otto Ludwig (Hrsg.), Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research, Berlin/ New York 1994, S. 587-604. Löffler, Heinrich, Germanistische Soziolinguistik, Berlin 5 2016. Reichmann, Oskar, »Nationalsprache als Konzept der Sprachwissenschaft«, in: Andreas Gardt (Hrsg.), Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, Berlin/ New York 2010, S. 419-469. Siebs, Theodor (Begr.), Deutsche Aussprache. Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewör‐ terbuch, hrsg. v. Helmut de Boor/ Hugo Moser/ Christian Winkler, Berlin 19 1969. Sieburg, Heinz, »Zur Problematik des generischen Maskulinums. Positionen und kritische Analyse«, in: Ders. (Hrsg.), ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte. Bilder - Identitäten - Konstruktionen, Bielefeld 2015, S. 211-240. Heinz Sieburg 76 <?page no="77"?> 2. ›Heilige Sprachen‹, Weltsprachen, Lingua Franca Heinz Sieburg Unter anderen zählt die numerische Stärke von Sprachen zu den soziolinguistisch rele‐ vanten Differenzkriterien. Unterschieden wird dabei meist zwischen der Zahl der Mutter‐ sprachler und Fremdsprachler bzw. der zahlenmäßigen Größe als Erstsprache oder Zweit‐ sprache. Entsprechende Statistiken sind aufgrund unvermeidlicher methodischer Probleme stets kritisch zu betrachten und weisen eine teilweise erhebliche Schwankungsbreite in Hinblick auf die dargestellten Quantitätsverhältnisse auf. Gravierende Abweichungen be‐ stehen bereits in Bezug auf die Quantifizierung der Sprachen dieser Welt. Hier schwanken die Angaben - je nach Zählung - zwischen 2.500 und 10 000. Als ›Weltsprachen‹ kommen davon nur ganz wenige in Betracht. Dabei gilt, dass der Begriff der Weltsprache linguistisch nicht einheitlich definiert ist, sondern, abhängig von den jeweils zugrunde gelegten Krite‐ rien, variabel verwendet wird. Die überwiegende Mehrzahl aller Sprachen ist an kleine und kleinste Sprachgemein‐ schaften gebunden. Nach einigen Zählungen (König/ Elspaß/ Möller, dtv-Atlas Deutsche Sprache, 37) haben nur 88 Sprachen mehr als 10 Millionen und nur 8 Sprachen mehr als 100 Millionen muttersprachliche Sprecher. Wie belastbar derlei Zählungen im Einzelnen sind, sei dahingestellt. Die Kernaussage, dass nur wenige Sprachen numerisch exponiert sind, ist dagegen zweifellos richtig. Diese werden oft in Ranglisten vorgestellt, die allerdings wiederum eine erhebliche Variabilität zeigen, begründet zum einen durch dynamische de‐ mografische Entwicklungen in einzelnen Sprachgemeinschaften, zum anderen aber auch dadurch, dass mitunter statt auf belastbare Datenerhebungen auf grobe Schätzungen zu‐ rückgegriffen werden muss. Für die Stellung einer Sprache als Weltsprache spielen Größenverhältnisse eine ent‐ scheidende Rolle, mitunter wird allein das Frequenzmerkmal als Kriterium für eine Welt‐ sprache herangezogen: »Weltsprachen sind also die meistgesprochenen Sprachen der Welt.« (http: / / www.weltsprachen.net/ [Stand: 10. 1. 2016]) Eine aktuelle Rangfolge vermit‐ telt die Übersicht in Abbildung 1. Die Grafik verdeutlicht, dass auch im Vergleich der weltweit größten Sprachen extreme Quantitätsunterschiede bestehen. So umfasst das hier an Position 12 platzierte Koreanische nur etwa rund 1,2 % des auf Position 1 rangierenden Englischen. Erkennbar wird zudem, wie sehr sich Sprachen in Hinblick auf die Relation der Erstsprache zur Zweit-/ Fremd‐ sprache unterscheiden. Die Stärke einer Sprache allein auf die Zahl ihrer Sprecher zu stützen, verstellt jedoch den Blick auf eine Reihe weiterer Kriterien, die ebenfalls maßgeblich für die Position einer Sprache im Sinne einer Weltsprache sein können. Relevant sind insbesondere die geogra‐ fische Verteilung einer Sprache, ihre internationale Verbreitung als Amtssprache, ihre Funktion als Arbeitssprache in der internationalen Kommunikation sowie, nach Haarmann <?page no="78"?> (Weltgeschichte der Sprachen, 342), ihr »globales Prestige als Modernitätsikon[e]«. Wichtige flankierende Kriterien hierbei sind die politische, ökonomische, wissenschaftliche oder kulturelle Stärke der zugrundeliegenden Sprachgemeinschaft. Weltsprachen in diesem Sinne zeichnen sich durch eine besonders große ›kommunika‐ tive Reichweite‹ bzw. internationale Verbreitung aus. Weltsprachen können so zum Instru‐ ment übereinzelsprachlicher globaler Kommunikationsbewältigung werden. Funktional sind sie hierbei als Verkehrssprache (Lingua Franca) zu bezeichnen, da sie die durch Sprach‐ differenz bedingten Sprachbarrieren überwinden und somit einen kommunikativen Aus‐ tausch (Verkehr) in einem größeren mehrsprachigen Raum ermöglichen. In diesem Sinne ist das Arabische beispielsweise Lingua Franca im arabisch-nordafrikanischen Raum oder Französisch in der Frankophonie. Unter den Voraussetzungen globaler Verbreitung sind eine Reihe der oben aufgelisteten Sprachen jedenfalls nicht Weltsprachen im engeren Sinne. So zählt das Deutsche zwar zu den zahlenmäßig großen Sprachen, Deutsch ist zugleich international verbreitet (Amts‐ sprache in sieben Ländern, mit insgesamt rund 87,5 Mio. Muttersprachlern und ca. 8,5 Mio. Fremdsprachlern; vgl. Ammon, Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt [2015], 170) und zudem eine weit verbreitete Fremdsprache. Dennoch ist hier die Bezeichnung Welt‐ sprache aufgrund der weitgehenden (monopolaren) Beschränkung auf einen Raum (Eu‐ ropa) problematisch. Im engeren Sinne sind damit nur Englisch, Spanisch, Französisch und Portugiesisch, unter besonderen Voraussetzungen auch Arabisch und Russisch, als Welt‐ sprachen anzusehen. Voraussetzung für die Etablierung von (neuzeitlichen) Weltsprachen war in der Regel die Kolonialisierung außereuropäischer Gebiete/ Länder durch europäische Mächte und die damit einhergehende Implementierung und Ausbreitung der Kolonisatoren-Sprachen. Diese bestehen als Amtssprache nach Beendigung der Kolonialzeit in den ehemaligen Ko‐ lonien häufig fort. Ein Grund hierfür kann in ihrer Funktion gesehen werden, die oft un‐ terschiedlichen lokalen Sprachen im Sinne einer nationalen Lingua Franca zu überdachen. Heute ist Französisch weiterhin Amtssprache in zahlreichen Ländern Afrikas, während Spanisch und Portugiesisch in Südamerika verbreitet geblieben sind. Wenngleich das Chinesische die mit Abstand größte Muttersprache ist, hat sich das Englische inzwischen als die eigentliche Weltsprache und damit als »die lingua franca, die Verkehrssprache schlechthin« (Leitner, Weltsprache Englisch, 8) etabliert. Aufgrund der vo‐ raussehbaren Entwicklung zu einem vom Großteil der Menschheit gleichermaßen verwen‐ deten Kommunikationsmittel ist hier auch die Bezeichnung Universalsprache angemessen. Die exponierte Stellung des Englischen basiert politisch auf der globalen Ausdehnung des (ehemaligen) Englischen Empires und dem seit dem 20. Jahrhundert zunehmenden Einfluss der USA , sprachpraktisch aber insbesondere auch auf den mit der zunehmenden Globali‐ sierung und digitalen Vernetzung einhergehenden Kommunikationserfordernissen. Eng‐ lisch dominiert in Hinblick auf den Status als Amtssprache, wenngleich auch hier die Zah‐ lenangaben, je nachdem, wie abhängige Gebiete gezählt werden, erheblich schwanken können. Gemäß Fischer Weltalmanach ’97 fungiert Englisch in 48 Ländern als solo- oder ko-offizielle Amtssprache. Heinz Sieburg 78 <?page no="79"?> Abb. 1: Die meistgesprochenen Sprachen weltweit (Muttersprachler und Sprecher in Millionen (Quelle: http: / / de.statista.com/ graphic/ 1/ 150407/ die-zehn-meistgesprochenen-sprachenweltweit.jpg [Stand: 10. 1. 2016]) II. 2. ›Heilige Sprachen‹, Weltsprachen, Lingua Franca 79 <?page no="80"?> Im Vergleich hierzu ist Französisch Amtssprache in 27 Ländern, Arabisch in 23, Spanisch in 20, Portugiesisch und Deutsch in jeweils 7 und Italienisch in 4 Ländern (nach Ammon, »Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt« [2003], 347). Auch in ökonomischer Hinsicht, etwa in Bezug auf das ›Handelsvolumen der Muttersprachgemeinschaften welt‐ weit‹, rangiert das Englische an erster Stelle, deutlich vor Deutsch und Französisch (vgl. ebd., 347). Englisch dominiert zugleich als die weltweit am meisten erlernte Fremdsprache (bei stark schwankenden Größenangaben). Bezogen auf Deutschland geben gemäß einer repräsentativen Allensbach-Umfrage von 2008 insgesamt 98 % der Befragten an, Englisch sei die wichtigste Fremdsprache bzw. solle in der Schule vor allem gelernt werden (Ho‐ berg/ Eichhoff-Cyrus/ Schulz, Wie denken die Deutschen, 36). Zudem ist das Englische die am weitesten verbreitete Verkehrssprache in zahlreichen internationalen Organisationen wie UNO , NATO , EU oder ASEAN . Auch als Wissenschaftssprache hat sich das Englische im Verlauf des letzten Jahrhunderts, vor allem der letzten Jahrzehnte, - unter Zurückdrängung anderer Wissenschaftssprachen wie Deutsch, Französisch oder Russisch - vielfach durch‐ gesetzt, vor allem in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern. Als Vorteile gelten hierbei die dadurch gewährleistete (vermeintlich) barrierefreie Verständigung in‐ nerhalb der wissenschaftlichen ›Community‹ und die Chance auf eine möglichst breite Rezeption von Fach-Publikationen. Zunehmenden Einfluss gewinnt das Englische aber in‐ zwischen auch in philologischen Disziplinen, wenngleich insbesondere diese Entwicklung durchaus kritisch gesehen wird. Hervorzuheben ist der besondere ›Marktwert‹ des Englischen, seine »reale politische und psycho-soziale Macht« (Leitner, Weltsprache Englisch, 20) gegenüber anderen Spra‐ chen. Insbesondere an die Kompetenz der englischen Sprache knüpfen sich vorwärtswei‐ sende bildungspolitische Konzepte der Teilhabe an einer breiten internationalen (und in‐ terkulturellen) Alltagskommunikation, an Ausprägungen der (vor allem westlichen) Kultur, des Tourismus, der Informationstechnologie, insbesondere aber Bestrebungen in Hinblick auf eine konkurrenzfähige wirtschaftliche Entwicklung im Rahmen der Globalisierung. Ein begünstigender Faktor für die zunehmende Verbreitung des Englischen kann auch in der vergleichsweise einfachen und daher lerngünstigen grammatischen Struktur gesehen werden sowie in der damit einhergehenden Möglichkeit, sich dieser Sprache als Instrument des Ausdrucks der eigenen Kultur zu bemächtigen (empowerment). Sprachtypologisch ist das Englische heute zu den isolierenden Sprachen zu zählen. So sind aufgrund sprachhis‐ torischer Prozesse die Flexive weitgehend abgebaut, ebenso die Genusdifferenzierungen. Die Pluralkategorie wird ebenso wie das Tempussystem weitgehend regelmäßig gebildet. Auch der Wortartwechsel ist häufig ohne spezifische Wortbildungsmorpheme möglich (I read a book vs. I book a flight). Der Nachteil der deutlich unphonetischen Schreibung fällt dagegen kaum ins Gewicht. Die Bedeutung des Englischen zeigt sich nicht nur in seiner Funktion als globale Lingua Franca, sondern auch in Hinblick auf seine Rolle als Gebersprache. So ist etwa auch im Deutschen ein zunehmender Einfluss von Anglizismen, insbesondere auf das Lexikon, er‐ kennbar. Während eine bereits ältere Schicht mit Wörtern wie Sport, Keks oder Streik heute als unproblematisch angesehen wird, gilt dies für jüngere Entlehnungen wie Event, Brain‐ storming oder Meeting nur bedingt. Sprachpflegerische und sprachpuristische Ambitionen führen hier mitunter zu einer kritischen Reserve. In historischer Sicht hat das Englische Heinz Sieburg 80 <?page no="81"?> auch hier andere Sprachen (hauptsächlich Französisch und Latein) als Hauptgebersprachen verdrängt. Die insgesamt breite Akzeptanz des Englischen als Weltsprache und Lingua Franca ver‐ hindert nicht das Festhalten an der eigenen Muttersprache im alltagssprachlichen Bereich, da primär diese als soziales und kulturelles Identifikationsmedium dient. Aus diesem Grund wird Mehrsprachigkeit in aller Regel als Mehrwert verstanden, trotz aller damit notwendig einhergehenden Anstrengungen. So fordern in der oben genannten Allensbach-Umfrage nur 13 % eine Einheitssprache innerhalb der EU (11 % Englisch, 2 % Deutsch), aber 78 % sprechen sich dagegen aus (Hoberg/ Eichhoff-Cyrus/ Schulz, Wie denken die Deutschen, 44). Unter literaturwissenschaftlicher Sicht ist die Rolle der Weltsprachen (im weiten Sinn) für die Literaturproduktion und Rezeption herauszustellen. Indiz hierfür ist die Verteilung der Literaturnobelpreise. Diese gingen bisher weit überwiegend an Autoren mit engli‐ schem, französischem, deutschem und spanischem Sprachhintergrund. Kleinere Litera‐ turen und Sprachen sind demgegenüber unterrepräsentiert. Die Stellung von Sprachen im Sinne von Weltsprachen ist kein allein neuzeitliches Phä‐ nomen, sondern findet Parallelen bereits in der Antike und im Mittelalter. In der Antike treten mit Blick auf den Hellenismus und das römische Reich Griechisch und Latein als Linguae Francae und Weltsprachen hervor. Auch im Mittelalter bleibt dieser Status erhalten, wenngleich weitgehend eingeschränkt auf die Bildungs-Eliten und unter zunehmendem Verlust des Muttersprachcharakters. Insbesondere das mit hohem sozialdistinktivem Pres‐ tige verbundene Latein dominiert im europäischen Mittelalter als Sprache des Klerus, der Wissenschaft und der Verwaltung, der gegenüber sich die Volkssprachen erst allmählich zu vollwertigen Literatursprachen etablieren müssen. So bleibt Latein auch lange die vor‐ herrschende Schreib- und Druckersprache. Mit Blick auf den deutschen Sprachraum über‐ wiegen beispielsweise erst im späteren 17. Jahrhundert deutsche gegenüber lateinischen Drucken. Auch an den Universitäten ist Latein bis in die Neuzeit dominant. (Vulgär-)Latein wurde zudem zur Ausgangsbasis für die Herausbildung der heutigen romanischen Sprachen (z. B. Französisch, Spanisch, Italienisch). Aber auch Sprachen wie die deutsche entwickelten sich seit dem Frühmittelalter unter gravierender Einwirkung des lateinischen Musters, ins‐ besondere in Hinblick auf die Lexik und Syntax. Nicht zuletzt deswegen wird Latein mit‐ unter als ›die Sprache Europas‹ bezeichnet. Deutlich erkennbarer nachwirkender Einfluss des Lateinischen als Weltsprache ist die lateinische Alphabetschrift, die heute global am weitesten verbreitet ist. Zudem basieren die meisten Internationalismen auf lateinischer, daneben aber auch auf griechischer Basis (z. B. Kopie, Motor, Television). Auch tradiert ins‐ besondere der Bildungswortschatz und die Wissenschaftsterminologie das Spracherbe weiter (z. B. Philosophie, Hermeneutik, narrativ). Angreifbar sind Weltsprachen zum einen in Hinblick auf ihre Entstehung. Hintergrund ist meist eine imperialistische Expansion und die hegemoniale Verwaltung eroberter Ge‐ biete (Kolonialismus). Ein weiterer Nachteil natürlicher Weltsprachen ist die Privilegierung der Muttersprachler dieser Sprachen. Gerade diese Mängel wurden zum Ausgangspunkt der Schaffung künstlicher Weltsprachen bzw. Plansprachen oder Welthilfssprachen. Beide Bereiche, natürliche Weltsprachen und künstliche Weltsprachen, lassen sich terminolo‐ gisch mit dem Begriff ›Interlinguistik‹ (im weiteren Sinne) verbinden (vgl. II .4). II. 2. ›Heilige Sprachen‹, Weltsprachen, Lingua Franca 81 <?page no="82"?> Eine besondere Privilegierung können Sprachen auch dadurch erfahren, dass ihnen Sa‐ kralität zugesprochen wird. Entsprechende Zuweisungen finden sich in unterschiedlichen Kulturen und Religionen. So ist etwa der Begriff Hieroglyphe mit ›heiliges Zeichen‹ zu übersetzen. Auch Runen dienten bis zu einem gewissen Grad kultisch-religiösen Zwecken. Assoziationen zwischen einzelnen Religionen und ihnen zugeordneten ›heiligen‹ Sprachen finden sich in der Verbindung zwischen Hinduismus und Sanskrit, Arabisch und Islam, Hebräisch und Judentum. Mit Blick auf das Christentum sind drei Sprachen hervorzuheben, denen eine besondere Sakralität zugesprochen wurde: Hebräisch, Griechisch und Latein, die Sprachen der Kreu‐ zesinschrift ( INRI ). Grundlage hierfür ist die neutestamentliche Überlieferung, wonach der römische Statthalter Pontius Pilatus angeordnet haben soll, am Kreuz Jesu die Aufschrift ›Jesus von Nazareth, König der Juden‹ in den drei genannten Sprachen anzubringen ( Joh 19,20). In der christlichen Überlieferung werden diese Sprachen seit dem Kirchenlehrer Isidor von Sevilla (ca. 560-636; Etymologiae 9, 1, 3) als die ›drei heiligen Sprachen‹ (tres lingua sacrae) bezeichnet. Das Hebräische galt im Christentum lange auch als adamitische Sprache, also die Sprache Adams und zugleich des Paradieses. Mit ihr geht die ursprüngliche Spracheinheit verloren, als Strafe Gottes für die Hybris des Menschen (Turmbau zu Babel). Sprachenvielfalt ist aus dieser Perspektive Folge einer vom Menschen selbstverschuldeten Urkatastrophe. Bedeu‐ tender als Hebräisch und Griechisch war in der klerikalen Schreibpraxis des Mittelalters die lateinische Sprache. Latein war lange Zeit auch die maßgebliche Sprache der Bibel, der ›heiligen Schrift‹. Gegenüber den ›beglaubigten Kirchensprachen‹ bedurfte die Verwen‐ dung der Volkssprachen der besonderen Begründung. Bekanntes Beispiel hierfür ist der althochdeutsche Dichter Otfrid von Weißenburg, der den Gebrauch der deutschen Volks‐ sprache (›Fränkisch‹) für seine Bibeldichtung (Evangelienharmonie, ca. 865) gegenüber seinem vorgesetzten Bischof in einem lateinischen Approbationsschreiben rechtfertigt und zugleich die »erste Literaturtheorie zu einer deutschsprachigen Dichtung« (Haug, »Vul‐ gärsprache als Problem«, 30) verfasst. Otfrids Ziel ist die Entwicklung der deutschen Volks‐ sprache zu einem dem Latein ebenbürtigen Medium für das Wort Gottes. Auch Dante (De vulgari eloquentia, 1303-1305), der »den Traum einer poetischen Welt-Sprache […], einer neuen Sprache des Paradieses [träumt]« (Trabant, Europäisches Sprachdenken, 75), muss Jahrhunderte später das vulgare, die italienische Volkssprache, gegenüber der grammatica (Latein) rechtfertigen. Die religiöse Urfunktion der Sprache steht dabei auch für ihn außer Zweifel (vgl. I.1 und I.3). Literatur Ammon, Ulrich, »Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt«, in: Alois Wierlacher/ Andrea Bogner (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Germanistik, Stuttgart/ Weimar 2003, S. 345-355. Ammon, Ulrich, Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt, Berlin/ München/ Boston, Mass. 2015. Fischer Weltalmanach ’97, Frankfurt/ M. 1996. Haarmann, Harald, Weltgeschichte der Sprachen. Von der Frühzeit des Menschen bis zur Gegenwart, München 2006. Heinz Sieburg 82 <?page no="83"?> Haug, Walter, »Die Vulgärsprache als Problem. Otfrid von Weißenburg und die literaturtheoretischen Ansätze in althochdeutscher Zeit«, in: Ders., Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den An‐ fängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 2009, S. 25-45. Hoberg, Rudolf/ Karin M. Eichhoff-Cyrus/ Rüdiger Schulz, Wie denken die Deutschen über ihre Mut‐ tersprache und über Fremdsprachen? Eine repräsentative Umfrage der Gesellschaft für deutsche Sprache in Zusammenarbeit mit dem deutschen Sprachrat durchgeführt vom Institut für Demoskopie Allensbach, Wiesbaden 2008. König, Werner/ Stephan Elspaß/ Robert Möller (Hrsg.), dtv-Atlas Deutsche Sprache, München 18 2015. Leitner, Gerhard, Weltsprache Englisch. Vom angelsächsischen Dialekt zur globalen Lingua franca, München 2009. Trabant, Jürgen, Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein, München 2006 [2003]. II. 2. ›Heilige Sprachen‹, Weltsprachen, Lingua Franca 83 <?page no="85"?> 3. Sprachkontakt: Pidgins und Kreolsprachen Heinz Sieburg Pidgins (etymologisch vermutlich im chinesischen Sprachraum von engl. business abge‐ leitet) sind ›Behelfs- oder Kontaktsprachen‹, die in (mündlichen) interkulturellen Kommu‐ nikationssituationen entstehen, wenn die Sprache des jeweiligen Gegenübers unbekannt ist und zwischen den Sprachen deutliche typologische Unterschiede bestehen. (Intentional und funktional ergeben sich damit gewisse Überschneidungen zu den Plansprachen; vgl. II .4.) In der Regel werden Pidgins auf Konstellationen während der Kolonialzeit (15.-19. Jahrhundert) bezogen, namentlich auf das Aufeinandertreffen von europäischen Sprachen (insbesondere Portugiesisch, Spanisch, Englisch, Französisch, Niederländisch) mit Sprachen aus anderen Weltteilen (z. B. Afrika, Karibik, Pazifik). Aufgrund des kolonialen Bezugsrahmens von Eroberung und Unterdrückung ist das Verhältnis der beteiligten Per‐ sonengruppen wie auch das der betroffenen Sprachen als asymmetrisch zu charakteri‐ sieren. Strukturell finden sich in Pidgins meist hybride Kombinationen aus lexikalischen Elementen der dominanten Sprache (Superstrat) mit grammatisch-syntaktischen Ele‐ menten der einheimischen Sprache (Substrat). Funktional sind Pidginsprachen (zunächst) weitgehend auf das für die Arbeits- und Handelsabläufe Notwendige beschränkt. Den bereits stabileren (eigentlichen) Pidgins gehen die in der frühesten Kontaktphase entstandenen, noch sehr unfesten und idiolektal geprägten Protoformen ( Jargons) voraus. Pidgins können als eine (funktional stark eingeschränkte und grammatisch simplifizierte) Zweitsprache neben den jeweiligen Muttersprachen (oder Fremdsprachen) der Beteiligten über Generationen weiterbestehen - und sich auch weiterentwickeln. Unter Umständen (Beeinträchtigung der primären Sprachgemeinschaft, Unerreichbarkeit der europäischen Prestigesprachen) entwickeln sich Pidgins im Zuge der Generationenfolge allerdings ih‐ rerseits zu Muttersprachen, die dann Kreolsprachen genannt werden. In Relation zu den Pidgins sind Kreols deutlich elaborierter, verfügen über ein den Basissprachen vergleich‐ bares Ausdruckspotential, sind aber strukturell einfacher gebaut. Für Fälle zunehmender Annäherung an die Prestigevarietäten hat sich der Begriff Dekreolisierung etabliert. Sowohl Pidgins als auch Kreols (etymologisch möglicherweise aus span. criollo ›einhei‐ misch, eingeboren‹ abgeleitet) bilden den Gegenstandsbereich der Kreolistik, als deren Be‐ gründer der Romanist und Indogermanist Hugo Schuchardt (1842-1927) gilt und die ins‐ besondere nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund der zunehmenden Unabhängigkeit der Kolonialgebiete (wieder) ein verstärktes wissenschaftliches Interesse fand. Dies gilt vor allem auch für die sich in der US -amerikanischen Linguistik etablie‐ renden - weniger sprachhistorisch als synchron orientierten - Pidgin and Creole Studies. Deren gesellschaftspolitische Relevanz zeigte sich etwa bezogen auf die Frage, ob das Black English als Kreol und damit als gleichberechtigte eigenständige (und identitätsstärkende) Sprache anzusehen sei: »If American Negro English is indeed a creole […] the social and <?page no="86"?> political implications will be great indeed« (Dell Hymes zit. nach Bachmann, Die Sprach‐ werdung des Kreolischen, 165). Für die allgemeine Linguistik ist die Kreolistik vor allem vor dem Hintergrund sprach‐ wandel- und spracherwerbstheoretischer Fragestellungen interessant. Gerade der mit dem muttersprachlichen Erstspracherwerb der ersten Generation verbundene Entwicklungs‐ schub von einem restringierten pidginsprachlichen Input seitens der Eltern zu einer gram‐ matisch und funktional erweiterten Kreolsprache bei den Lernern führte zu produktiven neuen Ansätzen: Stark diskutiert wurde und wird in diesem Zusammenhang die Theorie Derek Bickertons, der die systematischen Veränderungen im Kreolisierungsprozess als Funktion eines genetisch verankerten, spezifisch menschlichen ›Bioprogramms‹ (»the one crucial clue to the history of our species«) erklärt (Bickerton, Roots of language, 255). Dieses Programm, so Bickerton, ist im normalen Spracherwerbsprozess durch die jeweils vorge‐ gebene Zielsprache (weitgehend) überlagert, kann sich also nur in der spezifischen Pidgin-/ Kreol-Situation voll entfalten, ist aber nichtsdestotrotz notwendige Voraussetzung zur An‐ eignung jedweder Kultursprache: »Without such a program, the simplest of cultural lan‐ guages would presumably be quite unlearnable« (ebd., 255). Die Erforschung der Kreoli‐ sierung als fundamentales Sprachwandelphänomen hat neben der individuellen (bzw. universalistischen) Komponente auch die Sprachgemeinschaft als Ganzes und die in ihr ablaufenden vielschichtigen Veränderungs- und Erweiterungsprozesse zu beachten, wobei die Einflüsse der Substrat- und Superstratsprachen zu berücksichtigen bleiben. Jedenfalls gilt nach Hellinger (Englisch-orientierte Pidgin- und Kreolsprachen, 114): »Wir erhalten kein adäquates Bild sprachlicher Vorgänge, wenn Kreolisierung überwiegend als kindlicher Spracherwerb unter extremen Bedingungen gesehen, die Rolle erwachsener Sprecher aber vernachlässigt wird.« Innerhalb der Kreolistik stark diskutiert ist neben der Frage der Kreolisierung die der monobzw. polygenetischen Entwicklung. Die monogenetische Hypothese stützt sich auf die Beobachtung einer (bei aller lexikalischen Differenz) auffälligen strukturellen Nähe ge‐ ografisch weit auseinanderliegender Pidgin- und Kreolvarietäten, vernachlässigt dabei aber potentielle eigendynamische Entwicklungen. Auf Keith Whinnom basiert die (heute mehr‐ heitlich verworfene) Auffassung, wonach als gemeinsamer Ursprung aller europäisch ba‐ sierten Pidgin- und Kreolsprachen die historische Lingua Franca (auch Sabir), eine - itali‐ enisch basierte - mittelalterliche Kontaktvarietät zwischen Sprachen des europäischen und orientalischen Raumes, anzusetzen sei. Dass eine solche Varietät existierte, ist unstrittig, auch wenn schriftliche Belege aus dem Mittelalter nur ganz vereinzelt überliefert sind. Immerhin hatte diese ›Vermittlungssprache‹ ein Nachleben in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts (z. B. bei Goldoni, Lope de Vega, Calderón) und diente hier zur Erzeugung von historisch-sozialer Authentizität, Komik oder der Markierung sozialer Inferiorität. In Molières Ballett-Komödie Le bourgeois gentilhomme (Der Bürger als Edelmann) von 1671 findet sich als Beleg (aus Hellinger, Englisch-orientierte Pidgin- und Kreolsprachen, 57): Se ti sabir, Ti respondir; se non sabir, tazir, tazir. Mi star Mufti; Ti qui star qui? Non intendir: tazir, tazir. Heinz Sieburg 86 <?page no="87"?> (Wenn Du weißt, dann antworte; wenn Du nicht weißt, dann schweige, schweige. Ich bin Mufti; Du, wer bist Du? (Du) verstehst nicht; sei still, sei still.) Nach Angaben von Hellinger (ebd., 2) ist von ca. 130 bisher bekannten Pidgins bzw. Kreols auszugehen, wobei die Abgrenzung untereinander und gegenüber anderen Varietäten mit‐ unter schwierig ist. Neben den weit überwiegend europäisch basierten Formen existieren andere ohne europäischen Einfluss (z. B. Ewondo Populaire, eine bantubasierte Kontakt‐ sprache in Ost-Kamerun, oder Sango in der Zentralafrikanischen Republik). Die Sprecher‐ zahlen differieren sehr stark. Größere Sprachgemeinschaften mit Sprecherzahlen jenseits der Millionengrenze bestehen etwa für das Jamaican Creol oder Tok Pisin (vor allem in Papua-Neuguinea). In einigen Fällen sind die Sprachen vom akuten Sprachtod bedroht (etwa Unserdeutsch). Bei aller Variabilität der einzelnen Varietäten lassen sich doch bestimmte linguistische Merkmale benennen, die, wenn auch in unterschiedlichen graduellen Ausprägungen, für Pidgins und Kreols als charakteristisch angesehen werden können. Dazu zählen syntakti‐ sche Reduktionen, Einschränkungen im Tempus- und Modussystem, der Verzicht auf Fle‐ xionsendungen, Wortschatz-Reduktionen, auf lexikalischer Ebene Häufung analytischer Wortumschreibungen und die Tendenz zur Metaphorik (glas bilong lukluk ›Spiegel‹; fellow belong make open bottle ›Korkenzieher‹; vgl. Bauer, »Pidgin- und Kreolsprachen«, 348). Das Prestige von Pidgin- und Kreolsprachen wird im Allgemeinen als gering einge‐ schätzt, und das sowohl außerwie innerhalb der jeweiligen Sprachgemeinschaft. (So wird ›Pidginisierung‹ in alltagssprachlicher Verwendung häufig mit Sprachverfall gleichge‐ setzt.) Andererseits lassen sich Beispiele aufzeigen, in denen ein deutlicher Prestigezuwachs eingetreten ist. Dies gilt zumal dann, wenn im Zuge der Dekolonialisierung sprachpolitische Entscheidungen zu einer Aufwertung und administrativen Etablierung bestimmter Pidgins oder Kreols führten. Besonders in Ländern, die aufgrund der oft komplexen Bevölkerungs‐ zusammensetzung keine einheitliche einheimische Sprache ausgebildet hatten, wurden bisweilen die etablierten Pidgin- oder Kreolvarietäten (neben der Kolonisatorensprache) zu Staats- oder Verwaltungssprachen erhoben. Beispiel hierfür ist Papua-Neuguinea, das 1975 (von Australien) unabhängig wurde und auf dessen Gebiet allein rund 740 Papua-Sprachen (Fischer Weltalmanach 2016, 354) zu verzeichnen sind. Neben Englisch sind das Kreol Hiri Motu und Tok Pisin offizielle Staatssprache. Vor allem das Englisch-basierte Tok Pisin er‐ fuhr mit der Erhebung zur offiziellen Landessprache einen enormen Prestigegewinn - und entwickelte sich etwa zur praktisch einzigen Parlamentssprache. Tok Pisin (oder Papua-Neuguinea Pidgin) ist mit 3 bis 5 Millionen Sprechern die größte Landessprache. Da die Varietät sowohl (mehrheitlich) als Zweit-, von etwa 500 000 Sprechern aber auch als Muttersprache verwendet wird (Velupillai, Pidgins, Creoles and Mixed Languages, 37), wird sie als Zwischenstufe zwischen Pidgin und Kreol beschrieben. Radiosendungen auf Tok Pisin oder die Entwicklung eines auch schriftsprachlichen Registers belegen die Vitalität dieser Varietät. Als Anschauungsbeispiel für Tok Pisin nachfolgend Artikel 1 der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte: Yumi olgeta mama karim umi long stap fri na wankain long wei yumi lukim i gutpela na strepela tru. Uumi olgeta igat ting ting bilong wanem samting I rait na rong na mipela olgeta I mas mekim II. 3. Sprachkontakt: Pidgins und Kreolsprachen 87 <?page no="88"?> gutpela pasin long ol narapela long tingting bilong brata susa. (http: / / www.omniglot.com/ writing/ tokpisin.htm [Stand: 2. 8. 2016]) (Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. - http: / / www.ohchr.org/ EN/ UDHR/ Documents/ UDHR_Translations/ ger.pdf [Stand: 2. 8. 2016]). Der Expandierung einzelner Pidgin- und Kreolsprachen steht das Aussterben anderer ge‐ genüber. Zu diesen zählt Unserdeutsch (oder Rabaul Creole German), das ebenfalls von Papua-Neuguinea (Bismarck-Archipel) stammt und die einzige deutschbasierte Kreol‐ sprache darstellt, entstanden während der kurzen Phase deutscher Kolonialherrschaft (1884-1914). Untypisch ist - unter kreolistischer Perspektive deshalb umso interessanter - auch ihr Entstehen durch Kinder (Mischlingskinder des Herz-Jesu-Missionsinternats in Vanapope). Unserdeutsch wird heute nur noch von wenigen älteren Sprechern beherrscht. Erste (und bislang einzige) größere Untersuchung zu dieser Varietät ist die maschinen‐ schriftliche Master Thesis von Craig Alan Volker (»An Introduction to Rabaul Creole German (Unserdeutsch)«). Daraus auch die folgenden Beispiele: Wenn er kommt, i wird fragen er. (39) Du kann geht, wenn du arbeiten gut. (49) Also drei ich wird aufpicken (›ab‐ holen‹) (52). Das aktuelle Forschungsinteresse an Unserdeutsch zeigt ein gleichnamiges Augsburger DFG -Projekt (Förderzeitraum 2015-2018; vgl. Maintz/ König/ Volker, »Unser‐ deutsch (Rabaul Creole German)«). Innerhalb der Linguistik findet sich der Begriff Pidgin auch in anderen Zusammen‐ hängen. So wurden beispielsweise in der Bundesrepublik (angeregt durch Michael Clyne, »Zum Pidgin-Deutsch der Gastarbeiter«) Untersuchungen zum Gastarbeiterdeutsch mit Begriffen wie Arbeiter-Pidgin oder Pidgin-Deutsch verbunden. Untersuchungsziel waren Verlauf und Ausprägungen des ungesteuerten Spracherwerbs bei erwachsenen Arbeitsim‐ migranten. Ebenso spielte eine Rolle, inwiefern das ›Pidgin-Deutsch der Migranten‹ durch das ›Pseudo-Pidgin (Foreigner Talk) der Einheimischen‹, einer von deutschsprachigen Muttersprachlern gegenüber Migranten verwendeten, stark reduzierten Sprachform, be‐ einflusst ist. Literatur Bachmann, Iris, Die Sprachwerdung des Kreolischen. Eine diskursanalytische Untersuchung am Beispiel des Papiamentu, Tübingen 2005. Bauer, Anton, »Pidgin- und Kreolsprachen«, in: Ulrich Ammon/ Norbert Dittmar/ Klaus J. Mattheier (Hrsg.), Handbuch Sociolinguistics/ Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, 1. Halbbd., Berlin/ New York 1987. Bickerton, Derek, Roots of Language, Berlin 2016 [1981]. Clyne, Michael, »Zum Pidgin-Deutsch der Gastarbeiter«, in: Zeitschrift für Mundartforschung 35 (1968), S. 130-139. Fischer Weltalmanach 2016, Frankfurt/ M. 2015. Hellinger, Marlis, Englisch-orientierte Pidgin- und Kreolsprachen. Entstehung, Geschichte und sprach‐ licher Wandel, Darmstadt 1985. Hymes, Dell (Hrsg.), Pidginization and Creolization of Languages. Proceedings of a Conference held at the University of West Indies, Mona, Jamaica, April 1968, Cambridge 1971. Heinz Sieburg 88 <?page no="89"?> Maintz, Péter/ Werner König/ Craig A. Volker, »Unserdeutsch (Rabaul Creole German). Dokumenta‐ tion einer stark gefährdeten Kreolsprache in Papua-Neuguinea«, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 44.1 (2016), S. 93-96. Velupillai, Viveka, Pidgins, Creoles and Mixed Languages. An Introduction, Amsterdam/ Philadelphia 2015. Volker, Craig Alan, »An Introduction to Rabaul Creole German (Unserdeutsch)«, unveröffentlichte Master-Arbeit, University of Queensland, masch. 1982 (als PDF unter: https: / / www.philhist.uni-augsburg.de/ de/ lehrstuehle/ germanistik/ sprachwissenschaft/ Unserdeutsch/ publikationen/ volker_1982.pdf [Stand: 2. 8. 2016]). II. 3. Sprachkontakt: Pidgins und Kreolsprachen 89 <?page no="91"?> 4. Künstliche Sprachen (Plansprachen/ Welthilfssprachen) Heinz Sieburg Im Gegensatz zu natürlichen Sprachen (Ethnosprachen) sind künstliche Sprachen, meist Plansprachen (auch Welthilfssprachen, vor allem im 17./ 18. Jahrhundert auch Universal‐ sprachen genannt), konstruierte Sprachsysteme, die in aller Regel von Einzelpersonen ge‐ schaffen wurden, um als Lingua Franca (Verkehrssprache) zur leichteren Überwindung einzelsprachlich begründeter Sprachbarrieren und damit zur Förderung internationaler Kommunikation zu dienen. Da Plansprachen prinzipiell nicht als Muttersprachen oder Na‐ tionalsprachen fungieren, sondern als neutrale Zweitsprachen, nivellieren sie den mit na‐ türlichen Weltsprachen (vgl. II .2) notwendig verbundenen ›Heimvorteil‹ einzelner (domi‐ nanter) Sprachgemeinschaften gegenüber anderen. Nicht selten verbinden die Schöpfer (und Verfechter) von Plansprachen mit ihren Projekten dezidiert ethisch-idealistische Mo‐ tivationen wie Völkerverständigung, Friedenssicherung, Demokratisierung oder die Ab‐ wehr von Sprachimperialismus. Ludwik Lejzer Zamenhof stellte sein Plansprachen-Projekt ›Esperanto‹ in den Zusammenhang einer zu schaffenden neutralen, kosmopolitischen Re‐ ligion (Hillelismus, später homaranismo genannt). Interethnische Konflikte, so die Hoff‐ nung, könnten durch eine gemeinsame interethnische und daher diskriminationsfreie Sprache überwunden werden. Jan Baudouin de Courtenay formuliert 1907 entsprechend optimistisch: »Die Existenz einer solchen die ganze Menschheit vereinigenden Weltsprache wird dem nationalen und staatlichen Größenwahn seinen scharfen und giftigen Zahn ab‐ brechen. Das Streben nach Weltbeherrschung und nach Vernichtung anderer Nationalitäten wird durch die Weltsprache neutralisiert und paralysiert werden.« (»Zur Kritik der künst‐ lichen Weltsprachen«, 105) Mit dem Anspruch der Plansprachen auf Kommunikationserleichterung ergeben sich - aus heutiger Sicht - bestimmte Kriterien, denen diese idealiter zu genügen haben: Plan‐ sprachen sollen demnach möglichst einfach und regelmäßig konstruiert sein und auf bereits international gebräuchliches Morphemmaterial (vor allem lateinisch-romanischer Her‐ kunft) zurückgreifen, um so eine möglichst große ›Merkhilfe‹ (durch Vorwissen bekannter Zusammenhang von Wortform und Bedeutung) und tendenziell eine prima vista-Verständ‐ lichkeit zu ermöglichen. Plansprachen werden als Untersuchungsgegenstand heute meist der Interlinguistik zu‐ gewiesen. In grober Unterteilung kann Interlinguistik im engeren Sinne mit ›Planspra‐ chenwissenschaft‹ gleichgesetzt werden, in einem weiteren Sinne hat diese auch die na‐ türlichen Weltsprachen bzw. die internationale sprachliche Kommunikation mit all ihren Aspekten zum Gegenstand. Innerhalb der Linguistik gilt die Interlinguistik, trotz aller Be‐ mühungen einzelner Spezialisten, vielen bis heute als eher exotisches Randgebiet, - obwohl die Zahl der Plansprachenprojekte inzwischen auf etwa tausend geschätzt wird und sich <?page no="92"?> hieran unterschiedlichste, auch für die allgemeine Linguistik interessante Fragestellungen (Sprachlenkung, Sprachwandel, Natürlichkeit etc.) knüpfen lassen. Im Gegensatz zu natürlichen Sprachen, die zuerst als phonetisch/ phonologische Systeme entstehen, werden Plansprachen zunächst schriftlich konzipiert. Unter Umständen ist eine Beschränkung auf die schreibsprachliche Verwendung im Sinne einer internationalen Schrift (Weltsinnschrift, Pasigraphie) von vorneherein intendiert. Systematisieren lassen sich Plansprachen vor allem in Hinblick auf ihr Ausgangsmate‐ rial. Die allermeisten von ihnen zählen zu den aposteriori-Sprachen, weil sie sich natürlicher Sprachelemente als Grundlage bedienen. Weniger verbreitet sind apriori-Sprachen (ohne Bezug zu natürlichen Sprachen), die etwa von Philosophen (z. B. René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz) im Sinne mathematischer Kalküle oder philosophischer Klassifikationen erdacht wurden. Bei den aposteriori-Sprachen kann mit Blick auf das Ausgangsmaterial zwischen Konstrukten unterschieden werden, die darauf abzielen, eine vorhandene Ein‐ zelsprache zu vereinfachen, um dadurch deren Verwendung als Welthilfssprache zu opti‐ mieren (z. B. latine sine flexione durch den italienischen Mathematiker Guiseppe Peano, 1903; vgl. auch Weltdeutsch von Adalbert Baumann 1915 oder Basic English von Charles K. Odgen 1930). Den Normalfall bilden jedoch Modelle, die, aufbauend auf lexikalischen, mor‐ phologischen und syntaktischen Elementen unterschiedlicher Ausgangssprachen eine neutrale neue Sprache entwickeln. Die weitaus meisten Plansprachen sind über ein mehr oder weniger entwickeltes Ent‐ wurfsstadium nicht hinausgekommen und verfügen im Sinne Ferdinand de Saussures al‐ lenfalls über eine (Art) langue, nicht aber über eine parole; sie sind daher nur unter Vor‐ behalt überhaupt als Sprache zu bezeichnen. Zu real erprobten Kommunikationssystemen mit einer größeren internationalen Sprachgemeinschaft haben es nur wenige künstliche Sprachen gebracht. Bei nur einzelnen wurden zudem feste Organisationsstrukturen und Publikationsforen - wie regelmäßige (Welt-)Kongresse, Zeitschriften, Internetauftritte und dergleichen entwickelt. Nach Detlev Blanke (Interlinguistische Beiträge, 64) sind die »be‐ kanntesten und am besten beschriebenen Systeme […] Volapük (1879), Esperanto (1887), Latino sine flexione (1903), Ido (1907), Occidental-Interlingue (1922) und Interlingua (1951)«. Vielfach wurden Plansprachen in Konkurrenz zu anderen bereits bestehenden entwickelt oder verstanden sich als Reformprojekt gegenüber - als unzulänglich angesehenen - Vor‐ gängern. So können Ido (= Esperanto reformita), Occidental (später in Interlingue umbe‐ nannt) oder Interlingua als Weiterentwicklungen von Esperanto angesehen werden. Versuche zur Herausbildung internationaler Plansprachen lassen sich bis in die Vormo‐ derne verfolgen, einen Höhepunkt bildet die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhun‐ derts. Insbesondere bedingt durch den Aufschwung der Wissenschaften, der Technik und des Welthandels gewinnt die Frage nach einem adäquaten internationalen Kommunikati‐ onssystem in dieser Zeit an Relevanz. Dabei stehen sich Befürworter und Gegner von künstlichen Sprachen teilweise unversöhnlich gegenüber. Zu den prominenten Verfechtern zählen neben dem Slawisten Jan Baudouin de Courtenay (1845-1929) etwa der Romanist Hugo Schuchardt (1824-1927), der Indologe Friedrich Max Müller (1823-1900) sowie der Anglist Otto Jespersen (1860-1943), der 1928 mit Novial ein eigenes Plansprachenprojekt vorlegt. Ablehnend äußern sich dagegen etwa die Junggrammatiker Karl Brugmann (1849-1919) und August Leskien (1840-1916) (»Zur Kritik der Künstlichen Weltsprachen«). Heinz Sieburg 92 <?page no="93"?> 1 In: Sionsharfe. Monatsblätter für katholische Poesie Nr. 44, Februar 1880, S. 384; online unter http: / / daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0009/ bsb00096290/ images/ index.html? id=00096290&gro‐ esser=&fip=xdsydeayaxsyztsewqxdsydxdsydqrseayaxdsyd&no=8&seite=8 (Stand: 15. 8. 2016). Der Linguist Nikolai Sergejewitsch Trubetzkoy (1890-1938) lehnt die Plansprachen-Idee zwar nicht grundsätzlich ab, kritisiert diese aber als eurozentristisch: »Gerade die nichtro‐ manischen und nichtgermanischen Völker sind es aber, die eine internationale Hilfssprache wirklich brauchen« (»Wie soll das Lautsystem einer künstlichen internationalen Hilfs‐ sprache beschaffen sein? «, 216). Im Folgenden sollen mit Volapük und Esperanto die zwei Plansprachen näher vorgestellt werden, die den Anfangs- und vorläufigen Endpunkt prak‐ tischer Anwendung markieren. Volapük (›Weltsprache‹, aus: vol (<engl. world), -a = Genitivendung, pük (<engl. speak)) ist die erste Plansprache, die weltweit propagiert und bis zu einem gewissen Umfang auch praktiziert wurde. Sie ist das Werk des badischen Prälaten Johann Martin Schleyer (1831-1912) und wurde von diesem 1879 in der von ihm selbst herausgegebenen katholi‐ schen Zeitschrift Sionsharfe (Monatsblätter für katholische Poesie) publiziert. Schleyer ver‐ stand seine Sprache als (pfingstlich) philanthropisches Unternehmen und stellte es unter das Motto »Menadé bal / Püki bal! Der einen Menschheit / Eine Sprache« 1 . Lexikalisch ba‐ siert Volapük auf germanischen (vor allem englischen und deutschen), französischen und lateinischen Elementen, die aufgrund starker Modifikationen als solche allerdings oft kaum mehr erkennbar sind, - wodurch die Sprache oberflächlich wie eine apriori-Sprache an‐ mutet: z. B. nol (›Wissen‹) aus engl. knowledge, mud (›Mund‹) aus dt. Mund, plim (›Kom‐ pliment‹) aus frz. compliment oder nim (›Tier‹) aus lat. animal (vgl. Blanke, Interlinguistische Beiträge, 204). Die ersten Verse des Vaterunsers lauten: »O Fat obas, el in süls! Paisaludomöz nem Ola! Kömomöd monargän Ola! Jenomöz vol Ola, äs in sül, i su tal! « (Haupenthal, »Johann Martin Schleyer (1831-1912) und seine Plansprache Volapük«, 81). Volapük ver‐ fügt über ein ausgebautes autonomes Wortbildungssystem und eine regelmäßige Gram‐ matik. Die Plansprache Schleyers erreichte in den ersten Jahren eine z. T. begeisterte Auf‐ nahme und eine beachtliche Verbreitung. Blanke (Interlinguistische Beiträge, 202) gibt für das Jahr 1889 neben 18 nationalen und internationalen Verbänden auch weltweit ca. 400 Volapük-Clubs an. Daneben erschienen zahlreiche Zeitschriften und Lehrmittel sowie eine recht umfangreiche Original- und Übersetzungsliteratur. Der dennoch rasch folgende Niedergang von Volapük resultierte u. a. aus dem Beharren Schleyers auf seinen Autorenrechten und der konsequenten Ablehnung von Verände‐ rungsvorschlägen von außen, sprachstrukturell insbesondere aus dem geringen Wiederer‐ kennungswert (Merkhilfe) des an sich aposteriorischen Ausgangsmaterials. Hierdurch war die (passive) Verständlichkeit und Erlernbarkeit der Plansprache deutlich erschwert. Vo‐ lapük ist heute bis auf einige wenige eher nostalgische Reste (etwa der Rundbrief Vög Vo‐ lapüka oder eine Wikipedia-Variante) als Gebrauchssprache praktisch verschwunden, bleibt als kulturhistorisches Phänomen und linguistisches Experiment aber von Interesse. Weitaus erfolgreicher und heute die einzige Plansprache mit nennenswerter praktischer Bedeutung ist Esperanto, das Projekt des Warschauer Augenarztes Zamenhof, von diesem 1887 auf Russisch unter dem Pseudonym »Doktor Esperanto« (›Hoffender Doktor‹) vor‐ gelegt. Zamenhof orientierte sich in Hinsicht auf Organisations- und Propagandaformen II. 4. Künstliche Sprachen (Plansprachen/ Welthilfssprachen) 93 <?page no="94"?> einerseits am Beispiel der Volapükisten (jährliche Weltkongresse, Bildung von Ortsgruppen und Landesverbänden, Gründung einer Sprachakademie, Komposition einer Hymne etc.) und lernte andererseits auch aus dem Misserfolg von Volapük: Im Gegensatz zu Schleyer verschließt sich Zamenhof Änderungsvorschlägen am Sprachsystem nicht, erklärt Espe‐ ranto vielmehr zum ›allgemeinen Eigentum‹ und verzichtet auf alle Autorenrechte. Beleg für den bemerkenswerten und dauerhaften Erfolg von Esperanto ist auch die Tatsache, dass die ›Esperantologie‹ einen eigenen Zweig innerhalb der Interlinguistik darstellt. Typologisch zählt Esperanto zu den schematischen, streng regelmäßig gebauten Spra‐ chen. Dies zeigt sich etwa in der Bildung der Hauptwortarten durch bestimmte Endungen, -o bei Substantiven (knab-o ›Junge‹), -a bei Adjektiven (bel-a ›schön‹) und -i bei Verben (kant-i ›singen‹), oder in einer autonomen (regelmäßigen) Wortbildung. Der Wortschatz wird in weiten Teilen durch lineare Verkettung von Morphemen konstruiert (agglutinie‐ rendes Prinzip). Zentral hierfür sind gut 30 Wortbildungsformen, die ihrerseits z. T. als Basismorpheme fungieren können. So kann z. B. die Ableitungsform ulo auch selbstständig für Person stehen, dient in der Regel aber der Wortbildung: tim-ulo (›Angsthase‹; timi = ›fürchten‹), entsprechend ejo für Ort, kuir-ejo (›Küche‹, zu kuiri ›kochen‹). Durch Kombi‐ nation lassen sich morphologisch hochkomplexe Wörter bilden wie beispielsweise mal-san-ul-ej/ o für Krankenhaus (eigentlich ›Ort für nicht gesunde Menschen‹). Die Wort‐ bildungsbasen sind zu rund 75 % romanischer und zu 20 % germanischer Herkunft. Der Rest resultiert aus unterschiedlichen anderssprachigen, vor allem slawischen Morphemen. Der Wiedererkennungsgrad (Merkhilfe) ist für Kenner romanischer bzw. germanischer Spra‐ chen demnach besonders hoch, wie sich am Beispiel der ersten Sätze der Genesis zeigen lässt: (1) En la komenco Dio kreis la ĉielon kaj la teron. (2) Kaj la tero estis senforma kaj dezerta, kaj mallumo estis super la abismo; kaj la spirito de Dio ŝvebis super la akvo. (3) Kaj Dio diris: Estu lumo; kaj fariĝis lumo. (http: / / www.steloj.de/ esperanto/ biblio/ libro_gen.html [Stand 25. 7. 2016]) (Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. - Einheitsübersetzung 1980) Bemühungen, Esperanto durch sprachpolitische Maßnahmen administrativ zu etablieren, blieben trotz einiger Achtungserfolge (z. B. wohlwollende, wenngleich unverbindliche Re‐ sonanz seitens des Völkerbundes 1923 sowie der UNESCO 1954, vereinzelte Etablierung im schulischen Fremdsprachenunterricht) letztlich ohne durchschlagende Wirkung. Bekämpft wurden die Esperantisten im Nationalsozialismus und Kommunismus (insbesondere in der Stalin-Ära). Gründe hierfür waren neben der jüdischen Herkunft Zamenhofs die prinzipiell demokratische Orientierung seines Projektes. Speziell in der Sowjetunion wurden Espe‐ ranto-Briefkontakte ins nichtkommunistische Ausland unter Spionageverdacht gestellt. Wie hoch die Zahl der Esperanto-Sprecher heute ist, ist nicht zweifelsfrei zu beziffern. Einige Angaben überschreiten die Millionengrenze. Unstreitig ist die Vitalität der Sprache, was sich an zahlreichen Publikationen oder Internetaktivitäten ablesen lässt. Hervorzu‐ heben ist etwa das 1999 gegründete Lexikografie-Projekt Reta Vortaro ( REVO ), das neben etlichen anderen Sprachen auch ein aktuelles Lexikon Esperanto-Deutsch bietet (http: / / www.reta-vortaro.de/ revo [Stand: 25. 7. 2016]). Heinz Sieburg 94 <?page no="95"?> Der Erfolg von Esperanto im Sinne einer allgemein anerkannten und angewandten Welthilfssprache ist heute dennoch sehr unwahrscheinlich geworden, was im Sinne Um‐ berto Ecos durchaus kulturpessimistisch kommentiert werden könnte: So unausweichlich die Forderung nach einer WHS [Welthilfssprache, H. S.] auch sein mag, eine Weltgemeinschaft, die nicht in der Lage ist, sich auf die dringendsten Maßnahmen zur Rettung des Planeten vor der ökologischen Katastrophe zu einigen, scheint kaum geeignet, auf schmerzlose Weise die Wunde zu heilen, die Babel offengelassen hat. (Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 339) Zentral ist aber wohl, dass Englisch inzwischen die Funktion der Weltsprache mehr und mehr besetzt hat. Auch Vorschläge, Esperanto zur Sprache der Europäischen Union zu er‐ heben, blieben (bislang) ohne große Resonanz. Gerade hier aber könnte das als eurozen‐ tristisch kritisierte Esperanto als neutrale Sprache im Sinne einer ›Fremdsprache für alle‹ seinen Vorteil ausspielen. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU (Brexit) ist allerdings - sieht man vom Heimvorteil der Iren ab - das Englische in diesem Rahmen nun auch zu einer (quasi) neutralen Fremdsprache mutiert. Literatur Baudouin de Courtenay, Jan, »Zur Kritik der künstlichen Weltsprachen. Wiederabdruck des Beitrags Leipzig 1907«, in: Reinhard Haupenthal (Hrsg.), Plansprachen. Beiträge zur Interlinguistik, Darm‐ stadt 1976, S. 59-110. Blanke, Detlev, Interlinguistische Beiträge. Zum Wesen und zur Funktion internationaler Planspra‐ chen, hrsg. v. Sabine Fiedler, Frankfurt/ M. u. a. 2006. Brugmann, Karl/ August Leskien, Zur Kritik der Künstlichen Weltsprachen, Straßburg 1907. Eco, Umberto, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, übers. v. Burkhart Kroeber, München 3 2002. Haupenthal, Reinhard, »Johann Martin Schleyer (1831-1912) und seine Plansprache Volapük«, in: Zwischen Utopie und Wirklichkeit. Konstruierte Sprachen für die globalisierte Welt. Begleitbd. zur Ausstellung an der Bayrischen Staatsbibliothek (14. Juni bis 9. September 2012), München 2012, S. 63-84. Trubetzkoy, Nikolai Sergejewitsch, »Wie soll das Lautsystem einer künstlichen internationalen Hilfs‐ sprache beschaffen sein? Wiederabdruck des Beitrags Prag 1939«, in: Reinhard Haupenthal (Hrsg.), Plansprachen. Beiträge zur Interlinguistik, Darmstadt 1976, S. 198-216. II. 4. Künstliche Sprachen (Plansprachen/ Welthilfssprachen) 95 <?page no="97"?> 5. Spezialsprachen: Fachsprachen, Wissenschaftssprachen etc. Heinz Sieburg Spezialsprachliche Kommunikationsformen sind zwar bereits aus früheren historischen Zusammenhängen bekannt, ihre Notwendigkeit hat mit der stetigen Ausdifferenzierung arbeitsteiliger Gesellschaften jedoch deutlich zugenommen. Sie sind in modernen Gesell‐ schaften unerlässlich, um dem zunehmenden Bedarf spezialisierter professioneller und wissenschaftlicher Verständigung entsprechen zu können. Zu diesem Zweck haben sich unterschiedlichste Fachsprachen herausgebildet, die durch die je spezifischen Kommuni‐ kationsansprüche (Inhalte, Methoden etc.) der beruflichen Sparten und Wissenschaften bedingt sind. Fachsprachen können als funktional angepasste Varietäten (Funktiolekte) be‐ schrieben werden. Hadumod Bußmann (Lexikon der Sprachwissenschaft, 186) definiert Fachsprache als »[s]prachliche Varietät mit der Funktion einer präzisen, effektiven Kom‐ munikation über meist berufsspezifische Sachbereiche und Tätigkeitsfelder«. Fachsprachen dienen der sachbezogenen, den Funktionskriterien der Deutlichkeit, Verständlichkeit, Öko‐ nomie und Anonymität (im Sinne eines nichtindividuellen, affektfreien Stils) unterwor‐ fenen Verständigung von Experten in einem fachlich definierten Kommunikationsfeld. Wissenschaftssprachen können den Fachsprachen zugerechnet oder gegen diese abge‐ grenzt werden. Differenzkriterium ist dann die durch die jeweilige Wissenschaftstheorie und -methode bestimmte besondere Verbindlichkeit des terminologischen Systems der Wissenschaftssprachen gegenüber gewöhnlichen Fachsprachen. Fachsprachen werden in der Regel den Sondersprachen (in einem engeren Sinne) ge‐ genübergestellt. (In einem weiten Sinn decken sich die Begriffe Sondersprache und Sozio‐ lekt.) Zu Letzteren können Gaunersprachen wie Rotwelsch, bestimmte Handwerkerspra‐ chen wie das auf dialektaler Basis entwickelte ›Lebber Talp‹ (Wegera, »Lebber Talp«) oder Sprachspielereien von Schülern in Form von ›Bi-Sprachen‹, die allesamt die Funktion von Geheimsprachen haben, gezählt werden. Differenzkriterium ist die Sachgebundenheit in den Fachsprachen gegenüber der Sozialgebundenheit der Sondersprachen. Beide stellen Abweichungen gegenüber der funktional neutralen Alltagssprache (Gemeinsprache, Nor‐ malsprache, Umgangssprache in diesem Sinne) dar, wenngleich die Gründe hierfür diffe‐ rieren. In den Fachsprachen steht die präzise fachliche Kommunikation im Zentrum, Ver‐ ständnisbarrieren gegenüber der Gemeinsprache treten als Effekt meist zwangsläufig auf, sind aber nicht intendiert. Sondersprachen dienen dagegen dem spezifischen Interesse be‐ stimmter sozialer Gruppen und sind auf kommunikative Abschottung hin angelegt und damit funktional isolativ. (Unter diesem Gesichtspunkt ließe sich etwa auch die Jugend‐ sprache den Sondersprachen zurechnen.) Eine Besonderheit stellen Varietäten wie etwa die Jägersprache oder die Sprache des Sports dar, da sich in diesen die Kriterien der Sach- und Sozialgebundenheit überlappen bzw. die zugrundeliegende Tätigkeit nicht notwendiger‐ <?page no="98"?> weise im Rahmen eines Berufes ausgeübt werden muss. Generell konfrontiert die Frage der Definition und Abgrenzbarkeit von Fächern (oder Berufen, Branchen, Wissenschaften) die Fachsprachenforschung mit erheblichen Herausforderungen. Fachsprachen sind Teil des Varietätensystems einer Sprache. Ihre Basis ist die Standard‐ sprache (vgl. II .1). Zu dieser besteht Durchlässigkeit insofern, als Elemente der Fachsprache in diese übergehen können und damit Bestandteil der Alltagssprache werden. Prozesse der Popularisierung von Fachwissen (zu Allgemeinwissen) sind weit verbreitet und lassen sich auf unterschiedlichste Berufsfelder und Wissenschaftsbereiche beziehen. Sie werden be‐ günstigt durch ein allgemein ansteigendes Bildungsniveau der Bevölkerung, die Notwen‐ digkeit, sich etwa neuer Technologien zu bedienen (Computerisierung, Digitalisierung), oder durch den Prestige-Mehrwert, der bestimmten Fachjargons zugemessen wird. So sind beispielsweise Fachwörter der Medizin wie Diagnose, Therapie, Infarkt inzwischen fester Bestandteil des allgemeinen Wortschatzes. Andererseits führt insbesondere die zuneh‐ mende Ausdifferenzierung in den Wissenschaften zu einer Vergrößerung des Abstandes zur Alltagssprache. Die Überbrückung der dadurch bedingten Kommunikationskluft kann aus unterschiedlichen Gründen notwendig werden und wird zum Teil durch Wissen‐ schaftsjournalisten geleistet (z. B. regelmäßig bei der Erläuterung von mit Nobelpreisen ausgezeichneten naturwissenschaftlichen Forschungen). Aus soziolinguistischer Sicht ist darauf hinzuweisen, dass Fachsprachen gruppendefi‐ nierend und -stabilisierend wirken können. Gegenüber Nicht-Fachleuten (Laien), wozu im Wissenschaftsbereich unter Umständen auch Vertreter fachfremder Disziplinen zu zählen sind, bilden Fachsprachen eine Sprachbarriere. Zumal bei Angehörigen von Berufsfeldern und Wissenschaftsdisziplinen, denen ein hohes Sozialprestige zugemessen wird, können Fachsprachen (bzw. fachsprachliche Elemente) den soziolinguistischen Effekt haben, Pri‐ vilegierung und Exklusivität zu markieren, und autoritätssteigernd wirken. Andererseits kann terminologische Unverständlichkeit aber auch als Imponiergehabe angesehen oder als ›Fachsimpelei‹ abgetan werden. Fachsprachen lassen sich nach unterschiedlichen theoretischen und methodischen Ge‐ sichtspunkten beschreiben. Deutlich wird dies durch die veränderte Orientierung innerhalb der (deutschen) Fachsprachenforschung, die eine Abfolge unterschiedlicher Forschungs‐ ansätze erkennen lässt (vgl. Roelcke, Fachsprachen, 18 ff.). Grundlage war zunächst die Ori‐ entierung an einem ›systemlinguistischen Inventarmodell‹ mit der Betonung der Fach‐ sprache als eines sprachlichen Zeichensystems, das Produzenten und Rezipienten im Rahmen fachlicher Kommunikationen nutzen. Demgegenüber verlagern jüngere Ansätze den Forschungsschwerpunkt stärker auf den Fachtext und dessen ko- und kontextuelle (situative, soziologische, psychologische) Rahmen- und Entstehungsbedingungen (›prag‐ malinguistisches Kontextmodell‹), wodurch Fachsprachen nicht als Voraussetzung fach‐ bezogener Kommunikation zu beschreiben sind, sondern als Resultat spezifischer Kom‐ munikationskonstellationen. Eine weitere (und jüngere) Schwerpunktsetzung betont die Rolle des Produzenten und Rezipienten im Rahmen fachsprachlicher Kommunikation (›kognitionslinguistisches Funktionsmodell‹), wobei insbesondere auf die kognitiven An‐ lagen und intellektuellen Anforderungen der am Kommunikationsprozess Beteiligten ab‐ gehoben wird. Heinz Sieburg 98 <?page no="99"?> Zur Erfassung des komplexen und hochdifferenzierten Gegenstandsbereichs der Fach‐ sprachen wurden auf fachwissenschaftlicher Ebene verschiedene Systematisierungskon‐ zepte entwickelt, worunter auch die fundamentale Unterscheidung nach Gliederungse‐ benen fällt: Auf horizontaler Gliederungsebene steht die Frage der Aufteilung der jeweiligen Fächer und Fachbereiche und die daraus ableitbare Korrelation zu den fachsprachlichen Varietäten und Textsorten (z. B. wissenschaftliche Abhandlung, Lehrbuch, Lexikonartikel) im Mittelpunkt. Dabei wird die Wissenschaftssprache (bisweilen auch Theoriesprache ge‐ nannt) der Praxissprache gegenübergestellt oder es werden differenziertere Modelle wie das der Dreiteilung in Wissenschaftssprache, Techniksprache, Institutionensprache vorge‐ schlagen (Steger, »Erscheinungsformen der deutschen Sprache«). Die vertikale Ebene der Gliederung orientiert sich an den Kommunikationsbedingungen, die mit den unterschied‐ lichen Fächern verbunden oder innerhalb der Fächer gegeben sind. Orientierungsgröße ist hier der Abstraktionsgrad der jeweiligen fachsprachlichen Kommunikationsstufen. Auch hier sind seitens der Fachsprachenlinguistik unterschiedlich ausdifferenzierte Modelle vor‐ geschlagen worden. So etwa das Fünfstufenmodell von Lothar Hoffmann (Kommunikati‐ onsmittel Fachsprache, 64-70) mit der Unterscheidung in (1) die Sprache der theoretischen Grundlagenwissenschaften, (2) die Sprache der experimentellen Wissenschaften, (3) die Sprache der angewandten Wissenschaften und der Technik, (4) die Sprache der materiellen Produktion und (5) die Sprache der Konsumtion. Fachsprachen lassen sich aus systemlinguistischer Sicht anhand bestimmter Merkmale beschreiben. Durch diese soll die fehlerfreie Vermittlung von Informationen garantiert und die referentielle Funktion von Sprache (Darstellungsfunktion) - im Sinne Karl Bühlers oder Roman Jakobsons - optimiert werden (wobei etwa unter pragmalinguistischer Perspektive zusätzlich auf die die Informationsvermittlung begünstigenden bzw. hindernden Rahmen‐ bedingungen zu verweisen wäre). Dabei können (intrafachliche) Bereiche, die ausschließ‐ lich einer Fachsprache angehören (generative Transformationsgrammatik, IC -Analyse, Mor‐ phosyntax als Beispiele der Linguistik), solchen gegenübergestellt werden, die fachübergreifend (interfachlich) gelten (z. B. Empirie, Methodologie, Theorie). Erkennbar wird an diesen Beispielen (der Wissenschaftssprache) zum einen die für Fachwortschätze allgemein typische Neigung zu komplexen Wortbildungen (für die das Deutsche prädesti‐ niert ist), zur Verknappung durch Abkürzungen und, speziell in den Wissenschaften, zur Basierung auf Begriffe oder Wortbildungselemente gräkolateinischen Ursprungs, denen häufig der Status von Internationalismen zukommt. Innerhalb der IT -Branche und der hiervon geprägten, in Teilen sicherlich bereits gemeinsprachlichen, Medienkommunikation wird dagegen stärker auf angloamerikanische Lehnwörter zurückgegriffen (Browser, Pro‐ vider, LAN , WWW ). Generell erfolgt die Abgrenzung zur Alltagssprache häufig aber über eine semantische Differenzierung bestehender Wörter. So sind (homonyme) Begriffe wie Befehlsfolge, Treiber oder Netz gleichzeitig Elemente eines Fachwortschatzes (Computer‐ technik) und der Gemeinsprache. Die voranstehenden Beispiele verdeutlichen die herausgehobene Stellung der lexikali‐ schen Ebene der Fachsprachen, allerdings wäre eine Gleichsetzung von Fachsprache und Fachwortschatz verfehlt. Zu berücksichtigen sind vielmehr weitere linguistische Beschrei‐ bungsebenen. So zeigt sich auf grammatischer Ebene eine Dominanz der Präsensformen, eine hohe Frequenz des attributiven Genitivs (die Beurteilung der Theoriemodelle), eine ver‐ II. 5. Spezialsprachen: Fachsprachen, Wissenschaftssprachen etc. 99 <?page no="100"?> stärkte Neigung zu morphosyntaktischen Konstruktionen in Form von Nominalisierungen (die Angabe der Wortbedeutung) und Funktionsverbgefügen (kommt zur Ausführung), eine Vermeidung von Personalsubjekten (der Sachverhalt erscheint dem Betrachter), eine Tendenz zur Passivierung (daraus lässt sich ableiten) sowie zur Parallelität des Satzbaus (zum einen, zum anderen). Die Aneignung von Fachsprachen erfolgt überwiegend im Rahmen der schulischen oder in den sich anschließenden berufsbzw. fachbezogenen Ausbildungen (etwa Lehre oder Studium), wobei der Spezialisierungsgrad und damit der Grad der fachsprachlichen Aus‐ differenzierung natürlich differiert. Insbesondere im akademischen Bereich werden dabei auch spezifische, durch die Methoden und Erkenntnisinteressen des Faches bedingte Denk- und Mitteilungsstrukturen vermittelt (vgl. Buhlmann/ Fearns, Handbuch des Fachsprachen‐ unterrichts). Zur Vermittlung (und semantischen Stabilisierung) von Fachwortschätzen dienen nicht zuletzt spezifische Fachlexika, wie etwa das oben genannte Lexikon der Sprach‐ wissenschaft (Bußmann). Unter fachlexikografischer Perspektive erweisen sich Fachlexika meist als deskriptive, semasiologisch orientierte (also ausdrucksseitig geordnete) strikt ini‐ tialalphabetische Sammlungen von Fachbegriffen (Stichwörtern bzw. Lemmata), die präzise definiert und etwa durch Beispielangaben, bildhafte Darstellungen, Querverweise und An‐ gaben zu weiterführender Literatur ergänzt werden. Literatur Buhlmann, Rosemarie/ Anneliese Fearns, Handbuch des Fachsprachenunterrichts. Unter besonderer Be‐ rücksichtigung naturwissenschaftlich-technischer Fachsprachen, Tübingen 6 2000. Bußmann, Hadumod, Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart 4 2008. Hoffmann, Lothar, Kommunikationsmittel Fachsprache, Tübingen 2 1985. Roelcke, Thorsten, Fachsprachen, Berlin 3 2010. Steger, Hugo, »Erscheinungsformen der deutschen Sprache. Alltagssprache - Fachsprache - Stan‐ dardsprache - Dialekt und andere Gliederungstermini«, in: Deutsche Sprache 16/ 1988, S. 289-319. Wegera, Klaus-Peter, »Lebber Talp. Die Geheimsprache der Backofenbauer aus Bell in der Nordost‐ eifel«, in: Ulrich Knoop (Hrsg.), Studien zur Dialektologie I, Hildesheim 1987, S. 183-206. Heinz Sieburg 100 <?page no="101"?> 6. Schriftsysteme, Sprachen, Mehrsprachigkeit Monika Schmitz-Emans Sprachstandardisierung ist in besonderem Maße mit Schrift verbunden, denn Schrift gilt als eine Voraussetzung zumindest strikterer Formen von Standardisierung oder Kodifizie‐ rung. Jenseits der übergeordneten Frage nach dem Einfluss von Schriftmedien auf Prozesse der Sprachstandardisierung muss allerdings auch konkret danach gefragt werden, welche Spielarten von Schriftlichkeit es überhaupt gibt und wie sie zu unterscheiden sind. Denn Schrift dient nicht nur dazu, sprachliche Äußerungen festzuhalten, sondern kann grund‐ sätzlich auch anderen Aufzeichnungen dienen, etwa im Falle der musikalischen Noten‐ schrift. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann beschreiben, inwiefern unterschiedliche Arten von Schrift zur Ausbildung von insbesondere literarischer Mehrsprachigkeit bei‐ tragen (siehe III .4 Mehrschriftlichkeit). Bezieht man sich eingrenzend auf solche Schrift‐ systeme, die der sichtbaren Fixierung verbaler Äußerungen bzw. Texte dienen, so lassen sich mindestens folgende Ebenen unterscheiden: 1. Unterschiedliche Typen von Schriftcodes, also etwa segmentierende (phonetische) Schriften, syllabische Schriften, logographische Schriften (siehe Coulmas, Writing Sys‐ tems, 38-108). Gebräuchliche Schriften basieren selten ausschließlich auf einem einzigen Typus von Schrift. Beispielsweise ist in logographischen Schriftsystemen wie der chinesi‐ schen Schrift zwar die Verbindung einzelner Zeichen mit einzelnen Worten vorherrschend; das Schriftsystem bezieht aber auch Konstruktionsprinzipien ein, die syllabisch oder pho‐ netisch funktionieren. Auch ist es für phonetische Schriften fast nie der Fall, dass einzelne Schriftzeichen sich klar einzelnen Lauten bzw. Phonemen zuordnen lassen. Vielmehr weisen phonetische Schriftsysteme, indem sie feste Zeichenkombinationen für einzelne Silben verwenden, die sich nicht aus den ›Lautwerten‹ der Buchstaben erschließen, auch Merkmale von syllabischen Systemen auf. Überdies gibt es Schriftsysteme, die mehrere Typen von Schriftcodes mehr oder weniger gleichberechtigt miteinander kombinieren. So sind in den japanischen Schriftzeichenrepertoires Elemente einer ursprünglich logogra‐ phischen Schrift (aus China) mit einem silbenschriftlichen Code verbunden. Die abend‐ ländischen phonetischen Schriften sind zumindest genetisch vielfach zu frühen logogra‐ phischen Schriften in Beziehung gesetzt worden. Die semitischen Schriften, etwa das Hebräische, sind phonetische Schriften, die (zunächst) in erster Linie Konsonanten ver‐ zeichneten, auch wenn in bestimmten Konstellationen auch ›Konsonantenzeichen‹ voka‐ lische Qualitäten anzeigen konnten (ebd., 116-122); die punktierte Variante des Hebräi‐ schen ist insofern ein Hybrid. 2. Innerhalb ein und desselben Typus von Schrift lassen sich viele differente Schriftcodes unterscheiden, etwa innerhalb der (im Wesentlichen) phonetischen Codes Europas die Buchstaben der griechischen, lateinischen und kyrillischen Schrift. In der Linguistik wird für diese unterschiedlichen Schriftcodes der Begriff »script« im Unterschied zu »writing <?page no="102"?> system« vorgeschlagen (ebd., 35). Einzelne, an (nationale) Standardsprachen gebundene Alphabete weisen wiederum (beispielsweise durch diakritische Zeichen konstituierte) Be‐ sonderheiten auf. In der Verwendung identischer Schriftsysteme für unterschiedliche Spra‐ chen ergeben sich oft sehr unterschiedliche Formen der Interrelation zwischen Sprach- und Schriftstruktur. So sind schon bei der Verwendung lateinischer Buchstaben für die eng miteinander verwandten Sprachen Deutsch und Englisch sehr unterschiedliche Laut-Buch‐ stabe-Zuordnungen gegeben. 3. Auf der Ebene ihrer graphischen Konkretisierung (wie der des lateinischen Alphabets) sind sowohl historische Entwicklungen als auch synchrone Ausdifferenzierungen zu ver‐ zeichnen, und zwar wiederum auf mehreren Ebenen. So konkretisieren sich die Buchstaben des lateinischen Alphabets in verschiedenen Glyphen; das lateinische ›A‹ als abstraktes Buchstabenzeichen lässt sich auf verschiedene Weisen schreiben oder drucken. Die typo‐ graphische Dimension von Texten, realisiert unter Auswahl aus zahlreichen Schriften und Schriftgrößen, ist nicht nur materiell, sondern auch semantisch für einen Text konstitutiv; das illustrieren Zeitungslayout und Buchdesign, das demonstrieren auch literarische Texte. 4. Für die jeweilige konkrete Realisierung eines (abstrakten) Buchstabens ist auch seine physische Produktionsweise konstitutiv, insbesondere mit Blick auf die Differenz zwischen Handschrift und Druckschrift sowie rezent von Computerschriften. 5. Im Bereich der bestehenden Schriftsysteme wird oft der Versuch unternommen, die Elemente der alltagspraktisch verwendeten Schrift ganz oder teilweise durch erfundene Zeichenrepertoires abzubilden oder zu ersetzen. Solche sekundären Schriftcodes finden ihren Einsatz u. a. in Situationen, die eine konventionell-schriftliche Verständigung ver‐ hindern; Morsezeichen sowie spezifische visuelle Signale (Lichtsignale, Fahnen) ersetzen hier die Buchstaben zu Zwecken der Echtzeitkommunikation über räumliche Distanzen hinweg; tastend zu lesende Blindenschriften wurden für Leser entwickelt, die geschriebene Zeichen nicht sehen können. Sekundäre Schriftcodes dienen aber auch dazu, den Lautwert von Schriftzeichen und Texten in möglichst vereinheitlichender Weise darzustellen. Die international gebräuchlichen Lautschriften-Varianten sind in diesem Sinn Meta-Schriften. Mit dem Unicode wird seit Jahrzehnten an einem entsprechenden graphischen Reprä‐ sentationssystem für eine zunehmend größer werdende Zahl von Schriftsystemen gear‐ beitet, das vor allem auf der Ebene globaler elektronischer Kommunikation die hetero‐ gensten Schriftkulturen und Schriftzeugnisse durch Transliteration in einen einheitlichen digitalen Code erschließt. Damit verwandt sind zum einen kryptographische Codes, die so‐ wohl direkt auf Inhalte oder Lautwerte bezogene als auch sekundäre (auf Normalschriften basierende) Schriftcodes sein können; zum anderen kann die Abkehr von vertrauten Schriftcodes durch das Bedürfnis motiviert sein, eine neuartige, eine ›bessere‹, leistungsfä‐ higere oder schönere Schrift zu erfinden. Mit Schriftcode-Erfindungen kann sich ein utopi‐ sches Moment verbinden: Dies demonstrieren sowohl Texte in Phantasieschriften als auch Beispiele für die Integration neuer (erfundener) Schriften in konventionell-schriftliche Texte. 6. An der Schwelle zur Schriftlichkeit bzw. an der Grenze zwischen bildlicher Figuration und Schriftzeichen lassen sich gestisch erzeugte Spuren verorten. Was im Alltag eher ver‐ sehentlich zu geschehen pflegt, kann unter Umständen Teil einer Schriftkonstellation werden: Spuren von Körperbewegungen, von Bewegungen, klimatischen Verhältnissen Monika Schmitz-Emans 102 <?page no="103"?> und materiellen Objekten können sich in die Textgestaltung einmischen und den Buch‐ staben überlagern; Kleckse, Bewegungsspuren und Spuren anderer Vorgänge können auf dem Papier sichtbar werden. Literatur Coulmas, Florian, Writing Systems. An Introduction to their Linguistic Analysis, Cambridge 2003. II. 6. Schriftsysteme, Sprachen, Mehrsprachigkeit 103 <?page no="105"?> 7. Durchsetzung von Sprachstandards Helmut Glück a) Begriffsbestimmung Standardsprachen sind doppelt kodifizierte Schriftsprachen. Weitgehend synonym zu Stan‐ dardsprache werden die Ausdrücke Hochsprache, Schriftsprache, Literatursprache, Kultur‐ sprache, Einheitssprache, Koiné und Standardvarietät verwendet (Ammon, »Standard‐ sprache«). Am Anfang jeder Standardsprache steht die Verschriftung einer bislang nur gesprochenen Sprache bzw. eines Dialekts. Die jeweilige Sprachgemeinschaft muss davor nicht schriftlos gewesen sein; sie kann eine allochthone Schriftsprache verwendet haben, im mittelalterlichen Europa etwa das Lateinische. Alphabetisierung und Schriftkultur fußen dann auf einer Fremdsprache. Mit Verschriftungen gehen häufig Reformen und Neuschaf‐ fungen von existierenden Schriftarten einher; so haben das Lateinische, das Georgische, das Armenische und das Kirchenslawische (glagolitisch, dann kyrillisch) ausgehend vom Griechischen eigenständige Schriftarten entwickelt. Schriftsprachen spielen in diesen Pro‐ zessen als »Merkmal nationaler Eigenständigkeit« eine bedeutende Rolle (Boeder, »Iden‐ tität«, 66). Auch mündlich tradierte Epen können für die Entwicklung von Standardspra‐ chen von Bedeutung sein. Das antike Griechenland berief sich auf Homers Epen als Gründungsdokumente der eigenen Schriftkultur: sie wurden überliefert, weil man sie auf‐ schrieb (vgl. Glück, Schrift und Schriftlichkeit, 125-130). Am Beginn von Standardisierungen standen in Europa oft Bibelübersetzungen (Lewasz‐ kiewicz, »Rola«). Das gilt für die frühen Schriftsprachen wie das Armenische und Georgi‐ sche (4. Jahrhundert), das Irische (6. Jahrhundert) und das Althochdeutsche (8. Jahrhun‐ dert), noch mehr aber für Schriftsprachen, die im Zusammenhang mit der Reformation entstanden sind oder sich funktional durchsetzten. Die Lutherbibel (Neues Testament 1522, Vollbibel 1534) war für die Entwicklung des Frühneuhochdeutschen von erheblicher Bedeutung. Auch andere reformatorische Bibelübersetzungen waren für die Entwicklung von Standards relevant, so im Englischen (Tyndale-Bibel, 1525), Niederländischen (Doen Pieterzon, Druck 1523 durch Adriaen van Berghen; 1535, hrsg. v. Jacob van Liesveldt), Dä‐ nischen (Christian den Tredjes bibel, 1550), Schwedischen (Gustav Wasas bibel, 1541) und Isländischen (Neues Testament 1540). In anderen Sprachgebieten standen Übersetzungen der Bibel und anderer geistlicher Schriften am Anfang ihrer Entwicklung zu Schriftspra‐ chen, so im Slowenischen, Finnischen und beiden Varianten des Sorbischen im 16. Jahr‐ hundert, im Lettischen und Estnischen im 17. Jahrhundert. Die Einflüsse von Luthers Übersetzungen auf andere Bibelübersetzungsprojekte sind bekannt und wurden vielfach beschrieben (z. B. Erben, »Luther«). Das Arabische wird in der islamischen Welt als Sprache der göttlichen Offenbarung und deshalb als unantastbar betrachtet. Übersetzungen des Korans in andere Sprachen gelten allenfalls als Hilfsmittel für Personen, die des Arabischen nicht mächtig sind. Die moderne <?page no="106"?> 2 Hahn, Ulla, Das verborgene Wort. Roman, München 10 2014. arabische Standardsprache beruht auf dem Koranarabischen. Das Maltesische ist der einzige Dialekt des Arabischen, der sich zu einer eigenständigen Standardsprache entwickelt hat. Die anderen real gesprochenen Varietäten des Arabischen gelten ihren Sprechergemein‐ schaften als prestigelose Dialekte, nicht als Sprachen. Die heutige arabische Standard‐ sprache wird fast nur bei offiziellen Anlässen mündlich verwendet. Das Hebräische hat in der Judenheit eine ähnlich stabile Stellung als Sprache der Heiligen Schrift. Jeder orthodoxe Jude hat es zu lernen, damit er die Thora nicht nur rezitieren, sondern auch verstehen kann. Über die Frage, ob das Jiddische überhaupt eine Sprache sei, gab es um 1900 erbitterte Auseinandersetzungen. Standardisierung erfolgt dadurch, dass eine Sprache als Sprache identifiziert, verschriftet und durch Wörterbücher und Rechtschreiblehren einerseits, grammatische Regelwerke andererseits reguliert wird; das ist die eingangs erwähnte ›doppelte Kodifizierung‹. Dem schriftsprachlichen Standard folgen in der Regel Festlegungen des orthoepischen Standards (Aussprache). Beides muss durch geeignete Institutionen in der Sprachgemeinschaft im‐ plementiert werden (Glück, »Standardisierung«). Standardisierungen wählen aus konkur‐ rierenden lexikalischen und strukturellen Varianten aus, sie legen fest, was richtig und was falsch ist. Durch Standardisierungen entstehen Zweifelsfälle, Doppelformen, Schwan‐ kungen, ›Hauptschwierigkeiten‹ sowie Fehler und Normverstöße. Der Duden-Band Rich‐ tiges und gutes Deutsch (Eisenberg, Richtiges und gutes Deutsch) umfasst über 1000 Seiten mit (geschätzt) 5000 »Zweifelsfällen« im Deutschen. Standardisierungen definieren da‐ rüber hinaus hohe, mittlere und niedrige Register, guten, neutralen und schlechten Stil und legen Muster für unterschiedliche Genres fest. Sie ermöglichen es andererseits, Fehler von rhetorischen Figuren, Innovationen und der »poetischen Lizenz« zu unterscheiden (Dem‐ beck, »Für eine Philologie«, 12). Textuelle Mehrsprachigkeit, d. h. das Changieren zwischen zwei oder mehreren Sprachen oder Sprechweisen innerhalb eines Textes, setzt voraus, dass die Leser bzw. Hörer über Kenntnisse mehrerer Sprachen verfügen oder doch wenigstens in der Lage sind, anders‐ sprachige Passagen als poetische Anspielungen oder als Quellen von Missverständnissen zu interpretieren (vgl. z. B. Mareš, »Also - Nazdar! «; Dembeck, »Für eine Philologie«). Bei‐ spiele sind die französischen Sätzchen, Wörter und Wendungen in vielen Romanen Theodor Fontanes oder die kölschen Passagen in Ulla Hahns Roman Das verborgene Wort (viele werden in Fußnoten ins Hochdeutsche übersetzt). 2 Die Standardisierung einer Sprache schafft überregionale Kommunikationsräume, die oft als »national« verstanden wurden und werden (vgl. dazu Janich/ Greule, Sprachkul‐ turen). Sie ermöglichen die Verständigung ohne Dolmetscher und ohne Rückgriff auf Fremdsprachen. Im deutschen Sprachraum setzte sich der im mitteldeutschen Gebiet ent‐ wickelte neuhochdeutsche Standard um die Mitte des 18. Jahrhunderts durch, nachdem Kaiserin Maria Theresia Gottscheds Deutsch, das Deutsch »der oberen Classen« in Sachsen, als musterhaft akzeptiert hatte. Der oberdeutsche Widerstand gegen diese Entwicklung (u. a. Carl Friedrich Aichinger, Johann Siegmund Valentin Popowitsch, Augustinus Dorn‐ blüth, Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger) blieb erfolglos (vgl. von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte). Großräumige Verständigungssprachen waren von der Antike Helmut Glück 106 <?page no="107"?> bis ins 18. Jahrhundert das Lateinische im Westen, das Griechische, Arabische und Osma‐ nisch-Türkische im Osten des Mittelmeerraumes. Das Kirchenslawische hatte in den Län‐ dern der orthodoxen Slaven eine vergleichbare Funktion. Das Mittelniederdeutsche war vom 13. bis zum 16. Jahrhundert die Koiné Nordeuropas. Es verlor diese Funktion infolge der Verlagerung von Handelswegen und ging als internationale Verständigungssprache in den Jahren um 1600 unter. Das Französische stieg im 17. Jahrhundert zur Verständigungs‐ sprache der europäischen Eliten auf, das Englische wurde seit dem späten 18. Jahrhundert zur ersten tatsächlichen Weltsprache. Weitere europäische Kolonialsprachen setzten sich außerhalb Europas großräumig als Standardsprachen durch: Spanisch, Portugiesisch und Russisch. Das Arabische ist seit dem 7. Jahrhundert die Sprache des Kults, des Staats und der Bildung in der gesamten islamischen Welt; später übernahmen das Persische und das Osmanisch-Türkische einige dieser Funktionen. b) Kodifikation von Standards Sprachliche Standards müssen kodifiziert werden, damit sie wirksam werden können. Die Kodifikation betrifft vor allem Wortschatz und Grammatik, aber auch die Regeln, Normen und Konventionen der Sprachverwendung. Die Kodifikation des Wortschatzes einer Sprache erfolgt in einsprachigen und mehr‐ sprachigen Wörterbüchern. Am Anfang der lexikalischen Kodifikation des Deutschen standen lateinisch-deutsche Glossare für den Schulgebrauch. Seit dem späten 15. Jahrhun‐ dert wurden Glossare gedruckt, die mehrere Volkssprachen miteinander verbanden. Im 16. und 17. Jahrhundert waren polyglotte Wörterbücher verbreitet (Jones, German Lexico‐ graphy; Müller, Deutsche Lexikographie; Glück, Deutsch als Fremdsprache). Erst seit dem 18. Jahrhundert spielt das einsprachige Wörterbuch, das den Muttersprachlern Wortbe‐ deutungen anbietet, eine Rolle (Glück, Die Fremdsprache Deutsch). Neben allgemeinsprach‐ lichen Wörterbüchern wurden schon früh fachsprachliche Wörterbücher verfasst, die z. B. den Warenhandel, die Pharmazie, die Jagd oder das Kriegswesen lexikalisch erschlossen. Solche Wörterbücher dehnten die Reichweite des Standards aus und stabilisierten ihn. Wörterbücher legen in alphabetisch verschrifteten Sprachen den Standard für die lautliche Realisierung in erheblichem Umfang fest. Aussprachewörterbücher sind eine relativ junge Gattung. In einigen Sprachräumen gibt es sog. Akademiewörterbücher, die den Wortschatz mit hohem Verbindlichkeitsanspruch dokumentieren und normieren, in Frankreich seit 1694, in Italien seit 1612, in (West-)Friesland seit 1984. Für das Deutsche gibt es kein solches Wörterbuch. Moderne korpusgestützte Wörter-»Bücher« stützen sich auf große Daten‐ mengen aus dem Internet (Klein, »Von Reichtum und Armut«). Sie verstehen sich als de‐ skriptiv, weil sie lediglich den Sprachgebrauch abbilden wollen. Die Kodifikation von Phonologie, Morphologie und Syntax geschieht durch Gramma‐ tiken und Lehrbücher (›grammaticae minores‹). Grammatikographen müssen aus dem Sprachmaterial, das sie als einschlägig betrachten, ständig auswählen und darüber ent‐ scheiden, welche der vorhandenen (dialektalen, soziolektalen usw.) Varianten zu standard‐ sprachlichen Mustern erklärt werden sollen und welche nicht. In Westeuropa war die la‐ teinische Grammatik des Aelius Donatus (4. Jahrhundert) das unhintergehbare Vorbild, von dem sich erst die Grammatiker des 18. Jahrhunderts allmählich lösten. Es gab immer wieder II. 7. Durchsetzung von Sprachstandards 107 <?page no="108"?> Grammatiker, deren Werke Vorbilder wurden, im deutschsprachigen Raum z. B. Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung im 18. Jahrhundert, die Brüder Grimm und Karl Ferdinand Becker im 19. Jahrhundert, Hermann Paul, Gerhard Helbig und Peter Eisenberg im 20. Jahrhundert, doch gab es nie eine Grammatik, die verbindlich war für den Gebrauch in Schulen und Behörden. In anderen Sprachräumen erheben Akademiegram‐ matiken diesen Anspruch; sie werden mitunter durch Rechtsakte für verbindlich erklärt, z. B. in Bulgarien oder Lettland. Die Verfasser der Wörterbücher und Grammatiken des Deutschen beriefen sich bis etwa 1980 auf vorbildliche religiöse, juristische, literarische, wissenschaftliche oder administra‐ tive Texte. Danach setzten sich deskriptive Prinzipien durch; man will sich seither eher am durchschnittlichen Sprachgebrauch orientieren. Die normativen Effekte von Deskriptionen werden kontrovers diskutiert. c) Agenturen von Sprachstandards Verwaltungen funktionieren schriftlich, seit die Sumerer und die Ägypter die Schrift zu diesem Zweck erfanden. Verwaltungssprachen müssen in erheblichem Maß standardisiert sein, damit sie überregional funktionieren können. In vielen Ländern gibt es gesetzliche und administrative Festlegungen von Staatssprachen, die Standards voraussetzen oder fest‐ legen. In vielen Verfassungen ist (sind) die Staatssprache(n) des jeweiligen Landes festge‐ schrieben, z. B. in Österreich, Belgien oder Russland, nicht aber in Deutschland. Gesetze werden in der jeweiligen Amtssprache beschlossen und veröffentlicht. Einige Staaten haben Sprachgesetze, in denen geregelt ist, welche Sprachen in welchen Funktionen verwendet werden müssen oder dürfen, z. B. Belgien, Estland, Lettland, Russland, die Slowakei und die Ukraine. In Deutschland gab es bis 1996 das sog. Duden-Privileg, das besagte, dass der Recht‐ schreib-Duden den deutschen Wortschatz der orthographischen Form nach festlegte. Die Abschaffung dieses Privilegs war eines der Motive für die umstrittene Rechtschreibreform von 1996. Seither ist eine von der Kultusministerkonferenz eingesetzte Kommission für die Fortentwicklung der deutschen Orthographie verantwortlich. Diese Kommission steht wegen ihrer personellen Zusammensetzung und der Ergebnisse ihrer Tätigkeit laufend in der Kritik. Mehrere Akademien haben sich 2013 zur »Lage der deutschen Sprache« geäußert (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Erster Bericht). Bei Amtssprachen wird differenziert nach innerem und äußerem Dienstbetrieb. Innere Amtssprachen sind solche, die innerhalb einer Verwaltung zugelassen oder vorgeschrieben sind, äußere Amtssprachen solche, die im ›Publikumsverkehr‹ zu verwenden sind. In Deutschland ist das nur das Deutsche, in mehrsprachigen Staaten sind das in der Regel mehrere Sprachen (z. B. Deutsch, Französisch und Italienisch bei Schweizer Bundesbe‐ hörden, Gälisch und Englisch in Irland). Gerichte verwenden schriftlich und mündlich Sprachen, die gesetzlich vorgeschrieben werden (Gerichtssprache). In Deutschland ist das Deutsche Gerichtssprache (mit Sonderre‐ gelungen für die sorbischen Gebiete in Sachsen und Brandenburg). Man unterscheidet zwi‐ schen innerer und äußerer Gerichtssprache, denn in mündlichen Verhandlungen sind Fremdsprachen in bestimmtem Umfang zugelassen, wenn Verfahrensbeteiligte des Deut‐ Helmut Glück 108 <?page no="109"?> schen nicht mächtig sind. Darauf beruht das Instrument der vereidigten Dolmetscher, die für einen bestimmten Gerichtsbezirk zugelassen sind. Regierungen können Akademien oder Sprachämter einsetzen und ihnen die Festlegung, Kontrolle und Fortschreibung von Standards übertragen, z. B. (in Klammern das Jahr der Gründung) Frankreich (1635), Finnland (1949), Spanien (1713) oder Russland (1724). Die Aufgaben solcher Akademien sind unterschiedlich definiert; sie reichen von normativen Vollmachten, z. B. in Frankreich oder Estland (1990), bis zu nur implizit normierenden Be‐ ratungsaufgaben, z. B. in Schweden (1945), Dänemark (1955) oder Norwegen (1952). Bei politischen Konflikten und Kriegen kommt es vor, dass der öffentliche und private Gebrauch von ›Feindsprachen‹ verboten wird. So wurde z. B. die ›Feindsprache‹ Deutsch während des Ersten Weltkrieges in Russland und in den USA verboten. Die nationalsozia‐ listischen deutschen Besatzungsbehörden verboten den öffentlichen Gebrauch des Polni‐ schen im besetzten ›Generalgouvernement‹. Das Militär regelt die jeweils zugelassenen Sprachen für den inneren (Kommando‐ sprache) und äußeren Betrieb (Stabssprache). Mehrsprachige Armeen und einsprachige Ar‐ meen, die innerhalb mehrsprachiger Bündnisse operieren, müssen genau definierte Über‐ setzungs-Scharniere unterhalb des Generalstabs einrichten (Glück/ Häberlein, Militär und Mehrsprachigkeit). Für Ausbildungssysteme werden Schulsprachen definiert und vorgeschrieben (Unter‐ richtssprachen), ebenso obligatorische oder fakultative Schulfremdsprachen. In Deutschland, Österreich und der alemannischen Schweiz ist das Deutsche die Unterrichtssprache, wes‐ halb Kinder aus Migrantenfamilien Deutsch lernen müssen, bevor sie in Regelklassen auf‐ genommen werden. Die Zahl der Schulfremdsprachen ist in Deutschland vergleichsweise groß: Neben dem Englischen, Lateinischen, Französischen, Spanischen, Russischen und Italienischen werden einige Nachbarsprachen sowie das Japanische und Chinesische ge‐ lehrt. Die Schulfremdsprachen stellen einen erheblichen volkswirtschaftlichen Kosten‐ faktor dar (Lehrbücher, Ausbildung und Besoldung der Fachlehrer), doch stellen sie ande‐ rerseits einen Bildungsinhalt dar, der zu einer wertvollen sozialen oder beruflichen Qualifikation werden kann. Wesentlich für die Funktion einer Sprache als Standardsprache ist ihr Ausbau zu einer Wissenschaftssprache und ihre Verwendung in den Wissenschaften. Außer dem Englischen ist gegenwärtig keine Sprache in dieser Domäne uneingeschränkt funktionsfähig, d. h., dass es Fächer und ganze Fakultäten gibt, in denen nur noch auf Englisch geforscht werden kann. Die universitäre Lehre wird in Deutschland noch weitgehend auf Deutsch betrieben, doch gibt es auch hier Fächer, die von vornherein das Englische verwenden. Das verengt das Funktionsspektrum der Landessprache erheblich. Nur noch wenige ›große‹ Sprachen können sich in relevanten Domänen als Wissenschaftssprachen halten und weiterentwi‐ ckeln. Für das Deutsche sind das viele Geisteswissenschaften, die Theologie, die Rechts‐ wissenschaft und die klinische Medizin. Aus vielen Naturwissenschaften ist das Deutsche verschwunden, was zur Folge hat, dass keine Terminologien mehr entwickelt werden, so dass auf Deutsch nicht mehr geforscht werden kann. Auch andere Standardsprachen stehen unter dem Druck des Englischen, was teilweise als unvermeidlich hingenommen wird, z. B. in den Niederlanden oder den nordischen Ländern, teilweise als problematisch betrachtet und mit Gegenmaßnahmen bedacht wird, z. B. in Frankreich oder Russland (vgl. dazu Eh‐ II. 7. Durchsetzung von Sprachstandards 109 <?page no="110"?> lich/ Ossner/ Stammerjohann, Hochsprachen in Europa; Ehlich/ Heller, Die Wissenschaft und ihre Sprachen; Ammon, »Standardsprache«). In Deutschland und Österreich wird kontro‐ vers debattiert, ob diese Entwicklung einen Segen oder einen Fluch für die Standardsprache Deutsch darstellt (vgl. dazu Eins/ Glück/ Pretscher, Wissen schaffen; Oberreuter u. a., Deutsch in der Wissenschaft; ADAWIS , Die Sprache von Forschung und Lehre). Presse, Rundfunk, Fernsehen und andere Massenmedien sind in Deutschland keinen Vorschriften unterworfen, die die verwendete Sprache betreffen, in anderen Ländern ist das durchaus der Fall, z. B. in Frankreich und in der Türkei. Auch das Internet kennt keine Sprachvorschriften. Viele Länder unterhalten Radio- und Fernsehprogramme, die über die Landesgrenzen hinaus ausgestrahlt werden (sog. Auslandssender). In Deutschland ist das die Deutsche Welle, in Frankreich TV 5, in Großbritannien das internationale Programm der BBC . Diese Sender sollen einerseits Minderheiten der eigenen Sprache, die ständig oder temporär im Ausland leben, mit einem Programm aus der Heimat an sich binden, anderer‐ seits Eliten anderer Länder, die die betreffende Sprache als Fremdsprache beherrschen, sich gewogen machen. Literatur Als » MLS « abgekürzt zitiert wird: Helmut Glück (Hrsg.), Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart/ Weimar 4 2010. ADAWIS (Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache e. V.) (Hrsg.), Die Sprache von Forschung und Lehre: Welche - Wo, für Wen? , Berlin 2013. Ammon, Ulrich, »Standardsprache«, in: MLS, S. 667. Ammon, Ulrich, Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt, Berlin/ München/ Boston, Mass. 2015. Boeder, Winfried, »Identität und Universalität: Volkssprache und Schriftsprache in den Ländern des alten Christlichen Orients«, in: Georgica. Zeitschrift für Kultur, Sprache und Geschichte Georgiens und Kaukasiens, H. 17 (2014), S. 66-84. Dembeck, Till, »Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit. Zur Einführung«, in: Ders./ Georg Mein (Hrsg.), Philologie und Mehrsprachigkeit, Heidelberg 2014, S. 9-38. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung/ Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.), Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache, Berlin/ New York 2013. Ehlich, Konrad/ Jakob Ossner/ Harro Stammerjohann (Hrsg.), Hochsprachen in Europa. Entstehung, Geltung, Zukunft, Freiburg/ Br. 2001. Ehlich, Konrad/ Dorothee Heller (Hrsg.), Die Wissenschaft und ihre Sprachen, Bern 2006. Eins, Wieland/ Helmut Glück/ Sabine Pretscher (Hrsg.), Wissen schaffen - Wissen kommunizieren. Wissenschaftssprache(n) in Geschichte und Gegenwart, Wiesbaden 2011. Eisenberg, Peter, Richtiges und gutes Deutsch. Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle, Mannheim u. a. 6 2007. Erben, Johannes, »Luther und die neuhochdeutsche Schriftsprache«, in: Friedrich Maurer/ Heinz Rupp (Hrsg.), Deutsche Wortgeschichte, Bd. 1, Berlin/ New York 2007, S. 509-581. Glück, Helmut, Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie, Stuttgart 1987. Glück, Helmut, Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit, Berlin/ New York 2002. Helmut Glück 110 <?page no="111"?> Glück, Helmut, »Standardisierung«, in: MLS, S. 667. Glück, Helmut, Die Fremdsprache Deutsch im Zeitalter der Aufklärung, der Klassik und der Romantik, Wiesbaden 2013. Glück, Helmut/ Mark Häberlein (Hrsg.), Militär und Mehrsprachigkeit im neuzeitlichen Europa, Wies‐ baden 2014. Janich, Nina/ Albrecht Greule (Hrsg.), Sprachkulturen in Europa. Ein internationales Handbuch, Tü‐ bingen 2002. Jones, William Jervis, German Lexicography in the European Context, Berlin/ New York 2001. Klein, Wolfgang, »Von Reichtum und Armut des deutschen Wortschatzes«, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung/ Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.), Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache, Berlin/ New York 2013, S. 15-55. Lewaszkiewicz, Tadeusz, »Rola przykładów Biblii w formowaniu jezyków literackich europejskiego kręgu kulturowego« [»Die Rolle der Bibelübersetzungen in der Herausbildung der Schriftsprachen des europäischen Kulturkreises«], in: Biblia a kultura Europy, Łódź 1994, S. 232-248. Mareš, Petr, Also - Nazdar! Aspekty textové vícejazyčnosti [»Also - nazdar! Aspekte textueller Mehr‐ sprachigkeit«], Praha 2003. Müller, Peter O., Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts. Konzeptionen und Funktionen frühneu‐ zeitlicher Wörterbücher, Tübingen 2001. Oberreuter, Heinrich u. a. (Hrsg.), Deutsch in der Wissenschaft. Ein politischer und wissenschaftlicher Diskurs, München 2012. Polenz, Peter von, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, 3 Bde., Berlin 1991-1999. II. 7. Durchsetzung von Sprachstandards 111 <?page no="113"?> 8. Pragmatik der Mehrsprachigkeit Jörg Roche und Gesine Lenore Schiewer a) Pragmalinguistische Grundlagen: Von der Einzur Mehrsprachigkeitsforschung Die Pragmalinguistik, die im deutschsprachigen Raum um 1970 entwickelt wurde und sich seitdem als eine der bedeutendsten Teildisziplinen der Sprachwissenschaft etablieren konnte, nimmt vielfältig Bezug auf die analytische Sprachphilosophie Wittgensteins, Austins und Searles, auf die dreistellige Semiotik (Peirce, Morris, Bühler u. a.) sowie auf Konzepte des Konstruktivismus, vor allem in seinen interaktionistischen Varianten. Der sprachphilosophische linguistic turn fand zudem breite Rezeption in den Kulturwissen‐ schaften. Sprachpragmatische Basisannahmen sind damit für ethnologische ebenso wie postkoloniale Dimensionen der Kulturforschung zentral geworden. Auch wenn pragmatische Grundannahmen in den Kulturwissenschaften häufig mit Themen der kulturellen Vielfalt und Mehrsprachigkeit verbunden sind, waren philosophi‐ sche und linguistische Untersuchungen des Sprachgebrauchs doch meist auf die Untersu‐ chung von Einzelsprachen fokussiert. Vor dem Hintergrund des z. B. in der Sprechakttheorie anzutreffenden impliziten rational-universalistischen Substrats und der ordinary language philosophy konzentrierten sich konkrete linguistische Analysen vielfach auf Beispiele aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum. Die germanistische Linguistik beschränkte sich in ihren pragmalinguistischen Ausprägungen primär auf das Deutsche als Gegenstand ent‐ sprechender Forschungsansätze. Die Ausweitung des Blicks auf pragmatische Dimensionen von Mehrsprachigkeit er‐ folgte zögerlich (vgl. hierzu Ten Thije, »Eine Pragmatik der Mehrsprachigkeit«), in jüngerer Zeit aber mit allmählich zunehmender Dynamik. Hervorzuheben sind hier u. a. folgende Richtungen: - Die Kontrastive Pragmatik, die u. a. im Bereich des Faches Deutsch als Fremdsprache Aufmerksamkeit findet; im Ausgang hiervon können sämtliche Ebenen und Ansätze linguistischer Pragmatik in der Regel mit Bezug auf zwei Sprachen kontrastiv un‐ tersucht werden. Im engeren Sinn literaturwissenschaftlich relevante Felder kon‐ trastiver Pragmatik betreffen z. B. die Untersuchung von literarischen Textsorten als kulturelle Entitäten, die auch sprach- und kulturanalytische Herangehensweisen verlangen sowie die Berücksichtigung von durch Sprach- und Kulturkontakt mit‐ bedingten hybriden Textformen (vgl. Fix, »Was heißt Texte kulturell verstehen? «, 260, 267). Vergleichende Analysen konkreter Sprachgebrauchsvielfalt konnten zeigen, wie mit dem Einsatz von Mehrsprachigkeit im Drama die Inszenierung von »doppelbödigen Kommunikationssituationen« potenziert werden kann und zu‐ gleich an bekannte Formen von Sprachimages wie dem Französischen als Salon‐ <?page no="114"?> sprache und dem Englischen als Geschäftssprache anknüpfen kann (vgl. Weiss‐ mann, »Mehrsprachigkeit auf dem Theater«, 79 f. und 88). - Ansätze einer Kulturwissenschaftlichen Pragmatik, die insbesondere von Soziologen wie Joachim Renn (»Perspektiven einer sprachpragmatischen Kulturtheorie«) for‐ ciert wird; hier werden z. B. Sprechakte im Hinblick auf das mit ihrer Verwendung verbundene implizite Wissen fokussiert. Der diesem Konzept inhärente Grundge‐ danke, dass Kultur »zuerst eine kollektive, besonders: sprachliche Praxis« ist, ver‐ weist auf die besondere Sprach- und Kultursensibilität, die mit der Mehrsprachig‐ keitspragmatik in der Regel verbunden ist (vgl. Renn, »Perspektiven einer sprachpragmatischen Kulturtheorie«, 430). Die jüngere Forschung beschäftigt sich z. B. mit Samuel Becketts Bemühen, Figuren zu erzeugen, »die das Mehrsprachig‐ keitsproblem ›erleben‹, womit er eine Authentifizierung des Problems erreicht« (Mannweiler, »Becketts Mehrsprachigkeit«, 62). - Arbeiten im Bereich des jüngeren Forschungsfeldes Interkultureller Linguistik, das mit den Initiativen von Peter Raster (Perspektiven einer interkulturellen Linguistik) und Csaba Földes (Interkulturelle Linguistik im Aufbruch) eng verbunden ist; hier wird neben Analysen verschiedenster Einzelsprachen und kontrastiven Untersu‐ chungen auch angeregt, die linguistischen Instrumente selbst interkulturell zu be‐ trachten, d. h., u. a. auch andere als europäisch-anglo-amerikanische Theorien und Forschungsansätze zu berücksichtigen. Im Rahmen dieser Forschungsrichtung werden u. a. Modelle »der interkulturellen Identität« entworfen, die »nur durch eine Interaktion zweier oder mehrerer Sprach- und Kommunikationskulturen entsteht«, um die literarische Inszenierung der Erfahrungen von Sprachkontakten methodisch fundiert zu beschreiben (vgl. Pugliese, »Interkulturalität als Identität«, 219). - Ansätze im Bereich der Translationswissenschaft, die einerseits linguistische For‐ schungsrichtungen vielfach markant abkoppeln, andererseits seit geraumer Zeit mit kulturwissenschaftlichen Fundierungen pragmatische Akzente setzen (Vermeer, Li‐ terarische Übersetzung als Versuch interkultureller Kommunikation; Kußmaul, Krea‐ tives Übersetzen). Diese Ansätze sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass »Position und Wirkung von Übersetzern, Übersetzungsprozessen und übersetzter Literatur in der Zielkultur« die ästhetischen Bedingungen des Übersetzens mitbe‐ stimmen (vgl. Pagni, »Lateinamerika als Übersetzungsraum«, 162). - Die bereits seit Beginn der 1990er Jahre etablierte Literary Pragmatics, die mit Roger D. Sell u. a. verbunden ist; dies ist eine Richtung, in der versucht wird, die insbesondere in der germanistischen Forschung verbreitete Lücke zwischen Litera‐ turwissenschaft und Linguistik durch den Einsatz linguistischer Instrumente in li‐ teraturwissenschaftlichen Analysen zu überwinden. Die spezifische Anschlussfä‐ higkeit des Ansatzes im Hinblick auf Fragen literarischer Mehrsprachigkeit ergibt sich aus der Grundannahme, derzufolge »the writing and reading of literary texts as interactive communication process« zu betrachten ist, der soziokulturelle Kon‐ texte impliziert (vgl. Sell, Literary Pragmatics, xiv). Dass die Anwendung linguistischer Instrumente auf literarische Texte, etwa auf literarisch fingierte Dialoge im Drama oder in erzählenden Texten, grundsätzlich methodisch be‐ gründet werden kann, wurde bereits vor Jahrzehnten mit starken Argumenten diskutiert Jörg Roche und Gesine Lenore Schiewer 114 <?page no="115"?> (vgl. z. B. Ungeheuer, »Gesprächsanalyse an literarischen Texten«; Hess-Lüttich, Soziale Interaktion und literarischer Dialog). Dabei bewährt sich in pragmalinguistischen Untersu‐ chungen von Mehrsprachigkeit und insbesondere literarischer Mehrsprachigkeit in Ab‐ hängigkeit von den jeweiligen Fragestellungen und Forschungsfragen der Einsatz mög‐ lichst vielfältiger Ansätze und methodischer Vorgehensweisen wie z. B. im Ausgang von Sprechakttheorie, konversationellen Implikaturen und Gesprächsanalyse. b) Linguistik der Mehrsprachigkeit Linguistische Fundierungen der Mehrsprachigkeitsforschung, die sich im deutschspra‐ chigen Raum als jüngere Forschungsrichtung mit stark zunehmender Aufmerksamkeit präsentiert und im Zusammenhang gesellschaftlicher Gegebenheiten der Multi- und Inter‐ kulturalität zu sehen ist, kommen u. a. in literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen wie insbesondere der Interkulturellen Literaturwissenschaft zum Einsatz. Denn gerade litera‐ rische interkulturelle Texte gehen häufig mit Formen der Mehrsprachigkeit als Manifesta‐ tionen von Sprach- und Kulturkontakt auf der Autoren- oder Rezipientenebene sowie der inhaltlichen oder der formalen Textebene einher (vgl. z. B. Schmeling u. a., Literatur im Zeitalter der Globalisierung; Schmeling/ Schmitz-Emans, Multilinguale Literatur im 20. Jahr‐ hundert und ein Themenheft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, vgl. Kilchmann, »Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur«). Solche spezifischen Fragestellungen der Mehrsprachigkeitsforschung können unter An‐ wendung des breiten Spektrums pragmalinguistischer Paradigmen untersucht werden, insbesondere in den oben genannten Erweiterungen. Die Gegebenheiten kollektiver Mehr‐ sprachigkeit können z. B. mit Aspekten der Kultur- und Literaturförderung im Falle sehr kleiner Sprachen wie z. B. des Rätoromanischen verbunden sein; Formen des Code-Swit‐ ching, einem prominenten Feld der Mehrsprachigkeitsforschung, etwa können ihrerseits z. B. kontrastiv im Hinblick auf erforderliches implizites Wissen untersucht werden, im Hinblick auf pragmatische Aspekte der Gesprächsprofilierung oder unter translationswis‐ senschaftlichen Gesichtspunkten. Dies schließt unterschiedliche Richtungen und Frage‐ stellungen wie z. B. nach Arten der Äquivalenz unter Berücksichtigung formal-ästhetischer Qualitäten, skopustheoretische Prinzipien oder etwa Ansätze an der Schnittstelle von Translations- und Literatursoziologie ein (Tyulenev, Applying Luhmann to Translation Stu‐ dies). Weiterhin ist die Einbettung der Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit in all‐ gemeine Kontexte von historischen Sprachkontaktebenso wie Sprachkonfliktprozessen ein relevantes Forschungsfeld. c) Pragmatik der Mehrsprachigkeit in der Literatur Formen der Mehrsprachigkeit im Zusammenhang literarischer Texte können unter Einsatz von Ansätzen und Instrumenten der linguistischen Pragmatik in ihrer vollen Breite unter‐ sucht werden. Dabei liegt es nahe, die Charakteristika literarischer Kommunikation in ihrer Vielschichtigkeit mit den Ebenen der Texterstellung, des Textes selbst und der Textrezep‐ tion zu berücksichtigen. II. 8. Pragmatik der Mehrsprachigkeit 115 <?page no="116"?> 3 Ilija Trojanow, »Voran ins Gondwanaland«, in: Feridun Zaimoglu/ Dorothee Kimmich/ Ilija Trojanow (Hrsg.), Ferne Nähe, Künzelsau 2008, S. 67-94, hier S. 81 f. Ebene des Schreibens und Sprechens (Sprachproduktion) in mehrsprachiger Perspektive Im Sinne von Karl Bühlers frühem Sprachhandlungsmodell spielen die sprachlichen Aus‐ drucksfunktionen und das gesamte Feld dessen, was Sprachverwendungen über Intenti‐ onen, Motive, Emotionen etc. des Emittenten erkennen lassen, eine entscheidende Rolle auch in literarischer Kommunikation. In literaturwissenschaftlicher Hinsicht ist dabei zu unterscheiden zwischen Autor- und Erzählerebene sowie derjenigen der Figuren, die ih‐ rerseits vielfach als Sprecher oder Schreiber in den literarischen Text eingeführt werden. Am literarischen Kommunikationsprozess sind ferner auch alle Beteiligten des Literatur‐ betriebes, also aus der Literaturwissenschaft, der Literaturkritik, den Verlagen etc., als Emittenten mit spezifischen Intentionen beteiligt. Das literatursprachliche Handeln der Autorinnen und Autoren ist von ihren jeweiligen Mehrsprachigkeits- und Übersetzungskompetenzen mitbestimmt. Eine wichtige Rolle spielt dabei, über welches Niveau sie in welchen Varietäten ihrer Sprachen jeweils verfügen und ob sie z. B. in der Lage sind, ihre eigenen Texte in einer oder mehreren ihrer Sprachen zu verfassen und gegebenenfalls wechselweise zu übersetzen. Auf diesen Aspekt bezog sich lange Zeit das zentrale Kriterium für die Vergabe des Adelbert-von-Chamisso-Preises, dem‐ zufolge potentielle Preisträgerinnen und Preisträger nicht-deutscher Muttersprache seien, aber das Deutsche als Literatursprache verwendeten. Persönliche Mehrsprachigkeit bestimmt auch die Möglichkeiten literarischer Auto‐ rinnen und Autoren, mit expliziten oder impliziten Formen multilingualer Sprachverwen‐ dung in ihren Texten zu arbeiten (vgl. zur Mehrsprachigkeit in autobiographischen Di‐ mensionen Schneider-Özbek, »Sprachreise zum Ich«). Diese können sich auf sämtliche linguistischen Ebenen beziehen von der phonetisch-phonologischen bis zu der von Texten und gegebenenfalls Diskursen. Für Ilija Trojanow z. B. bedeutet mehrsprachige »Anreiche‐ rung« vor allem die Arbeit im Bereich der Wortbildung, die Schaffung neuer Komposita, die im besten Fall nicht nur neue Metaphern sind, sondern darüber hinaus das Potential zur »relativen Motivierung« im Sinne von Ferdinand de Saussure haben und zugleich wohl‐ klingend sind: Ich richte mein Ohrenmerk auf mögliche Komposita, ergötze mich an Flammenschrift oder Schwe‐ bestil oder Kabelsalat oder Engelszungen. Die beiden letzteren kennen Sie gewiß, denn erfolgreiche Komposita setzen sich durch. Ein jedes hat die faire Chance, in den Kanon des Wörterbuches gewählt zu werden. Gewiß, manche Komposita sind schrullig und uns daher lieb wie die Eigen‐ heiten einer Geliebten […]. Wir kennen ein ›derweil‹ und ein ›dieweil‹, stolpern allerdings über ›dasweil‹. 3 Gesellschaftlich relevante Aspekte von Mehrsprachigkeit fokussiert Feridun Zaimoglu in seinen einleitenden Bemerkungen zu Kanak Sprak. Einer »weinerlich[en], sich anbie‐ dernd[en] und öffentlich gefördert[en] ›Gastarbeiterliteratur‹«, die seit den 1970er Jahren als ›Müllkutscher-Prosa‹ die Legende vom »armen, aber herzensguten Türken Ali« ver‐ Jörg Roche und Gesine Lenore Schiewer 116 <?page no="117"?> 4 Feridun Zaimoglu, »Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft«, in: Ders., Kanak Sprak/ Koppstoff. Die gesammelten Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Köln 2011 [1995], S. 11-115, hier S. 17. 5 Ebd., S. 22. 6 Ebd., S. 21. 7 Ebd., S. 17. 8 Ebd., S. 32. breitet, 4 setzt er mit seinen »24 Mißtöne[n] vom Rande der Gesellschaft« das ästhetische Konstrukt einer ausgeprägt kreativ-schöpferischen und vielstimmigen Sprache des »Mi‐ lieus« entgegen. Für »sozial verträglich[e]« Stimmen ohne gesellschaftliche Sprengkraft ist in dieser Sprache kein Platz. »Hier hat allein der Kanake das Wort.« 5 Zaimoglu bezeichnet seine Literatur als »Nachdichtung«, 6 die den Mitgliedern des Mi‐ lieus eine von ihnen autorisierte Stimme verleiht. Sie hebt sich ab von dem Märchen von der Multikulturalität: Der Kanake taugt in diesem Falle als schillerndes Mitglied im großen Zoo der Ethnien, darf teil‐ nehmend beobachtet und bestaunt werden. »Türkensprecher« gestalten bunte Begleitprospekte für den Gang durch den Multikulti-Zoo, wo das Kebab-Gehege neben dem Anden-Musikpavillon platziert wird. 7 Dies sind - wenngleich ihrerseits selbst literarisch überformte - Äußerungen, die als eine Autorenpoetik bezeichnet werden können. Es handelt sich also um Aussagen bzw. Sprech‐ akte, die sich auf zentrale Anliegen der inhaltlichen und formalen Textgestaltung beziehen. Ebene des Textes in mehrsprachiger Perspektive Da in literarischen Texten, in Abhängigkeit von der jeweiligen Gattung, sowohl inhalt‐ lich-thematische als auch formal-sprachliche Aspekte, und zwar in durchaus variabler Ge‐ wichtung, Teil der künstlerischen Gestaltung sind, kann ein weites Spektrum textanalyti‐ scher Instrumente mehrsprachiger Pragmatik zum Einsatz kommen. So können mit Bezug auf die eingeführten Figuren Analysen literarisch fingierter Produktion und Rezeption mündlicher und schriftlicher Sprache mit den betreffenden Sprechakten, kommunikativen Implikaturen sowie dem Gesprächs- und Kommunikationsverhalten der im Text vorkom‐ menden Figuren durchgeführt werden. Besondere Aufmerksamkeit ist in der Mehrspra‐ chigkeitspragmatik dabei allen Formen des Sprach- und Kulturkontaktes zu widmen, wenn z. B. Figuren unterschiedlicher Muttersprachen und kultureller Hintergründe eingeführt werden. In Feridun Zaimoglus erwähntem Text Kanak Sprak erfolgt dies z. B., indem eine als Ich-Erzähler auftretende türkischstämmige Figur sich über Deutsche - hier die »för‐ derfreunde« - äußert: Der einheimische hat für’n kümmel ja zwei reservate frei: entweder bist du’n lieb-alilein, ’n recht und billiger bimbo eben […]. Da kommen denn die förderfreunde und geben dir’n klaps auf die schulter, und die sagen dir: mann, das betrifft mich jetzt volle kante, daß du’n armes schwein bist. 8 Hier werden das Sprechen durch eine literarisierte Form des Deutsch-Türkischen und das Leben in thematischer Hinsicht mehrfach perspektiviert, indem mögliche Formen der II. 8. Pragmatik der Mehrsprachigkeit 117 <?page no="118"?> Fremdwahrnehmung durchgespielt werden, wie sie manche türkischstämmigen Menschen in Deutschland empfinden. Desgleichen verdienen literarische Texte über die Figurenebene hinaus in der Gesamtheit ihrer Textebene die Aufmerksamkeit der Mehrsprachigkeitspragmatik. Phonetisch-phono‐ logische Instrumente können z. B. zur Untersuchung sprachrhythmischer Strukturen ein‐ gesetzt werden; die Überlagerung rhythmischer Strukturen durch die einer anderen Sprache ist sehr wohl möglich und wurde z. B. bereits im 19. Jahrhundert auf anspruchs‐ vollstem Niveau von Friedrich Rückert in vielen seiner Übertragungen und Nachdich‐ tungen - der Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel zufolge z. B. in präzisen Nach‐ empfindungen suprasegmentaler Elemente des Arabischen und des Sanskrit - eingesetzt (vgl. Schiewer, »Übersetzung und Rezeption des ›Mahâbhârata‹«). Das im deutschspra‐ chigen Raum seit über zweihundert Jahren bestehende Interesse an Indien mit seinen Spra‐ chen, seinem Denken, seiner Dichtung, seinen Religionen etc. führte zu einem mytholo‐ gisch akzentuierten Sprachverständnis und Bewusstsein für sprachrhythmische Strukturen, die es erlauben, einem Gegenstand unterschiedliche affektive Tönungen und Nuancen zu verleihen. Weder der Mythos als epischer Stoff noch die Religion sind es, worin die zentralen Anliegen des Übersetzungsbegriffs Rückerts liegen; das verbindende Element der Menschen sieht er allein in der Sprache mit ihrer Bild- und Lautlichkeit (vgl. ebd.). Ebene des Lesens und Hörens (Sprachrezeption) in mehrsprachiger Perspektive Auch hinsichtlich der Sprachrezeption können, unter Berücksichtigung der jeweiligen Mehrsprachigkeitskompetenzen seitens des Rezipienten, insbesondere solche Ansätze der Pragmatik, die sich auf das Sprach- und Textverstehen beziehen, eingesetzt werden. Obwohl schon linguistische Ansätze im Bereich von Hermeneutik und Interpretation ein ver‐ gleichsweise schmaler repräsentiertes Forschungsfeld darstellen und die Schnittstelle zur Mehrsprachigkeitsforschung damit bislang eher schwach repräsentiert ist, existieren aus‐ baufähige Ansätze etwa im Bereich der für Fragen der Mehrsprachigkeit sogar besonders ergiebigen Semantik (vgl. z. B. Busse, Textinterpretation; Fritz, Einführung in die historische Semantik; Fritz, Historische Semantik; Hermanns/ Holly, »Linguistische Hermeneutik«; Biere, »Linguistische Hermeneutik und hermeneutische Linguistik«; Jäger, »Verstehen und Störung«). Diese Rezipientenebene bezieht sich im Übrigen sowohl auf den Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin als auch Leserinnen und Leser als Rezipienten im Allgemeinen. Da‐ rüber hinaus ist auch hier die Text- und Figurenebene mit literarischen Gestaltungen von Verstehens- und Missverstehensprozessen zu berücksichtigen, denn gerade letztere ge‐ hören zu den traditionellen Möglichkeiten literarisch-fiktiver Handlungs- und Ereignis‐ prozessierung. Sämtliche Formen literarischer Mehrsprachigkeit, seien sie formal-sprach‐ licher Art, seien sie thematisch-inhaltlich akzentuiert, stellen in der Regel hohe Ansprüche an die Decodierungs- und literarhistorischen Kontextualisierungskompetenzen seitens des fiktiven oder realen Rezipienten oder der Rezipientin. Obwohl oft beschworen, kann in interkulturellen Rezeptionskonstellationen nicht selbst‐ verständlich von einem durch Empathie geleiteten Verstehen des ›Allgemeinmenschlichen‹ oder einem unproblematischen ›Perspektivenwechsel‹ ausgegangen werden, zumal dann nicht, wenn es um wissenschaftliche Untersuchungen geht. Oftmals werden stattdessen Jörg Roche und Gesine Lenore Schiewer 118 <?page no="119"?> Forschungsteams mit Kenntnissen der verschiedenen Sprachen und literarischen Traditi‐ onen erforderlich sein, die bereit sind, Rezeptionsbedingungen unter dem Aspekt der Transdifferenz zu betrachten (Roche/ Suñer, »Kognition und Grammatik«; Roche, Mehr‐ sprachigkeitstheorie; Kalscheuer, »Die raum-zeitliche Ordnung des Transdifferenten«; Breinig/ Lösch, »Introduction: Difference and Transdifference«). Dies ist eine wichtige Auf‐ gabe für die internationalen Germanistiken. Zu ihren dringlichen Herausforderungen gehört im Ausgang von mehrsprachigkeits‐ pragmatischen Fragestellungen und Gegenständen die Ausbildung von Kriterien und Formen für eine interkulturell-philologische Kommentierung interkultureller Texte nach dem Muster der historisch-kritischen Ausgabe. Anspruchsvoll ist dabei unter anderem, dass die Kommentierung grundsätzlich mindestens zwei Adressaten in den Blick zu nehmen hat: den muttersprachlichen und den fremd- oder zweitsprachlichen Leser oder die Leserin. d) Vermittlungsaspekte Die Pragmatik der Mehrsprachigkeit ist angesichts von Globalisierungserscheinungen und zunehmender demographischer Vielfalt eigentlich ein konstitutives Thema für den Unter‐ richt, insbesondere den Fremdsprachenunterricht. Aber sie findet trotz der pragmatischen Wende der 1970er Jahre (›Kommunikative Sprach- und Literaturdidaktik‹) nur ansatzweise Eingang in die unterrichtliche Praxis. Die vor allem auf Formaspekte der Zielsprache ab‐ gestellte Didaktik orientiert sich mehrheitlich an monoglottalen und sterilen Normen einer schwer definierbaren ›Allgemeinsprache‹, die mit der Kommunikationsrealität einer zu‐ nehmend mehrsprachigen Schülerschaft und deren Ausdruckspotenzialen wenig zu tun haben und daher in der Kommunikationspraxis oft auch nur schwer, wenn überhaupt, nutzbar sind. In der Fremdsprachendidaktik gilt verbreitet das Primat der Einfachheit und die Angst vor Komplexität, die kaum Raum für pragmatische Variation lassen. Für Literatur, zumal eine anspruchsvolle mehrsprachige, ist in diesen Konzepten kein Platz. Folglich bleiben auch die katalytischen Potentiale von Mehr-Sprachen ungenutzt. Etwa wie es die von der kognitiven Linguistik inspirierte kognitive Sprachdidaktik, die Mehr‐ sprachigkeits-/ Interkomprehensionsdidaktik, die interkulturelle Sprachdidaktik, die Di‐ daktik der Erinnerungsorte oder einfache Methoden wie die diglot-weave-method oder der Einsatz des Euro-Latein zur Vermittlung von Wortschatz tun. All diesen Ansätzen und Me‐ thoden ist gemein, dass sie die sprachlichen und linguakulturellen Vorkenntnisse der Lerner konstruktiv für die Sprachenvermittlung und den Sprachenerwerb nutzen, indem sie kon‐ trastiv vermittelnd entweder stärker form- oder pragmatisch-orientiert an vorhandene Konzepte bei den Lernern andocken. Die kognitive Sprachdidaktik versucht etwa, über konzeptuelle Metaphern und Bildschemata verschiedener Linguakulturen (z. B. das Kon‐ zept der Fläche in sous la pluie/ bajo la lluvia im Französischen und Spanischen vs. das Konzept des Containers in im Regen/ in the rain im Deutschen und Englischen, vgl. Evans/ Tyler, »Applying cognitive linguistics to pedagogical grammar«) die Transferdifferenz zwischen den Linguakulturen zu bestimmen und für Lerner salient und damit nutzbar zu machen. Gleichzeitig ergibt sich aus der Orientierung auf die Bedeutungen in Linguakul‐ turen eine aus vermeintlichen Simplizitätsgründen bisher unterentwickelte, produktive Schnittstelle zwischen Sprach- und Kultur-/ Literaturvermittlung. Auf der Bedeutung - und II. 8. Pragmatik der Mehrsprachigkeit 119 <?page no="120"?> den vorhandenen Ressourcen des kulturellen und sprachlichen Grenzgängertums - ba‐ sieren die interkulturelle Literaturdidaktik des Dialogs (vgl. Oliver, Lyrisches Schreiben im Unterricht) und die Poetikdozentur und Schulprogramme des Internationalen Forschungs‐ zentrums Chamisso-Literatur. e) Desiderate Generell ist abschließend zu betonen, dass im Bereich literarischer Pragmatik der Mehr‐ sprachigkeit eine Reihe an Forschungsdesideraten bestehen. Dies ist einerseits fachsyste‐ matisch dadurch zu erklären, dass innerhalb der Germanistik die Felder der Linguistik und der Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer mehr als eigenständige und voneinander unabhängige Disziplinen betrachtet wurden, und andererseits dadurch, dass erst in jüngerer Zeit interkulturell-mehrsprachige Literatur vermehrt im Fokus wissen‐ schaftlicher Aufmerksamkeit steht. Als besonders dringliche Desiderate sind zu nennen: (a) die systematische Fortentwicklung der Grundlagenforschung im Bereich der lingu‐ istischen und literaturwissenschaftlichen Pragmatik der Mehrsprachigkeit; (b) die Berücksichtigung spezifischer Sprachpaare in der Untersuchung konkreter Formen literarischer Mehrsprachigkeitspragmatik, was die Kooperation mehrsprachiger Forschungsnetzwerke interkultureller Literatur- und Sprachwissenschaftler erfordern wird; (c) die historische Untersuchung und der systematische Ausbau der Schnittstellen von literaturwissenschaftlicher Interkulturalitätsforschung und Übersetzungswissenschaft; (d) die Untersuchung der Relation von literarischen und gesellschaftlich relevanten As‐ pekten von Mehrsprachigkeit einschließlich der Beleuchtung der Potentiale literarischer Mehrsprachigkeitspragmatik für gesellschaftliche Wissensvorräte und Ressourcen. Literatur Bachmann-Medick, Doris, Cultural turns. 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Mit den beiden Begriffen sind dann nur solche Formen der Mehrsprachigkeit nicht abgedeckt, bei denen eine Differenz zwischen unterschiedlichen Idiomen nur latent wahrzunehmen ist. Das ist etwa dann der Fall, wenn in einer Erzählung erwähnt wird, dass ein Gespräch zwi‐ schen den handelnden Personen in einer anderen Sprache stattfindet als derjenigen, in der der Text dieses Gespräch wiedergibt (hierzu III .2). Präziser lassen sich ›Sprachwechsel‹ und ›Sprachmischung‹ bestimmen, wenn man sie zu zwei Paradigmen der Sprachwissenschaft in Beziehung setzt, die in den letzten Jahr‐ zehnten stark diskutiert wurden: dem des Code-Switchings einerseits und dem der Kon‐ taktsprachen andererseits. Code-Switching wird in der Linguistik als das Verhalten von Sprechern beschrieben, die in ihren Äußerungen je nach pragmatischem Kontext zwischen unterschiedlichen Idiomen ›umschalten‹. Demgegenüber versteht man unter Kontaktspra‐ chen solche Idiome, die Strukturen und Elemente (mindestens) zweier Idiome miteinander kombinieren und so ein neues Idiom erzeugen (siehe II .3). In Anlehnung daran lässt sich als Sprachwechsel ein Umschalten zwischen unterschiedlichen Idiomen bestimmen, das nicht mit einem Sprecherwechsel einhergehen muss (zum ›Sprachwechsel‹ mit Sprecher‐ wechsel siehe III .2 und III .3). Sprachmischung ist dann die Erzeugung eines (womöglich nur in einem einzigen Text zu findenden) neuen Idioms, das sich der Elemente und/ oder Strukturen mindestens zweier verschiedener Ausgangs-Idiome bedient. In beiden Fällen kommen als Idiome alle auf den unterschiedlichen Ebenen der Sprachstruktur zu unter‐ scheidenden mehr oder weniger standardisierten Spracheinheiten in Frage (siehe hierzu II . 1 bis II .5). Sonderfälle der Sprachmischung sind gattungs- oder medienspezifische Ver‐ fahren, beispielsweise die Übernahme ›fremdsprachlicher‹ metrischer Formen (siehe die Beiträge in Kapitel V) oder die Simulation anderssprachiger (auch tierischer) Figurenrede durch sprachimitative Lautmalerei. Auch die Verwendung von Phantasiesprachen in lite‐ rarischen Texten geht oft mit Verfahren der Sprachmischung einher - wie ja auch viele der sog. Plansprachen, wie beispielsweise Esperanto, aus Verfahren der Sprachmischung her‐ vorgegangen sind (siehe II .4). Auch wenn die Anlehnung an die sprachwissenschaftliche Begrifflichkeit glauben ma‐ chen kann, es handele sich bei Sprachwechsel und Sprachmischung um zwei distinkte, klar <?page no="126"?> voneinander abgrenzbare Phänomene, muss aus philologischer Perspektive jedoch darauf hingewiesen werden, dass mit dem einzelnen Textbefund oftmals beides vorliegt. (Auch von der Sprachwissenschaft wird in historischer Perspektive angenommen, dass Formen des Code-Switchings aus der Etablierung von Kontaktsprachen resultieren können.) Denn in der Perspektive auf den einzelnen Text, wie sie für einen philologischen Zugriff charak‐ teristisch ist, trägt letztlich jeder Sprachwechsel auch zur Formung des für diesen Text charakteristischen Idioms bei. Überdies ist es so, dass viele Fälle von Sprachwechsel bereits Momente von Sprachmischung im linguistischen Sinne implizieren, beispielsweise dann, wenn die morphosyntaktische Integration eines anderssprachigen Worts eine Anpassung der Flexionsendung mit sich bringt, oder wenn man (beispielsweise um des Reimschemas willen) davon ausgehen kann, dass die Aussprache eines solchen Worts verändert bzw. angepasst wird. In mehrsprachigen Wortspielen (Paranomasien oder puns) wird die Zuge‐ hörigkeit eines Textelements zu einer Sprache systematisch verunklart (siehe Anwen‐ dungs-/ Analysebeispiele 1 und 3). Aus philologischer Sicht ist schließlich weiter anzumerken, dass sich gegenüber der lin‐ guistischen Beschreibung von Sprachwechsel und Sprachmischung einige methodische Verschiebungen ergeben. Einerseits kann sich die philologische Analyse und Interpretation von Sprachwechsel und Sprachmischung in einzelnen (literarischen) Texten der Kategorien bedienen, die von der Linguistik zur Verfügung gestellt werden, und etwa nationale Stan‐ dardvarietäten, Dialekte, Soziolekte, Register oder unterschiedliche Verfahren von Code-Switching und Kontaktsprachen unterscheiden. Andererseits aber kann der einzelne Text zumindest im Prinzip aus all diesen Formen linguistischer Regelhaftigkeit frei aus‐ wählen und diese Auswahl von Regeln abhängig machen, die er selbst entwickelt und kei‐ neswegs gängigen Formen des Sprachgebrauchs anpassen muss. Die Differenz zwischen unterschiedlichen, nach linguistischen Kriterien beschreibbaren und am Text auszuma‐ chenden Idiomen steht so in Beziehung zu der von Primus Heinz Kucher beschriebenen »kulturell und semiotisch bestimmte[n] Mehrsprachigkeit«, die etwa auch »Phänomene literar-kultureller Polyphonie« im Sinne Michail M. Bachtins umfasst (Kucher, »Literarische Mehrsprachigkeit/ Polyglossie«, 130). Beispielsweise muss eine philologisch genaue Lek‐ türe eines in mehreren nationalen Standardvarietäten verfassten Gedichts auch berück‐ sichtigen, inwiefern die Differenz zwischen diesen Idiomen mit Differenzen zwischen unterschiedlichen metrischen Mustern, unterschiedlichen metaphorischen Ausdrucksver‐ fahren usw. korreliert und ob die jeweilige Grammatikalität zugunsten der Poetizität auch einmal außer Kraft gesetzt wird. b) Sachgeschichte Sprachwechsel und Sprachmischung gibt es mit großer Wahrscheinlichkeit, seitdem es Sprache gibt. Sprachhistorisch gesehen kann man immer dann Sprachmischung konsta‐ tieren, wenn die Entwicklung eines Idioms auf irgendeine Weise durch den Kontakt mit anderen Sprachen beeinflusst wird. So lässt sich beispielsweise für die indoeuropäischen Sprachen zu vielen Zeitpunkten feststellen, dass Entwicklungen durch die Überlagerung grammatischer Strukturen oder lexikalischer Elemente aus unterschiedlichen Sprachzu‐ sammenhängen vorangetrieben wurden. Mit solchen Fragen beschäftigt sich unter anderem Till Dembeck 126 <?page no="127"?> die sog. Substratlinguistik. Die Rolle, die literarische Mehrsprachigkeit in solchen Prozessen spielt, ist teils noch zu erforschen. Feststellen lässt sich aber zumindest, dass die Etablierung weitverbreiteter Standardvarietäten, wie sie von der Literatur genutzt oder sogar geprägt werden, immer ein großes Maß an Sprachkontakt voraussetzt. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive kann die sprachhistorische Entwicklung je‐ doch nicht selbst der Gegenstand des Interesses sein; vielmehr gilt es, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, in welchen einzelnen literarischen Texten sich unter welchen Rah‐ menbedingungen und wann welche Formen von Sprachwechsel und/ oder Sprachmischung finden, welche kulturpolitische Relevanz sie haben und wie sie in einen historischen Zu‐ sammenhang gebracht werden können. Sprachwechsel und Sprachmischung lassen sich dabei in Korrelation zur historischen Semantik von Spracheinheit und -vielfalt setzen (siehe I.1 bis I.3). 1. Antike Für die griechische und die römische Antike lassen sich grob zumindest zwei sehr unter‐ schiedliche sprachpolitische Konstellationen ausmachen. So ist die griechische Antike vor dem Hellenismus von einer starken dialektalen Vielfalt auch im Schriftgebrauch geprägt und zugleich von einer hohen Dialekttoleranz. Für die literarischen Texte ist eine starke, teils sprachmischende ›Künstlichkeit‹ der verwendeten Idiome konstatiert worden, begin‐ nend mit den homerischen Epen. Für die attische Tragödie dagegen sind unterschiedlich ausgeprägte Strategien der sprachlichen Verfremdung kennzeichnend; durch dialektale Differenzierung werden beispielsweise lyrische Chorpartien von anderen Teilen des Dramas unterschieden. In der Komödie ermöglichte der Gebrauch von unterschiedlichen Dialekten und von ›foreigner talk‹ die Markierung der Herkunft handelnder Personen (siehe Zimmermann, »Dialekte und ›foreigner talk‹ im griechischen Drama«; zum Sprach‐ wechsel in der Figurenrede siehe III .2). Die römische Antike ist demgegenüber von einer griechisch-lateinischen Zweisprachigkeit geprägt, wobei das Griechische (auch) als Bil‐ dungssprache fungiert. Die lateinische Sprache sieht daher immer schon die morphosyn‐ taktische Integration griechischer Wörter, insbesondere Eigennamen, vor. (Treffende Bei‐ spiele dafür sind die lateinischen Begriffe rhetorica und grammatica.) Dies hat es nahegelegt, nicht nur den Sprachwechsel zur Charakterisierung von handelnden Personen einzusetzen (siehe III .2), sondern auch durch Sprachmischung oft komische Neologismen zu erzeugen, wie dies insbesondere in den Komödien des Titus Maccius Plautus der Fall ist. Zwar lässt sich auch für die Komödien des Terentius sagen, dass ihnen griechische Ein‐ sprengsel einen »flavor of elegance and humor« (Duckworth, The Nature of Roman Co‐ medy, 335) geben. Bei Plautus aber findet das Spiel mit dem Griechischen vor dem Hinter‐ grund einer allgemeinen Polyphonie im Bachtin’schen Sinne statt, denn Plautus hat es verstanden, den Reichtum an Registern und Stillagen, der das Latein des zweiten vorchrist‐ lichen Jahrhunderts auszeichnete, in seine Texte einzuarbeiten, was nicht zuletzt für sprachhistorische Forschung von großem Interesse ist. Die Einarbeitung griechischer Ele‐ mente in den Text vollzieht sich dabei vor allem in Form kleinteiliger Sprachmischung: Griechische Wörter werden mit lateinischen Flexionsendungen versehen; umgekehrt fa‐ briziert Plautus aus lateinischen Wörtern und griechischen Patronymendungen meist ko‐ mische sprechende Namen (ebd., 345). Kann man davon ausgehen, dass die Polyphonie bei III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 127 <?page no="128"?> 1 Es wird in der Forschung die Meinung vertreten, die Etablierung des Endreims in den romanischen Sprachen gehe auf Sprachkontakt mit dem Arabischen zurück. Das wäre ein Beispiel für eine eher latente Form der Sprachmischung (siehe hierzu V.1). Plautus ein Element des komödienhaften Realismus ist, so inszeniert das humoristische Spiel mit dem Griechischen eine Auseinandersetzung mit der überlegenen Bildungs‐ sprache - auf deren Vorbildern Plautus auch aufbaut. 2. Mittelalter Auch der sprach- und kulturpolitische Hintergrund der Literaturen des Mittelalters hat das Entstehen unterschiedlicher Formen von Sprachwechsel und Sprachmischung begünstigt, wobei weiterhin gilt, dass der Status der jeweils relevanten Sprachen relativ stabil bleibt: »Die verschiedenen Sprachen gelten […] als Träger konventioneller Ausdrucksqualitäten, die sie als eingebettete Sprachen für besondere Themen erwartbar machen: etwa Latein für echte und parodierte Gelehrsamkeit« (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 55). Wäh‐ rend das Griechische außerhalb des oströmischen Reichs nur noch eine geringe Rolle spielt, avanciert das Lateinische in West- und Mitteleuropa zur primären Bildungssprache. Vor allem im romanischen Sprachraum ergeben sich dabei starke Wechselbeziehungen zwi‐ schen dem Lateinischen und den jeweiligen Volkssprachen. Auch in der literarischen Pro‐ duktion werden Sprachwechsel und Sprachmischung vorwiegend zwischen dem Lateinischen und der jeweiligen Volkssprache vollzogen. Die Zahl der Belege für dieses Ver‐ fahren ist relativ hoch: Paul Zumthor hat in einer wegweisenden Studie ca. 60 dafür ein‐ schlägige lyrische Texte aus der altfranzösischen Literatur des 11. bis 13. Jahrhunderts un‐ tersucht (Zumthor, »Un problème d’esthétique médiévale«; vgl. auch Elwert, »L’emploi de langues étrangères«, 243-246). Es finden sich aber auch Fälle von Sprachwechsel und -mi‐ schung, die auf unterschiedliche romanische Volkssprachen zurückgreifen, sowie auf der iberischen Halbinsel Wechsel zwischen den romanischen Volkssprachen und dem Arabi‐ schen (Schmitz-Emans, Die Sprache der modernen Dichtung, 60 f.). 1 Spezifische Komplexität weist die Situation in England auf. Literarisch nutzbar ist hier zunächst der Kontrast zwi‐ schen Angelsächsisch, Normannisch und Latein, dann ab dem 13. Jahrhundert der zwischen Middle English und Latein, während das Französische weiterhin präsent bleibt. In all diesen Gegenden Westeuropas finden sich Autoren, die in besonders auffälliger Weise Verfahren von Sprachwechsel und -mischung genutzt haben. Hervorzuheben sind für das französische Hochmittelalter die lyrische Dichtung Raimbauts de Vaqueras (um 1200) (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 52), für das spanische die Lyrik von Álvarez de Villasandino (siehe Classen, »Multilingualism in Late-Medieval Poetry«, 63 f.), die zwischen Kastilisch und Arabisch wechselt, und für England die Dichtung von John Gower, die vielfältige Sprach‐ wechsel und mehrsprachige Wortspiele enthält (Classen, »Multilingualism in the Middle Ages«, 134). Für die deutschsprachige Literatur des Mittelalters gilt ebenfalls, dass insbesondere ly‐ rische Formen auf Verfahren des Sprachwechsels und der Sprachmischung zurückgreifen. Auch hier finden sich Wechsel und Mischungen einerseits mit dem Lateinischen, anderer‐ seits mit den - ab dem Hochmittelalter ebenfalls als Bildungssprachen fungierenden - ro‐ manischen Sprachen. In den Carmina Cantabrigiensia aus dem 10./ 11. Jahrhundert ist das Till Dembeck 128 <?page no="129"?> 2 »De Henrico / Das Heinrichslied«, in: Walter Haug/ Benedikt Konrad Vollmann (Hrsg.), Frühe deut‐ sche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150, Frankfurt/ M. 1991, S. 294-297. 3 Siehe hierzu den Kommentar in ebd., S. 1245-1249. 4 Siehe Eva Willms, »Einleitung«, in: Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast, ausgew., eingel., übers. und mit Anmerkungen vers. v. Willms, Berlin/ New York 2004, S. 1-20, hier S. 9. sog. »Heinrichslied« (»De Heinrico«) enthalten, das das Lateinische mit althochdeutschen Halbversen mischt und dabei (wenn auch recht unsystematisch) lateinisch-deutsche (Binnen-)Reime bildet, wie hier in der zweiten Strophe: Intrans nempe nuntius, then keisar namoda her thus: ›cur sedes‹ infit ›Otdo, ther unsar keisar guodo? hic adest Heinrich, bringit her hera kuniglich, dignum tibi fore thir selvemo ze sine.‹ 2 Über den klaren segmentären Sprachwechsel hinaus ist in diesem Text eine gewisse dia‐ lektale Instabilität der deutschen Textteile zu beobachten. Insofern der Entstehungskontext des Lieds nicht bekannt ist, ist der kulturpolitische Impuls des lateinisch-deutschen Sprach‐ wechsels zwar schwierig abzuschätzen. Fest steht jedoch, dass die aus der Antike geläufige komisch-verfremdende Funktion von Sprachwechsel und -mischung in diesem Lied, das ein Herrschertreffen beschreibt und eine eher politisch-affirmative Stoßrichtung hat, nicht zum Tragen kommt. Eher dürfte die Mischung aus Gelehrten- und der Herrschaftssprache die Würde des dargestellten politischen Bündnisses selbst beschworen haben, und zwar mit der zusätzlichen Pointe, dass die Herrschaftssprache ihrerseits eine Synthese unterschied‐ licher regionaler Varietäten darstellt. 3 Anders als die althochdeutsche Literatur steht die Literatur des Mittelhochdeutschen unter dem sehr starken Einfluss der altfranzösischen bzw. okzitanischen Literatur, aus der Gattungsnormen, Stoffe und Versformen übernommen werden. Dieser starke Einfluss schlägt sich insbesondere in der Epik nieder, etwa in Wolframs von Eschenbach Parzival und in Gottfrieds von Straßburg Tristan. Einen Sonderfall stellt Thomasîns von Zerklaere Lehrgedicht Der welsche Gast dar, das für die historische Linguistik insofern von Interesse ist, als der Verfasser, der selbst einräumt, kein Muttersprachler zu sein, den Text in einem instabilen bairischen Dialekt mit zimbrischen Einsprengseln abfasst. 4 Kulturpolitisch ist Thomasîns Lehrgedicht von besonderem Interesse, da es eine Verhaltenslehre für Adelige im kulturell-sprachlichen Grenzgebiet thematisiert. Auffällige Beispiele für literarischen Sprachwechsel im Bereich der Lyrik finden sich insbesondere in der Vagantendichtung des 11. und 12. Jahrhunderts, die in der Handschrift der Carmina Burana aus dem frühen 13. Jahrhundert versammelt ist (siehe Helmich, Äs‐ thetik der Mehrsprachigkeit, 51). An diesen Texten ist bemerkenswert, dass der Wechsel zwischen Latein und Deutsch mit der Thematisierung von Erotik und Sexualität verbunden ist (Classen, »Multilingualism in Late-Medieval Poetry«, 48-52; Classen, »Multilingualism in the Middle Ages«, 134 f.). Der Kontrast zwischen der hohen lateinischen Sprache und der Vernakularsprache erzeugt dabei einerseits komische Wirkung, dient andererseits aber auch der Aussprache von Intimität oder verbotener Sinnlichkeit unter dem Deckmantel der fremden Sprache. In der Regel erfolgt der Sprachwechsel in den mehrsprachigen Gedichten III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 129 <?page no="130"?> 5 Siehe CB 153 (Carmina Burana. Texte und Übersetzungen, hrsg. v. Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt/ M. 1987, S. 514-517). 6 Ebd., S. 556-559. 7 Ebd., S. 588-593, hier S. 590. der Carmina Burana an Strophengrenzen, oft im Zusammenhang mit Sprechwechseln 5 oder auch anlässlich eines Wechsels des semantischen Bezugsrahmens, wie es in CB 170 der Fall ist, wo in den ersten drei, lateinischen, Strophen Topoi der klassisch-antiken Liebesse‐ mantik abgerufen werden, in der vierten, deutschen, aber höfische Ideale des Mittelalters. 6 In CB 185 findet sich darüber hinaus ein sehr regelmäßiger Sprachwechsel innerhalb der Strophen, beispielsweise hier in der zweiten Strophe: Ia wolde ih an die wisen gan, flores adunare, do wolde mich ein ungetan ibi deflorare. R E F L . Hoy et oe! maledicantur thylie iuxta uiam posite! 7 Bei diesem Gedicht handelt es sich um eine Parodie von Walthers von der Vogelweide berühmtem Gedicht »Under der linden«. Das Geschehen wird dabei allerdings in eine Ver‐ gewaltigung umgedeutet. Wiedergegeben wird die deutsch-lateinische Klage der Frau, in die die Rede des Mannes (des »ungetan«) eingelagert ist. Wenn man davon ausgeht, dass die Frau nicht von Stande ist - was angesichts ihres freien Herumstreifens in der Natur naheliegt -, so ist klar, dass der Text ihr Sprachkenntnisse zuschreibt, die sie nicht haben kann. Einem im Grunde sozial ›stummen‹ Menschen wird hier eine Rede in den Mund gelegt, die aufgrund des Sprachwechsels klar die Merkmale sozial hochstehender Aus‐ druckskompetenz zeigt. Darin muss man wohl eine arrogante Form männlich-gelehrten/ klerikalen Spotts sehen. Es ist sehr wichtig zu sehen, dass der Sprachwechsel im Mittelalter keinesfalls nur als Mittel zur Erzeugung von Komik dient. Lateinische Einfügungen in volkssprachliche Texte können etwa auch ganz einfach zur Erhöhung der Feierlichkeit beitragen; und umgekehrt kann das Lateinische durch Einbindung in die ›wohlige‹ Volkssprache in den Alltag inte‐ griert werden, beispielsweise in dem Kirchenlied »In dulce jubilo« (Uhrmacher, »Das Spiel mit Sprachdifferenz in Texten populärer Lieder«, 203 f.). Die Synthese von Heiliger Sprache und volkstümlicher Nahsprache hat dem Lied aus dem 14. Jahrhundert eine sehr dauerhafte Popularität gesichert. Ebenfalls religiös motiviert dürfte der Sprachwechsel in den um 1400 von Bruder Hans auf das »Ave Maria« angefertigten insgesamt viersprachigen Glossen sein (siehe hierzu Noel/ Seláf, »On the Status and Effect of Formulas«). Die Ausweitung der einzelnen lateinischen Phrasen des Gebets zu Strophen auf Deutsch, Französisch und Eng‐ lisch lässt sich nicht zuletzt als Vorgriff auf die Verheißung eines Pfingstwunders des christlichen Glaubens verstehen. Einen Sonderfall des literarischen Sprachwechsels stellt für das (späte) Mittelalter die Lyrik Oswalds von Wolkenstein dar, eines Südtiroler Adeligen, dessen schriftstellerische Tätigkeit in den Anfang des 15. Jahrhunderts fällt. Für seine mehrsprachigen Gedichte ist kennzeichnend, dass sich unterschiedliche Sprachen in sehr Till Dembeck 130 <?page no="131"?> 8 Dante Alighieri, La Commedia/ Die Göttliche Komödie I: Inferno/ Hölle, Italienisch/ Deutsch, übers. v. Hartmut Köhler, Stuttgart 2010, S. 104. 9 Ebd., S. 478. großer Freiheit miteinander abwechseln, d. h., ohne auf die traditionell feststehende Wer‐ tigkeit und den ›Charakter‹ der jeweiligen Sprachen Rücksicht zu nehmen. In der For‐ schung ist daher die These vertreten worden, bei Oswald werde die »Hierarchie der Lite‐ ratursprachen […] zugunsten eines diffuseren Exotismus aufgegeben« (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 53). Oswalds Spiel mit der schieren Klanglichkeit unterschiedlicher Sprachen ist allerdings auch anders eingeschätzt worden, so etwa als Versuch, im Rahmen der stark durch Gattungstraditionen eingeschränkten Liebeslyrik dennoch etwas Neues zu schaffen (so Classen, »Multilingualism in Late-Medieval Poetry«, 52-57; vgl. Murray, »Os‐ wald von Wolkenstein’s [! ] Multilingual Songs«). Alles in allem zeigen die vorliegenden Beispiele für literarischen Sprachwechsel aus dem Mittelalter, dass das Lateinische im Verhältnis zu den Volkssprachen ab dem frühen 13. Jahrhundert eine Statusveränderung erfährt: Zunehmend wird es zum Verfügungsma‐ terial volkssprachiger Texte, während zugleich die Volkssprache als Dichtungssprache ei‐ genständiger wird (Classen, »Multilingualism in Late-Medieval Poetry«, 50). Damit ver‐ breitet sich eine kulturpolitische Tendenz, die sich bereits bei dem mit großem Abstand prominentesten Vertreter literarischer Mehrsprachigkeit im Mittelalter beobachten lässt, nämlich bei Dante Alighieri. Dantes Gebrauch der Volkssprache in der Commedia hat näm‐ lich insgesamt einen sprachmischenden Charakter, denn sowohl lexikalisch als auch mor‐ phosyntaktisch wird der toskanische Dialekt um Bestandteile anderer romanischer Idiome sowie des Lateinischen angereichert (siehe Klinkert, »Dante Alighieri und die Mehrspra‐ chigkeit«). Sprachwechsel findet sich bei Dante in den meisten Fällen im Zusammenhang mit Sprecherwechseln (siehe III .2) oder mit Zitaten (siehe III .3). Einen Spezialfall stellen die sog. Teufelssprachen dar, die im VII . bzw. im XXXI . Canto des Inferno wiedergegeben werden. Beide Stellen umfassen jeweils nur einen Vers; im ersten spricht Pluto, der Gott der Unterwelt, wie folgt: »Papè Satàn, papè Satàn aleppe! « ( VII ,1) 8 Es handelt sich um einen Wechsel zwischen Latein (›papae‹ ist eine lateinische Interjektion, die Verwunderung aus‐ drückt), Hebräisch (im Italienischen hieße es ›satana‹, hier wird eine Transkription des hebräischen ן ָ ט ָ שּׂ gegeben) und (wahrscheinlich) verballhorntem Hebräisch (›aleppo‹ kann man als Verballhornung von ›Aleph‹, des ersten Buchstabens des hebräischen Alphabets, א , deuten). Für die zweite Stelle ist die Sachlage weniger klar. Hier spricht Nimrod, von dem die außerbiblische Überlieferung sagt, er habe zum Turmbau zu Babel angeregt, die fol‐ genden Worte, die ebenfalls als verballhorntes Hebräisch gedeutet worden sind: »Raphèl ma’y amèch zabì almi« ( XXXI , 67). 9 Allerdings ist für Nimrods Worte gerade ihre Unver‐ ständlichkeit charakteristisch, denn seine Strafe besteht darin, dass er in sprachlicher Iso‐ lation leben muss (siehe ebd.). Die Freiheit, mit der hier inmitten des italienischen Textes die Heiligen Sprachen Latein und Hebräisch behandelt werden, steht ganz im Zeichen einer Kulturpolitik, die aus den volkssprachlichen Dialekten selbst eine Literatursprache, eine grammatica machen will (siehe I.1). III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 131 <?page no="132"?> 3. Frühe Neuzeit Die Frühe Neuzeit und insbesondere die Durchsetzung des Buchdrucks bringen weitere erhebliche Verschiebungen im Gefüge der europäischen Sprachlandschaft mit sich. Denn die seit dem Hochmittelalter zu beobachtende zunehmende Angleichung des Statusunter‐ schiedes zwischen dem Lateinischen und den Volkssprachen setzt sich - nicht zuletzt be‐ dingt durch die mediale Erschließung neuer Formen von Öffentlichkeit - fort, auch wenn erst ab dem 18. Jahrhundert die Produktion volkssprachlicher Texte diejenige lateinischer Texte übertrifft. Gerade die neuen Formen von Sprachwechsel und Sprachmischung, die sich in der Frühen Neuzeit etablieren, zeigen aber dennoch eine auffällige Veränderung an. Beispielsweise lässt sich die Sprachmischung in der makkaronischen Poesie als Verar‐ beitung einer historisch neuartigen Form von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit auf‐ fassen (siehe ausführlicher V.1). Die Gattung begründete das 1493 publizierte Carmen ma‐ caronicum von Tifi degli Odasi; zu ihrer Popularisierung trugen maßgeblich Teofilo Folengos Macaroneae (1517) und außerhalb des italienischen Sprachraums die Werke von François Rabelais und Johann Fischart bei. Die makkaronische Poesie untermischte latei‐ nische Texte mit volkssprachlicher Lexik, wobei die nicht-lateinischen Wörter dennoch den lateinischen Flexionsregeln unterworfen wurden. Sie ist in der Forschung von anderen, ihr nahestehenden Phänomenen der poetischen Sprachmischung abgegrenzt worden, etwa von den sog. »Pedantesca«, die »Lateinische Wörter in die Muttersprache« mischen (Genthe, Geschichte der Macaronischen Poesie, 61 f.), und zwar mit dem Ziel, die pedantische Gelehr‐ samkeit zu verspotten; oder von einem sog. ›Küchenlatein‹, das der Verfasser der bis heute ausführlichsten Darstellung zur makkaronischen Poesie, Friedrich Genthe, als »schon an sich schlechte und fehlerhafte Latinität« charakterisiert, »welche noch dazu, sobald ihr Latein zu Ende ist, […] aus der Muttersprache dem Buchstaben, aber nicht dem Sinne nach übersetzt« (ebd., 62 f.). Auch wenn die Stoßrichtung dieser einzelnen Gattungen (und erst recht diejenige der einzelnen Texte) recht unterschiedlich ist und Genthe (wie auch neuere Darstellungen) diese Differenz zu Recht hervorheben, demonstrieren sie doch allesamt eine gewisse Freiheit im Umgang mit der Gelehrtensprache, die deren Integrität, wenn sie sie auch nicht unmittelbar angreifen, so doch zerbrechlich werden lässt. Sie testen gewisser‐ maßen die Grenzen der vormals ungebrochenen Autorität aus - Grenzen, die zeitgleich durch die Stilideale des Humanismus neu gezogen und verteidigt werden. Wichtig ist es zu betonen, dass Verfahren der Sprachmischung, wie sie die makkaronische Poesie betreibt, im Vergleich zu den Belegen, die sich in der mittelalterlichen Literatur finden, nicht nur eine sehr viel größere Menge an Texten hervorgebracht, sondern offen‐ kundig auch eine andere Wirkmächtigkeit entfaltet haben. Es liegt nahe, hier einen Zu‐ sammenhang herzustellen zu einem Phänomen, das im Bereich der mehrsprachigen Figu‐ renrede zu beobachten ist, die erst in der Frühen Neuzeit, dafür nun aber in besonderem Maße, als Problem reflektiert wird. Berichtet die mittelalterliche Literatur auch in den un‐ wahrscheinlichsten Fällen fast nie über Verständigungsprobleme zwischen Sprechern un‐ terschiedlicher Sprachen, so sind solche Probleme seit der Durchsetzung des Buchdrucks zunehmend ein Thema (siehe Classen, »Multilingualism in the Middle Ages«, 136-142). Man mag hier einen Zusammenhang sehen zwischen den schlagartig erweiterten Verbrei‐ tungsmöglichkeiten anderssprachiger Schriften, durch die die Erfahrung des Nicht-Verste‐ hens stärker in den Fokus rückte, und einem neuartigen Bewusstsein für die Eigenheit von Till Dembeck 132 <?page no="133"?> Sprachen und die Notwendigkeit, sie zu beherrschen und sich zu eigen zu machen. Zugleich dürfte der Standardisierungsdruck, der sich dank der Erfordernisse des Buchdrucks in der Schriftproduktion bemerkbar machte, das Bewusstsein für dialektale und soziolektale Dif‐ ferenzen geschärft haben. Freilich ist die makkaronische Poesie nur eines von vielen literarischen Phänomenen, in denen sich das neue Bewusstsein von der akuten Verständigungsproblematik, die sich aus dem Sprachkontakt ergibt, äußert. Die Kehrseite dieses Problembewusstseins ist nicht zu‐ letzt die bis ins 18. Jahrhundert hinein anhaltende Konjunktur von Plansprachenutopien (siehe hierzu Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache), die auch einen erheblichen literarischen Niederschlag findet. Neben einer Vielzahl von philosophischen Entwürfen, unter denen diejenigen von Gottfried Wilhelm Leibniz, John Locke und John Wilkins nur die prominenten Beispiele sind, ist hier auf die Überlegungen zur Sprache Utopias aus Thomas Morus’ gleichnamiger Schrift (1516) und auf Jonathan Swifts satirische Darstellung einer Universalsprache der Dinge im dritten Band von Gulliver’s Travels (1726) hinzuweisen. Als Fortsetzung der makkaronischen Tradition mit den Mitteln des modernen Romans lassen sich demgegenüber Francesco Colonnas Hypnerotomachia Poliphili (1499) (siehe hierzu Polizzi, »Sprache des Anderen oder eigene Sprache? «), die lateinisch-volkssprachige Satire (siehe Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft) und insbesondere die satirisch-groteske Produktion von Rabelais sowie seines deutschen Bearbeiters Fischart ansehen. Rabelais’ Romanwerk ist nicht zufällig Gegenstand des Interesses von Bachtin geworden, denn die karnevaleske Umkehrung der Gesellschaftsstrukturen, die diese Texte im Raum der grobi‐ anischen Imagination betreiben, führt auch zu einer extremen Polyphonie. In latenter Pa‐ rallele zu Plautus ist in diese Polyphonie auch eine komplexe Variante von Sprachmischung eingearbeitet, vor allem in Form von französisierten lateinischen Worten, Hybridbildungen, also aus Elementen mehrerer Sprachen zusammengefügten Wörtern, und teils mehrspra‐ chigen Paronomasien (siehe Korg, »Polyglotism in Rabelais and Finnegans Wake«, 59-62). Fischart hat in der Geschichtsklitterung (1575) den zweiten Roman von Rabelais, Gargantua (1534), übersetzt bzw. bearbeitet und dabei diesen Effekt noch einmal gesteigert, weil er die übersetzerische Suche nach dem rechten Wort so im Text sichtbar werden lässt, dass fort‐ während unterschiedliche Synonyme oder scheinbare, durch Wortspiele miteinander ver‐ bundene Synonyme aneinandergereiht und dabei gerne auch Sprachgrenzen überschritten werden - bis hin zu dem Punkt, dass einzelne Wörter in ihrer sprachlichen Zugehörigkeit mehrdeutig werden (siehe unten Anwendungs-/ Analysebeispiel 1). Noch Martin Luthers Tischreden, die einer der ersten Gegenstände der literaturwissenschaftlichen Mehrspra‐ chigkeitsforschung gewesen sind (Stolt, Die Sprachmischung in Luthers Tischreden), treiben die deutsch-lateinische Sprachmischung zuweilen so weit, dass sich ähnliche Effekte ein‐ stellen (Martyn, »Es gab keine Mehrsprachigkeit«, 45-47). Und auch wenn ihnen eine sa‐ tirisch-groteske Wirkung nicht unterstellt werden kann, sind auch sie Zeugnisse desselben gewandelten frühneuzeitlichen Sprachbewusstseins. Die frühneuzeitliche Komödie scheint demgegenüber auf den ersten Blick verhältnis‐ mäßig konservativ, denn sie setzt Tendenzen zur Sprachmischung fort, wie sie bereits die antiken Vorbilder aufweisen. Sprachwechsel dienen in der Regel vor allem zur Charakte‐ risierung von Figuren (siehe III .2). Es finden sich aber auch Sprachwechsel und Mischung in der Rede einzelner Figuren, ähnlich wie in der makkaronischen Poesie - Redeweisen, III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 133 <?page no="134"?> 10 Molière, »Le bourgeois gentilhomme«, in: Ders., Œuvres complètes IV, Paris 1979, S. 69-142, hier S. 126 f. 11 William Shakespeare, »King Henry the Fifth«, in: Ders., The Complete Works, hrsg. v. William James Craig, London 1987, S. 509-542, hier S. 541. die als solche auch wiederum der Figurencharakteristik dienen können (zur Komödie seit der italienischen Renaissance siehe Elwert, »L’emploi de langues étrangères«, 237-240). Dies funktioniert teils auch eher indirekt. So wird etwa die Hauptfigur in Molières Bourgeois gentilhomme (1670) dazu gebracht, im Rahmen einer Scheinzeremonie die (im Französi‐ schen eigentlich ohne weiteres verständliche) Lingua Franca (Sabir) für Türkisch zu halten und so ihre charakterliche Schwäche zu offenbaren (zu dieser Textstelle siehe auch II .3). 10 Die Grenzen zwischen Sprachwechsel und Sprachmischung sind dabei oft schwer zu ziehen, denn der Sprachwechsel ist bisweilen so ausgeprägt, dass der Eindruck entsteht, die Figuren sprächen eine eigenständige, neue Sprache. Dies ist beispielsweise in Andreas Gryphius’ Komödie Horribilicribrifax Teutsch (1663) der Fall (siehe hierzu das erste Anwendungs-/ Analysebeispiel in III .2). Es ist kein Wunder, dass auch in diesem Kontext Verständigungs‐ probleme in den Vordergrund treten, was auch jenseits der Gattung Komödie gilt. Bei‐ spielsweise thematisiert William Shakespeares historisches Drama King Henry the Fifth die Sprachprobleme der Tochter des französischen Königs, Katherine, deren französisierendes Englisch wie folgt wiedergegeben wird: »Your majesté ’ave fause French enough to deceive de most sage demoiselle dat is en France.« 11 (Siehe hierzu Radaelli, Literarische Mehrspra‐ chigkeit, 56 f.) Auch im Drama findet sich also ein neuzeitlich verstärktes Bewusstsein für sprachbedingte Verständigungsprobleme. 4. Das 18. und 19. Jahrhundert Damit deutet sich ein Umschwung an, der dann in den literarischen Revolutionen um 1800 seine volle Wirkung entfaltet hat. Werner Helmich hat für alle Formen von Sprachmischung und -wechsel vor dem 19. Jahrhundert festgestellt, dass »bei den fremdsprachigen Einla‐ gerungen in den höheren Gattungen grundsätzlich zuerst die fremde Literatur und dann erst die fremde Lebenswelt ins Blickfeld« (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 76) ge‐ rate. Dies gilt allerdings schon für Shakespeares King Henry the Fifth nicht mehr voll und ganz: Denn ganz offenkundig besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der mittelal‐ terlichen und bereits der frühneuzeitlichen Literatur darin, dass sich in dieser Sprachmi‐ schung und Sprachwechsel deutlich stärker auf außerliterarische Erfahrungsräume be‐ ziehen als zuvor. Damit geht auch ein weiteres Grundmerkmal der vormodernen Verfahren von Sprachwechsel und -mischung zunehmend verloren. Helmichs Charakterisierung der unterschiedlichen Sprachen in der Vormoderne als »Träger konventioneller Ausdrucks‐ qualitäten« gilt in der Moderne immer weniger. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts führt die weitere Emanzipation der Volkssprachen dazu, dass das Lateinische zur toten Sprache erklärt und damit den Volkssprachen nachgeordnet wird. Dies geht einher mit der breiten Durchsetzung einer Semantik von Muttersprache, die diese nicht nur als Sprache der Erstsozialisation, sondern vor allem auch als Sprache der Nation auffasst. Hierin liegt der Beginn der modernen Einsprachigkeitssemantik, deren wichtigste Folge für die Literatur darin besteht, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun‐ derts einzig das Schreiben in der Muttersprache als ›original‹ gilt. Die Autonomisierung Till Dembeck 134 <?page no="135"?> 12 Ausführlicher hat Stockhammer das Argument entfaltet in »Lehrjahre der National- und Wander‐ jahre der Weltliteratur. Zur Sprachigkeit von Goethes Wilhelm Meister-Romanen«, Vortrag an der Universität Luxemburg am 8. September 2016. 13 Siehe Valerij Gretchko, »Pluribus in Unum: A. S. Pushkin and the formation of Russian literary lang‐ uage«, Vortrag an der Universität Luxemburg am 9. September 2016. der Literatur, in deren Zeichen das 18. wie das 19. Jahrhundert stehen, hat insofern die neue, auf Einsprachigkeit ausgerichtete nationale Kulturpolitik mitgetragen oder sogar gefördert. Sie bietet allerdings grundsätzlich zugleich auch die Gelegenheit zur Entwicklung neuar‐ tiger Verfahren von Sprachmischung, denn die Autonomisierung der Literatur und die Etablierung eines ästhetischen Imperativs zur Innovation führen zur Freigabe vormals gen‐ regebundener Formvorgaben zum Zweck der ästhetischen Formevolution. (Nicht zuletzt daraus dürfte sich die Prominenz des traditionell als Mischgattung aufgefassten Romans in der Moderne erklären.) Damit wird auch der Transfer von sprachspezifischen Gattungs‐ konventionen über Sprach- und Gattungsgrenzen hinweg denkbar, wenn diese Möglichkeit auch einstweilen selten genutzt wird. Allerdings lassen sich beispielsweise die Experimente mit einem deutschen Hexameter und die lyrische Verarbeitung ›volkstümlicher‹ Formvor‐ gaben unterschiedlicher Provenienz als Versuche verstehen, aus dem Rückgriff auf sprach‐ liche Diversität ästhetischen Gewinn zu ziehen, auch wenn die daraus resultierende Sprach‐ mischung eher latent bleibt (siehe V.1). Auch wenn die Forschung dies angesichts der im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert übermächtig scheinenden Semantik der nationalen Einsprachigkeit bislang kaum in den Blick genommen hat, finden sich auch in dieser Zeit durchgängig Phänomene von Sprach‐ wechsel und -mischung. Ähnlich latent wie die Übernahme formaler Muster aus anderen sprachlichen Kontexten bleibt dabei beispielsweise der Versuch, eine nationale Standard‐ sprache als eine Art übergeordnete Metakultursprache zu etablieren, die die Sprachvielfalt der Welt in sich aufhebt. Einen solchen Versuch unternehmen sowohl Johann Wolfgang von Goethes Faust (siehe das Analysebeispiel in III .2) als auch die Wilhelm Meister-Romane (siehe Stockhammer, »Die gebrochene Sprache des Literarischen« 12 ): Beide inszenieren sich als Entwürfe eines Idioms, das im Medium des Scheins eine transzendentale Synthese der (europäischen) Sprachen und Literaturen leistet und zugleich die Scheinhaftigkeit dieser Unternehmung reflektiert. Gegenüber der auf der Oberfläche nahezu gänzlich deutsch‐ sprachigen Faktur der Goethe’schen Texte weist das angebliche Gründungsdokument der modernen russischen Sprache, Alexander Sergejewitsch Puškins Евгений Онегин (Jevgenij Onegin) von 1830, deutlich manifestere Formen von Sprachwechsel auf (insbesondere dank der Einfügung französischer Wörter), ist insgesamt aber auch als Ergebnis einer Sprach‐ mischung zu verstehen, die unter Zuhilfenahme anderssprachiger Strukturen und Elemente die Grenzen zwischen getrennten Stillagen der russischen Sprache auflöst. 13 Auch die hu‐ moristischen Romane von Autoren wie Lawrence Sterne und Jean Paul lassen sich dieser Gruppe von Texten zuordnen. Sprachwechsel findet sich hier vor allem in Form von Zitaten (siehe III .3), deren Effekt einerseits die Erzeugung komischer Kontraste ist, die aber ande‐ rerseits im Dienst des humoristischen Programms stehen, gerade die Disparatheit des Le‐ bens als Ausdruck einer höheren Einheit zu sehen. Schließlich wird im 19. und 20. Jahrhundert im realistischen Roman von Lev N. Tolstoj bis Thomas Mann die heute wohl augenfälligste Form von Sprachwechsel zur Perfektion III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 135 <?page no="136"?> 14 Honoré de Balzac, »Le Cousin Pons«, in: Ders., La Comédie humaine VII: Études de mœurs: Scènes de la vie parisienne, hrsg. v. Pierre-Georges Castex u. a., Paris 1977, S. 483-765, hier S. 756. 15 Ebd., S. 753. getrieben, die Wiedergabe anderssprachiger Figurenrede im Original (siehe III .2). Auch der erzählerische Realismus entwickelt aber überdies neuartige Formen der Sprachmischung, sowohl in der Figurenals auch in der Erzählerrede. Ein Beispiel hierfür ist die Imitation eines deutschen Akzents in Honoré de Balzacs Le Cousin Pons (1847), die durch die konse‐ quente Vertauschung von stimmhaften und stimmlosen Konsonanten zustande kommt (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 70). Der deutsche Freund der Hauptfigur, Schmucke, äußert sich hier in Sätzen wie »Ha! fous me gombrenez! « 14 oder: »Ele a l’air d’une bedide Allemante! « 15 Häufig wird Sprachwechsel auch zur Erzeugung von ›Lokal‐ kolorit‹ verwendet, wenn zum Beispiel die Handlung in einem anderssprachigen Land spielt und der Erzähler ›landestypische‹ Bezeichnungen oder auch nur Namen verwendet. Dies ist etwa der Fall in Stendhals La Chartreuse de Parme (1839) (Ullmann, Style in the French Novel, 44-52); oder wenn für Erzählerwie Figurenrede artifiziell-archaisierende Sprach‐ formen entwickelt werden, wie es (auf sehr behutsame Weise) in Ivanhoe (1820) von Walter Scott, aber auch in Victor Hugos Notre-Dame de Paris (1831) der Fall ist (ebd., 64-73, siehe zum nicht nur realistischen Gebrauch des Spanischen im Roman Grutman, »›Besos para golpes‹«). Besonders ausgeprägt ist der sprachliche Realismus des Erzählens in Prosper Mérimées Novelle Carmen (1847), die auf Spanisch, Baskisch und Romani zurückgreift, und zwar auch in der Erzählerrede (Ullmann, Style in the French Novel, 53-58). Viele Sprach‐ wechsel finden sich im realistischen Erzählen überdies in Form von anderssprachigen Zi‐ taten (siehe III .3). Eine besonders herausstechende Kombination aller dieser Verfahren von Sprachwechsel und -mischung, wenn auch vor allem auf der Ebene soziolektaler und dia‐ lektaler Polyphonie, bietet für das 19. Jahrhundert Herman Melvilles Moby Dick (1851): Hier wird nicht nur die kulturelle Diversität der Schiffsbesatzung durch die Vielfalt der (engli‐ schen) Ausdrucksweise vor Augen geführt, sondern den Ich-Erzähler selbst kennzeichnet, bewirkt durch Zitate wie durch die stilistische Anlehnung an literarische Vorbilder (vor allem: Shakespeare und die Bibel), eine in sich stark polyphone Sprechweise (Lee, »The Language of Moby-Dick«). Auch wenn Sprachwechsel und -mischung im realistischen Roman, und gerade bei Melville, auch anders motiviert sein können, haben sie doch immer auch die Funktion, Realitätseffekte im Sinne Roland Barthes’ zu erzeugen: So ›unrealistisch‹ das bei Hugo verwendete archaisierende Französisch auch sein mag, steht es doch für Re‐ alität ein. In vielleicht noch gesteigertem Maße gilt dies für die Literatur aus solchen Re‐ gionen, in denen unterschiedliche Sprachgemeinschaften aufeinandertreffen oder in denen eine Diglossiesituation vorliegt. Insofern dergestalt regional sich bestimmende Literatur auch auf Seiten der Rezipienten eine mehrfache Sprachkompetenz voraussetzen kann, sind Sprachwechsel und -mischung hier auch und gerade im ›einsprachigen‹ 19. Jahrhundert, das vielfach auch das Jahrhundert ist, in dem sich eine entsprechende Regionalliteratur etabliert, recht verbreitet, werden aber in erster Linie zur Figurencharakterisierung einge‐ setzt (siehe III .2). Im Einzelnen ist diese Form von Realismus der Mehrsprachigkeit immer vor dem kulturpolitischen Wertungsgefüge zu lesen, das sich zwischen den einzelnen be‐ teiligten Sprachen entfaltet. In der Forschung ist die u. a. am Beispiel Québecs (Grutman, Till Dembeck 136 <?page no="137"?> 16 Siehe den Kommentar in Lewis Carroll, The Annotated Alice. The Definitive Edition. Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass, Einleitung und Kommentar v. Martin Gardner, London u. a. 2001, S. 157. 17 Ebd., S. 155. 18 Ebd., S. 225. Des langues qui résonnent), Istriens (Strutz, »Istrische Polyphonie«) oder Luxemburgs (Hansen-Pauly, »The Languages of Literature«; Glesener, »Le multilingualisme«) gezeigt worden. 5. Das 20. Jahrhundert Neben der ›realistischen‹ Tradition des Sprachwechsels, die eher am Rande auch Verfahren der Sprachmischung nutzt und sich bis heute fortsetzt, gewinnt spätestens um 1900 eine weitere, Sprachwechsel wie Sprachmischung umfassende, literarische Tradition an Ge‐ wicht, die Helmich im Anschluss an Wladimir Krysinski als »ludisch« bezeichnet (Hel‐ mich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 38). Damit ist natürlich nicht gesagt, dass es zuvor keinen spielerischen Umgang mit beiden Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit gegeben hätte. Denn schon die griechisch-lateinischen Neologismen bei Plautus, die gesamte mak‐ karonische Poesie und die meisten Formen von Sprachwechsel und -mischung in den ly‐ rischen Gattungen überhaupt sind zweifelsfrei stark von sprachspielerischen Momenten getragen. Um 1900 wird aber zunehmend und in zunehmend manifesteren Formen die be‐ reits um 1800 mit der Autonomisierung von Kunst und Literatur prinzipiell bestehende Möglichkeit genutzt, Sprachdifferenzen gezielt zur innovativen literarischen Formbildung einzusetzen, und zwar sowohl zur Konstitution neuer lyrischer Formen als auch zur Kon‐ stitution literarischer Experimentalsprachen im Roman. Beide Verfahren wurden im 20. Jahrhundert traditionsbildend, und zwar in der Regel für solche literarischen Strö‐ mungen, die sich selbst als avantgardistisch beschrieben haben. In der Lyrik können als Vorreiter für den Einsatz von Sprachwechsel und -mischung zur avantgardistischen Formbildung beispielsweise Lewis Carroll und Christian Morgenstern gelten. Carrolls Gedicht »Jabberwocky« aus Through the Looking-Glass (1871) systemati‐ siert Verfahren der sog. Unsinnspoesie und gestaltet einen Text, der zwar englisch wirkt, dessen Wörter sich aber größtenteils nicht im Lexikon finden. Bei der ersten Strophe des Gedichts handelt es sich um einen bereits 1855 publizierten Versuch, »Anglo-Saxon Po‐ etry« 16 zu simulieren: Twas brillig, and the slithy toves Did gyre and gimble in the wabe; All mimsy were the borogoves, And the mome raths outgrabe. 17 Im Roman wird die Bedeutung der einzelnen Wörter der Hauptfigur teilweise von Humpty Dumpty erläutert, wobei das wandelnde Ei nebenbei den Begriff des »portmanteau«-Worts prägt: »›[S]lithy‹ means ›lithe and slimy‹«. 18 Das grundlegende Verfahren des Textes ist es, im Englischen existierende Wörter zu verfremden oder auf der Grundlage existierender Wörter bzw. Morpheme neue Wörter zu generieren. Von einem Fall von Sprachmischung lässt sich dabei insofern sprechen, als die einzelnen Wortbildungen über dasjenige hinaus‐ III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 137 <?page no="138"?> 19 Christian Morgenstern, Werke und Briefe. Kommentierte Ausgabe, Bd. III: Humoristische Lyrik, hrsg. v. Maurice Cureau, Stuttgart 1990, S. 213. 20 Stefan George, Sämtliche Werke in 18 Bänden, hrsg. v. der Stefan George-Stiftung, bearb. v. Ute Oelmann, Bd. VI/ VII, Stuttgart 1986, S. 117. gehen, was die eine englische Sprache beinhaltet, auch wenn (wahrscheinlich) keine Ele‐ mente oder Strukturen zu finden sind, die einer anderen Sprache eigen wären. Dasselbe lässt sich von einigen der Morgenstern’schen Galgenlieder sagen, beispielsweise für das »Gruselett«, das mit folgenden Worten beginnt: »Der Flügelflagel gaustert / durchs Wiru‐ waruwolz / die rote Fingur plaustert / und grausig gutzt der Golz.« 19 Bei Carroll wie bei Morgenstern entsteht auf diese Weise eine Sprache, die als eine (alt wirkende) ›Neuabmi‐ schung‹ die Hybridität und Anpassungsfähigkeit des Englischen bzw. Deutschen hervor‐ kehrt. Sprachmischung als Entwicklung eines neuen Idioms findet sich um 1900 im deutsch‐ sprachigen Raum auch bei Stefan George, der in das Gedicht »Ursprünge« aus dem Zyklus Der siebente Ring (1907) zwei Verse in einer Sprache einfügt, die er angeblich in seiner Jugend erfunden hat: Süss und befeuernd wie Attikas choros Über die hügel und inseln klang: CO BESOSO PASOJE PTOROS CO ES ON HAMA PASOJE BOAÑ. 20 Konstatiert werden kann hier zumindest, dass die anderssprachigen Worte in sich von starken Assonanzen geprägt sind und qua Reim an die vorangehenden deutschen Verse anschließen. Ansonsten hat die Forschung bei der Entzifferung dieser Verse eher resigniert. Immerhin liegt aber eine Deutung von Benjamin Bennett vor, der davon ausgeht, George nutze hier griechische Wörter zur Erfindung einer neuen Sprache, deren Syntax wiederum an das Deutsche angelehnt sei (Bennett, »›Ursprünge‹«, 80, Anm. 2). Bennett zufolge be‐ schwören die Verse die Selbst-Verkündigung der Schöpfung, ja, des Kosmos in der mensch‐ lichen Sprache, die ihren eigenen Anspruch unterliefe, wenn sie sich in verständlichen Worten ausdrückte. Die Integration der unverständlichen Kunstsprache diente so nicht zuletzt der Untermauerung einer radikalen kulturpolitischen Selbst-Verkündigung. George, dessen Texte der Mehrsprachigkeit des Autors zum Trotz ansonsten einem ostentativen Sprachpurismus unterliegen, greift also, wenn man Bennetts Deutung folgt, in einem kul‐ turpolitisch entscheidenden Moment auf Sprachwechsel bzw. -mischung zurück. Auch wenn dies dem elitären George nicht gepasst haben dürfte, liegt darin eine Parallele zu den Avantgarden, und zwar schlicht aufgrund eines Erneuerungswillens, dessen Ein‐ flussbereich weit über denjenigen der Literatur und der Kunst hinausgeht. Nicht zuletzt dies zeigen Sprachwechsel und Sprachmischung in der Lyrik um 1900. Gerade im Namen der ›Reinheit‹ und Autonomie der Kunst kann nun die ›Verunreinigung‹ bzw. die radikale Destruktion bestehender Sprache(n) betrieben werden. Die Forderung des italienischen Futuristen Filippo Tommaso Marinetti, (mindestens) auf Adjektive, Adverben und Inter‐ Till Dembeck 138 <?page no="139"?> 21 Filippo Tommaso Marinetti, »Die futuristische Literatur. Technisches Manifest«, in: Thomas Anz/ Michael Stark (Hrsg.), Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, Stuttgart 1982, S. 604-610. 22 Guillaume Apollinaire, L’antitradition futuriste. Manifest=synthèse, Paris 1913. 23 Siehe »Kunst als Verfahren«, in: Jurij Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1971, S. 3-35. 24 Hugo Ball, »Gadji beri bimba«, in: Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente, hrsg. v. Karl Riha, Stuttgart 1992, S. 68. punktion zu verzichten, 21 oder die Einordnung des Stichworts »Polyglottisme« als Arbeits‐ technik zur Erlangung künstlerischer »pureté« und »variété« durch Guillaume Apolli‐ naire 22 entfalten dieses Programm ebenso, wie es im Grunde in Viktor B. Šklovskijs 1916 geprägtem Begriff der остранение (ostranenie) angelegt ist, der die ›Verfremdung‹ des Sprachmaterials als ›Kunstgriff‹ (приём, priom) der Literatur beschreibt. 23 Am auffälligsten indes ist die Nutzung von Sprachwechsel und -mischung im lyrischen Schaffen des DADA - wenn sich die Sprachexperimente der Dadaisten auch bei weitem nicht in Verfahren der literarischen Mehrsprachigkeit erschöpfen. Für Hugo Balls Gedicht »Gadji beri bimba« beispielsweise ist gezeigt worden, dass durch Lautmalerei, durch (wenige) Anklänge an existierende (deutsche) Wörter, durch Wiederholungsfiguren und morphologische Struk‐ turen, die an Flexionsendungen erinnern (Gascoine, »Boomboom and Hullabaloo«, 203-207), ein »eclectical hybrid idiom« (ebd., 211) erzeugt wird. Die erste Versgruppe des Gedichts lautet wie folgt: gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori gadjama gramma berida bimbala glandri galassassa laulitalomini gadji beri bin blassa glassala laula lonni cadorsu sassala bim gadjama tuffm i zimzalla binban gligla wowolimai bin beri ban o katalominai rhinozerossola hopsamen laulitalomini hoooo gadjama rhinozerossola hopsamen bluku terullala blaulala loooo 24 Dieses Gedicht ist allerdings nur eines von vielen Beispielen für den Umgang des DADA mit Sprachdifferenzen. Ihm zur Seite zu stellen wären beispielsweise die Experimente von Hans Arp, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Tristan Tzara mit ›Simultangedichten‹, die als gleichzeitige Lektüre von drei Gedichten in unterschiedlichen Sprachen zur Auf‐ führung gebracht wurden und so eine akustische Form der Sprachmischung ermöglichten (siehe ebd., 207-211; Kilchmann, »Alles Dada«, 50-52; das Verfahren kennt allerdings be‐ reits mittelalterliche Vorbilder, siehe Zumthor, »Un problème d’esthétique médiévale«, 335 f.). In all diesen Fällen geht es um den politischen Einsatz gegen jede Form von Natio‐ nalismus, vor allem aber darum, Verfahren der Sinnkonstitution jenseits des sprachlich bereits Denkbaren zu erproben. Buchstäblich drückt dies die Bezeichnung der slawischen Kunstsprache aus, die die russischen Avantgardisten Aleksej Kručenych und Velimir Chlebnikov zeitgleich entwickelten: заумь (zaum) bedeutet so viel wie ›Jenseits des Ver‐ standes‹ (siehe hierzu ausführlich Janacek, Zaum, zur besonders intensiven Ausprägung der Sehnsucht nach einer Aufhebung der Sprachvielfalt bei den russischen Avantgarden siehe Nohejl, »Die ›Auferstehung des Wortes‹«). Selbst wenn dabei die Lautpoesie, in der III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 139 <?page no="140"?> Reduktion auf den reinen Klang, gerade die Aufhebung jeder Sprachdifferenz zu betreiben und so einen anderen Weg ins Jenseits der Sprachigkeit einzuschlagen scheint als die sprachmischende oder -wechselnde Avantgardelyrik, führt auch sie letztlich nur zu einer Vervielfältigung der poetischen Idiome, insofern hier jeder Text seine eigene Sprache be‐ gründet (siehe hierzu Chareyre, »Le poème abstrait«). Die Tradition einer dergestalt ›sprachschöpferischen‹, lyrischen Verwendung von Sprachwechsel und -mischung hat im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Kontexten ihre Fortsetzung gefunden. In der modernistischen Lyrik von T. S. Eliot und Ezra Pound findet sich Sprachwechsel vor allem in Form von anderssprachigen Zitaten (siehe III .3; zu Pound siehe Riesner, »›The sum of human wisdom …‹«), die aber auch Effekte auf der Ebene des Versbaus erzeugen, welche wiederum als (latente) Form von Sprachmischung interpretiert werden können (siehe V.1 zu Eliot). Im deutschen Sprachraum sind in der Nachkriegszeit vor allem Ernst Jandl, Oskar Pastior und H. C. Artmann durch lyrische Formen von Sprach‐ wechsel und -mischung hervorgetreten (siehe hierzu V.I sowie IV .2). Eine wirkungsmäch‐ tige Sonderform der lyrischen Sprachmischung stellt schließlich ab den 1950er Jahren die Konkrete Poesie mit Eugen Gomringer als prominentem Vorreiter dar (Schlegel, »›Mühelos polyglott‹«). Ähnlich experimentelle Formen von Sprachwechsel und Sprachmischung finden sich in der Erzählliteratur zu Beginn des 20. Jahrhunderts an vielen Stellen, prominent etwa in Prosatexten des frühen Beckett, der diese Techniken allerdings später aufgab (vgl. Mann‐ weiler, »Erfahren und erzeugt«). Für die Geschichte des Romans wegweisend sind vor allem die Formen des Sprachwechsels und der Sprachmischung, die sich in James Joyce’ Roman Ulysses (1922) finden und deren Prominenz sich dort aus dem Versuch ergibt, eine neuartige Vielfalt von Erzählverfahren auszutesten. Im 14. Kapitel des Romans, das vom nächtlichen Aufenthalt des Protagonisten in einer Geburtsklinik erzählt und sich insgesamt dem Thema von Genese und Wachstum von Mensch und Menschheit widmet, verändert sich im Verlauf des Kapitels die Sprache, in der das gesamte Geschehen dargestellt wird. Präsentiert wird die Genese der englischen (Literatur-)Sprache: Das Kapitel setzt ein mit einer Reihe latini‐ sierender Worte, an die sich eine Nachahmung altenglischer Stabreimverse anschließt. Im Erzählverlauf modernisiert sich die Sprache zunehmend, bis das Ende des Kapitels in einem modernen, schwer verständlichen Slang vorgetragen wird. Die vorgeführten einzelnen Stufen lehnen sich dabei jeweils mehr oder weniger offen parodistisch an berühmte Schrift‐ steller der englischen Literaturgeschichte an. Wesentlich radikaler noch greift Joyce’ Fin‐ negans Wake auf Sprachmischung zurück, ja, das mehrsprachige Wortspiel ist im Grunde das wesentliche Konstruktionsprinzip dieses Texts (siehe unten Anwendungs-/ Analyse‐ beispiel 3). Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts finden sich unter der Vielzahl von Texten, die sich auf die von Joyce’ Romanen angestoßene Entwicklung beziehen lassen, auch solche, die die dort entwickelten Verfahren der Sprachmischung und des Sprachwechsels auf‐ greifen. Im englischen Sprachraum fällt hier insbesondere G. V. Desanis Roman All About H. Hatterr (1948) ins Auge, der eine extreme Sprachvielfalt entfaltet, und zwar sowohl dank einer »intense intralingual variation of English« (Lennon, In Babel’s Shadow, 46) als auch auf der Ebene unterschiedlicher, ihren Sprechern wechselseitig nicht verständlicher Stan‐ dard- oder Nationalsprachen. Der Roman ist als ein Beispiel besonders ›starker‹ Mehrspra‐ Till Dembeck 140 <?page no="141"?> chigkeit ausgewiesen worden, insofern er dem Verständnis ›einsprachiger‹ Leser durch keinerlei Redundanz entgegenkommt (ebd., 40-51). Im deutschsprachigen Raum sind als prominente Autoren der Nachkriegszeit insbesondere Arno Schmidt und Uwe Johnson zu nennen. Verbindet sich Sprachwechsel bei Johnson in erster Linie mit Figurenrede (siehe III .2), so zeichnet Schmidts Erzählen gerade aus, dass der Sprachwechsel die Figurenrede transzendiert, so dass gleichsam auch die Figuren die für den (Ich-)Erzähler charakteristi‐ sche Form des Sprachwechsels betreiben. Der Sprachwechsel ergibt sich bei Schmidt in weiten Teilen aus exzessivem Zitieren (siehe III .3). Zudem liegt fast immer eine segmentäre Trennung vor. Dennoch verdichten sich Erzählerwie Figurenrede zu einer Art eigenstän‐ digem Idiom aus deutschen, englischen, lateinischen und auch russischen Elementen (siehe Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 412-418, zu Schmidts Roman Abend mit Goldrand 412-418; Lennon, In Babel’s Shadow, 117-123, zu Kaff auch Mare Krisium). Dieser Eindruck entsteht nicht zuletzt dadurch, dass Schmidts Texte eine eigene Orthographie sowie ein eigenes Interpunktionssystem entwickeln. Bleibt die Sprachmischung bei Schmidt deutlich unterhalb des Komplexitätsniveaus, das Joyce in Finnegans Wake entfaltet, so liegt mit Julián Ríos’ Roman Larva. Babel de una noche de San Juan (1983) ein Text vor, der, ausgehend vom Spanischen, eine ähnliche Komplexität der Sprachmischung erreicht wie Joyce’ Roman (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 291-304). Mittelbar Teil der Joyce’schen Tradition der literarischen Sprachmischung im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind auch solche Texte, die, wenn auch nicht notwendig (nur) durch Joyce inspiriert, literarische Plansprachen entwerfen. Auch hier sind die Avantgarden vom Anfang des Jahrhunderts wegweisend, die übrigens in den um 1900 aktuellen sprachpolitischen Bemühungen um Plansprachen eine Parallele finden (siehe II .4). Ein prominentes Beispiel aus dieser Zeit ist die von Eugene Jolas in den 1920er und 1930er Jahren entwickelte Literatursprache Atlantica (siehe Kel‐ bert, »From Babelbank to Atlantica«). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich Plansprachenexperimente etwa bei Jorge Luis Borges (Helmich, Ästhetik der Mehr‐ sprachigkeit, 455-457), J. M. G. Le Clézio (ebd., 464-468) und aktuell bei Frédéric Werst, dessen ›wardwesân‹ genannte Sprache die wahrscheinlich am weitesten ausgebaute (lite‐ rarische) Plansprache aller Zeiten ist (ebd., 471-475). Eine weitere Gruppe von Texten der ›ludischen‹ und insofern ebenso Joyce’schen Tradition von Sprachwechsel und -mischung entsteht schließlich mit der Etablierung neuartiger experimenteller Erzählverfahren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Französischen etwa im Umkreis der literarischen Gruppierungen »Tel Quel« und »Oulipo«, wenn auch hier Mehrsprachigkeit vor allem durch Zitation erzeugt wird (siehe III .3). Zu erwähnen sind etwa Georges Perec, Philippe Sollers, Le Clézio (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 349-367) und vor allem Maurice Roche, dessen Text Circus. Roman(s) (1972) von einem extrem hohen Anteil andersspra‐ chiger Zitate durchsetzt ist (ebd., 384-386). In der italienischen Literatur stechen die Texte des Oulipo-Mitglieds Italo Calvino und vor allem das (erzählerische, dramatische wie lyri‐ sche) Werk von Edoardo Sanguineti heraus (ebd., 199-203, 245-250, 495-498). Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich jenseits solcher, im Sinne Helmichs ›ludischer‹ Formen der literarischen Mehrsprachigkeit auch weiterhin solche, die eher durch traditionelle Formen der realistischen Darstellung motiviert sind. Dies gilt un‐ geachtet der Tatsache, dass etwa im Bereich des literarischen Mainstreams insbesondere für den deutschen und sicher auch für den französischen Sprachraum eher Kulturpolitiken III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 141 <?page no="142"?> der Einsprachigkeit maßgeblich bleiben. In Westdeutschland ist dies nicht zuletzt der Vor‐ machtstellung der Gruppe 47 zu verdanken, die im Wesentlichen einem Einsprachigkeits‐ ideal verpflichtet blieb. So besteht beispielsweise Günter Grass’ Blechtrommel, obgleich die Handlung eine Vielzahl anderer Sprachen erwähnt, dennoch nahezu ausschließlich aus deutschen Wörtern (Dembeck, »Auf Polnisch wird nur geflucht«). Sprachwechsel und -mi‐ schung bleiben so weitgehend solchen Autoren überlassen, die der Gruppe nicht angehören oder doch eher ihrem Rand zuzuordnen sind, wie neben Schmidt und Johnson (und auch den Lyrikern Jandl sowie H. C. Artmann) etwa Elias Canetti, dessen Die Stimmen von Mar‐ rakesch Gegenstand ausführlicher Analysen zum figurenbezogenen Sprachwechsel ge‐ worden ist (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 76-123; Weissmann, Métamorphoses in‐ terculturelles; siehe auch III .2). Prominent ist weiterhin Ingeborg Bachmanns Erzählung Simultan (1972), die in weiten Strecken in erlebter Rede die Gedanken der Hauptfigur, einer polyglotten Simultanübersetzerin, wiedergibt (siehe Radaelli, Literarische Mehrsprachig‐ keit, 153-242). Im englischen Sprachraum findet sich mit Christine Brooke-Roses Roman Between (1968) ein Vorgänger zu Bachmanns Erzählung (siehe Lennon, In Babel’s Shadow, 15-17, ausführlich 84-91). In diesem Roman reist die Hauptfigur, die ebenfalls Dolmet‐ scherin ist, mit einem Begleiter durch Europa und am Ende aus Europa hinaus in die Türkei. Die Auseinandersetzung mit dem Türkischen, das nun in den Text eindringt, stellt die Er‐ fahrung inkommensurabler sprachlicher Fremdheit dar. Der Roman ist jenseits des (meist auf unterschiedliche Figuren verteilten) Sprachwechsels insofern auch ein Beispiel für avancierte literarische Sprachmischung, als er sich einem grammatischen Lipogramm un‐ terwirft - und in keiner der verwendeten Sprachen Formen des verbum substantivum ›sein‹ verwendet. Darin lässt sich eine kulturpolitische Strategie zur Vermeidung jeglicher Sub‐ stantialitätszuschreibung sehen. Eine Art Privatsprache, die aus Sprachmischung entsteht und zur Figurencharakterisierung beiträgt, hat Anthony Burgess in A Clockwork Orange (1963) entwickelt (ebd., 101-108). Der Roman simuliert die ›Jugendsprache‹ des Erzählers Alex, die dieser als Nadsat (›teen‹) bezeichnet, es durchsetzt das Englische mit russischen Lehnwörtern. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Verwendung von durch den Realismus entwickelten Verfahren des Sprachwechsels und der Sprachmischung aus den vergangenen 20 Jahren sind die Kriminalromane von Andrea Camilleri (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 119-125), in denen sowohl die Figurenals auch die Erzählerrede in einer »sikulo-italienische[n] Mischsprache« (ebd., 121) gehalten sind. Hier führt die Ent‐ lehnung »für den Handlungsfortgang wichtige[r] Lexeme« (ebd.) aus dem Sizilianischen zur zunehmenden Verständlichkeit des Idioms, die durch die zusätzliche Einfügung italie‐ nischer Synonyme oder durch starke kontextuelle Konditionierung so verstärkt wird, dass der Leser letztendlich den Eindruck gewinnt, ein ihm fremdes Idiom dennoch zu verstehen. In einem ganz anderen Kontext erscheint Sprachwechsel in Fritz Rudolf Fries’ Roman Alexanders neue Welten (1982): Ähnlich wie bei Schmidt ist hier die Figurenrede stark von Sprachwechseln durchsetzt, die sich aus anderssprachigen Zitaten ergeben, aber in der Forschung nicht zuletzt dadurch erklärt werden, dass sie es ermöglicht haben, politische Kritik vor der DDR -Zensur zu verstecken (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 409-411) - eine Funktion von Sprachwechsel und -mischung, die bislang fast gar nicht von der Forschung aufgearbeitet worden ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich Till Dembeck 142 <?page no="143"?> schließlich mit der Lagerliteratur ein neues realistisches Genre entwickelt, das stark auf Sprachwechsel zur Figurencharakterisierung zurückgreift (siehe III .2). Diejenigen literarischen Texte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und aus der Gegenwart, die derzeit mit Blick auf Sprachwechsel und -mischung das wahrscheinlich größte Interesse von Seiten der Forschung erhalten, sind solche, die sich mit Migration und/ oder Deportation oder mit einem (post-)kolonialen Kontext in Verbindung bringen lassen. Elke Sturm-Trigonakis vertritt die (sicherlich zu präzisierende, wenn nicht gar teils zu re‐ lativierende) These, dass in der von ihr so benannten »Neuen Weltliteratur« sowohl die Menge als auch die Komplexität der Texte, die Sprachwechsel und -mischung als Verfahren benutzen, stark gestiegen ist (Sturm-Trigonakis, Global Playing, 160-163). Laut Helmich entfalten sich in diesem Kontext gänzlich neue Funktionen des Sprachwechsels und teils auch solche der Sprachmischung (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 548-550): Es geht nun beispielsweise um die gezielte Subversion von Mutter- oder Einsprachigkeitsseman‐ tiken, die Beförderung subalterner Sprachigkeit, um eine Kulturpolitik sprachlicher Hy‐ bridität, genauer: um den Aufweis der Hybridität jedes sog. ›Eigenen‹ oder um die Dar‐ stellung persönlicher wie kollektiver Sprachbiographien unterhalb des Levels ›offiziöser‹ Sprachpolitiken nicht zuletzt des Literaturbetriebs. (Indirekte) Vorläufer der Verfahren von Sprachwechsel und -mischung, die später in Kontexten des Postkolonialismus und der Migration verwendet werden, finden sich nicht zuletzt in selbst kolonialistisch gefärbter oder zumindest in kolonialistischen Kontexten entstandener Literatur oder auch in regio‐ nalen, mehrsprachigen Literaturtraditionen (siehe oben). Für die amerikanische Literatur finden sich folgenreiche Beispiele in James Fenimore Coopers Leatherstocking Tales (1832-1841) (Rosenwald, Multilingual America, 20-47) oder in Herman Melvilles frühem Globalisierungsroman Moby Dick. Alle diese Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie die mehrsprachige Figurenzeichnung, wenn auch auf je unterschiedliche Weise, kulturpolitisch einsetzen (siehe III .2). Das Feld der Texte aus der zweiten Hälfte des 20. und den ersten Jahren des 21. Jahr‐ hunderts, die Sprachwechsel und -mischung mit Postkolonialität und Migration in Verbin‐ dung bringen, ist insgesamt kaum überschaubar. Ein wichtiger früher Text ist hier Desanis mehrsprachiger postkolonialer Roman All About H. Hatterr, dessen durch die Re‐ zeptionsgeschichte vollzogene Eingemeindung in die Avantgardeliteratur Joyce’scher Prä‐ gung (siehe oben) insofern dem Impuls des Textes selbst zuwiderläuft, als sich dieser (ebenso wie sein Autor) dem Bestreben, ihn übersetzbar und damit kulturpolitisch verbreitbar zu machen, im Grunde verweigert (Lennon, In Babel’s Shadow, 40-51). Eine oft gewählte Form des Schreibens über Migration, die sich des Sprachwechsels bedient, sind ›Sprachbiogra‐ phien‹ (language memoirs), wie beispielsweise Richard Rodriguez’ Hunger of Memory (1982), Eva Hoffmans Lost in Translation: Life in a New Language (1989) oder Ilan Stavans’ On Borrowed Words: A Memoir of Language (2001). Oft zeichnen sich solche Texte, gerade weil sie eine Übersetzung der mehrsprachigen Identität in die Einsprachigkeit leisten (müssen), durch eher ›schwache‹ Formen des Sprachwechsels aus (siehe ebd., 11-14 zu Stavans und Rodriguez, 149-153 zu Hoffman). Hoffman allerdings schafft es, durch die Nutzung eines einzelnen angeblich unübersetzbaren und konsequent unübersetzt bleibenden Worts, das so als Schibboleth der vormaligen Sprachidentität lesbar wird, kulturelle Inkommensura‐ bilität zumindest zu markieren (ebd.). Ein ähnliches Verfahren des punktuellen Sprach‐ III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 143 <?page no="144"?> wechsels mit verstörendem Effekt findet sich in Orhan Pamuks Istanbul: Memories and the City (ebd., 143-149). Eine demgegenüber ›starke‹, d. h., die Sprachdifferenz nicht durch Übersetzung oder Redundanz auffangende Form von Sprachwechsel findet sich in dem teils autobiographischen Text von Gloria Anzaldúa, Borderlands/ La Frontera: The New Mestiza (1987) (ebd., 83) oder in Junot Díaz’ Roman The Brief Wonderous Life of Oscar Wao (2007), der den Sprachwechsel zwischen unterschiedlichen Varietäten des Englischen und unter‐ schiedlichen Varietäten des Spanischen (oder zumindest: der romanischen Sprachen) so weit treibt, dass auch einem linguistisch sehr kompetenten Leser oft sogar die Orientierung darüber fehlt, welchem Idiom einzelne Wörter zuzurechnen sein könnten (siehe Gram‐ ling, The Invention of Monolingualism, 135-139). Insgesamt müsste eine Darstellung von Sprachwechsel und -mischung in postkolonialen und postmigratorischen Texten natürlich weit über die Grenzen der (west-)europäischen und amerikanischen Literatur hinausgehen. Gut erforscht sind in dieser Hinsicht beispielsweise die Literaturen Lateinamerikas (siehe z. B. Knauth, »Multilingualisme national et international«; Helmich, Ästhetik der Mehr‐ sprachigkeit, 153-191). Für den deutschen Sprachraum prominente Autoren sind etwa Emine Sevgi Özdamar, die in vielen ihrer Texte »eine Kunstsprache« entwickelt, die türkische Phraseologismen oder Sprichwörter »als Xenismus im Deutschen nachbildet und dieses dabei bewusst ver‐ fremdet« (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 212 über das Theaterstück Karagöz in Alamania von 1982; siehe auch Lennon, In Babel’s Shadow, 82 f., 157-159, sowie Yildiz, Beyond the Mother Tongue, 143-168), und zwar in Kombination mit deutsch-türkischem ›insertional code-switching‹; Yoko Tawada, die insbesondere Verfahren des mehrspra‐ chigen Sprachspiels ausgebaut hat (Yildiz, Beyond the Mother Tongue, 109-142); Peter Wa‐ terhouse, der Sprachwechsel u. a. als Arbeit mit in unterschiedlichen Sprachen homonymen Wörtern betreibt (siehe Radaelli, »Literarische Mehrsprachigkeit«); Zé do Rock, der gleich eine ganze Reihe hybrider Kunstsprachen wie z. B. kauderdeutsh erfunden hat (siehe Kur‐ lenina, »›a multiculti un internacionaliset deutsh‹«); oder Feridun Zaimoglu, der in seinen frühen Texten eine Kunstsprache entwickelt, die oft als Variante deutsch-türkischen Slangs aufgefasst wird, in Wirklichkeit aber vom Türkischen fast gar nicht beeinflusst ist und stattdessen stark mit dialektalen und soziolektalen Differenzen innerhalb des Deutschen, mit literarisch einordbaren Registern (biblischer Duktus, Sprache der romantischen Lyrik etc.), mit englischen Einsprengseln und teils auch grammatischen Vereinfachungen arbeitet (Yildiz, Beyond the Mother Tongue, 169-201; Bürger-Koftis, »Ethnolekte und McLanguage«, 316-320). Über die Bestimmung des kulturpolitischen Impetus dieser Kunstsprache kann man durchaus streiten, denn die Vorrede zu Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Ge‐ sellschaft mag zwar eine neue Form des Writing Back durch die Kinder der Migration in Deutschland postulieren, aber nicht nur gibt es Gründe dafür, dieser Standortsbestimmung zu misstrauen, sondern darüber hinaus ist zu konstatieren, dass die Stimme, die sich hier äußert, in erster Linie eine rein literarische ist. Im französischen Sprachraum sind ähnliche Schreibverfahren in der sog. ›Beurs‹-Literatur verwendet worden. Eine bemerkenswerte junge Entwicklung ist das Schreiben in ›Lernersprachen‹, das teils auch als Sprachmischung aufgefasst werden kann, wenn sich im literarischen Text die zu lernende und die Erst‐ sprache der Erzählinstanz überlagern. Dies ist beispielsweise der Fall in Xiaolu Guos A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers (2008). Till Dembeck 144 <?page no="145"?> c) Forschungsgeschichte Ähnlich wie für andere Verfahren der literarischen Mehrsprachigkeit gilt auch für Sprach‐ wechsel und Sprachmischung, dass sich die literaturwissenschaftliche Forschung lange Zeit nur sporadisch für sie interessiert hat, da die Einsprachigkeit literarischer Texte als Nor‐ malfall galt. Allerdings lassen sich auch Bereiche der linguistischen Forschung als Bestand‐ teil der Forschungsgeschichte ansehen. Dabei gilt es allerdings, die Verwendung der sprach‐ wissenschaftlichen Begriffe ›Code-Switching‹ und ›Kontaktsprache‹ präzise in ihrer Relevanz für literaturwissenschaftliche Methoden und Gegenstände zu erfassen. Zu be‐ denken ist vor allem, dass für die Philologie immer ein einzelner Textbefund als Ausgangs‐ punkt dient, nicht die Kompetenz von Sprechern oder die Genese sprachlicher Standards. Letztere fällt, selbst wenn sie sich unter anderem in Literatur abspielt oder durch Literatur in besonderem Maße vorangetrieben wird, in den Gegenstandsbereich der Linguistik. Das bedeutet, dass die Ergebnisse der linguistischen Forschung für die Philologie unter anderen Voraussetzungen Geltung haben. Wenn die Linguistik beschreibt, welchen (letztlich statis‐ tisch erschlossenen) Regelmäßigkeiten das Code-Switching oder die Entstehung von Kon‐ taktsprachen folgen, so muss die Philologie unter der Voraussetzung arbeiten, dass sich die konkret behandelten Texte Regelmäßigkeiten potentiell immer schon widersetzen - auch wenn sie sich natürlich gerade dadurch zu ihnen in Beziehung setzen. Allerdings lassen sich für einzelne Autoren spezifische Regelmäßigkeiten beobachten, die vom Level der Re‐ gularität her zwischen einzelnem Text und übergreifender Sprecherkompetenz anzusiedeln sind. 1. Linguistische Modellbildung Code-Switching ist in der Linguistik in erster Linie als Phänomen der Interaktion unter‐ sucht worden und erst seit sehr kurzer Zeit auch als Phänomen der Schriftlichkeit. Dabei stand über lange Zeit hinweg der Nachweis der Funktionalität und Regelhaftigkeit des Phänomens im Vordergrund, durch die angesichts der Übermacht der langue-orientierten Linguistik gewissermaßen seine ›Würdigkeit‹ als Forschungsgegenstand hervorgehoben werden musste. Systematiken, die entwickelt wurden, um die Motivation für unterschied‐ liche Formen des Code-Switchings zu erfassen, unterscheiden u. a. den situationsgebun‐ denen, spontanen Wechsel des Codes, etwa um Verständigung sicherzustellen, von solchen Formen des Code-Switchings, die die unterschiedliche soziale und kulturelle Wertigkeit der verwendeten Sprachen ins Spiel bringen und nutzen (siehe z. B. Gafaranga, »Code-Swit‐ ching«, 297-307; Matras, Language Contact, 114-129). Der Wechsel ins Englische, wenn ich verstehe, dass mein Gegenüber kein Deutsch versteht, ist in diesem Sinne situations‐ gebundenes Code-Switching, wohingegen die Selbstbezeichnung als ›Senior Manager‹ in einer ansonsten auf Deutsch geführten Konversation den soziokulturellen Wert der engli‐ schen Sprache im Bereich der Wirtschaft nutzt, um die eigene Bedeutsamkeit zu unter‐ streichen. Es ist offenkundig, dass Sprecher den soziokulturellen Wert einer bestimmten Sprache auch situationsgebunden und spontan strategisch einsetzen können, etwa wenn man inmitten einer auf der Standardvarietät geführten Verhandlung plötzlich auf den ört‐ lichen Dialekt zurückgreift, um Verbundenheit mit dem Gegenüber zu signalisieren. Die Markierung der Sprachwahl kann also sowohl als Globalstrategie als auch lokal-diskurssi‐ tuativ interpretiert werden. III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 145 <?page no="146"?> Mit Bezug auf literarische Texte lassen sich aus solchen Beschreibungsansätzen zum einen Modelle für die Analyse der jeweils dargestellten Interaktion entwickeln, womit es um die Analyse der Mehrsprachigkeit in der Figurenrede geht. Darüber hinaus ist die an einem literarischen Text ablesbare Entscheidung über den an einzelnen Stellen verwen‐ deten ›Code‹ aufgrund der Situationsabstraktheit des Textes situativ schwieriger zu er‐ klären, als dies bei der Analyse von Interaktion möglich ist. Die kulturpolitische Interpre‐ tation von Sprachwechsel wird aus philologischer Sicht daher immer sowohl die allgemeine soziokulturelle Wertigkeit der verwendeten Sprachen als auch die vom Text selbst erzeugte Sprach- und Kommunikationssituation in den Blick nehmen müssen. Dabei spielt nicht zuletzt auch die Einbindung von Zitaten eine gegenüber der Interaktion und auch gegen‐ über anderen Textsorten gesteigerte Rolle (siehe III .3). Die literarische Mehrsprachigkeitsforschung kann auch insofern auf linguistische Ar‐ beiten zum Code-Switching zurückgreifen, als diese auch untersucht haben, wie Code-Swit‐ ching syntaktisch und morphologisch eingebunden wird. Herausgestellt werden konnte so insbesondere, dass es bestimmte Orte im Satz gibt, an denen ein Sprachwechsel sehr viel wahrscheinlicher ist als an anderen (Matras, Language Contact, 120-136). Eine besondere Rolle spielt insgesamt das sog. ›insertional code-switching‹, also der Einsatz einzelner an‐ derssprachiger Wörter, die zuweilen auch morphosyntaktisch, beispielsweise durch die Anfügung ihnen ursprünglich fremder Flexionsendungen, integriert werden. Besonders häufig ist das insertional code-switching für sog. ›discourse marker‹ und ›utterance mo‐ difiers‹ (ebd., 136-145). Natürlich können diese linguistischen Beschreibungsmodelle ein‐ zelne philologische Befunde nicht aus sich heraus erklären. Sie erleichtern es aber, abzu‐ schätzen, inwiefern sich ein Text an den linguistischen Gegebenheiten seines Kontextes bzw. des Kontextes der dargestellten Handlung orientiert, inwiefern seine Mehrsprachig‐ keit also ›akkurat‹ ist (vgl. Rosenwalds Argument zur ›accuracy‹ von Literatur in »On Linguistic Accuracy in Literature«). Die linguistische Beschreibung von Kontaktsprachen, die sich als Teil der Forschungs‐ geschichte zur Sprachmischung verstehen lässt, unterscheidet eine ganze Reihe von typi‐ schen Strukturen, die sich etwa nach dem Grad der Stabilität des Codes bestimmen, die sich aus den Entstehungsumständen der jeweiligen Idiome herleiten oder aus dem jeweils bei der Etablierung des neuen Idioms verwendeten ›Material‹. So geht mit der Entstehung von Pidgins (situativen, hybriden Hilfssprachen) und den (auf der ›Grammatikalisierung‹ von Pidgins beruhenden) Kreolsprachen in der Regel eine starke Vereinfachung der morpho‐ syntaktischen Struktur der ursprünglichen Idiome einher, die sich aus ihrer Entstehung als Hilfssprachen erklären lässt (siehe Matras, Language Contact, 277-288). Demgegenüber gibt es sog. ›mixed codes‹, die sich umgekehrt aus dem klaren kulturpolitischen Willen zur Erhaltung eines bedrohten Idioms ergeben und daher nicht notwendig mit Vereinfachungen einhergehen (ebd., 288-291; Muysken, »Mixed Codes«). Als ›mixed codes‹ werden dabei von einigen Linguisten solche Idiome definiert, die ein geteiltes Lexikon aufweisen, also beispielsweise die Verbalphrase mit Wörtern der einen, die Nominalphrase aber mit Wör‐ tern der anderen Sprache bilden (sog. VP / NP -Split; Muysken, »Mixed Codes«, 324-326). Für die literaturwissenschaftliche Erfassung von Phänomenen der Sprachmischung können grundsätzlich alle von der Linguistik zur Verfügung gestellten Beschreibungsmo‐ delle einbezogen werden. Dabei gilt es allerdings zu beachten, das im schriftlich fixierten Till Dembeck 146 <?page no="147"?> Text - selbst wenn es sich um die fluide Variante eines handschriftlich überlieferten Textes handelt - grundsätzlich alles stabilisierter Code ist. Damit ist insbesondere die Differenz zwischen situativem ›insertional‹ Code-Switching und Entlehnung, also der Übernahme anderssprachiger Wörter ins Lexikon einer Sprache, die auch in der Linguistik selbst in Zweifel gezogen wird (sog. »codeswitching-borrowing continuum«, Matras, Language Contact, 110), mit Blick auf den literarischen Text erst recht hinfällig. Denn jedes situative Code-Switching ist im Text Teil des Lexikons dieses Textes geworden, das sich aber von demjenigen des Sprachkontextes unterscheiden lässt. Mit anderen Worten: im literarischen Text ist jeder gemischte Code immer schon ›grammatikalisiert‹, wenn auch unter Um‐ ständen in sich instabil. Angesprochen ist damit die Schwierigkeit, Sprachwechsel und Sprachmischung klar voneinander zu unterscheiden, denn aus philologischer Sicht trägt jeder Sprachwechsel dazu bei, das einzigartige Idiom eines Textes zu formieren. Man könnte auch sagen: Aus philologischer Sicht wird ein in der Code-Switching-Forschung als Sonderfall diskutiertes Phänomen, nämlich, dass die Zweisprachigkeit selbst das als selbstverständlich angenom‐ mene Medium ist, vor dessen Hintergrund sich das Code-Switching entfaltet, zum Nor‐ malfall. Denn philologisch gesehen ist jeder Text potentiell mehrsprachig. Dass dieses Ar‐ gument vielleicht nicht auf die Philologie beschränkt bleiben muss, zeigen linguistische Überlegungen zur Frage des Übergangs vom Code-Switching zu Mixed Languages. So kon‐ statiert Pieter Muysken, dass den zwei wichtigsten Strukturmustern des Code-Switchings zwei Arten von Sprachmischung entsprechen: dem insertional code-switching die Relexi‐ kalisierung (grammar/ lexicon-split) und dem alternational code-switching, bei dem die Sprache am Übergang von Satz(teil) zu Satz(teil) gewechselt wird, der VP / NP -Split (Mu‐ ysken, »Mixed Codes«, 331). In diesem Sinne lässt sich das Code-Switching auch linguis‐ tisch als Vorstufe zur Etablierung eines eigenständigen Idioms ansehen. Das Kriterium, nach dem sich linguistisch bemessen lässt, ab wann diese Stufe erreicht ist - die statistisch nach‐ weisbare Stabilität des Phänomens - kann umgekehrt wiederum als pragmatische Richt‐ schnur zur Differenzierung von Sprachwechsel und Sprachmischung dienen: Wenn man den Sprachwechsel in einem Text als Sprachmischung beschreiben will, dann setzt dies eine gewisse Insistenz des Phänomens voraus. 2. Philologische Forschung In der philologischen Forschung gibt es für die systematische Beschreibung von Sprach‐ wechsel und Sprachmischung bislang keinen wirklichen Konsens. Das gilt allerdings auch für die Frage, was literarische Mehrsprachigkeit insgesamt eigentlich ist. Dementsprechend kann sich der hier vorgebrachte Vorschlag, Sprachwechsel in Analogie zum Code-Swit‐ ching als segmentären Wechsel zwischen unterschiedlichen Sprachen und Sprachmischung als die eine segmentäre Differenzierung überschreitende oder unterlaufende Bildung eines Mischidioms zu bestimmen, kaum auf Vorbilder in der Forschung berufen. Erste systema‐ tische, allerdings sehr spezielle und kontextabhängige Überlegungen über Sprachmischung hat Friedrich Genthe in seiner Dissertation von 1829 über makkaronische Poesie vorgelegt (Geschichte der Macaronischen Poesie). Der Philologie des 19. Jahrhunderts ist literarische Mehrsprachigkeit ansonsten weitgehend gleichgültig geblieben. Am Anfang des 20. Jahr‐ hunderts finden sich dann eine Reihe von mediävistischen Beiträgen zum lateinisch-volks‐ III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 147 <?page no="148"?> sprachlichen Sprachwechsel (siehe Elwert, »Fremdsprachige Einsprengsel in der Dich‐ tung«, 273). Ein bekannterer Beitrag liegt mit Leo Spitzers Aufsatz über »Sprachmischung als Stilmittel und als Ausdruck der Klangphantasie« von 1923 vor. Auch Spitzers Analysen bleiben begrifflich gesehen eher unscharf; als Sprachmischung oder -mengung beschreibt er in erster Linie die Mischung von Registern oder Stilebenen. Das Werk von Bachtin bedeutet demgegenüber einen vehementen Reflexionsfortschritt (Bachtin, »Das Wort im Roman«). In seiner Auseinandersetzung mit der Gattungspoetik des Romans hat Bachtin verschiedene Konzepte zur Beschreibung der sprachlichen Vielfalt im literarischen Text entwickelt, die sich allerdings in erster Linie auf dasjenige beziehen, was man auch ›innersprachliche Mehrsprachigkeit‹ nennen könnte (Wandruszka, Die Mehrsprachigkeit des Menschen, 13, spricht von »muttersprachliche[r] Mehrsprachigkeit«). Dabei spricht er einerseits von полифония, also von Vielstimmigkeit, der für den Roman charakteristischen Durchmischung von Stimmen und den von ihnen genutzten (aber immer nur ›geborgten‹) Registern, Stillagen etc. Darüber hinaus entwickelt er andererseits das Konzept der разноречие, im Deutschen meist mit ›Redevielfalt‹, im Englischen mit ›hete‐ roglossia‹ wiedergegeben (Holquist, »Glossary«). Damit bezeichnet Bachtin die Eigen‐ schaft aller Wörter, in ihrer Bedeutung grundsätzlich von dem konkreten Kontext abhängig zu sein, in dem sie erscheinen. (Nebenbei bemerkt liegt darin eine strikte Wendung gegen Vorannahmen der langue-Linguistik.) Diese potentielle Bedeutungsverschiebung, die jeder einzelnen Verwendung jedes einzelnen Worts innewohnt, bewirkt damit eine grundsätz‐ liche Vervielfältigung dessen, was man traditioneller Weise Code nennt (Holquist, »What Would Bakhtin Do? «; Busch, Mehrsprachigkeit, 10 f.). Die Erforschung der sprachstruktu‐ rellen Vielfalt, die sich mit Bachtin jedem Text, ja, jeder Äußerung, unterstellen lässt, setzt einen Perspektivenwechsel voraus: Sprachwechsel und -mischung erscheinen dann nicht mehr als Ausnahmephänomene, sondern sind ubiquitär (siehe hierzu z. B. Weninger, »Zur Dialektik des Dialekts«). Mit oder ohne Bezugnahme auf Bachtin hat die Forschung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verstärkt aber in den vergangenen ca. 30 Jahren, versucht, unterschied‐ liche Strukturebenen und Erscheinungsformen von Sprachwechsel und -mischung zu un‐ terscheiden. Dabei finden sich einerseits Ansätze, die als Sprachdifferenz nur den Unter‐ schied zwischen Idiomen anerkennen, deren Sprecher sich nicht ohne weiteres verständigen können, so dass die Weite der Bachtin’schen Begriffsbildung eingeschränkt wird. Andererseits wird der von Bachtins Texten ausgehende Denkanstoß bis heute intensiv fortentwickelt. Im Sinne des ersten Ansatzes hat Paul Zumthor in einer Grundlagenarbeit von 1960 Formen des lateinisch-romanischen Sprachwechsels im Mittelalter untersucht und dabei nach dem Umfang der inserierten anderssprachigen Segmente, nach der Regelmäßigkeit ihres Auftauchens, nach ihrer (formalen oder morphosyntaktischen) Integration, nach ihrer Zitathaftigkeit und nach den Formen der Redundanz, durch die sie in der Grundsprache verständlich gemacht werden, unterschieden (Zumthor, »Un problème d’esthétique mé‐ diévale«). Auch Leonard Forsters Buch über literarische Mehrsprachigkeit von 1970 und die wegweisenden Artikel von András Horn und Meir Sternberg (beide von 1981) lassen bloß dialektale oder soziolektale Sprachdifferenzen außer Acht (Forster, The Poet’s Ton‐ gues; Horn, »Ästhetische Funktionen der Sprachmischung«; Sternberg, »Polylingualism as Till Dembeck 148 <?page no="149"?> Reality«). Monika Schmitz-Emans widmet sich in einem Kapitel ihrer Monographie Die Sprache der modernen Dichtung von 1997 ausgehend von der biblischen Babelerzählung dem Sprachwechsel und der Sprachmischung (die sie allerdings hier nicht systematisch unter‐ scheidet) und setzt damit gerade die Unmöglichkeit der Verständigung über Sprachgrenzen hinweg in den Mittelpunkt ihres Interesses (49-105). Dasselbe gilt für den gesamten Bereich der Erforschung literarischer Translingualität, also des literarischen Schaffens mehrspra‐ chiger Autoren, die teils auch die Schreibsprache gewechselt haben (Chamisso, Nabokov usw.). Hier steht allerdings in der Regel die Mehrsprachigkeit der einzelnen Texte selbst nicht unmittelbar im Mittelpunkt des Interesses (siehe etwa Kellman, The Translingual Imagination). Sturm-Trigonakis hat 2007 im Rahmen einer Studie zur »Neuen Weltlite‐ ratur« einen umfassenden Vorschlag zur Klassifizierung unterschiedlicher Formen des Sprachwechsels gemacht, der teils auch Sprachmischung einbezieht und auf linguistische Beschreibungen des Code-Switchings zurückgreift und teils Klassifizierungskriterien nutzt, die bereits Zumthor beschreibt (Global Playing, 120-144). Lawrence Rosenwalds Buch über die Mehrsprachigkeit der amerikanischen Literatur macht dieselbe Voraussetzung (Multi‐ lingual America), und auch noch die Überlegungen von Brian Lennon (2010) und Yasemin Yildiz (2012) zum Verhältnis von Sprachvielfalt und Publikationsindustrie bzw. zur »post‐ monolingual condition« (siehe unten) beziehen sich größtenteils auf Differenzen zwischen wechselseitig unverständlichen Idiomen. Einen expliziten Anschluss an Bachtin und damit an Beschreibungen von Sprachdiffe‐ renz, die keine wechselseitige Intransparenz der beteiligten Idiome voraussetzen, suchen, neben dem vor Bachtins Arbeiten erschienenen Aufsatz von Spitzer (siehe oben), vor allem Robert Weningers Analysen zum Dialektgebrauch im deutschen Realismus von 1997 (»Zur Dialektik des Dialekts im deutschen Realismus«) sowie die Beiträge von Rainier Grutman und Lise Gauvin. Grutman definiert in seiner Monographie von 1997 den »hétérolingu‐ isme« als »la présence dans un texte d’idiomes étrangers, sous quelque forme que ce soit, aussi bien que de variétés (sociales, régionales ou chronologique) de la langue principale« (Grutman, Des langues qui résonnent, 37). Grutman schließt dabei an Befunde der Soziolin‐ guistik an und bezieht seine Analysen des literarischen Sprachwechsels, ähnlich wie Ro‐ senwald (Multilingual America), grundsätzlich auf die in den Texten beschriebenen oder doch vorausgesetzten Sprachgemeinschaften. Gauvin geht in ihrem Artikel von 1999 in Fortsetzung des Ansatzes von Bachtin davon aus, dass Sprachwechsel und -mischung eine genuine formale Strategie der Gattung Roman darstellen, und bezieht in ihre Analyse aus‐ drücklich dialektale bzw. soziolektale Differenzen mit ein. Gauvin geht ausdrücklich davon aus, dass man methodisch gesehen die Entscheidung für die Benutzung konkreter Sprachen immer als Selektion des Textes auffassen muss: »Sachant […] que toute langue littéraire est une construction à l’intérieur de la langue commune, je prends pour acquis que le pluri‐ linguisme textuel est d’abord un choix stratégique, c’est-à-dire un choix dont l’enjeu est plus structural que stylistique et dont le premier critère d’évaluation reste la dynamique globale de l’œuvre.« (Gauvin, »Faits et effets de langue«, 54) Dieses Argument ließe sich zu der Behauptung zuspitzen, dass aus philologischer Perspektive methodisch jedem Text das Potential von Sprachwechsel oder -mischung zugestanden werden muss (siehe Dem‐ beck, »Für eine Philologie der Mehrsprachigkeit«). Dem Titel nach schließt der von Mi‐ chaela Bürger-Koftis, Hannes Schweiger und Sandra Vlasta herausgegebene Band über III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 149 <?page no="150"?> Polyphonie - Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität von 2010 an Bachtin an, allerdings findet sich hier keine umfassende Auseinandersetzung mit dem Konzept der Heteroglossie. Eine Mittelstellung zwischen solchen Ansätzen, die nur ›harte‹ Sprachdifferenzen als Material von Sprachwechsel oder -mischung in Betracht ziehen, und Bachtin’schen Aus‐ weitungen der Perspektive nehmen die umfassenden Monographien von Giulia Radaelli (2011) und Werner Helmich (2016) ein. Radaelli, die die systematische Differenzierung zwi‐ schen Sprachwechsel und Sprachmischung vorschlägt, der auch hier gefolgt wird, wenn sie auch Übergänge zwischen den beiden Verfahren einräumt, widmet sich zwar ebenfalls nur Sprachdifferenzen zwischen einander wechselseitig intransparenten Idiomen (Radaelli, Li‐ terarische Mehrsprachigkeit; siehe auch Radaelli, »Literarische Mehrsprachigkeit«). Aller‐ dings gesteht sie zu, dass auch niedrigstufigere Sprachdifferenzen in die Betrachtung ein‐ bezogen werden können. Helmich wiederum entscheidet sich aus letztlich pragmatischen Gründen dafür, von Sprachwechsel nur dann zu sprechen, wenn die involvierten Sprachen im Text manifest sind (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 17) und wenn sie zueinander im Verhältnis von ›Abstandsprachen‹ stehen, also »wohlunterschiede[n]« sind (ebd., 21). Für Helmich reicht also weder die bloße Erwähnung, dass eine Figur in einer anderen Sprache spricht, als derjenigen, in der ihre Rede wiedergegeben wird, aus, um Sprach‐ wechsel oder -mischung zu konstatieren, noch gilt ihm der Wechsel zwischen Dialekten, Soziolekten oder Registern als Sprachwechsel. Helmich lehnt seinen Begriff von Sprach‐ wechsel an die Begrifflichkeit des Code-Switchings an (ebd., 17 f.), diskutiert aber auch die Möglichkeit, dieses vom »code-mixing« zu unterscheiden (im Sinne der hier gegebenen Bestimmung von Sprachwechsel und Sprachmischung). Letztlich bezieht seine Untersu‐ chung auch solche Phänomene mit ein, ohne jedoch eine scharfe Abtrennung vornehmen zu wollen, da Sprachwechsel häufig mit Phänomenen der Sprachmischung einhergeht oder sie auf einer übergeordneten Ebene erzeugt. Vor allem aber sieht sich Helmich in den kon‐ kreten Analysen, aus denen sein Buch in weiten Teilen besteht, immer wieder dazu ge‐ zwungen, auch auf solche Sprachdifferenzen einzugehen, die man eher als dialektal ein‐ stufen würde - beispielsweise in den zitierten Ausführungen über die Kriminalromane von Camilleri. In dieser unfreiwilligen Ausweitung der Perspektive auf Sprachwechsel bzw. -mischung im literarischen Text kann man eine Folge der funktionalen Äquivalenz sehen, die sich aus der von Gauvin betonten prinzipiellen Wahlfreiheit jedes einzelnen Texts mit Blick auf die von ihm benutzten Idiome ergibt: Aus der Perspektive des einzelnen Texts, die für die Philologie konstitutiv ist, ist die Auswahl zwischen unterschiedlichen Varietäten einer Sprache zwar nicht gleichrangig, aber doch vergleichbar mit derjenigen zwischen unterschiedlichen nationalen Standardsprachen oder unterschiedlichen ›rhetorischen‹ Selbsteinschränkungen (wie beispielsweise dem grammatischen Lipogramm, dem sich der Roman von Brooke-Rose unterwirft). Insofern ist es sinnvoll, jede Art von Idiomdifferenz in die philologische Untersuchung von Sprachwechsel und -mischung in literarischen Texten einzubeziehen (so Dembeck, »Multilingual Philology and Monolingual Faust«). Neben der strukturellen Untersuchung von literarischem Sprachwechsel und literari‐ scher Sprachmischung steht in den meisten einschlägigen Beiträgen der Forschung deren Funktion im Mittelpunkt des Interesses. Häufig geht dies einher mit der Abschätzung des (kultur-)politischen Potentials von Sprachwechsel. Bereits Theodor W. Adornos Überle‐ gungen zum Fremdwortgebrauch von 1959 werten die scheinbare ›Verunreinigung‹ der Till Dembeck 150 <?page no="151"?> Sprache, die Adorno wegen seines Hangs zu Fremdwörtern vorgeworfen worden war, als Widerstand gegen das »konformistische Moment von Sprache« (Adorno, »Wörter aus der Fremde«, 220) und kommen zu dem Schluss, »[i]n jedem Fremdwort« stecke »der Spreng‐ stoff der Aufklärung« (ebd., 221). Aus einer ethischen Perspektive lässt sich Sprachwechsel, vor allem mit Blick auf die Figurenrede (siehe III .2), auch daraufhin befragen, inwiefern er kulturpolitisch die Interessen einzelner Sprachgemeinschaften oder Sprechergruppen ver‐ folgt bzw. inwiefern er in sprachpolitische Konstellationen eingebunden ist oder eingreift. Diese Perspektive nehmen viele US -amerikanische Beiträge ein, etwa Rosenwald, der in diesem Zusammenhang die Literatur auf die treffende Darstellung von Sprachvielfalt ver‐ pflichtet (Rosenwald, »On Linguistik Accuracy in Literature«). Grundsätzlich sind viele Arbeiten zur regional gebundenen literarischen Mehrsprachigkeit daran interessiert, den Wirklichkeitsbezug literarischen Sprachwechsels abzuschätzen (siehe z. B. Strutz, »Istri‐ sche Polyphonie«, 208 f., aber auch Grutman, Des langues que résonnent). Gauvin zeigt an Lektüren zu französisch-kanadischen Autoren aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, dass Sprachwechsel im Text als Strategie zur Subversion einer ›Sprachordnung‹ eingesetzt wird, die die literarische Sprache als (autoritäre) Sprache des Erzählers priorisiert (Gauvin, »Faits et effets de langue«, 70 f.). Ein Aufsatz von Marjorie Perloff von 2010 unterscheidet schließ‐ lich zwischen eher ästhetischen und eher in (kollektiver) Erfahrung wurzelnden Formen des literarischen Sprachwechsels (Perloff, »Language in Migration«) - und räumt dabei tendenziell der ›erfahrenen‹ zugunsten der bloß ›ästhetischen‹ literarischen Mehrspra‐ chigkeit die ethische Priorität ein (vgl. dagegen Dembeck/ Uhrmacher, »Vorwort: Erfahren oder erzeugt? «). Eine ausgreifende Systematisierung der Funktionen von literarischem Sprachwechsel hat Horn 1981 vorgelegt. Ihm zufolge dient der Sprachwechsel der Figurencharakterisie‐ rung (im Sinne von ›Realitätseffekten‹), der Erzeugung von Komik, der Vermittlung an‐ derssprachig besser auszudrückender Bedeutungsnuancen oder auch der versteckten Kom‐ mentierung des Geschehens (Horn, »Ästhetische Funktionen der Sprachmischung«). Weiterhin unterstellt Horn die potentiell auch klangliche Motivation von literarischem Sprachwechsel und verweist auf Besonderheiten bei der Zitation (siehe III .2). Deutlich wird an dieser Zusammenstellung eine potentielle Ambivalenz von ästhetischer und ethischer bzw. allgemeiner: kulturpolitischer Motivation des Sprachwechsels. Erläutern lässt sich diese Ambivalenz vom Begriff der Verfremdung her, wie er in der Forschung mit Rückgriff auf Viktor B. Šklovskij verwendet worden ist, um einerseits den ästhetischen Effekt von Sprachwechsel und Sprachmischung zu beschreiben (so etwa Kilchmann, »Poetik des fremden Worts«), andererseits aber deren kulturpolitisches Potential abzuschätzen. Schmitz-Emans hat 1997 als Funktionen von Sprachwechsel und -mischung die Herausar‐ beitung sprachlicher Einschränkung, die metaphorische Anzeige der Vermischung von Fremdem und Vertrautem und die Verfremdung ausgemacht (Die Sprache der modernen Dichtung, 94-97), und Edzard Obendiek diskutiert in einem Buch aus dem Jahr 2000 Sprachwechsel systematisch vor dem Hintergrund kultureller Fremdheitserfahrung (Der lange Schatten des babylonischen Turmes). Aus eher linguistischer Perspektive hat Wolfgang Moser die Funktionalität von sog. ›Xenismen‹ untersucht, also sprachstrukturelle Auffäl‐ ligkeiten, an denen sich ablesen lässt, dass ein Sprecher die Sprache als Fremdsprache spricht (Moser, Xenismen). Sturm-Trigonakis weist darauf hin, der literarische Sprach‐ III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 151 <?page no="152"?> wechsel habe den Effekt einer »Entautomatisierung der Sprache« (Global Playing, 154) - und damit potentiell emanzipatorische Funktion. Die wahrscheinlich derzeit avanciertesten Überlegungen zur kulturpolitischen Relevanz von Sprachwechsel und -mischung haben schließlich drei Monographien US -amerikani‐ scher Provenienz vorgelegt, auch wenn sich deren Überlegungen in weiten Teilen auf die Gegenwart beschränken. So legt Brian Lennon dar, dass sich unter der Voraussetzung des modernen, an Nationalstaatlichkeit und Massenmedien gekoppelten Einsprachigkeitspa‐ radigmas Verfahren der Eindämmung (des »containment«) von Sprachwechsel und -mi‐ schung im (publizierten) literarischen Text etablieren (Lennon, In Babel’s Shadow, 10). Da der Buchmarkt mit einsprachigen literarischen Öffentlichkeiten rechnet und daher die Produktion nicht nur möglichst einsprachiger, sondern vor allem auch übersetzbarer Texte begünstigt, sind dem Einsatz von Sprachdifferenzen, die in einer anderen Sprache womög‐ lich nicht darstellbar wären, Grenzen gesetzt. Lennon beschreibt die Verfahren des con‐ tainment von Sprachwechsel und Sprachmischung (für diese Unterscheidung selbst inte‐ ressiert er sich nicht) in erster Linie als Techniken zur Erzeugung von Redundanz, sei es durch die Übersetzung anderssprachiger Ausdrücke oder durch andere Verfahren, die dem Leser mittelbar ihre Bedeutung erschließen. Mit Rückgriff auf diese Beschreibung trifft er dann die Unterscheidung zwischen starker und schwacher Mehrsprachigkeit literarischer Texte: Stark mehrsprachige Texte bringen Sprachdifferenzen so in den Text ein, dass sich möglichst wenig Redundanz ergibt, bei schwach mehrsprachigen Texten werden die Aus‐ wirkungen von Sprachdifferenz auf das Verständnis durch starke Redundanz eingeschränkt (ebd., 17 f., 74 f., 81 f.). Yildiz, die sich ebenso wie Lennon vor allem für Strategien interessiert, literarisch die Vorgaben des Einsprachigkeitsparadigmas zu unterlaufen, legt in ihren De‐ tailstudien zu Texten Kafkas, Özdamars, Zaimoglus und Tawadas Verfahren des Sprach‐ wechsels und der Sprachmischung offen, die denen, die Lennon beschreibt, ähneln: die Arbeit mit (teils verborgenen, d. h., nicht markierten und nur den Kennern der jeweiligen Sprachen zugänglichen) wörtlichen Übersetzungen, Fremdwörtereinsatz (mit oder ohne Übersetzung), mehrsprachiges Sprachspiel oder die Mischung von Soziolekten und litera‐ rischen Stillagen (Yildiz, Beyond the Mother Tongue). Auch ihr geht es allerdings nicht zentral darum, die Bandbreite der existierenden Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit zu er‐ schließen. David Gramling hat schließlich vorgeschlagen, die soziolinguistische Unter‐ scheidung zwischen ›glossodiversity‹ und ›semiodiversity‹ zur Beschreibung literarischer Mehrsprachigkeit zu nutzen (siehe umfassend seine Monographie von 2016, The Invention of Monolingualism, 31-36; Gramling hat seinen Vorschlag aber bereits vorher in Aufsatz‐ form unterbreitet). Dabei versteht er in Anschluss an M. A. K. Halliday unter Glossodiver‐ sität das Nebeneinander unterschiedlicher Verfahren der Codierung, nach denen Texte er‐ zeugt werden und bei denen man davon ausgeht, dass sie problemlos ineinander übersetzt werden können; als Semiodiversität bezeichnet er hingegen die Tendenz von Sprache, im Prozess der Bedeutungsgenerierung jeden Code zu verändern und damit potentiell zu ver‐ vielfältigen. Daraus lässt sich die Frage ableiten, inwiefern literarische Texte im Sprach‐ wechsel die Tendenz zeigen, jenseits der schieren Glossodiversität des Code-Switchings, sei es nun im Sinne Lennons ›contained‹ oder nicht, ein Mehr an Semiodiversität zu er‐ zeugen, also ein Mehr an Bedeutsamkeit, das sich nicht auf die eine oder andere der be‐ nutzten Sprachen reduzieren lässt. Wenn es bei der Sprachmischung naheliegt, zunächst Till Dembeck 152 <?page no="153"?> schlicht davon auszugehen, dass hier, weil die segmentäre Trennung zwischen den Codes wegfällt, sich gewissermaßen automatisch ein Zuwachs an Semiodiversität einstellt, so wäre doch zu fragen, wie groß und welcher Art solche Zuwächse sein können und wie sie im Einzelnen erzielt werden. In historischer Hinsicht ist die philologische Erforschung von Sprachwechsel und Sprachmischung sehr lückenhaft, zumal dann, wenn man die Perspektive nicht auf einzelne nationalphilologisch erfasste Zusammenhänge beschränken möchte. Am besten erforscht sind, zumindest was die Quellenlage betrifft, sicherlich Antike und Mittelalter. Dies ist nicht nur auf die vergleichsweise geringe Menge an Texten zurückzuführen, die überliefert ist, sondern auch auf die traditionelle Offenheit zwischen literaturhistorischer und linguisti‐ scher Forschung in diesen Bereichen. Überblicksdarstellungen zur Geschichte von Sprach‐ mischung und -wechsel in der Literatur finden sich beispielsweise bei Elwert (»L’emploi de langues étrangères« und »Fremdsprachige Einsprengsel in der Dichtung«), Forster (The Poet’s Tongue), Sturm-Trigonakis (Global Playing, 111-120), Helmich (Ästhetik der Mehr‐ sprachigkeit, 47-76) sowie in einem von Weertje Willms und Eva Zemanek herausgege‐ benen Heft der Zeitschrift Komparatistik Online von 2014 (daraus etwa Zimmermann, »Di‐ alekte und ›foreigner talk‹ im griechischen Drama« und Polizzi, »Sprache des Anderen oder eigene Sprache? «). Die neuphilologischen Darstellungen setzen dabei meist in der Frühen Neuzeit ein, lassen das 19. Jahrhundert tendenziell aus, weil es als Höhepunkt na‐ tionalistisch motivierter literarischer Einsprachigkeit gilt, und beschreiben mehr oder we‐ niger ausführlich die Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie dasjenige, was Sturm-Trigonakis als »Neue Weltliteratur« bezeichnet. Eine ruhmreiche Ausnahme von der Blindheit der Nationalphilologien für Sprach‐ wechsel und -mischung in literarischen Texten bildet seit langem die Romanistik. Das hat zweifelsohne damit zu tun, dass die Disziplin immer schon mehrere Sprachgebiete und Nationen abdeckt. Seit den 1980er Jahren ist insbesondere der Romanist Alfons Knauth nicht nur mit einer Reihe von Arbeiten zu einzelnen mehrsprachigen Texten hervorge‐ treten, sondern vor allem mit einigen Übersichtsdarstellungen. Darin wird allerdings nur wenig systematisch zwischen unterschiedlichen Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit unterschieden. Die jüngste Arbeit eines Romanisten, die aus philologischer Hinsicht Sprachwechsel und Sprachmischung behandelt, ist die bereits mehrfach zitierte Arbeit von Helmich. Es handelt sich um die umfassendste Monographie über literarischen Sprach‐ wechsel, die derzeit vorliegt. d) Anwendungs-/ Analysebeispiele (1) Bei Johann Fischarts Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtsklitterung aus dem Jahre 1575 handelt es sich zunächst um eine Adaption des zweiten Romans von François Rabelais, Gargantua (ca. 1534), wobei Fischart dem Text von Rabelais allerdings zahlreiche Passagen hinzugefügt und ihn insgesamt so stark verändert hat, dass man ihm nicht zuletzt auch einen sehr eigenständigen Umgang mit Sprachenvielfalt unterstellen kann. Kenn‐ zeichnend sind für Fischarts Schreibverfahren einerseits eine Vielzahl von (oft mehrspra‐ chigen) Wortspielen, andererseits sprachspielerische Verfahren der Übersetzung, die sich teils als Formen von Sprachmischung verstehen lassen. Die ausführliche Arbeit von Gerd III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 153 <?page no="154"?> 25 François Rabelais, Gargantua, hrsg. v. Pierre Michel, Paris 2008, S. 31-37. Schank über Etymologie und Wortspiel in der Geschichtsklitterung hat in beiden Fällen einen Bezug zu zeitgenössischen Verfahren der Etymologie und zu Fischarts Sprachtheorie her‐ gestellt. Demzufolge vertritt Fischart eine »physei-Theorie« der Sprache (Schank, Etymo‐ logie und Wortspiel, 7-143), hat also die Auffassung, dass sprachliche Benennungen ur‐ sprünglich eine Aussage über das Wesen der benannten Dinge enthalten, und dass die Etymologie bzw. die wortspielerische Neufassung insbesondere von Eigennamen, wie sie Fischarts Roman betreibt, dann als Erschließung einer eigentlichen, in der Sprachgeschichte verschütteten Bedeutung aufgefasst werden kann. Schank unterscheidet in seiner Arbeit strikt zwischen Wortspiel und Etymologie - auch wenn seine Ausführungen insbesondere über die ältere Etymologietradition, der er Fischart zurechnet, klar zeigen, dass Etymologie hier als (paronomastisches) Wortspiel betrieben wird (siehe z. B. ebd., 93-95). Auch diffe‐ renziert Schank zwischen spöttischen, gegen in Fischarts Augen falsche Etymologien ge‐ richteten Wortspielen und ernstgemeinten eigenen. Es fällt allerdings schwer, angesichts der überbordenden humoristisch-satirischen Schreibweise im Einzelfall tatsächlich zu ent‐ scheiden, was im Text strikt ernsthaft aufzufassen ist und was nicht. Die Wortspiele in Fischarts Geschichtsklitterung gehen größtenteils auf Paranomasien zurück - im Gegensatz zu denjenigen bei Rabelais, der sehr viel mehr mit Homonymen arbeitet. Schank bringt diesen Umstand mit seiner These in Verbindung, dass Fischart als Vertreter der »physei-Theorie« der Sprache Homonymität grundsätzlich als unrechte Ver‐ wirrung eigentlicher Bedeutungen auffassen muss (ebd., 131-133). Fischart benutzt also geringfügige Veränderungen der Wortformen, um neue Bedeutungsfacetten der einzelnen Begriffe zu erschließen. Im Ergebnis changieren die Worte oft zwischen zwei Sprachen, meist zwischen Deutsch und Latein oder zwischen Deutsch und Französisch. So wird das Wort »Bakkalaureus« enggeführt mit »Becherlehraus« (siehe die Belege ebd., 283), und hinter »Rabelistigem ernst« verbirgt sich wohl eine Etymologie des Namens Rabelais (ebd., 418). In vielen Fällen geht das mehrsprachige Wortspiel in Fischarts Roman einher mit übersetzerischen Kunstgriffen. Viele der wortspielerischen Erschließungen von Eigen‐ namen lassen sich, was die Verballhornung des Namens Rabelais zeigt, auch als homophone Übersetzungen auffassen - was nicht zuletzt auch auf die von Rabelais befolgte komödi‐ antische Tradition der sprechenden Namen zurückgeht. Weiterhin findet in der Überset‐ zung oft eine Erweiterung eines Begriffs des Originaltextes in eine Begriffsreihe statt, in der die Bedeutung des französischen Begriffs gleichsam ausgetestet wird. In diese Begriffs‐ reihungen sind teilweise ebenfalls mehrsprachige Wortspiele eingearbeitet. Wort- und Klangspiel (oft durch Reim) gehen hier Hand in Hand. Im Einzelnen lässt sich das Zusammenspiel zwischen diesen unterschiedlichen Verfahren von Sprachwechsel und -mischung nur exemplarisch beleuchten. Das hier ausgewählte Beispiel findet sich in der zweiten Vorrede der Ausgabe von 1590, d. h., in derjenigen Vor‐ rede, die an diejenige bei Rabelais angelehnt ist, wenn sie sie auch um ein Vielfaches aus‐ dehnt (die erste erläutert u. a. das Unternehmen und die Prinzipien der Übersetzung). 25 Die zweite Vorrede betitelt Fischart als »VorRitt, oder das Parat und Bereytschlag, inn die Chro‐ nick vom Grandgoschier, Gurgellantual und Pantadurstlingern«; der Text richtet sich an Till Dembeck 154 <?page no="155"?> 26 Johann Fischart, Geschichtsklitterung (Gargantua), Text der Ausgabe letzter Hand von 1590, hrsg. v. Ute Nyssen, Düsseldorf 1963, S. 19. 27 Ebd., S. 29. 28 Ebd, S. 28. Laut Ute Nyssen, Johann Fischart. Geschichtsklitterung. Glossar, Worterläuterungen zum Texte der Ausgabe letzter Hand von 1590 nach der Nachausgabe 1963, Düsseldorf 1964, S. 35, stammt diese Etymologie von Fischart selbst, d. h., der anschließende Verweis auf »Gwido de Monticella« ist fiktiv. Derzeit ist der Kommentar von Nyssen neben der Arbeit von Schank der ausführlichste ›Schlüssel‹ zur Geschichtsklitterung. Siehe aber für die Zukunft auch den gerade im Aufbau befind‐ lichen, von Ulrich Seelbach herausgegebenen Online-Kommentar unter http: / / lul.uni-bielefeld.de/ projekte/ kommentierung/ doku.php? id=start (Stand: 15. 11. 2016). 29 Nyssen, Johann Fischart, S. 35. »meine Schlampampische gute Schlucker, kurtzweilige Stall und Tafelbrüder« 26 und han‐ delt von der Verbindung zwischen Trinken und Dichten. Eine der ergiebigsten Passagen mit Blick auf Sprachmischung ist die folgende (die übrigens kein Gegenstück in der Vorlage von Rabelais hat): Derhalben Potor esse volo, Quia cantor esse volo. Ich Trinck daß ich sing und sinck, und sing daß ich trinck, spring unnd hinck: Ich bin eyn Hofmann, kan Senff essen, und doch nicht weinen: Kont nit der Heß mit seinen Weingetränckten Versen die Psalmen schön außtrucken? O ihr Potulente Poeten, potirt der pott und bütten, unnd potionirt euch potantlich mit potitioniren, compotiren unnd expotiren, dann potiren und appotiren kompt von petiren und appetiren, unnd pringt potate poesei, dieweil potantes sind potentes. Unnd Potentaten sind Potantes. 27 Die durch den Reim bezeugte Beziehung zwischen Trinken, Singen, Sinken, Springen und Hinken, die die Aussage des lateinischen Satzes veranschaulicht, leitet hier über in ein deutsch-lateinisch-französisches Wortspiel. Dieses Wortspiel ist bereits kurz zuvor durch eine etymologische Deutung vorbereitet worden; hier heißt es: »will ich sie lassen die bo‐ denloß Göttin Potinam walten, sintemal Poeten von Potus, Potae, il boit, und Pott kommet«. 28 Das (eigentlich natürlich dem Griechischen entlehnte) Wort ›poeta‹ wird mit lat. ›potus‹ (Trank) und sodann mit dem deutschen Wort ›Pott‹ und dem französischen Verb ›boire‹ (trinken) in Verbindung gebracht, und dies alles im Namen der Göttin ›Potina‹, bei der es sich laut Nyssen um die »Schutzgöttin d[er] Kinder« handelt, denen sie »d[as] Trinken gedeihen läßt«. 29 Diese Sprachverbindung wird in der zitierten Stelle noch ausge‐ baut, vor allem durch die Bildung deutscher Neologismen aus lateinischen Wörtern. Zu den Grundformen ›poeta‹ und ›potus‹ (hier auch repräsentiert durch Derivate wie ›potu‐ lentus‹ - trinkbar/ trinkfest, ›potio‹ - das Trinken, ›potare‹ - sich volltrinken, ›potitare‹ - saufen) gesellen sich Wörter, die auf die Verben ›potiri‹ (etw. teilhaftig werden), ›posse‹/ ›potesse‹ (können) und ›petere‹ (nach etw. greifen) zurückgeführt werden können. Teils sind diese Bezüge recht klar: ›Potulente Poeten‹ sind offenbar trinkfeste Dichter; ›potirt der pott und bütten‹ beinhaltet offenbar die Aufforderung, an Pötten und Bütten teilzu‐ haben; ›potioniren‹ dürfte sich als auf ›potio‹ zurückgehende Verbform interpretieren lassen; ›potantlich‹ geht auf ›potare‹, ›potitioniren‹ auf ›potitare‹ zurück, so dass man es hier mit einer Art mehrstufiger Verschachtelung des Trinkvorgangs zu tun hat; ›compo‐ tiren‹ kommt von ›compotire‹ - sich einer Sache bemächtigen, während ›expotiren‹ of‐ fenbar das Gegenteil davon bedeutet; die Zusammenführung des Trinkens mit dem Teil‐ haben bzw. Sich-Bemächtigen wird sodann konkretisiert und mit dem Zugreifen (›petiren‹/ III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 155 <?page no="156"?> 30 Marcel Reich-Ranicki berichtet von der Lektüre eines 1936 erschienenen Artikels mit dem Titel »Schluss mit Heinrich Heine! « in den Nationalsozialistischen Monatsheften, in dem Heine eine »un‐ genügende und seichte Kenntnis der deutschen Sprache« unterstellt wurde (Mein Leben, Stuttgart 9 1999, S. 97). ›appetiren‹) in Zusammenhang gebracht; die Aufforderung ›pringt potate poesei‹ schließ‐ lich lässt sich am ehesten noch als gedoppelter Imperativ auffassen (›bringt trinkt der Po‐ esie‹), wenn ›potate‹ als Form von ›potare‹ aufgefasst wird; und schließlich stellt sich auch der Zusammenhang zu Können und Macht her, wenn die Trinkenden (›potantes‹) mit den Könnenden (›potentes‹) und die Potentaten wiederum mit den Trinkenden in eins gesetzt werden. Fischarts wortbildnerische Fantasie richtet sich mit Vorliebe auf das Essen und Trinken. Das zeigt sehr eindrucksvoll das achte Kapitel der Geschichtsklitterung, das »die Truncken Litanei, unnd der Säuffer unnd guten Schucker, Pfingsttag« beschreibt und nachgerade Joyce’sche Darstellungsverfahren vorwegnimmt. In diesem Punkt ist der Text von Prinzi‐ pien getragen, die denen ähneln, die Bachtin in der Auseinandersetzung mit Rabelais als ›karnevalesk‹ bezeichnet hat. Für die kulturpolitische Interpretation von Sprachwechsel und -mischung in der Geschichtsklitterung gilt es zu bedenken, dass Fischart, anders als Rabelais, von einer dezidiert protestantischen Position aus schreibt (siehe Schank, Etymo‐ logie und Wortspiel, 196). Allerdings hat bei Fischart wie bei Rabelais die fantasievolle Über‐ schreitung der Sprachgrenzen, so revolutionär sie sich auch aus heutiger Perspektive aus‐ nimmt, wahrscheinlich eine sehr viel konservativere Funktion, als man annehmen könnte. Denn Fischart geht es darum, seine (kulturpolitischen) Gegner satirisch zu treffen - vor allem die Gegenreform - und zur Etablierung der deutschen Literatursprache beizutragen. Nicht zuletzt dem dienen auch die vielen Etymologien und homophonen Übersetzungen. Man könnte die extreme sprachliche Promiskuität des Textes in Analogie zu Bachtins Ar‐ gument über Rabelais so letztlich als eine Art Stärkungs- und Reinigungsprozedur des frühneuzeitlichen Sprachgefüges auffassen. (2) Heinrich Heine ist derjenige deutschsprachige Autor des 19. Jahrhunderts, der am ehesten eine Kulturpolitik der ›unreinen‹ Sprachverwendung verkörpert - ein Ruf, den er einerseits dem Wirken nationalistischer Sprachpuristen bis hin zum Nationalsozialismus, 30 andererseits der ganz anders gelagerten, ebenso wirkmächtigen wie verheerenden Sprach‐ kritik von Karl Kraus zu verdanken hat. Tatsächlich ist der Anteil offenkundig andersspra‐ chiger Strukturen und Elemente - sie stammen meist aus dem Französischen - in Heines Texten allerdings gar nicht so hoch, wie es eine solche Rezeption annehmen lässt. In seinem im 19. Jahrhundert berühmtesten Werk, dem Buch der Lieder (1927), finden sich nur sehr wenige Texte, die neben dem deutschen auch französisches Vokabular verwenden. Der Eindruck von Fremdartigkeit, der sich offenkundig bei vielen Lesern eingestellt hat, geht wohl eher auf den Einsatz deutschsprachiger idiomatischer Differenzen zurück. Denn Heine ist ein Meister des beständigen ›Tonwechsels‹ in Lyrik wie in Prosa. Vor diesem Hintergrund ist der gelegentliche Einsatz auffälliger Formen von Sprachwechsel und Sprachmischung nicht nur als Verfahren zur Bereicherung des poetischen Vokabulars oder zur poetischen Verfremdung zu deuten; vielmehr erscheint der Einsatz anderssprachiger Wörter oder ursprünglich aus anderen Sprachen kommender metrischer Schemata als Till Dembeck 156 <?page no="157"?> 31 Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1973-1997, Bd. 1.1: Buch der Lieder. Text, bearbeitet v. Pierre Grappin, S. 159 f. Ausweitung einer Strategie der Vervielfältigung, die seiner Sprachverwendung immer schon innewohnt. Das folgende Gedicht aus dem Buch der Lieder (Lyrisches Intermezzo) 31 beschwört den Kontrast zwischen dem Wiedererwachen von Lebensfreude im Frühjahr und dem Schmerz des Sprechers, dessen Geliebte einen anderen Mann geheiratet hat: Die Erde war so lange geitzig, A Jetzt kam der May, sie ward spendabel, A Und Alles lacht, und jauchzt, und freut sich, A Ich aber bin nicht zu lachen kapabel. B Die Blumen sprießen, die Glöcklein schallen, A’ Die Vögel sprechen wie in der Fabel, A’ Mir aber will’s Gespräch nicht gefallen, B’ Ich finde Alles flach und miserabel. A/ B’ Das Menschenvolk mich ennuyiret, A Sogar der Freund, der sonst passabel -- A Das kommt, weil man Madam tituliret A’ Mein süßes Liebchen, so süß und aimabel. A’/ B Sprachwechsel liegt hier in erster Linie in den Reimwörtern vor (wenn man von »Madam« absieht), die dem Französischen entstammen - oder zumindest so aussehen: »kapabel«, »miserabel«, »aimabel« und »passabel« sind (orthographisch eingedeutschte) französische Adjektive, die im Deutschen mehr (»miserabel«) oder weniger häufig (»aimabel«) benutzt werden. Das Wort »spendabel« ist ein besonderer Fall, denn es kombiniert ein deutsches (oder englisches) Verb mit einem französischen (oder allgemein romanischen) Suffix und klingt französisch, obgleich es im Französischen nicht gebräuchlich ist. Das Verb »ennuy‐ iret« ist im Deutschen ein dem Französischen entlehnter Neologismus, anders als sein Reimwort »tituliret«, das auf das Lateinische ›titulare‹ zurückgeht. Um die spezifische Form der Sprachmischung zu erschließen, die das Gedicht jenseits des auf Einzelworte beschränkten Sprachwechsels aufweist, ist es nötig, seine metrische ›Orchestrierung‹ ins Auge zu nehmen. Es finden sich drei unterschiedliche metrische Sche‐ mata: vierhebige Jamben (A), in Variation davon ebenfalls auftaktige, aber mit Doppelsen‐ kungen durchsetzte vierhebige Verse (A’) und vierhebige (auftaktlose) Daktylen (B), die umgekehrt teils mit einfachen Senkungen durchsetzt sind (B’). In der ersten Strophe wird das ruhige, ja fast schon behäbige Schema A durch den energischen Einsatz von Schema B durchbrochen, und zwar genau in dem Moment, in dem der Sprecher seine eigene Melan‐ cholie der allgemeinen romantischen Feier des Frühlings entgegensetzt. Die zweite Strophe III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 157 <?page no="158"?> 32 Roland McHugh, Annotations to Finnegans Wake, Baltimore 4 2016, S. xviii-xxx. nimmt die Dynamik des letzten Verses der ersten Strophe dadurch auf, dass sie Doppel‐ senkungen in das jambische Schema A einstreut. Ironischerweise ist der letzte Vers dieser Strophe, der semantisch in Parallele zum letzten Vers der ersten Strophe steht, doppeldeutig: Er lässt sich als Rückkehr zum rein jambischen Schema A deuten - dies ist dann eher als ruhige Resignation zu deuten; man kann diesen Vers aber auch ohne Auftakt lesen - und dann handelt es sich gewissermaßen um eine gebremste, leicht zurückgenommene Variante von Schema B. Alles in allem vollzieht das Gedicht eine doppelte Bewegung: Einerseits folgt es einer romantischen Poetik, wenn es gewissermaßen versucht, eine kommunikative Beziehung zur Natur selbst zu evozieren oder gar in seiner ästhetischen Faktur vorwegzunehmen; andererseits durchbricht es diesen Impetus immer wieder und desillusioniert den Leser, ohne dass dadurch der romantische Entwurf ungültig würde. Auf der Ebene der Form ent‐ spricht dem das Wechselspiel zwischen den zwei metrischen Schemata, denn Schema A bequemt sich der romantischen Poetik an bzw. versucht sie einzulösen, während Schema B diese Akkomodation unterbricht. Das umgangssprachliche, nur scheinbar französische Wort »spendabel« nimmt diesen Bruch allerdings schon im zweiten Vers vorweg und lässt diese gesamte Kette der französischen oder französisierenden Neologismen ebenfalls als Kontrastschema erscheinen, das seinerseits durch das nachgerade archaisch wirkende Wort »Fabel« in der zweiten Strophe unterbrochen wird. Man mag zunächst denken, dass die französischen Reimworte für jene oberflächliche Gesellschaftssphäre einstehen, in die die vormalige Geliebte des Sprechers als »Madam« eingetreten ist (siehe Danneck, »›Kapabel, miserabel, aimabel‹«, 8). Dann würde mit ihnen die Redeweise der guten Gesellschaft imi‐ tiert, sie wären also als versteckte Zitate in die Rede des Sprechers eingedrungen, die als »innerlich dialogisiert« aufzufassen wäre (Horn, »Ästhetische Funktionen der Sprachmi‐ schung«, 233). Damit würde jedoch die grundsätzliche Mehrdeutigkeit der Kontraststruktur unterschätzt, deren Teil sie sind. Letzten Endes bietet sich eher eine kulturpolitische Deu‐ tung an: Die Vervielfältigung, ständige ironische Durchbrechung und Spiegelung der lyri‐ schen Sprache selbst ist es, die es dem Sprecher ermöglicht, seine romantische Liebe zur Oberflächlichkeit der Welt nicht sogleich durch eine verkehrte und vor allem politisch nicht erlaubte Bitterkeit wieder zu verraten. (3) In James Joyce’ Roman Finnegans Wake (1939) wird das Verfahren der Sprachmi‐ schung, speziell dasjenige der mehrsprachigen Paronomasie zum durchgängig verwen‐ deten Schreibprinzip erhoben. Der Text besteht zu einem großen Teil aus Worten, deren sprachliche Zugehörigkeit zweifelhaft oder uneindeutig ist, und die schiere Menge der Idiome, zu denen sich Bezüge herstellen lassen, macht den Roman zu einer Herausforderung für jeden Leser. Die von Roland McHugh zusammengestellten Annotations to Finnegans Wake listen im Abkürzungsverzeichnis insgesamt 61 Sprachen und/ oder Varietäten auf, auf die sich Worterklärungen beziehen. 32 In dieser Liste finden sich neben den europäischen Bildungssprachen beispielsweise auch Arabisch, Mandarin, Hindustani, Japanisch, Malay, Rätoromanisch und Sanskrit sowie die Plansprachen Esperanto und Volapük. Die For‐ schung zu Joyce’ Roman hat herausgearbeitet, dass der Text durchgängig mehrere Ge‐ schichten zugleich erzählt. Damit wird ein Verfahren auf die Spitze getrieben, das bereits Till Dembeck 158 <?page no="159"?> 33 James Joyce, Finnegans Wake, New York 1967 [1939], S. 628. 34 Ebd., S. 3. 35 Vgl. Joseph Campbell/ Henry Morton Robinson, A Skeleton Key to Finnegans Wake, New York 1975, S. 24-31. 36 Ebd. im Ulysses Anwendung findet, denn dieser Roman fordert allein durch seinen auf den ersten Blick kaum auf das Geschehen bezogenen Titel dazu auf, die geschilderten Ereignisse nicht nur als Erlebnisse Dubliner Anwohner am 16. Juni 1904 zu verstehen, sondern ihnen zu‐ gleich eine proto-mythologische Bedeutung zuzumessen. In Finnegans Wake hat die For‐ schung eine Vielzahl von Bezugsebenen ausgemacht, auf die sich das Erzählen beziehen lässt, aber anders als im Ulysses ist es keinesfalls ausgemacht, dass es eine Art Basisge‐ schichte gibt. Die Simultanität multipler Bezugsebenen resultiert nicht zuletzt aus der überbordenden Mehrsprachigkeit der Paronomasien. Die Leistung des Textes besteht darin, dass die gleich‐ zeitige Zuordenbarkeit vieler Wörter zu mehreren Sprachen oder aber ihre Doppeldeutig‐ keit in einer Sprache eine Vielzahl von Konnotationen weckt, die sich zu Geschichten oder zumindest Mythologemen verdichten, so dass sich der Eindruck einstellt, es mit einer Er‐ zählung zu tun zu haben, die eine mehr als nur doppelte Zeitstruktur aufweist: Ist für Er‐ zählen schlechthin charakteristisch, dass die Zeitstruktur des Erzählens (récit) sich grund‐ sätzlich von derjenigen des Erzählten unterscheiden lässt (histoire), so lassen sich dem Erzählen in Finnegans Wake eine letztlich sogar schwer zu bestimmende Vielzahl an Ge‐ schichten zugleich zuordnen. Der Vervielfältigung der Idiome des Erzählens entspricht die Vervielfältigung der Geschichte(n). Der Eindruck des Lesers, man könne den Roman nicht zu Ende lesen, weil sich fortwährend weitere esoterische Lesarten zu erkennen geben, die sich zugleich dem fixierenden Zugriff entziehen, wird überdies durch die zyklische Anlage des récit bestätigt, denn der Anfang zu dem unvollständigen Satz, mit dem der Roman einsetzt, findet sich erst ganz am Ende des Romans (»A way a lone a last a loved a long the« 33 - »riverrun, past Eve and Adam’s« 34 ). Im Einzelnen kann das Verfahren der Vervielfältigung des Erzählens nur exemplarisch vor Augen geführt werden. Dazu eignet sich im Prinzip nahezu jede Passage, besonders aber der Beginn des Romans, der als eine Art kondensierte Exposition der im weiteren Verlauf entfalteten Themen und Bezugsebenen gedeutet werden kann. Die folgende Ana‐ lyse der ersten drei Absätze muss sich allerdings auf einige wenige Beobachtungen der hier vorliegenden Sprachmischung im Kontext der allgemeinen Mehrfachcodierung des Textes beschränken. 35 riverrun, past Eve and Adam’s, from swerve of shore to bend of bay, brings us by a commodius vicus of recirculation back to Howth Castle and Environs. 36 Der erste Absatz beschreibt eine Bewegung, die sich in der Umgebung von Dublin verorten lässt - eine Bewegung entlang des Flusses Liffey, der hinter Dublin ins Meer fließt, in die Bucht von Dublin, die von der Halbinsel Howth, auf dem Howth Castle liegt, begrenzt wird. Diese Bewegung wird dabei als Kreisbewegung ausgewiesen, denn der Anfang des Romans, aber auch der Geschichte überhaupt (»Eve and Adam’s« - die Bezeichnung für eine Kirche III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 159 <?page no="160"?> am Liffey) wird als Rückkehr bezeichnet (»re-circulation«, »back to«). Diese Kreisbewe‐ gung bezieht sich zugleich auf die zirkuläre Struktur des Romans, dessen letzter Satz - dem unmittelbar die Aufforderung »Finn, again! « vorausgeht - hier fortgesetzt wird. Die For‐ mulierung »commodius vicus of recirculation« deutet die Kreisbewegung einerseits als bequem, angemessen (»commodius« als Komparativ des lateinischen Adjektivs ›com‐ modus‹), andererseits als verteufelt, ›vicious‹ (›vicious circle‹), wobei beide Attribute mehrdeutig sind: »commodius« lässt sich auch als Referenz auf den (ausgesprochen grau‐ samen) römischen Kaiser Commodus lesen; »vicus« ist lateinisch ›Gehöft/ Dorf‹ und zu‐ gleich die lateinische Form des Namen Vico - womit hier also auch eine Anspielung auf den italienischen Kulturphilologen Giambattista Vico vorliegt, der eine durchgehende Re‐ ferenz des Textes darstellt, und zwar wiederum nicht zuletzt dank des von ihm entwickelten Konzepts des historischen ›ricorso‹ - der zyklischen Wiederkehr eines Ablaufs historischer Epochen. Sir Tristram, violer d’amores, fr’over the short sea, had passencore rearrived from North Armorica on this side the scraggy isthmus of Europe Minor to wielderfight his penisolate war: nor had topsawyer’s rocks by the stream Oconee exaggerated themselse to Laurens County’s gorgios while they went doublin their mumper all the time: nor avoice from afire bellowsed mishe mishe to tauftauf thuartpeatrick: not yet, though venissoon after, had a kidscad buttended a bland old isaac: not yet, though all’s fair in vanessy, were sosie sesthers wroth with twone nathandjoe. Rot a peck of pa’s malt had Jhem or Shen brewed by arclight and rory end to the regginbrow was to be seen ringsome on the aquaface. Der zweite Abschnitt evoziert eine generelle ›Vorzeitigkeit‹ und etabliert eine Analogie zwischen der im ersten Satz aufgerufenen konkreten geographischen Situation und anderen geographischen Konstellationen und zugleich eine Analogie zu einer Reihe von Personen‐ konstellationen, die im Romanverlauf immer wieder aufgerufen werden: Mit »Sir Tristram« wird der erste Earl of Howth aufgerufen und zugleich der Held Tristan aus dem arturischen Epenkreis. Die Kennzeichnung als »violer d’amores« lässt sich zugleich auf ein Musikin‐ strument (italienisch ›viola d’amore‹) und auf das französische Verb ›violer‹, verletzen, beziehen. Die Aussage, dass »Tristram« aus »North Armorica« ›noch nicht‹ wiederge‐ kommen ist (französisch ›pas encore‹ - zugleich ist hier das englische Verb ›pass‹ enthalten, und es geht ja augenscheinlich auch um eine Passage), lässt sich auf Sir Tristram beziehen, denn der erste Earl of Howth gewann in Armorica, in der Bretagne, eine Schlacht, aber zugleich ist mit einem gewaltsamen Ankömmling aus Nordamerika auf die Hauptfigur des Romans, H. C. Earwicker angespielt, dessen Initialen überdies bereits im ersten Absatz fi‐ gurieren und dessen Frau und Tochter wiederum im Roman mit Isolde enggeführt werden. Das Verb »wielderfight« lässt einerseits das deutsche »wieder« (oder auch »weiter«) an‐ klingen, andererseits enthält es das englische Substantiv ›wielder‹, Machthaber. Besonders vertrackt ist schließlich die Rede vom »penisolate war«; das Adjektiv enthält das Wort »penis«, ließe sich aber auch als »pen-isolate«, ›von der/ durch die Schreibfeder vereinzelt‹ deuten oder aber als Verkürzung bzw. italianisierte Fassung von ›peninsular‹, was dann Till Dembeck 160 <?page no="161"?> 37 Marshall McLuhan/ Quentin Fiore, War and Peace in the Global Village, San Francisco 1997 [1968], S. 46-48. eine Anspielung auf den in Dublin geborenen ersten Duke of Wellington wäre, der auf der iberischen Halbinsel einen ›peninsular war‹ gegen Napoleon führte. In den folgenden Satz‐ teilen finden sich Anspielungen auf das ›Double‹ der Stadt Dublin im amerikanischen Georgia, das sich in »Laurens County« (zugleich ›Lawrence County‹, der Bezirk, in dem sich das erste Dublin befindet und der nach dem ersten Earl of Howth benannt ist, der später den Namen Lawrence annahm) befindet und von Peter Sawyer (zugleich hier: Tom Sawyer) gegründet wurde; auf den Heiligen Patrick, der Irland christianisiert hat (»tauftauf thuart‐ peatrick«); auf Isaaks Segnung Jakobs; auf Jonathan Swift und seine Geliebten Vanessa und Stella; und auf »Jhem or Shen« - den Sohn von H. C. Earwicker, Sham, aber auch den Sohn Noahs, Shem. Im letzten Satz dieses Absatzes finden sich wieder sprachlich mehrdeutige Wörter, etwa »regginbrow«, was als deutscher ›Regenbogen‹, aber auch als lateinisch-eng‐ lisches ›Königsbräu‹ gedeutet werden kann (im Anschluss an die Rede von »pa’s malt« ist das sicherlich nicht ganz unplausibel). The fall (bababadalgharaghtakamminarronnkonnbronntonnerronntuonnthunntrovarrhounawnskawntoohoohoordenenthurnuk! ) of a once wallstrait oldparr is retaled early in bed and later on life down through all christian minstrelsy. Der dritte Abschnitt des Romans handelt von einem (Finnegans) Sturz oder Fall, mit dem die Handlung einsetzt. Er enthält unter anderem die scheinbar rein lautmalerische Dar‐ stellung des Falls, bei der es sich aber in Wirklichkeit um die Aneinanderreihung von Wör‐ tern aus mehreren Sprachen handelt, die allesamt ›Donner‹ bedeuten - eingeleitet durch Silben, die sich als Verzerrung des Worts ›Babel‹ lesen lassen. Ähnliche Wortcluster finden sich in regelmäßigen Abständen in Finnegans Wake (insgesamt zehn), weshalb Marshall McLuhan, einer der frühesten systematischen Exegeten des Romans, den Donner - in seiner Lesart die Metapher für die unterschiedlichen Medienrevolutionen, die die Menschheit er‐ lebt hat - zum strukturbildenden Vorkommnis des Romans erklärt hat. 37 e) Offene Forschungsfragen Auch wenn die Forschung zu Sprachwechsel und -mischung in literarischen Texten alles in allem ein wenig verstreut erscheint, besteht kein grundlegender Mangel an ihr. Es liegen eine Vielzahl von Arbeiten zu unterschiedlichen literaturhistorischen Kontexten und Sprachkonstellationen vor, die methodisch gesehen auch recht unterschiedliche Ansätze verfolgen. Besonders intensiv bearbeitete Schwerpunkte liegen im Bereich der Mediävistik und der Romanistik. Auch wenn grundsätzlich eine Intensivierung dieser Forschungsan‐ strengungen wünschenswert ist, so besteht doch das eigentliche Defizit derzeit in der Zu‐ sammenführung der bereits vorliegenden Ergebnisse. Dabei ist die mangelnde Traditions‐ bildung paradoxerweise nicht zuletzt in Sprachbarrieren begründet - selbst die hier oft angeführte aktuelle Arbeit von Helmich, die sich gerade um die Zusammenführung der vorliegenden Forschung bemüht, nimmt beispielsweise wenig Rücksicht auf die Forschung III. 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung 161 <?page no="162"?> des englischen Sprachraums. Wünschenswert wäre also in erster Linie ein engerer Aus‐ tausch zwischen den Forschungsbemühungen in unterschiedlichen Sprachgebieten. Eines der vordringlichen Ziele eines solchen Austauschs sollte eine Steigerung der his‐ torischen Tiefenschärfe sein. Derzeit konzentrieren sich viele Studien auf die Gegenwarts‐ literatur; dies ist auch verständlich, da sich in diesem Bereich die präzise philologische Analyse am unmittelbarsten mit einer Abschätzung der kulturpolitischen Wirkungsmacht literarischer Mehrsprachigkeit verbinden lässt, wie sie im Interesse der Etablierung des Forschungsfeldes insgesamt liegt. Gerade die kulturpolitische Relevanz von Sprachwechsel und -mischung lässt sich aber noch besser verstehen, wenn sie historisch rückgebunden wird. In theoretischer bzw. methodischer Hinsicht sollte - im Bewusstsein gerade auch der methodischen Differenzen - weiterhin eine gründlichere Aufarbeitung der Forschungser‐ gebnisse der linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung erfolgen, nicht nur mit Blick auf das Code-Switching, sondern allgemeiner auf Phänomene der Codevermischung durch Sprachkontakt. Nur so kann Klarheit über die unterschiedlichen Kategorien von Sprach‐ differenzen hergestellt werden, die Sprachwechsel oder Sprachmischung im literarischen Text ermöglichen; und nur so werden gerade im Bereich der Sprachmischung klare Be‐ schreibungen der sehr unterschiedlichen vorkommenden Verfahren entwickelt werden können. Literatur Adorno, Theodor W., »Wörter aus der Fremde«, in: Ders., Noten zur Literatur, Frankfurt/ M. 1994 [1959], S. 216-232. Arndt, Susan/ Dirk Naguschewski/ Robert Stockhammer, »Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache«, in: Dies. (Hrsg.), Exophonie. Anderssprachigkeit (in) der Literatur, Berlin 2007, S. 7-27. Bachtin, Michail M., »Das Wort im Roman«, in: Ders., Die Ästhetik des Wortes, hrsg. v. Rainer Grübel, übers. v. Rainer Grübel/ Sabine Reese, Frankfurt/ M. 1979 [1934/ 1935], S. 154-300. Bennett, Benjamin, »›Ursprünge‹. The Secret Language of George’s Der siebente Ring«, in: The Ger‐ manic Review 55 (1980), S. 74-81. 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Mehrsprachigkeit in der Figurenrede kann allerdings auch viel unauffälligere Formen annehmen: Wie steht es beispielsweise mit der durchgängig auf Deutsch wiedergegebenen Rede Mignons im Wilhelm Meister, von der man doch eigentlich weiß, dass sie eine merk‐ würdige Pidginsprache spricht? Wie ist es einzuordnen, wenn die Trapper in einem Roman von Karl May auf Deutsch parlierend durch die Prärie reiten und, da sie auf einen anderen Trapper treffen, auf einmal einer der Trapper mit diesem auf Sächsisch weiterspricht, so dass man nun klar sieht, dass das vorher benutzte Deutsch eigentlich Englisch war? Durch zwei nähere Bestimmungen lässt sich das Phänomen genauer beschreiben: (a) Mehrsprachigkeit in der Figurenrede stellt das Auftreten oder Sichtbarwerden von Sprachdifferenzen dar, die in irgendeiner Weise mit der jeweiligen Sprachkompetenz der handelnden Figuren in Verbindung stehen. Dabei müssen auch Erzähler berücksichtigt werden, solange eine Zuordnung der Erzählerrede zu einer Figur zumindest möglich ist, was etwa bei erlebter Rede jedoch nicht immer eindeutig geklärt werden kann. Beispiels‐ weise können fehlerhafte anderssprachige Partien der Erzählerrede Rückschlüsse auf die Person des Erzählers und seine Sprachkompetenz liefern, und ein unwillkürliches Code-Switching in der Erzählerrede kann ein Hinweis darauf sein, dass erlebte Rede vor‐ liegt. (b) In der Beschreibung von Mehrsprachigkeit in der Figurenrede muss auf die Differenz zwischen latenter und manifester Mehrsprachigkeit zurückgegriffen werden, wie sie Giulia Radaelli entworfen hat. Denn durch die Sprachkompetenz von Figuren bedingte Sprach‐ vielfalt kann im literarischen Text sehr unauffällig in Erscheinung treten und noch die Schwelle einer rein strukturellen Sprachmischung (etwa im Falle syntaktischer Interfe‐ renzen) unterschreiten (zur Sprachmischung siehe III .1). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn man aus dem Text erschließen kann, dass ein Gespräch in einer anderen Sprache als derjenigen geführt wird, in der der Text geschrieben ist, dies aber nicht explizit erwähnt wird. Ein Aufsatz von Meir Sternberg aus den 1980er Jahren hat ausführlich und wirk‐ mächtig erläutert, dass es viele Verfahren gibt, anderssprachige Rede so wiederzugeben, <?page no="168"?> 38 Harry Mathews, »Translation and the Oulipo: The Case of the Persevering Maltese«, in: Brick 58 (1998), S. 70-76. dass sie auch einem hypothetischen einsprachigen Leser verständlich bleibt. So kann Mehr‐ sprachigkeit an der Textoberfläche latent bleiben, zugleich aber unübersehbar sein. Die Tatsache, dass auf diese Weise bei May Englisch in Erscheinung treten kann, ohne dass tatsächlich Elemente und Strukturen des Englischen auftauchen müssten, zeigt überdies, dass Sprachdifferenzen auf unterschiedlichen Strukturebenen füreinander einstehen können: Hier steht die Differenz Standarddeutsch/ Sächsisch für die Differenz Deutsch/ Englisch ein. Von latenter Mehrsprachigkeit kann unter Umständen aber auch die Rede sein, wenn unterschiedliche ›rhetorische‹ Textstrukturen im Kontrast zueinander stehen. Wenn etwa in Franz Grillparzers Das goldene Vließ die Griechen in Blankversen und die Kolcher in freien Versen sprechen, so wird damit im Deutschen die Differenz zwischen dem Griechischen und dem Kolchischen zumindest angezeigt. An die Stelle solcher, literarisch schon gefestigter Textstrukturen können sogar willkürlich erfundene Regelhaftigkeiten treten. Harry Mathews, ein Mitglied der Literatengruppe »Oulipo« (Ouvroir de littérature potentielle), hat behauptet, dass auch ein beliebiger, künstlicher ›contrainte‹, dem man sich unterwirft (beispielsweise die Regel, nur Wörter ohne ›e‹ zu verwenden), dem Schreiben einen ebenso festen Halt gebe wie eine Muttersprache. 38 Aus einer funktionalen Perspektive ist es also möglich, sowohl ›grammatische‹ als auch ›rhetorische‹ Regelhaftigkeiten (ein‐ schließlich ganz ›künstlicher‹) als Anzeichen für ›unsichtbare‹ andere Idiome einzusetzen. Manifeste Mehrsprachigkeit in der Figurenrede tritt meistens in Form von Sprachwech‐ seln auf, d. h., es findet sich eine segmentäre Differenzierung zwischen unterschiedlichen Idiomen: eine Figur spricht Englisch, die andere Deutsch, oder eine Figur wechselt vorü‐ bergehend vom Italienischen ins Arabische, damit eine dritte, des Arabischen nicht mäch‐ tige Person nichts versteht. Die Tatsache, dass Mehrsprachigkeit in der Figurenrede auch latent bleiben kann, zeigt allerdings, dass auch Sprachmischung verwendet werden kann, um die Sprachkompetenz der dargestellten Figuren zu markieren. Dies ist in letzter Kon‐ sequenz schon dann der Fall, wenn Sprachdifferenzen, die auf unterschiedlichen Struktur‐ ebenen anzusiedeln sind, füreinander einstehen, denn dann ist beispielsweise im Blankvers der Grillparzer’schen Griechen das Griechische sozusagen ›eingemischt‹. Sprachmischung kann aber auch dazu dienen, beispielsweise durch die Imitation eines Akzents, also die Untermischung anderssprachiger phonetischer Merkmale, die Anderssprachigkeit der ge‐ samten Rede einer Figur zu signalisieren (siehe III .1). In solchen Medien der Literatur, die über den schriftlichen Text hinausgehen, ergeben sich auch andere Möglichkeiten, die An‐ derssprachigkeit von Figurenrede darzustellen; insbesondere kann ein Akzent durch Schall‐ reproduktion tatsächlich hörbar gemacht werden (siehe zur Mehrsprachigkeit in Hörspiel/ Hörbuch, Film und Fernsehen V.5 bis 7). Die Mehrsprachigkeit in der Figurenrede lässt sich häufig unmittelbar kulturpolitisch deuten, denn sie steht im Zusammenhang mit Sprachsituationen, auf die sich der Text be‐ zieht, die er aufbaut oder in deren Kontext er sich stellt. Beispielsweise kann ein Text eine Diglossie-Situation darstellen und damit Stellung beziehen zu den sozialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen vergleichbarer Diglossie-Situationen in einem be‐ stimmten gesellschaftlichen Kontext; ähnliches gilt für (post-)koloniale oder (post-)migra‐ Till Dembeck 168 <?page no="169"?> torische Sprachkonstellationen, Sprachstandardisierungs- und Kodifizierungsprozesse etc. in ihren psychischen und/ oder soziokulturellen Auswirkungen. Die je spezifische Gestal‐ tung der Mehrsprachigkeit in der Figurenrede kann auch als Versuch gewertet werden, auf derartige sprach- und kulturpolitische Situationen einzuwirken. Ein Sonderfall der anderssprachigen Figurenrede stellt das anderssprachige Zitat dar, etwa dann, wenn Angehörige des Gelehrtenstandes in Renaissance-Komödien mit Zitaten aus den antiken Klassikern aufwarten. Das anderssprachige Zitat ist unabhängig von der Zuordnung zu handelnden oder Erzähler-Figuren insofern mit der mehrsprachigen Figu‐ renrede verwandt, als auch hier die anderssprachige Rede als Produkt bestimmter Personen gekennzeichnet oder zumindest erkennbar ist. Insofern das Zitat einen Bezug zu einer mehr oder weniger kenntlich gemachten (literarischen) Tradition herstellt, ergeben sich aber andere Funktionszuschreibungen als bei mehrsprachiger Figurenrede. Insofern verdient das anderssprachige Zitat eine eigenständige Behandlung ( III .3). b) Sachgeschichte Die implizite Charakterisierung handelnder Figuren durch ihren Sprachgebrauch stellt ein Standardverfahren literarischer Darstellung dar, das sich bis zu den frühesten literarischen Zeugnissen verfolgen lässt. Auch die Nutzung oder zumindest die Anzeige unterschiedli‐ cher gesprochener Idiome spielt dabei schon früh eine Rolle, wobei sie, ähnlich wie bei Sprachwechsel und Sprachmischung (siehe III .1), lange Zeit bestimmten Gattungen vor‐ behalten bleibt und stets im Kontext der jeweils vorherrschenden kultur- und sprachpoli‐ tischen Hintergrundkonstellationen zu beschreiben ist. In der Antike sind hier die Komödien von Aristophanes und Plautus hervorzuheben. Das griechische Schrifttum zeichnet sich generell durch eine große Varianz der verwendeten Dialekte aus, da sich eine gemeinsame Standardsprache, die κοινή, erst im dritten vor‐ christlichen Jahrhundert durchsetzt. Die grundsätzliche Schriftfähigkeit der Dialekte kann in der Komödie genutzt werden, um die Herkunft der einzelnen Figuren sprachlich anzu‐ zeigen. Die Tatsache, dass dieses Verfahren der Komödie vorbehalten blieb, während die Tragödie bis in die Neuzeit hinein eine stilistisch hoch gestimmte Einsprachigkeit pflegt (wenn sich auch für die attische Tragödie eine dialektale Differenzierung zwischen dem Chor und den übrigen Partien eingebürgert hatte), hat dazu geführt, dass dieses Verfahren als Mittel der Komik aufgefasst wurde. Tatsächlich ist die dialektale Prägung bis heute ein Mittel, um eine komisch wirkende Einschränkung der handelnden Personen anzuzeigen. Gleichwohl ist für Aristophanes in der jüngeren Forschung überzeugend die These ver‐ treten worden, dass die Verwendung von Dialekten eher die Funktion hatte, die Realitäts‐ treue der Darstellung zu steigern (Zimmermann, »Dialekte und ›foreigner talk‹ im grie‐ chischen Drama«). Noch die Imitation von Frosch- und Vogelsprachen in den Komödien des Aristophanes ist ja gerade als lautliche Nachahmung der Tierlaute als durchaus ›rea‐ listisch‹ aufzufassen, auch wenn hier zweifellos zugleich komische Effekte erzeugt werden. In erzählenden bzw. historiographischen Texten der griechischen Literatur, also etwa bei Homer, Herodot oder Xenophon, ist der Sprachwechsel in der Figurenrede ebenso wenig prominent wie in der Tragödie. In Xenophons Ἀνάβασις (Anabasis) beispielsweise, die durchweg von einem Geschehen berichtet, das unter Persern stattfindet, wird zwar an ei‐ III. 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede 169 <?page no="170"?> 39 Siehe z. B. Xenophon, Anabasis, Griechisch/ Englisch, übers. v. Carleton L. Brownson, Cambridge, Mass./ London 1998, S. 114. Dort heißt es, ein Bote habe »βαρβαρικῶς καὶ ἑλληνικῶς« gesprochen. 40 P. Ovidius Naso, Tristia, hrsg. und übers. v. Georg Luck, Bd. I: Text und Übersetzung, Heidelberg 1967, S. 216 (5. 12. 57 f.). Die Stelle in den Epistulae findet sich in Ovide, Pontique, hrsg. und übers. v. Jacques André, Paris 1977, S. 148 (IV.13.17-22). Siehe hierzu Alessandro Barchiesi, The Poet and the Prince. Ovid and Augustan Discourse, Berkeley, Cal./ Los Angeles/ London 1997, S. 34-39. 41 Augustinus, Confessiones/ Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch, hrsg. und übers. v. Joseph Bern‐ hart, München 1980, S. 40-58. nigen Stellen erwähnt, dass jemand Persisch (oder auch schlicht: ›Barbarisch‹) spricht (und dass ein Dolmetscher diese Rede übersetzt), die Wiedergabe des Gesagten erfolgt dann aber in einem attischen Griechisch, das seither als musterhaft rein gilt. 39 An sehr prominenter Stelle findet sich eine anderssprachige Figurenrede in einem griechischen Text im Mat‐ thäuswie im Markus-Evangelium, die beide Jesu letzte Worte in einer Transkription des Aramäischen wiedergeben (Mk 15,34: Ελωι ελωι λεμα σαβαχθανι; Mt 27,46: Ηλι ηλι λεμα σαβαχθανι). Zwar handelt es sich hier um ein Zitat einer Übersetzung des 22. Psalms, aber dennoch kann man die Meinung vertreten, dass die Nutzung der Alltagssprache die Menschwerdung Gottes eindrücklicher vor Augen führt. Für die römische Komödie ist von einer veränderten Sprachlandschaft auszugehen. An die Stelle der dialektalen Vielfalt tritt ein Gefüge, in dem sich zwei Standardsprachen ge‐ genüberstehen, das im ersten vorchristlichen Jahrhundert ›fixierte‹ Latein und die grie‐ chische κοινή. Die Komödie kann sich die lateinisch-griechische Zweisprachigkeit der rö‐ mischen Bildungsschicht zunutze machen, wenn sie Sprachmischung als Verfahren der Komik einsetzt. Dabei gelten die Komödien des Plautus als frühe Beispiele einer literari‐ schen Polyphonie im Sinne Michail M. Bachtins, denn sie nutzen systematisch die Vielfalt der dialektalen und soziolektalen Varianz des frühen Lateins zur Charakterisierung des Personals - eine Technik, die beispielsweise in den Komödien des jüngeren Terentius ver‐ lorengeht, der seinerseits als Schöpfer von ›Musterlatein‹ in die Geschichte eingeht. In der Komödie Poenulus von Plautus gibt es schließlich den für die Antike höchst seltenen Fall, dass auch eine als ›barbarisch‹ geltende Sprache, das Punische, Eingang in den lateinischen Text findet (Duckworth, The Nature of Roman Comedy, 354). Bemerkenswert ist dabei, dass die Reaktion auf die punische Rede in Form homophoner Übersetzung erfolgt (siehe hierzu IV .2). Ovids Schriften aus dem Exil machen ebenfalls die Sprache der örtlichen Bevölkerung zum Thema. In der Forschung wird sogar angenommen, Ovid habe versucht, die angebliche konsonantische Rauheit des Getischen und Sarmatischen im Lateinischen nachzuahmen, um zu demonstrieren, dass er seine Sprachfähigkeit verliere: »ipse mihi videor iam dedicisse Latine: / nam didici Getice Sarmaticeque loqui«, dichtet Ovid in den Tristia, und in den Epistulae ex Ponto wird er später sogar berichten, dass er in diesen Sprachen selbst gedichtet habe. 40 Hier handelt es sich um einen frühen Fall der Charakterisierung von Erzählerrede durch (simulierte) Anderssprachigkeit. In den Confessiones berichtet schließlich Augustinus von seinem Erwerb des Griechischen wie des Lateinischen. Die Vorliebe für das (von ihm ebenfalls als Fremdsprache erlernte) Lateinische, in dem der Text geschrieben wird, erklärt sich danach aus der Abneigung gegen das Griechische, das dem Erzähler durch die Unter‐ richtsmethoden vergällt wurde. 41 Hier handelt es sich um eine Art Schwundstufe von An‐ Till Dembeck 170 <?page no="171"?> 42 Dante Alighieri, La Commedia / Die Göttliche Komödie I: Inferno / Hölle, Italienisch/ Deutsch, übers. v. Hartmut Köhler, Stuttgart 2010, S. 406. 43 Dante Alighieri, La Commedia / Die Göttliche Komödie II: Purgatorio / Läuterungsberg, Italienisch/ Deutsch, übers. v. Hartmut Köhler, Stuttgart 2011, S. 524-526. 44 Siehe hierzu Sara Poor, »The Curious Multilingual Origin of French and German Monolingualism«, erscheint in: German Studies Review 18.3 (2018). derssprachigkeit in der Figurenrede (genauer: in der Erzählerrede), denn indirekt wird die Bedingtheit der Erzählsprache von der Erzählung transparent gemacht. Die Verwendung anderssprachiger Figurenrede als Signal von Realitätsnähe der Dar‐ stellung findet sich vereinzelt auch in der epischen Literatur des Mittelalters. In Dantes Commedia spricht beispielsweise der bei Mantua geborene Vergil stellenweise (mittelalter‐ liches) Lombardisch (Inferno, XXVII , 20 f.) 42 ; der Dichter Arnaut Daniel äußert sich auf Okzitanisch (Purg. XXVI , 139-148), 43 und es finden sich zwei Äußerungen in sog. ›Teu‐ felssprachen‹ (siehe III .1). Die anderssprachige Figurenrede steht hier nicht nur für eine gewisse Authentizität der Redewiedergabe ein, sondern sie lässt sich unmittelbar mit dem sprach- und kulturpolitischen Impetus des Textes in Zusammenhang bringen, dem es ja um die Begründung einer volkssprachlichen Literaturtradition geht und der sich so nicht aus Zufall auf bereits vorliegende Beispiele einer solchen Tradition, wie beispielsweise Arnaut Daniel, bezieht (siehe Klinkert, »Dante Alighieri und die Mehrsprachigkeit«). In vielen mittelalterlichen Texten bleibt, anders als bei Dante, die Darstellung der anderssprachigen Figurenrede latent, etwa bei Gottfried von Straßburg im Tristan. Hier wird zwar erwähnt, dass der Held viele Sprachen beherrscht, aber der Text benutzt anderssprachige Wörter nur in Einzelfällen und dann eher in der Erzählerrede. In Wolframs von Eschenbach Parzival werden immerhin arabische Wörter angeführt (Classen, »Multilingualism in the Middle Ages«, 136-138). Bemerkenswert ist, dass mittelalterliche Erzähltexte, selbst wenn sie auf diese Weise beschreiben, wie Angehörige unterschiedlicher Sprachgemeinschaften interagieren, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wechselseitig verstehen können, Verständigungs‐ probleme dennoch nahezu nie erwähnen. Dies gilt für kanonische Texte aller europäischen Literatursprachen, vom Beowulf über das Nibelungenlied bis zu El Cid (Classen, »Multilin‐ gualism in the Middle Ages«, 136-138). Indirekt kann man allerdings darauf schließen, dass dies in einem frühen Zeugnis der mehrsprachigen Figurenrede noch anders ist, nämlich in den sog. Straßburger Eiden aus dem 9. Jahrhundert, der Wiedergabe einer Szene, in der sich Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche gegen ihren Bruder Lothar verbünden und vor den beiden anwesenden Heeren einander Treue schwören, wobei sie jeweils die Sprache des Heeres des jeweils anderen sprechen. Es handelt sich hier um ein Zeugnis, das ein Bewusstsein für die Verständigungsprobleme zeigt, die sich aus Sprachdifferenzen ergeben können, das aber zugleich eine Form von Mehrsprachigkeit der Figurenrede vor Augen führt, die, wie Sara Poor hervorhebt, gerade nicht die Trennung durch Herkunftssprache betont, sondern die Möglichkeit der Verständigung durch die Vervielfältigung von Um‐ gangssprachen. 44 Die größte Vielfalt an literarischer Mehrsprachigkeit lässt sich für das Mittelalter zwei‐ felsohne in lyrischen Texten finden. Allerdings handelt es sich meist um Formen des Sprachwechsels und der Sprachmischung, die nicht mit der Figurenrede im Zusammenhang III. 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede 171 <?page no="172"?> 45 Carmina Burana. Texte und Übersetzungen, hrsg. v. Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt/ M. 1987, S. 514-517. 46 François Rabelais, Pantagruel, hrsg. v. Pierre Michel, Paris 2009, S. 101-107. stehen. Allenfalls könnte man davon sprechen, dass beispielsweise ein Dichter wie Oswald von Wolkenstein mittels des Sprachwechsels in einigen seiner Texte eine Art mehrsprachige Dichterpersona stilisieren will (siehe III .1). Eine Ausnahme bilden einige Texte aus den Carmina Burana, in denen Sprachwechsel eingesetzt wird, um einen Sprecherwechsel zu markieren, so etwa, wenn in Nr. 153 der Liebende, der in der Abschlussstrophe zu Wort kommt, deutsch spricht, der Erzähler hingegen lateinisch (Classen, »Multilingualism in Late-Medieval Poetry«, 49). 45 Die mittelalterliche Diglossie, in der das Lateinische als Sprache der Kirche wie der Ge‐ lehrsamkeit den je unterschiedlichen Volkssprachen gegenübersteht, setzt sich unter sich stetig wandelnden Vorzeichen in der Frühen Neuzeit fort. Dabei verändert sich in erster Linie der Status der sich emanzipierenden Volkssprachen - ein Prozess, dessen Befürworter sich nicht zuletzt auf Dante und auf dessen Schrift De vulgare eloquentia berufen können. Als einen der Effekte der neuartigen literarischen Sprachkonkurrenz kann man das Auf‐ kommen der makkaronischen Dichtung und ihrer Nebenformen ansehen, die die Sprach‐ mischung zwischen dem Lateinischen und meist einer Volkssprache zum komischen Form‐ prinzip erheben (siehe hierzu III .1 und V.1). Im Bereich der Figurenrede findet sich die makkaronische Schreibweise allerdings weniger in lyrischen Formen, sondern im (humo‐ ristischen) Roman bei François Rabelais und seinen Nachfolgern und vor allem wiederum im Bereich der Komödie. In Rabelais’ Pantagruel (1532) und in den Folgeromanen steht für die Mehrsprachigkeit in der Figurenrede insbesondere die Figur des Panurge ein, der im 9. Kapitel als Polyglott eingeführt wird, und zwar mit einer Rede in 13 Sprachen, in der er versucht, um Essen zu bitten, ohne dass ihn jemand verstünde. Unter den Sprachen, die Panurge spricht, finden sich Deutsch, Italienisch, Hebräisch und Griechisch, aber auch drei Phantasiesprachen. 46 In gewisser Hinsicht ist Panurge ein Held, der die überbordende Funktion von Sprachwechsel und -mischung für den Text, die vor allem die Erzählerrede betrifft, auf der Ebene der Handlung personifiziert. Auch die deutschsprachige Adaption des zweiten Romans von Rabelais, Gargantua (1534), in Johann Fischarts Geschichtsklitterung (1570) setzt auf Sprach‐ wechsel und vor allem Sprachmischung in Form von (überwiegend paronomatischen) Wortspielen (siehe III .1, insbesondere Anwendungs-/ Analysebeispiel 1). Gerade bei Fischart ist bemerkenswert, dass das mehrsprachige Wortspiel, das zunächst für den Er‐ zähler charakteristisch ist, auch auf die Figurenrede übergreift, insbesondere dort, wo auf‐ grund des Erzählverfahrens nicht mehr genau zu unterscheiden ist, wer eigentlich spricht, so beispielsweise in der »Trunckenen Litanei« (siehe III .1). Das Beispiel des Panurge zeigt schon, dass, anders als im Mittelalter, Probleme der Ver‐ ständigung aufgrund sprachlicher Kompetenzmängel in der Frühen Neuzeit durchaus ein Thema der Literatur werden. Ja, die Darstellung solcher Probleme wächst sich nachgerade zu einer Obsession der frühneuzeitlichen (Erzähl-)Literatur aus (Classen, »Multilingualism in the Middle Ages«, 141). Zumindest teilweise wird sich dieses neuartige Interesse als Medieneffekt erklären lassen. Denn die neue Technologie des Buchdrucks und die damit Till Dembeck 172 <?page no="173"?> einhergehende Entwicklung eines Buchmarkts erzeugt die Notwendigkeit, Sprache so zu verwenden, dass sie über lokale Zusammenhänge hinaus verständlich ist. Der damit gege‐ bene Anreiz zur Standardisierung von (Volks-)Sprachen erzeugt zugleich ein verschärftes Bewusstsein für die Grenzen, die zwischen den so erzeugten Sprachen und den an sie ge‐ koppelten Buchmärkten entstehen. Zugleich erweiterte die Entdeckung Amerikas und mit ihr einhergehend die zunehmende koloniale Aktivität der europäischen Staaten den Kreis der bekannten Sprachen, was die Grenzen sprachlicher Verständigungsfähigkeit ebenfalls deutlich vor Augen führte. Als literarisches Korrelat der frühneuzeitlichen Reflexion auf sprachbedingte Verständnisprobleme kann man die Konjunktur von ›erfundenen‹ Spra‐ chen sehen, die sich zumindest teilweise in der Anderssprachigkeit von Figurenrede aus‐ zeichnet. Man denke etwa an die Ausführung zur Sprache von Utopia (1516) bei Thomas More sowie etwas später an die unterschiedlichen Sprachen, die Jonathan Swifts Gulliver bei seinen verschiedenen Reisen kennenlernt (siehe III .1). Die Sprache bzw. die Sprachfä‐ higkeit von Kolonialisierten wird beispielsweise in William Shakespeares The Tempest (1611) thematisiert. In der frühneuzeitlichen Komödie ist Mehrsprachigkeit der Figurenrede zumindest teil‐ weise nachgerade gattungskonstitutiv. Das gilt insbesondere für die italienische Improvi‐ sationskunst der Commedia dell’arte. Die festen Charaktere, auf denen das Spiel aufruht, sprechen jeweils in bestimmten italienischen bzw. romanischen Dialekten. So spricht der Dottore im Bologneser Dialekt mit lateinischen Einsprengseln, der Pantalone aber Venezi‐ anisch. Die Figurenzeichnung der Commedia dell’arte hat eine Vielzahl von Komödien bis in die Moderne hinein geprägt und geht ihrerseits teils auf die römische Komödie zurück. Beispielsweise ist der Capitano, der traditionell Spanisch spricht (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 59), an die Titelfigur von Plautus’ Miles Gloriosus angelehnt. Er wird dann seinerseits zum Gegenstand der Komödie Horribilicribrifax Teutsch (1663) von Gryphius (siehe unten Anwendungs-/ Analysebeispiel 1). Noch deutlich üppiger ist die Ausgestaltung der mehrsprachigen Figurenrede in Félix Lope de Vegas Komödien - die auch verballhorntes Deutsch umfassen und auf die Sprachmischungsverfahren der makkaronischen Poesie zu‐ rückgreifen (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 64 f.). In Shakespeares Komödien findet sich, einem verbreiteten Verfahren der Zeit entsprechend, meist eine schwache Form der Mehrsprachigkeit in der Figurenrede, insofern das adelige Personal im Blankvers spricht, die Narren hingegen in Prosa. Darüber hinaus spielt Shakespeare hin und wieder mit (teils verballhorntem) Latein, wie es in Love’s Labours Lost (1597) von dem Pseudoge‐ lehrten Holofernes gesprochen wird. Der komische Effekt ist ein (mindestens) doppelter, denn Holofernes’ gelehrter Anspruch kontrastiert einerseits mit der Fehlerhaftigkeit seines Lateins, andererseits mit den Reaktionen seiner Umwelt, die, des Lateinischen nicht mächtig, seine Aussagen in Form homophoner Übersetzungen zurückspiegelt (siehe Du‐ mitrescu, »Literary Multilingualism in Everyday Life«, 108-111). Epochemachende Bei‐ spiele der Mehrsprachigkeit in der Figurenrede auf dem Gebiet der Komödie hat schließlich Molière beigesteuert, beispielsweise in Le malade imaginaire (1673), wo das Latein der Ärzte aufs Korn genommen wird, oder in Bourgois gentilhomme (1670), wo die Lingua Franca (Sabir) eine entscheidende Rolle spielt. Molières Vorbild mag es sein, das Lessing in der Zeichnung der Figur des Riccault de la Marlinière in Minna von Barnhelm (1763) aufgreift, dem wahrscheinlich bekanntesten Beispiel partiell anderssprachiger Figurenrede in der III. 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede 173 <?page no="174"?> 47 Ausführlicher hat Stockhammer das Argument entfaltet in »Lehrjahre der National- und Wander‐ jahre der Weltliteratur. Zur Sprachigkeit von Goethes Wilhelm Meister-Romanen«, Vortrag an der Universität Luxemburg am 8. September 2016. deutschsprachigen Komödie. Ist die kulturpolitische Wertigkeit der Mehrsprachigkeit der komödiantischen Figurenrede meist insofern klar ersichtlich, als den einzelnen Sprachen klar bestimmte soziokulturelle Wertigkeiten zugeschrieben sind, die es ermöglichen, den Gegenstand von Spott und Satire unmittelbar zu erfassen, ist übrigens bei Lessing die Lage komplexer, denn die Figur des Riccault lässt sich als versteckte Personifizierung autorsei‐ tiger politischer Kritik auffassen (siehe Conter, »Fremdsprachen in der Komödie«). Die noch für die frühneuzeitliche Komödie maßgebliche Sprachtypisierung, wie sie für Sprachwechsel und -mischung seit dem Mittelalter üblich ist, verliert im 18. Jahrhundert an Plausibilität, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach aufgrund der sich immer weiter durchsetzenden Muttersprachensemantik und der durch den Buchdruck verstärkten Ko‐ difizierung der Volkssprachen, die wiederum schon ab dem 16. Jahrhundert die Entstehung von Sprachnationalismen begünstigt hatte. Mit der zumindest tendenziellen Auflösung der festen Konnotationswerte der Sprachen wird zum einen deren Freigabe zur ästhetischen Funktionalisierung begünstigt, auch wenn diese Möglichkeit gerade aufgrund des starken Drucks der Muttersprachensemantik zunächst kaum genutzt wird; zum anderen zementiert die Engführung von Muttersprache und Sprache der Nation eine Vorstellung sprachlich homogener Publiken, die die literarische Darstellung vor die Herausforderung stellt, das Auftreten anderssprachiger Figurenrede so zu vermitteln, dass auch ein als einsprachig vorgestelltes Publikum sie versteht. Das einfachste Verfahren hierzu besteht darin, andere Sprachen ohne weiteres Aufheben in der Sprache wiederzugeben, in der der Text selbst gestaltet ist (siehe zur Systematik Abschnitt c). Dies ist fast immer dann der Fall, wenn ein historisches oder an einem ›exo‐ tischen‹ Ort angesiedeltes Geschehen in der Sprache des heimischen Publikums wieder‐ gegeben wird. (Insofern umfasst die Geschichte der mehrsprachigen Figurenrede einen sehr großen Teil der Literaturgeschichte.) Dieses Verfahren ist aus Xenophons Anabasis bekannt, und es hat bis heute kaum an Überzeugungskraft verloren. Angesichts der Tatsache, dass es offenbar ganz unproblematisch ist, beispielsweise einen venezianischen Kaufmann in Shakespeares Englisch sprechen zu hören, ohne dass die Darstellung dadurch weniger re‐ alistisch würde, ist schon jeder Hinweis auf die ›eigentliche‹ Anderssprachigkeit von Fi‐ gurenrede als Signal aufzufassen, dass die Anderssprachigkeit von Bedeutsamkeit ist. So ist es möglich, beispielsweise die latente, aber immerhin doch angemerkte Andersspra‐ chigkeit der Rede bestimmter Figuren in Johann Wolfgang von Goethes anscheinend ein‐ sprachigen Wilhelm Meister-Romanen oder im Faust als Teil einer kulturpolitischen Stra‐ tegie des Umgangs mit Sprachenvielfalt anzusehen (siehe Stockhammer, »Die gebrochene Sprache des Literarischen« 47 bzw. Anwendungs-/ Analysebeispiel 2). Als weitläufiges Experimentierfeld zur Bearbeitung des Problems, wie Sprachvielfalt im Medium der Einsprachigkeit präsentiert werden kann, lässt sich der realistische (bzw. proto-realistische) Roman ab dem 18. Jahrhundert verstehen. In der Rekonstruktion der Entwicklung ist dabei insbesondere von Bedeutung, welchen Einschränkungen die An‐ nahme der Einsprachigkeit des Publikums jeweils unterliegt. So gilt es im 18. und 19. Jahr‐ Till Dembeck 174 <?page no="175"?> hundert noch lange als einigermaßen unproblematisch, lateinische Ausdrücke und Sätze in die Figurenrede einzuflechten - eine Tradition, die sich nicht zuletzt aus dem humoristi‐ schen Roman, etwa bei Lawrence Sterne oder bei Jean Paul, herschreibt. Schon im Tristram Shandy (1759-1767) ist es allerdings offenbar notwendig, längere lateinische Passagen auch auf Englisch anzubieten. Standardmäßig kann man aber davon ausgehen, dass gerade sen‐ tenzhafte lateinische Zitate auch im Original verstanden werden (siehe III .3). Die spezifisch moderne ›Einsprachigkeit‹ der Literatur des 18. Jahrhunderts offenbart sich nicht zuletzt darin, dass die für diese Einsprachigkeit konstitutive Übersetzung aus anderssprachigen Literaturen (siehe hierzu Lennon, In Babel’s Shadow; Gramling, The Invention of Monolin‐ gualism) auch von den literarischen Texten selbst thematisiert wird: Die spätestens durch Miguel de Cervantes’ Don Quixote begründete und im 18. Jahrhundert stark in Mode kom‐ mende literarische Herausgeberfiktion geht oft, und vor allem eben schon bei Cervantes selbst, einher mit der Fiktion, man habe es bei einem Roman mit der Übersetzung aus einer anderen Sprache zu tun (siehe zu dieser ›Gattung‹ Babel, Translationsfiktionen). Auch dies ist eine Form der latenten Mehrsprachigkeit der Figurenrede - bezogen jeweils auf die Figur des Erzählers. Eine Sondergattung des Romans, die meist Herausgeber- und »Translati‐ onsfiktion« miteinander verbindet, sind die auf das Vorbild von Montesquieu zurückge‐ henden ›Persischen Briefe‹. Montesquieu publizierte 1721 seine Lettres persanes - einen Roman, in dem zwei nach Paris gereiste Perser ihrer Heimat über die merkwürdigen Zu‐ stände in Europa berichten. Das kulturrelativistisch-aufklärerische Unternehmen Montes‐ quieus macht dabei die Voraussetzung, dass die Originalbriefe auf Persisch geschrieben sind, und benutzt, ebenso wie viele der in der Folge in ganz Europa publizierten Analog‐ projekte, einerseits Xenismen (als strukturelle oder lexikalische Übernahmen aus anderen Sprachen) und andererseits »Pseudo-Exotismen« (also die phonetische oder morphosyn‐ taktische Simulation von Anderssprachigkeit in der ›eigenen‹ Sprache), um die Sprache des Textes zu verfremden und zugleich die Rede der anderssprachigen Protagonisten zu au‐ thentifizieren (Charlier, »Der Jargon des Fremdlings«). Beispiele für den Umgang mit anderssprachiger Figurenrede im Roman finden sich in den westlichen Literaturen auch und gerade im angeblich so sehr von nationalistischer Einsprachigkeit geprägten 19. Jahrhundert unzählige. So ist für Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris (1831) gezeigt worden, dass er durch die Mischung von zeitgenössi‐ schem Französisch, Latein und französischen Archaismen in Erzählerwie Figurenrede den Eindruck erwecken kann, tatsächlich spätmittelalterliches Französisch wiederzugeben (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 68). Teils verbindet sich die Darstellung anders‐ sprachiger Rede nach wie vor mit humoristischen Effekten - etwa dann, wenn bei Balzac der Akzent deutschsprachiger Figuren im Französischen durch die Erfindung einer (den sprachlichen Realitäten allerdings kaum gerecht werdenden) Transkription dargestellt wird (siehe III .1); oder wenn in Gustave Flauberts Madame Bovary (1856) der Apotheker Homais lateinisch radebrecht. Anderssprachige Figurenrede findet sich im realistischen Erzählen des 19. Jahrhunderts aber auch jenseits des Humoristischen an vielen Stellen, beispielsweise in Alessandro Manzonis I promesi sposi (1827), wenn das Spanische benutzt wird, um den Inhalt der Rede vor den Italienern zu verbergen. Theodor Storms Erzählungen spielen viel‐ fach mit der punktuellen Wiedergabe einzelner Figurenrede auf Niederdeutsch (zum Dia‐ lekt im deutschen Realismus siehe Weninger, »Zur Dialektik des Dialekts im deutschen III. 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede 175 <?page no="176"?> 48 Siehe Dirk Weissmann, »When Austrian Classical Tragedy goes Intercultural. On the Metrical Si‐ mulation of Linguistic Otherness in Franz Grillparzer’s The Golden Fleece (1820)«, Vortrag an der Universität Luxemburg am 9. September 2016. Realismus«); ähnliches findet sich in Texten Wilhelm Raabes, die überdies viele anders‐ sprachige, meist lateinische Zitate enthalten (siehe das erste Anwendungs-/ Analysebeispiel in III .3). In Fontanes Gesprächsromanen begegnet anderssprachliche Figurenrede vor allem in den westeuropäischen Bildungssprachen Englisch, Französisch und Latein (siehe Grätz, »›Four o clock tea‹«), zumal oft in Form von (Bildungs-)Zitaten. Demgegenüber findet in amerikanischen Romanen des 19. Jahrhunderts auch eine Auseinandersetzung mit Spra‐ chen statt, die jenseits des bildungssprachlichen europäischen Horizonts zu verorten sind. So kontrastieren die Leatherstocking Tales (1832-1841) von James Fenimore Cooper das Englische mit Figurenrede in indigenen amerikanischen Sprachen - und folgen in der Fi‐ gurenzeichnung einer ambivalenten, implizit kolonialen Kulturpolitik, die beispielsweise die ›Vielzüngigkeit‹ mit mangelnder Ehrlichkeit konnotiert (Rosenwald, Multilingual Ame‐ rica, 20-47). Melvilles Roman Moby Dick (1851), der vor allem Soziolekte des Englischen und Sprechweisen von Nicht-Muttersprachlern im Englischen kontrastierend nebenei‐ nander stellt, lässt sich nachgerade als Bestandsaufnahme einer globalen Kolonialisie‐ rungsbewegung auffassen (Lee, »The Language of Moby-Dick«). Als Extremfall eines Er‐ zähltextes mit manifest wiedergegebener mehrsprachiger Figurenrede aus dem 19. Jahrhundert gilt Prosper Mérimées Novelle Carmen (1847). Neben der französischen Grundsprache der Erzählung finden sich hier Spanisch, Baskisch und schließlich Romani (Ullmann, Style in the French Novel, 53-58). Mérimée stellt dabei durch spontane Überset‐ zungen im Erzähltext sowie durch einen erläuternden Appendix sicher, dass auch Lesern ein Verständnis möglich ist, die nur Französisch verstehen. (Im Sinne einer Theorie des Code-Switchings könnte man dies als Verfahren des ›medium repair‹ bezeichnen.) Noch üppiger als Mérimées Novelle fällt dann allerdings im 20. Jahrhundert Jaroslav Hašeks Roman Osudy dobrého vojáka Švejka za sv ětové války (Die Geschicke des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges; 1921-1923) aus, in dem, neben dem Tschechischen, Deutsch, Polnisch, Ungarisch, Russisch, Slowakisch, Tatarisch und Mischformen aus diesen Sprachen gesprochen werden (Moser, Xenismen, 92 f.). Die ›realistische‹ Darstellung von anderssprachiger Figurenrede bleibt im 19. Jahrhundert jedoch nicht auf den Roman be‐ schränkt. Zwar gilt für die Lyrik weiterhin, dass sie Sprachwechsel und -mischung weit‐ gehend ohne Relation zur Figurenrede betreibt. Dramentexte aber erproben viele unter‐ schiedliche Verfahren. So markiert in Grillparzers Drama Das Goldene Vlies (1820), wie bereits erwähnt, die Differenz zwischen Blankvers und freiem Vers die Differenz zwischen den Griechen und den (›barbarischen‹) Kolchern - und dies in einem Drama, das in der Forschung als Allegorie der politischen Situation im mehrsprachigen Habsburgerreich des 19. Jahrhunderts gedeutet worden ist. 48 Und Frank Wedekinds Drama Die Büchse der Pan‐ dora (1902) umfasst ursprünglich Figurenrede auf Deutsch, Französisch und Englisch - passend zu den wechselnden Schauplätzen und Figurenkonstellationen (Weissmann, »Mehrsprachigkeit in Frank Wedekinds Büchse der Pandora«). Die wahrscheinlich be‐ kanntesten Beispiele für Mehrsprachigkeit in der Figurenrede bleiben trotz dieser Fülle an Texten mit mehrsprachiger Figurenrede die Romane von Tolstoj, vor allem die frühen Fas‐ Till Dembeck 176 <?page no="177"?> 49 Siehe Peter Brandes, »Encountering the Multilingualism of Lutherdeutsch in Thomas Mann’s Doktor Faustus«, Vortrag an der Universität Luxemburg am 9. September 2016. sungen von Война и мир (Krieg und Frieden, 1869), in denen die russisch-französische Di‐ glossie der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts dargestellt wird, sowie später das ›Walpurgisnacht‹-Kapitel aus Thomas Manns Der Zauberberg (1924), in dem der Protagonist Hans Castorp in (schlechtes) Französisch wechselt, als er sich der von ihm geliebten Frau Chauchat annähert und damit das Liebesgeständnis in der Fremdsprache zum Topos werden lässt. Thomas Mann gilt in der Forschung im Übrigen auch mit anderen Texten als zentraler Autor mit Blick auf die Mehrsprachigkeit der Figurenrede: Die Buddenbrooks (1901) beginnen mit einem mehrsprachigen Dialog (Französisch, Deutsch, Niederdeutsch), und der späte Roman Doktor Faustus verwendet an zentralen Stellen ›Luther-Deutsch‹ - allerdings weitenteils in Form von Zitaten (siehe III .3). 49 Schließlich ist zu konstatieren, dass sich in literarischen Texten aus Gegenden, in denen eine Diglossie-Situation herrscht, oft‐ mals ein sehr unbefangener Umgang mit den entsprechenden Sprachen in der Darstellung von Figurenrede findet. Das ist etwa der Fall in der Luxemburger Literatur seit dem 19. Jahrhundert (siehe Hansen-Pauly, »The Languages of Literature«; Glesener, »Le mul‐ tilinguisme«) oder auch für Texte aus dem Elsass oder aus Québec (siehe Grutman, Des langues qui résonnent). Der Anreiz, Texte zu schreiben, die problemlos in viele Sprachen übersetzt werden können, steht solchen Schreibverfahren allerdings zunehmend entgegen (siehe, aus der Perspektive der Gegenwart, Lennon, In Babel’s Shadow). Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägen neue kulturpolitische Ge‐ mengelagen die literarische Bedeutung von Mehrsprachigkeit in der Figurenrede. Die wohl auffälligste Erscheinung sind die Texte der Shoah-Literatur oder allgemeiner alle literari‐ schen Texte, die sich den nationalsozialistischen Konzentrationslagern widmen. Mit Primo Levis Se questo è un uomo (1947) als prominentem Vorläufer gewinnt das Genre spätestens ab den 1970er Jahren an Prominenz. Die meisten Texte setzen sich u. a. mit der Sprachen‐ situation in den Lagern auseinander, die einerseits von einer extremen Diversität, ande‐ rerseits von der brutalen Vorherrschaft des Deutschen geprägt war und zur Ausbildung gemischter Lagersprachen geführt hat. Sehr oft werden dabei sowohl das Deutsch des Wachpersonals als auch die Lagersprache (und natürlich auch andere Sprachen) wörtlich wiedergegeben. Helmich erwähnt Darstellungen, die den Einsatz der (dem Wachpersonal unverständlichen) Muttersprache als Widerstandsstrategie oder auch die Entgegensetzung des Deutschen als Kultursprache gegen das Deutsch der SS vorführen (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 91-98). Einer breiteren Öffentlichkeit am bekanntesten geworden sind Werke von Primo Levi, Jorge Semprún (siehe Anwendungs-/ Analysebeispiel 3), Elie Wiesel und Imre Kertész. Die politischen Umwälzungen der Kriegsjahre und der Nachkriegszeit bilden auch den Hintergrund vieler anderer literarischer Erscheinungsformen von Mehrsprachigkeit in der Figurenrede, zumal in der deutschsprachigen Literatur. Zu erwähnen wären hier etwa die Romane von Uwe Johnson, in denen sich die Personenrede zwischen Deutsch, Plattdeutsch, Englisch, Russisch und Tschechisch bewegt, so in den Mutmassungen über Jakob (1959) wie auch im Folgeroman Jahrestage (1970-1983). Gegenstand der Texte sind nicht zuletzt die Auswirkungen der politischen Großereignisse (kalter Krieg, deutsche Teilung) auf das III. 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede 177 <?page no="178"?> Leben der Individuen. In ihrer Mehrsprachigkeit stehen Johnsons Texte im Gegensatz zur überwiegenden Vielzahl der übrigen Autoren der Gruppe 47 (der Johnson wohl nicht zu‐ fällig nur lose angehörte). Das zeigt schon der Vergleich zu Günter Grass’ im selben Jahr wie Johnsons Mutmassungen erschienener Blechtrommel, die auf mehrsprachige Figuren‐ rede verzichtet, obgleich die Handlung es nahegelegt hätte, beispielsweise vom Polnischen und Kaschubischen anders als nur durch die Erwähnung als Sprachen des Fluchens zu handeln (Dembeck, »Auf Polnisch wird nur geflucht«). Auf den welthistorischen Hinter‐ grund lässt sich auch die Mehrsprachigkeit der Figurenrede in zwei weiteren von der For‐ schung prominent untersuchten Texten der westdeutschen Nachkriegsliteratur beziehen: Ingeborg Bachmann, ebenfalls ein eher randständiges Mitglied der Gruppe 47, führt in ihrer Erzählung Simultan (1972) ausführlich die Bewegung des Code-Switchings vor Augen, das der Protagonistin, einer Dolmetscherin, im Denken wie im Sprechen eigen ist (siehe hierzu Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 153-242). Die Erzählung gibt in weiten Strecken in erlebter Rede die Gedanken der Hauptfigur wieder und markiert dabei immer wieder mittels Sprachwechsel Momente, in denen (wahrscheinlich) die Rede anderer Personen gedanklich zitiert wird. Eine Leistung der Mehrsprachigkeit der Figurenrede besteht in dieser Erzäh‐ lung darin, dass sie die ›Hybridität‹ des aus vielen fremden Stimmen bestehenden Bewusst‐ seins der Hauptfigur vor Augen führt. Elias Canetti hat in Die Stimmen von Marrakesch (1967) die vielsprachige Realität des marrokanischen Alltags, die er als Journalist in den 1950er Jahren erlebt hatte, mehr oder weniger durchgängig einsprachig wiedergegeben - allenfalls Französisch und Englisch werden im Sprachwechsel (und meist mit Übersetzung) eingeschaltet (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 76-123; Weissmann, Métamorphoses interculturelles). Canettis Text kann als Versuch einer neuen anti-orientalistischen Orient‐ darstellung verstanden werden - die kulturpolitische Verbindung zu den während der Zeit der journalistischen Unternehmung stattfindenden Kolonialkriegen ist offenkundig. Die Folgen (verschütteter) individueller Traumatisierung durch die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind noch das Thema der meisten Erzählungen von W. G. Sebald; in dem Roman Austerlitz (2001) wird davon berichtet, wie der dem Ich-Erzähler bekannte Austerlitz entdeckt, dass er das Kind Prager Juden ist, die im Holocaust gestorben sind und ihn zuvor an eine englische Pflegefamilie gegeben hatten. Diese Entdeckung der eigenen Herkunft steht im engen Zusammenhang mit der Konfrontation mit der dem Bewusstsein Austerlitz’ unbekannten, aber dennoch verständlichen Sprache des Tschechischen (hierzu Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 422-424). Bei Sebald unterlaufen die unauffällige Unzuverlässigkeit des Erzählens und die inszenierte Scheinauthentizität der begleitenden fotografischen Abbildungen indes jeden Anspruch auf Darstellbarkeit der (sprachlichen) Katastrophen, von denen die Texte handeln. Die hier zu beobachtende Verbindung eher ›realistischer‹ Verfahren der Darstellung mehrsprachiger Figurenrede mit avantgardisti‐ schen, in Helmichs Terminologie ›ludischen‹ Verfahren von Sprachwechsel und -mischung, wie sie im Grunde schon bei Joyce zu beobachten ist, finden sich auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - etwa bei Johnson, aber stärker noch bei Arno Schmidt, dessen Ver‐ fahren der Sprachmischung zunächst in der (Ich-)Erzählerrede erprobt wird, aber auf die wiedergegebene Figurenrede übergreift (siehe III .1). Auch in den anderen Sprachräumen der europäischen Literatur ist Mehrsprachigkeit in der Figurenrede in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Darstellungsver‐ Till Dembeck 178 <?page no="179"?> 50 Siehe Alastair Pennycook, Language as a Local Practice, London/ New York 2010. fahren. Insgesamt bleibt die französischsprachige Literatur, so der Eindruck der Forschung, ähnlich wie die deutschsprachige eher der Einsprachigkeit verhaftet, als dies beispielsweise in der englischsprachigen Literatur der Fall ist. Der englischsprachigen Literatur kommt vor allem mit Blick auf die Erschließung postkolonialer und postmigratorischer Themen‐ felder, in denen gerne mit anderssprachiger Figurenrede gearbeitet wird, eine Vorreiterrolle zu (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 118). Es findet sich anderssprachige Figurenrede aber auch in anderen Zusammenhängen, etwa in Christine Brooke-Roses Roman Between (1968), der thematisch ein Vorgänger von Bachmanns Erzählung Simultan ist (siehe Lennon, In Babel’s Shadow, 15-17, ausführlich 84-91), oder in Anthony Burgess’ A Clockwork Orange (1963), der eine englisch-russische ›Jugendsprache‹ entwirft, die als Nadsat (›teen‹) be‐ zeichnet wird (ebd., 101-108). In beiden Fällen wird mit der sprachwechselnden bzw. sprachmischenden Erzählerrede eine neuartige soziale Rollenprosa entworfen, die mit‐ telbar auf kulturpolitische Globlisierungstendenzen antwortet. Noch die Konjunktur von Fantasy und Science Fiction in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bei denen immer wieder die Inszenierung weltumspannender Konflikte mit der Erfindung von Sprachen‐ vielfalt einhergeht - etwa in den Romanen von J. R. R. Tolkien oder bei Robert Sheckley (Rosenwald, »On Linguistic Accuracy in Literature«, 36-39) - lässt sich mit der (kultur-)po‐ litischen Großwetterlage der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Zusammenhang bringen. Die Tatsache, dass im und nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich zu den vorange‐ henden Jahrhunderten extreme Umwälzungen der europäischen Sprachlandschaft statt‐ fanden (durch Deportation, Vertreibung, Flucht und neue Grenzziehung), hat nicht nur dazu beigetragen, dass Mehrsprachigkeit der Figurenrede in Verbindung mit politischen Bewe‐ gungen, die zu diesen Umwälzungen geführt haben, gesetzt wird. Vielmehr lässt sich wahr‐ scheinlich auch die Bewegung zur literarischen Darstellung von Regionalität vor diesem Hintergrund verorten, insofern dieser das Bewusstsein für die ›Sprache als lokale Praxis‹ geschärft hat. 50 Zugleich ist die mehrsprachige Regionalliteratur sicherlich eine Fortsetzung der Dialektliteratur, wie sie in Europa im 19. Jahrhundert populär geworden war. Das tra‐ ditionelle Verfahren der Dialektliteratur besteht darin, dass eine Erzählerrede in Standard‐ sprache die dialektalen Figurenreden rahmt. Einige Erzählungen von Carmine Abate bei‐ spielsweise, die im südlichen Kalabrien spielen, arbeiten bei italienischer Erzählerrede mit unübersetzter und den Sprechern des Italienischen in der Regel unverständlicher Figuren‐ rede auf Arbëresch - wodurch die regionale Eigenwertigkeit als Form unzugänglicher In‐ timität inszeniert wird (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 129 f.). Es finden sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber auch demgegenüber neuartige Darstellungs‐ formen. Eine besonders auffällige Spielart der linguistischen Regionalisierung, die sich auch in anderssprachiger Figurenrede niederschlägt, liegt in den populären Krimis von Andrea Camilleri vor (ebd., 119-125), die in einer »sikulo-italienische[n] Mischsprache« (ebd., 121) verfasst sind (siehe III .1). Schließlich gibt es mehrere Beispiele für die allegorische Darstellung regionaler Sprachenvielfalt. Helmich nennt den Roman Amour bilingue (1982) von Abdelkébir Khatibi, in dem eine französisch sprechende Geliebte zugleich für die vom arabisch und französisch sprechenden Erzähler geliebte französische Sprache einsteht, oder III. 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede 179 <?page no="180"?> 51 Siehe die Keynote Lecture von Rebecca Walkowitz auf der Konferenz »Inverted Runes: New Per‐ spectives on Literary Translingualism«, Uppsala 4./ 5. September 2015. das Stück El holtelito (1985) von Antonio Gala (141-143), in dem die Benutzung der Regi‐ onalsprachen der iberischen Halbinsel politische Konfliktlagen allegorisch darstellbar werden lässt (ebd., 205-207). Die auffälligste Erscheinung in der jüngeren Geschichte der literarischen Mehrspra‐ chigkeit in der Figurenrede sind aber (post-)koloniale und (post-)migrantische Schreib‐ weisen. Natürlich ist die Bezugnahme auf den Kolonialismus und auf Migration keinesfalls neu; sie findet sich im 19. Jahrhundert besonders prominent in der amerikanischen Lite‐ ratur. Die bereits erwähnten Romane von Cooper und Melville lassen sich in diesem Kontext lesen. Einen wichtigen Strang von Texten vor dem Hintergrund von Postkolonialismus und Migration stellt die Sprach-(Auto-)Biographie dar. Insofern hier meist die Interaktion der Erzählerfiguren mit unterschiedlichen Sprachkontexten dargestellt wird, ist unabhängig davon, ob die Rede anderer Figuren mit unterschiedlichen Sprachen in Zusammenhang gebracht wird, die Sprachwahl des Textes selbst als Teil dessen markiert, was erzählt wird, sie ist in irgendeiner Weise diegetisch motiviert. In der Forschung diskutiert worden sind u. a. Richard Rodriguez’ The Hunger of Memory (1982), Gloria Anzaldúas Her Borderlands / La Frontera: The New Mestiza (1987), Eva Hoffmans Lost in Translation: Life in a New Lan‐ guage (1989), Ilan Stavans’ On Borrowed Words: A Memoir of Language (2001) und Junot Díaz’ The Brief Wonderous Life of Oscar Wao (2007). Alle diese Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Erzählerrede durch mehr oder weniger komplexe Verfahren des Sprach‐ wechsels und/ oder der Sprachmischung gestalten (siehe detaillierter III .1). Avancierte Va‐ rianten von (teils fiktiven) Sprachbiographien finden sich beispielsweise in Emine Sevgi Özdamars viel diskutierten Erzählungen »Mutterzunge« und »Großvaterzunge« (1990). Die Rede der Ich-Erzählerin, die aus politischen Gründen aus der Türkei aus- und nach Deutschland einwandert, führt in ihrer Struktur eine Art Schwebezustand der sprachlichen Identität vor; sie ist durchsetzt von ›wörtlichen‹ Übersetzungen aus dem Türkischen, von einzelnen türkischen und dann auch arabischen Wörtern und handelt nicht zuletzt vom (scheinbaren) Verlust der ›Mutterzunge‹ (ein Xenismus für ›Muttersprache‹), dem die Er‐ zählerin durch das Erlernen der ›Großvaterzunge‹, dem Arabischen, entgegenwirken möchte. Der Erwerb der arabischen Sprache ist dabei mit einem Liebesverhältnis verknüpft, und die arabische Schrift erhält den Status eines erotischen Mediums (vgl. zur literarischen Erotisierung der arabischen Schrift Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 142). Auch die Rede der übrigen Figuren ist in den beiden Erzählungen in der Regel klar einer (oder meh‐ reren) Sprache(n) zugeordnet. In anderen sprachbiographischen Texten wird die Perspek‐ tive des Sprachlerners teils noch plakativer vor Augen geführt, etwa in Xiaolu Guos A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers (2008), das im Englisch eines Sprachlernan‐ fängers beginnt und durchsetzt ist von Hinweisen auf das Chinesische und die kantonesi‐ sche Muttersprache der Erzählerin; parallel zur erzählten Liebesgeschichte der Erzählerin mit einem Engländer verbessert sich auch die Sprachrichtigkeit des Englischen, in der die Geschichte erzählt wird. 51 Die sehr bekannt gewordene und von der Forschung viel beach‐ tete Sammlung von Mißtönen vom Rande der Gesellschaft, die Feridun Zaimoglu mit diesem Untertitel und dem Obertitel Kanak Sprak 1995 publiziert hat, präsentiert ebenso wie der Till Dembeck 180 <?page no="181"?> Nachfolger Koppstoff (1998) in einer je unterschiedlich ausgeprägten Kunstsprache (siehe III .1) Formen von Figurenrede, die für die soziolektale und (potentiell) mehrsprachige Iden‐ tität der Protagonisten einstehen sollen. Im französischen Sprachraum sind ähnliche Ver‐ fahren in der sog. ›Beurs‹-Literatur verwendet worden. Mehrsprachige Figurenrede als Moment eines interkulturellen literarischen Programms findet sich spätestens um die Jahrtausendwende verstärkt auch im Theater. Dabei kann auf teils sehr reichhaltige Traditionen beispielsweise des Chicano-Theaters in Nordamerika oder anderer mehrsprachiger Theaterlandschaften (etwa Québec und das Elsass) zurück‐ gegriffen werden. Interessante Beispiele für aktuellere mehrsprachige Dramentexte im deutschsprachigen Raum sind etwa Özdamars Stück Karagöz in Alamania von 1982 (siehe III .1) oder auch Yoko Tawadas Drama Till von 1998, das die Interaktion japanisch und deutsch sprechender Personen vorsieht - eine japanische Touristengruppe aus dem 20. Jahrhundert besucht eine frühneuzeitliche deutsche Stadt. Die Tatsache, dass nur ein Bruchteil des Publikums sowohl in Deutschland als auch in Japan beide Sprachen verstehen wird, ist Teil des wirkungsästhetischen Kalküls, denn es macht die Verständnislosigkeit erlebbar, der die Figuren auf der Bühne ausgesetzt sind - und lässt auch nachvollziehen, welche Verständigung dennoch möglich ist (siehe Weissmann, »Vom Sprechen mit zwei Mündern«). Auch wenn die interkulturell interessierte Literatur in den letzten Jahrzehnten stark an Gewicht gewonnen hat und daher gerade auch die Mehrsprachigkeit der Figurenrede an Verbreitung gewinnt, muss festgehalten werden, dass das erhebliche kulturpolitische Un‐ gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Sprachen der Welt einen sehr weitrei‐ chenden und konkreten Effekt zeitigt. Angesichts eines Buchmarkts, der stark auf Über‐ setzung setzt, ist Mehrsprachigkeit in der Figurenrede leichter zu vermitteln, wenn sie ›mächtige‹ Sprachen umfasst. Der Einsatz von Sprachen mit weniger Sprechern oder einem aus anderen Gründen geringeren kulturpolitischen Stellenwert ist demgegenüber schwie‐ riger mit dem (Markt-)Regulativ der Einsprachigkeit zu vereinbaren. c) Forschungsgeschichte Die Beschreibung von Mehrsprachigkeit in der Figurenrede kann derzeit als verbreitetste Form der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Sprachvielfalt in Texten gelten. Das mag einerseits daran liegen, dass hier an Ergebnisse der linguistischen Code-Switching-Forschung angeschlossen werden kann (siehe III .1). Andererseits ist für die (realistische) Erzählliteratur, die in den vergangenen Jahrzehnten zu einem zentralen Gegenstand der Literaturwissenschaft geworden ist, gerade diese Form des Sprachwechsels besonders prominent. Sie lässt sich überdies anscheinend unmittelbar mit den kulturpoli‐ tischen Eigeninteressen der Literaturwissenschaft verbinden, insofern diese sich für die Herausstellung unterprivilegierter Stimmen einsetzt, denn diese Stimmen sprechen eben oft andere Sprachen als die meisten literarischen Texte. Die im engeren Sinne literaturwissenschaftliche Forschungsgeschichte zur Mehrspra‐ chigkeit in der Figurenrede verläuft in weiten Teilen parallel zu derjenigen von Sprach‐ wechsel und -mischung. Auch mit Blick auf die Figurenrede ist hervorzuheben, dass die Romanistik aufgrund ihrer innerdisziplinären sprachlichen Vielfalt seit jeher eine größere III. 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede 181 <?page no="182"?> Affinität zur Erforschung von Mehrsprachigkeit hat als Disziplinen wie Germanistik oder Anglistik. Das macht sich aktuell an Arbeiten wie denjenigen von Alfons Knauth (z. B. »Literary Multilingualism I«) oder Werner Helmich (Ästhetik der Mehrsprachigkeit) be‐ merkbar. Beide Autoren grenzen den mit der Figurenrede zusammenhängenden Sprach‐ wechsel aber nicht systematisch von anderen Formen des Sprachwechsels (oder der Sprach‐ mischung) ab (siehe daher III .1). Dasselbe gilt für die Pionierarbeit von Leonard Forster, dessen Buch The Poet’s Tongues von 1970 zwar immer wieder auf Mehrsprachigkeit der Figurenrede zu sprechen kommt, aber sich in erster Linie noch mit der Erschließung des Gegenstands ›mehrsprachige Literatur‹ beschäftigt. Auch für die Mehrsprachigkeit in der Figurenrede sind die Arbeiten von Bachtin zur Poetik des Romans von entscheidender Bedeutung (siehe im Detail III .1). Bachtin arbeitet die gattungskonstitutive Vielstimmigkeit des Romantextes heraus und bringt sie mit der potentiellen ›Heteroglossie‹, d. h., der kontextabhängigen potentiellen Mehrfachcodiertheit jedes sprachlichen Elements zusammen (Bachtin, »Das Wort im Roman«). Aus dieser Per‐ spektive wird die Mehrsprachigkeit der Figurenrede als Verfahren der Inszenierung sozialer und kultureller Differenzen und/ oder Verhandlungen lesbar. In einem ähnlichen Sinne be‐ stimmt András Horn in einem Aufsatz von 1981 die ›realistische Figurendarstellung‹ als eine mögliche Motivation von Sprachwechsel im literarischen Text (Horn, »Ästhetische Funktionen der Sprachmischung in der Literatur«). Mit Roland Barthes könnte man von einem ›Realitätseffekt‹ sprechen, dessen Erzeugung charakteristischerweise keinesfalls die ›getreue‹ Wiedergabe der im dargestellten Geschehen verwendeten Idiome voraussetzt, sondern nur deren Andeutung durch Xenismen oder Ähnliches. Eine wirkmächtige, struk‐ turelle Beschreibung von Mehrsprachigkeit in der Figurenrede hat Meir Sternberg ebenfalls 1981 vorgeschlagen. Er unterscheidet drei Modi der Wiedergabe von Mehrsprachigkeit in der Figurenrede: Erstens die »[r]eferential restriction«, d. h., den Ausschluss jeglichen an‐ derssprachigen Materials aus dem Bereich des Dargestellten; zweitens das »[v]ehicular [m]atching« (Sternberg, »Polylingualism as Reality and Translation as Mimesis«, 223), d. h., die Wiedergabe aller von den handelnden Figuren gesprochenen Sprachen im Original; und drittens die Anwendung einer »homogenizing convention« (ebd., 224), d. h., die Darstellung eines mehrsprachigen Geschehens mittels nur einer Sprache. (Den Fall, dass die Erzähler‐ rede selbst Sprachwechsel oder -mischung enthält, schließt Sternberg übrigens als anormal aus seiner Betrachtung aus.) Man könnte gegen diese Typologie natürlich einwenden, dass ›referential restriction‹ und ›vehicular matching‹ (die Variante, die Sternberg selbst für am wenigsten überzeugend hält) im Grunde genommen dasselbe Verfahren sind, das nur auf unterschiedliche sprachliche Gegebenheiten bezogen wird, denn in beiden Fällen wird die sprachliche Dimension des Geschehens so wiedergegeben, wie sie ›wirklich ist‹. (Allerdings stellen sich beim ›vehicular matching‹ andere Probleme, etwa bei der Transkription der unterschiedlichen Sprachen.) Der interessanteste Fall ist insofern der dritte, die ›homoge‐ nizing convention‹. In der Folge hat die Forschung denn auch erwiesen, dass diesem Bereich eigentlich eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Verfahren zuzuordnen sind, die von der stillschweigenden Übersetzung der anderssprachigen Passagen bis hin zur Imitation un‐ terschiedlicher Sprachen durch Dialekte, Soziolekte oder ›Akzent‹ in der Grundsprache des Textes reichen. Dies ist insbesondere am Beispiel von Film und Fernsehen gezeigt worden (siehe Parr, »Die fremde Sprache in der eigenen«), aber die Ergebnisse lassen sich teils auch Till Dembeck 182 <?page no="183"?> auf literarisches Erzählen übertragen. Der charakteristische Unterschied zwischen schrift‐ lichen und filmischen Texten liegt dabei einerseits darin, dass für Film und Fernsehen das Postulat der Einsprachigkeit des Publikums noch stärker gemacht wird und dass diese Me‐ dien andererseits zusätzliche Möglichkeiten zur Erfüllung der ›homogenizing convention‹ bereitstellen (siehe V.6 und 7). Aufbauend auf Sternberg hat Giulia Radaelli in ihrer Dissertation von 2011 ein ausführ‐ liches Raster zur Beschreibung literarischer Mehrsprachigkeit entwickelt, das auch aus‐ führlich auf die Figurenrede zu sprechen kommt, die sie allerdings nicht systematisch als ein Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit berücksichtigt (Radaelli, Literarische Mehr‐ sprachigkeit, 47-75). Dieses Modell hat sie in einem Beitrag von 2014 noch einmal etwas modifiziert (Radaelli, »Literarische Mehrsprachigkeit«). Radaelli unterscheidet mehrere Ebenen, auf denen literarische Mehrsprachigkeit beschrieben werden kann (»Fokus«, »Sprachen«, »Wahrnehmbarkeit« und »Diskursivierung«) und von denen mit Blick auf die Figurenrede insbesondere zwei entscheidend sind, nämlich »Wahrnehmbarkeit« und »Dis‐ kursivierung«. Mit Bezug auf Wahrnehmbarkeit unterscheidet Radaelli zwischen mani‐ fester und latenter Mehrsprachigkeit - eine Unterscheidung, die in erster Linie für die Mehrsprachigkeit der Figurenrede relevant ist. Als Formen der »Diskursivierung« litera‐ rischer Mehrsprachigkeit führt Radaelli auf: »Sprachwechsel, Sprachmischung, Überset‐ zung, Sprachverweis und Sprachreflexion« (ebd., 153). Dabei werden Sprachwechsel und -mischung ähnlich definiert wie in diesem Handbuch (siehe III .1). Als Sprachverweis fasst Radaelli den Verweis darauf, dass im dargestellten Geschehen in einer anderen Sprache als derjenigen gesprochen wird, die man liest (oder hört). Hierbei handelt es sich um ein Ver‐ fahren, das vor allem für die Wiedergabe anderssprachiger Figurenrede verwendet wird (und implizit auch immer um eine Form der Übersetzung). Auch die Sprachreflexion ist als eine Form der Mehrsprachigkeit der Figurenrede zu verstehen, beispielsweise dann, wenn sie sich, wie in vielen sprachbiographischen Texten, auf die Sprache der Erzählerfigur be‐ zieht. Zur Einschätzung der Mehrsprachigkeit in der Figurenrede in literarischen Texten wäre in Ergänzung zu Radaellis Modell ein Abgleich mit linguistischen Beschreibungen der sprachlichen Realität jeweils dargestellter Figuren und Kollektive wünschenswert, wie sie Lawrence A. Rosenwald angemahnt hat (»On Linguistic Accuracy in Literature«). Rosen‐ wald schließt seinerseits an Sternberg an, wenn er in seinem Buch über Mehrsprachigkeit in der amerikanischen Literatur literarische Formen von Mehrsprachigkeit unterhalb der Wahrnehmungsschwelle offizieller Einsprachigkeit untersucht und in Beziehung setzt zu gesellschaftlich relevanten Formen von Mehrsprachigkeit (Multilingual America). Rainier Grutman hat in seiner Dissertation von 1997 (Des langues qui résonnent) und in einem Auf‐ satz von 2002 (Grutman, »Les motivations de l’hétérolinguisme«) Sternbergs Typologie dahingehend erweitert, dass er Formen der Motivation mehrsprachiger Figurenrede jenseits der ›realistischen‹ Darstellung ausgemacht hat. So weist Grutman nach, dass sich etwa bei Tolstoj der Wechsel zwischen Russisch und Französisch keineswegs danach richtet, in wel‐ cher Sprache im jeweiligen Geschehen gesprochen wird; vielmehr kann Französisch mal im Original und mal als Russisch wiedergegeben werden, und die jeweilige Sprachwahl signalisiert eher, ob das Französische in der jeweiligen Situation als Nah- oder als Distanz‐ sprache verwendet wird. So zeigt die Sprachwahl je situativ weniger eine sprachliche denn III. 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede 183 <?page no="184"?> eine emotionale Realität an (ebd., 338-341). Darüber hinaus nimmt Grutman in Anlehnung an einen Vorschlag von Boris Tomachevski die Möglichkeit einer ästhetischen Motivation von Sprachwechsel im Rahmen der Figurenrede an. Insgesamt strebt er an, durch sein Mo‐ dell »une histoire véritablement formelle du plurilingualisme en littérature« (ebd., 349) zu ermöglichen. Alles in allem ist die Mehrsprachigkeit in der Figurenrede dasjenige Verfahren literari‐ scher Mehrsprachigkeit, das in der Forschung am unmittelbarsten auf Kontexte gesell‐ schaftlicher Sprachvielfalt bezogen wird. In diesem Sinne lassen sich Arbeiten, die Sprach‐ wechsel und -mischung in literarischen Texten im Hinblick auf soziale und kulturpolitische Kontexte analysieren, oft auch dann als Teil der Forschungsgeschichte dieses Verfahrens ansehen, wenn sie die anderssprachige Figurenrede gar nicht explizit von anderen Formen des Sprachwechsels unterscheiden. Denn oft geht es auch hier, etwa bei Brian Lennon (In Babel’s Shadow), Yasemin Yildiz (Beyond the Mother Tongue) oder David Gramling (The In‐ vention of Monolingualism), um die Beziehung zwischen (Erzähler-)Figuren und der kon‐ kreten ›Sprachigkeit‹ der Texte (siehe zu diesen Autoren III .1). In diesem Sinne lässt sich auch die Forschung zur literarischen Translingualität, also zum literarischen Schaffen von Autoren, die die (Schreib-)Sprache gewechselt haben (Adelbert von Chamisso, Vladimir Nabokov usw.), zumindest teilweise der Forschungsgeschichte zur Mehrsprachigkeit der Figurenrede zurechnen. Zwar steht hier meist nicht die Mehrsprachigkeit der einzelnen Texte selbst im Mittelpunkt des Interesses (siehe etwa Kellman, The Translingual Imagina‐ tion), aber es geht doch darum, die Sprachwahl in Texten mit der Figur des Autors in Ver‐ bindung zu setzen. d) Anwendungs-/ Analysebeispiele (1) In Gryphius’ Komödie Horribilicribrifax Teutsch (1663), die sich an Plautus’ Miles Glori‐ osus anlehnt, sind die handelnden Figuren durchgängig durch ihr jeweiliges Idiom charak‐ terisiert. Das gilt vor allem für die beiden ›milites gloriosi‹, Horribilicribrifax und Dardiri‐ datumtarides, die ein mit italienischen bzw. französischen Wörtern durchmischtes Deutsch sprechen, für den Gelehrten Sempronius, dessen Deutsch typischerweise von Latein und Griechisch durchwirkt ist, und für den Rabbi, der fortwährend Bibelzitate auf Hebräisch verwendet. Die übrigen Figuren sprechen Deutsch in unterschiedlichen soziolektalen oder dialektalen Abmischungen, und nur die weibliche Idealfigur, Sophia, spricht ein ›reines‹, d. h., auch vor jeder Verstellung sicheres, deutsches Standardidiom (Nebrig, »Sprachmi‐ schung und Hochmut«, 16). Die Interaktion der Protagonisten ist von Missverständnissen geprägt, am pointiertesten wohl in den Episoden, in denen die Kupplerin Cyrille die französischen oder griechisch-la‐ teinischen Bestandteile der Rede anderer Personen homophon übersetzt - etwa im Ge‐ spräch mit dem Schulmeister, den sie später heiratet: Till Dembeck 184 <?page no="185"?> 52 Andreas Gryphius, Horribilicribrifax Teutsch. Scherzspiel, hrsg. v. Gerhard Dünnhaupt, Stuttgart 1988, S. 25. 53 Ebd., S. 26. 54 Ebd., S. 89. 55 Ebd., S. 51. 56 Ebd., S. 117. Sempron. Bona dies, Cyrille. Cyrille. Was sagt Herr Jonipis, ô ja die is. Sempron. Ha! Bestia / verstehestu nicht was ich sage? Cyrille. Ja freylich bin ich die beste … 52 Ein running gag des Stücks ist, dass Cyrille glaubt, als Hure beschimpft worden zu sein, etwa wenn sie Sempronius' Worte »ἀληθῶς, purè« als »alte Hure« 53 deutet oder auf Dar‐ diridatumtarides’ Anrede »Bonjour, Bonjour, Madame Cyrille« antwortet: »Was saget ihr / o Hure / o Hure Mame Zyrille! « 54 Sempronius Unfähigkeit wiederum, sich Cyrille gegen‐ über verständlich auszudrücken, zeigte sich gerade dann, wenn er versucht ihr klarzuma‐ chen, dass er lateinisch mit ihr spricht - und nicht polnisch, wie sie vermutet: »Jch sage / daß ich ῥωμαϊστί, Lateinische rede.« Darauf Cyrille: »Ja Rohm isset sie! « 55 Cyrille und Sempronius sind in einem radikalen Sinne ›einsprachige‹ Figuren - allerdings solche, deren Beschränkung auf das eine Idiom keinesfalls mit sprachlicher (und moralischer) Reinheit assoziiert wird, wie dies bei Sophia der Fall ist. Sempronius kann zwar mehrere Sprachen sprechen, aber er kann sie nicht situationsgerecht verwenden, er verfügt über sie nicht als unterschiedliche Idiome, sondern ist an ihre Mischung wie an ein einzelnes Idiom ge‐ bunden. Cyrilles Einsprachigkeit wiederum besteht darin, dass sie keinen Maßstab für die Sprachigkeit ihres Sprechens besitzt. Gerade deshalb kann sie jedes ihr unvertraute Element problemlos in den Horizont ihrer Sprachkompetenz einbeziehen; und in den monologischen Teilen ihrer Rede verwendet sie auch tatsächlich fortwährend verballhornte lateinische Bibelzitate. Ihre Einsprachigkeit ist borniert in dem Sinne, dass sie keine ihr fremde Sprache anerkennen mag, obwohl sie weiß, dass es andere Sprachen gibt. Noch die im Ehevertrag zwischen Cyrille und Sempronius, der das Stück abschließt, enthaltene Verpflichtung des Sempronius darauf, »daß er fein deutlich und Deutsch ihr seine Meynung entdecke / und aller frembden Wörter sich enthalte / biß sie Frau Cyrille zuvor gründlich von ihm in dem Demosthenes und M. T. Cicero unterwiesen«, 56 wird, wenn sie befolgt wird, wohl nichts an dieser grundlegenden Eingeschränktheit der beiden Personen ändern können. Jenseits der Liebeshändel, die das Stück vordergründig ausmachen, handelt Gryphius’ »Scherzspiel« von den Effekten der Interaktion von Sprachen und Sprechweisen. Beide Themen werden ausdrücklich miteinander verschränkt. So entspricht die spezifische Ein‐ sprachigkeit der Cyrille ihren Fähigkeiten als Kupplerin, denn sie ist jederzeit bereit, jeden mit jeder zu verbinden, so wie sie jede sprachliche Verbindung umstandslos annimmt und weiterspinnt, unbekümmert um die Bedeutsamkeit dessen, was sie oder was sich in ihrer Rede verbindet. Auch die Sprachen der übrigen Personen üben einen gewissen Einfluss aufeinander aus. Am augenscheinlichsten wird dies, wenn Horribilicribrifax und Dardiri‐ datumtarides auf dem Höhepunkt ihres (allerdings nur verbal geführten) Duells sich wech‐ selseitig als alte Freunde erkennen und der ansonsten mit dem Italienischen verbundene III. 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede 185 <?page no="186"?> 57 Ebd., S. 106 f. 58 Ebd., S. 120. Horribilicribrifax ausruft: »Ha mon Signeur, mon Frere! «, worauf der ansonsten eher fran‐ zösisch sprechende Dardiridatumtarides antwortet: »Ha Fradello mio illustrissimo! « 57 Alexander Nebrig hat Gryphius’ Komödie gerade wegen dieser überbordenden Sprach‐ mischung als Entfaltung einer Poetik der Sprachreinheit interpretiert (»Sprachmischung und Hochmut«). Ihm zufolge führt das Stück sprachliche mit moralischer Verunreinigung eng und erzeugt so überhaupt erst das Bedürfnis nach einer reinen Sprache, der zugleich eine moralisch gesehen kathartische Wirkung zukäme. Die Hinterlassenschaft des 30jäh‐ rigen Krieges, aus dem die beiden aufschneiderischen Soldaten ihre vermeintlichen Hel‐ dentaten berichten, ist der kulturpolitische Hintergrund des Geschehens, bei dem sich die Frage des Sprachwechsels alltäglich stellt. Nebrig weist darauf hin, dass insbesondere das deutsch-lateinische Code-Switching im 17. Jahrhundert das »Resultat einer Ausdrucksnot‐ lage« (ebd., 3) gewesen sei. Die Assoziation von Sprachreinigung mit moralischem Neu‐ anfang ist in diesem Zusammenhang gerade auch für Literatur von Interesse. Das Stück gestaltet die Vielfalt der Mehrsprachigkeit der Figurenrede insofern auch, um ex negativo ein literarisches Ideal zu konturieren, wie es zeitgleich auch im erstarkenden Bemühen um eine deutsche Poetik sichtbar wird, etwa bei Martin Opitz. Ernst kann sich der Text insofern selbst nicht nehmen, was der paratextuelle Rahmen des Textes auch reflektiert, wenn in der Vorrede des Dardiridatumtarides - der ein gänzlich verändertes, noch vielfältigeres, stark mit dem Lateinischen arbeitendes Idiom an den Tag legt -, offenbart wird, der Dichter habe seinen Text eigentlich zum Toilettenpapier bestimmt gehabt, und es seien die han‐ delnden Personen selbst, die es in den Druck geben. Zugleich warnt das Stück mit seinem Kolophon davor, es ernstzunehmen: »Turpe est, difficiles habere nugas.« (»Schimpflich ist es, Narrenpossen ernst zu nehmen.«) 58 Man mag darin einen gewissen kulturpolitischen Humor sehen: Angesichts der »Ausdrucksnotlage«, in der sich nicht zuletzt die Literatur in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts befindet, kann von künstlerischer Reinheit über‐ haupt nur ex negativo die Rede sein; zugleich kommt es aber darauf an, in der Unreinheit die Reinheit aufscheinen zu sehen. (2) Bei Goethes Faust handelt es sich um einen ausgesprochen einsprachigen Text: Nur ganz wenige Passagen sind nicht eindeutig auf Deutsch abgefasst (weniger als 20 von 14 000 Versen). Sehr wohl weist der Text aber eine enorme Vielfalt an metrischen Formen und gattungsspezifischen Mustern auf - also an rhetorischen Sprachdifferenzen. Und schließlich findet sich auf dem Höhepunkt des zweiten Teils, in der Helena-Handlung, eine Szene, in der deutlich wird, dass Faust und Helena eigentlich zwei unterschiedliche Spra‐ chen sprechen. Helena reagiert wie folgt auf die gereimte Rede eines der Vasallen Fausts: HELENA. Vielfache Wunder seh’ ich, hör’ ich an, Erstaunen trifft mich, fragen möcht’ ich viel. Doch wünscht’ ich Unterricht, warum die Rede Des Mann’s mir seltsam klang, seltsam und freundlich. Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen, Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt, Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen. Till Dembeck 186 <?page no="187"?> 59 Johann Wolfgang Goethe, »Faust. Der Tragödie zweiter Teil«, in: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hrsg. v. Karl Richter, Bd. 18: Letzte Jahre. 1827-1832, Teilbd. I, hrsg. v. Gisela Henckmann/ Dorothea Hölscher-Lohmeyer, München/ Wien 1997, S. 103-351, hier S. 260 (V. 9365-9376). 60 Ebd., S. 261 (V. 9377-9384). FAUST. Gefällt dir schon die Sprechart unsrer Völker, O so gewiß entzückt auch der Gesang, Befriedigt Ohr und Sinn im tiefsten Grunde. Doch ist am sichersten, wir üben’s gleich; Die Wechselrede lockt es, ruft’s hervor. 59 Helena kann als Sprecherin des Altgriechischen das Phänomen des Endreims nicht kennen, den Fausts Vasall als Sprecher des (Früh-)Neuhochdeutschen verwendet. Faust bringt ihr daraufhin diese ihr unbekannte Sprache spielerisch bei: HELENA. So sage denn, wie sprech’ ich auch so schön? FAUST. Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehn. Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt, Man sieht sich um und fragt - HELENA. Wer mitgenießt. FAUST. Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, Die Gegenwart allein - HELENA. ist unser Glück. FAUST. Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand; Bestätigung, wer gibt sie? - HELENA. Meine Hand. 60 Der Text weist nicht nur darauf hin, dass eine Form der latenten Mehrsprachigkeit vorliegt, die durch den Unterschied zwischen antiken und neuzeitlichen Metren angezeigt wird, sondern auch darauf, dass die im Faust verwendeten im obigen Sinne rhetorischen Sprach‐ differenzen auch als Stellvertreter für grammatische Sprachdifferenzen aufgefasst werden können. Dieser Befund lässt sich kulturpolitisch deuten. Denn Faust ist nicht umsonst als ›Welt‐ drama‹ aufgefasst worden. Es geht in diesem Drama auch um eine transzendentalphiloso‐ phisch begründete Erfassung kultureller Vielfalt - wenn auch in einem für heutige Begriffe recht eingeschränkten Sinn. Faust muss im Laufe des Stücks lernen, dass eine solche Er‐ fassung nur indirekt, als ›Schein‹ oder ›Abglanz‹ möglich ist. Einen solchen, aber eben reflektierten ›Abglanz‹ von Mehrsprachigkeit führt die latente Mehrsprachigkeit der He‐ lena-Szene vor Augen. Das Drama rückt damit durchaus in die Nähe so anspruchsvoller sprach- und kulturpolitischer Projekte wie desjenigen etwa Wilhelm von Humboldts (siehe ausführlich Dembeck, »Multilingual Philology and Monolingual Faust«). (3) Jorge Semprúns Buch L’écriture ou la vie (1993), einer der späteren Erinnerungstexte des Autors, kennzeichnet eine zeitlich wie motivisch komplexe Erzählstruktur, in der zen‐ trale Erlebnisse des Erzähler-Autors zum Auslöser von Vor- und Rückblenden sowie von explizit gemachten oder implizit bleibenden motivischen Bezügen werden. Einsatzpunkt III. 2. Mehrsprachigkeit in der Figurenrede 187 <?page no="188"?> 61 Jorge Semprún, L’écriture ou la vie, Paris 2011, S. 23. 62 Ebd., S. 180. 63 Ebd., S. 244-260. 64 Ebd., S. 21. des Erzählens sind dabei nicht die Erlebnisse im Lager Buchenwald selbst, in dem der Autor von 1944 bis 1945 gefangen gehalten wurde, sondern die Ereignisse unmittelbar nach dessen Befreiung. Zentrales Thema des Textes ist gerade die Frage danach, wie dieses Erlebnis literarisch bearbeitet werden kann. Dabei geht es allerdings ganz und gar nicht um den Unsagbarkeitstopos, der so viele Debatten um die Literatur der Shoah bestimmt und den Semprún als letztlich unerheblich beiseiteschiebt, 61 sondern vielmehr um eine sehr kon‐ krete, persönliche Problematik für den Erzähler-Autor Semprún, der feststellt, dass ihm für nahezu zwanzig Jahre nur ein das Schreiben verbietendes Erinnerungsverbot es überhaupt ermöglichte weiterzuleben - écriture ou la vie. Im Mittelpunkt des Textes steht damit auch ein Sprachproblem, ein Problem des Zur-Sprache-Bringens oder des Zur-Sprache-kommen-Lassens, das auf mehrfacher Ebene auch ein Problem von Sprachvielfalt ist. Das zeigt sich u. a. daran, dass der Text nicht in der Erstsprache Semprúns, dem kastilischen Spanisch, verfasst ist, sondern auf Französisch. Der Erzähler thematisiert diese Sprachwahl am Beispiel seines ersten Erinnerungsbuchs, Le Grand Voyage (1963), von dessen Bedingungen der Möglichkeit L’écriture ou la vie u. a. berichtet. Die Behauptung, das Französische sei ihm ebenso sehr Muttersprache wie das Spanische, wird dabei zugespitzt zu der Behauptung, keine Muttersprache im ›eigentlichen‹ Sinne zu besitzen. Für Semprún ist die Intimität der Literatursprache gerade nicht durch eine wie auch immer naturalisierte Ursprünglichkeit garantiert. An die Stelle des ›natürli‐ chen‹ Ursprungs von Sprache und Sprechen tritt in Semprúns Text das Lager. Noch dieser Ursprung des Erzählens entzieht sich aber der Bezeichnung in der Grund‐ sprache des Textes, also im Französischen. An mehreren Stellen kommt der Text auf eine Aussage Wittgensteins zu sprechen: »Den Tod erlebt man nicht«, 62 zitiert Semprún im deutschen Original und führt sodann aus, dass es unmöglich ist, die Formulierung ins Französische zu übersetzen. Sodann aber bestreitet er die Triftigkeit dieses Satzes, der durch das Lager widerlegt werde, das den Tod, und zwar den eigenen Tod, erlebbar werden lasse. Genauer gesagt ist es also dieses Erlebnis des Todes, das in Semprúns Buch als Ursprung des Erzählens figuriert. Der im Lager erlebte eigene Tod ist aber nicht nur deshalb mit Sprachvielfalt verbunden, weil nur die deutsche, nicht aber die französische Formulierung es erlaubt, ihn präzise zu bezeichnen, und auch nicht nur deshalb, weil die Realität des Lagers von Mehrsprachigkeit geprägt war. Vielmehr führt das Erlebnis des Todes zu einer Vervielfachung der Wirklichkeit, für die die Sprachvielfalt ein Stück weit einsteht. Der Erzähler macht dies mit einem Zitat aus einer anderen Sprache, einem italienischen Satz von Primo Levi deutlich, der das Problem des Erinnerns beschreibt und doch für Semprún ein Anlass des Erzählens wird. Levi beschreibt das Leben nach dem Lager (das Leben nach dem Tod) als gezeichnet von der Angst, sich in einem Traum zu befinden, den die einzig wirkliche Wirklichkeit des Lagers jederzeit zerstören kann. 63 Es besteht ständig das Problem, dass Träume vom Lager - Semprún bringt sie insbesondere mit dem Erklingen des auf Deutsch wiedergegebenen Kommandos »Krematorium, ausmachen! « 64 und mit dem Schnee in Buchenwald in Verbindung - das Überlebt-Haben, das gegenwärtige Leben zum Till Dembeck 188 <?page no="189"?> 65 Ebd., S. 228. Traum reduzieren. Es ist so nicht zuletzt die Traumlosigkeit des Schlafs, die das Leben ermöglicht - bis später, in den 1960er Jahren, der Traum vom Schnee den Impuls für die Wiederaufnahme des Schreibprojekts gibt. Noch 1945 hat die in einem überfüllten Pariser Vorortzug geweckte Erinnerung an die Ankunft im Schnee Buchenwalds dazu geführt, dass der Erzähler aus dem Zug springt, dann aus der Ohnmacht aufgewacht nicht weiß, wo und wer er ist, und die französische Sprache zugleich als Spanisch wahrnimmt, bis unvermittelt das spanische Wort nieve (Schnee) auftaucht. 65 Hier wird die potentielle und immer ge‐ fährliche (für Primo Levi laut Semprún letztendlich tödliche) Verdoppelung der Realität, die das Lager ausgelöst hat, als Verdoppelung der Sprache entfaltet. e) Offene Forschungsfragen Die Erforschung der literarischen Mehrsprachigkeit findet in der mehrsprachigen Figu‐ renrede bislang den wohl dankbarsten Gegenstand. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Nutzung unterschiedlicher Idiome durch unterschiedliche dargestellte Figuren relativ un‐ mittelbar auch als Auseinandersetzung mit der soziokulturellen Einbettung von Sprach‐ differenzen verstanden werden kann. Die Rekonstruktion der Mehrsprachigkeit in der Fi‐ gurenrede lädt nachgerade dazu ein, der literarischen Darstellung ein kulturpolitisches Momentum zuzuschreiben. Ähnlich wie in anderen Bereichen der literarischen Mehrspra‐ chigkeitsforschung ist allerdings auch in diesem Bereich eine Schwerpunktsetzung im Be‐ reich der Gegenwartsliteratur (im weiteren Sinne) zu erkennen, sicherlich nicht zuletzt aufgrund des aktuelleren kulturpolitischen Interesses. Zu den vordringlichen Desideraten der Erforschung von Mehrsprachigkeit in der Figu‐ renrede gehört insofern die Erhöhung der historischen Tiefenschärfe. In diesem Zusam‐ menhang dürfte, wie es auch allgemein für die Forschung zum Sprachwechsel gilt, schon die Zusammenführung der vorliegenden Ergebnisse zu unterschiedlichen literaturhistori‐ schen Kontexten und aus unterschiedlichen (meist sprachgebundenen) Forschungstraditi‐ onen sehr hilfreich sein, wie sie beispielsweise die Arbeit von Helmich massiv vorantreibt. Wünschenswert ist darüber hinaus die systematische Klärung des Verhältnisses zwischen der literaturwissenschaftlichen Erforschung von Mehrsprachigkeit in der Figurenrede und der linguistischen Code-Switching-Forschung. Dies könnte insbesondere dazu beitragen, die sehr unterschiedlichen Arten und Weisen, mehrsprachige Figurenrede literarisch dar‐ zustellen, systematisch zu beleuchten. Literatur Babel, Reinhard, Translationsfiktionen. Zur Hermeneutik, Poetik und Ethik des Übersetzens, Bielefeld 2015. Bachtin, Michail M., »Das Wort im Roman«, in: Ders., Die Ästhetik des Wortes, hrsg. v. Rainer Grübel, übers. v. Rainer Grübel/ Sabine Reese, Frankfurt/ M. 1979 [1934/ 1935], S. 154-300. Charlier, Robert, »Der Jargon des Fremdlings. Fiktive Sprechweisen als Mittel der Gesellschaftskritik im 18. Jahrhundert«, in: Dirk Naguschewski/ Jürgen Trabant (Hrsg.), Was heißt hier ›fremd‹? Stu‐ III. 2. 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Unschärfen lassen sich allerdings allein schon beim Versuch, das Zitat begrifflich zu bestimmen, nicht vermeiden. Plausibel ist es aber, das Zitat als den Zusammenfall zweier Operationen zu bestimmen, die jeweils in graduell unterschiedlicher Ausprägung erfolgen können: Jedes Zitat ist einerseits Wiederholung fremder Rede (insofern deren Wortlaut in einem anderen Kontext Verwendung findet), andererseits Verweis auf fremde Rede (inso‐ fern mit dem Zitat der Text, dem es entnommen ist, aufgerufen wird). Dabei ist es möglich, dass sowohl das Moment der Wiederholung als auch das Moment des Verweises auf ein Minimum reduziert werden. Man kann global auf ein Werk verweisen - etwa mit dem Satz: ›Goethes Faust ist ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur‹ -, ohne, vom Titel abge‐ sehen, eine wörtliche oder auch nur paraphrasierende Wiederholung vorzunehmen. Den‐ noch ist bereits diese Nennung des (überdies verkürzten) Titels auch eine Wiederholung des (unweigerlich konnotierten) Textes, der zumindest tendenziell Präsenz gewinnt. Um‐ gekehrt ist das ungekennzeichnete wörtliche Zitat nur dann eines, wenn es auch als Verweis auf ein anderes Werk erkannt wird. Ein Extremfall liegt vor, wenn sowohl der Verweis als auch die Wiederholung ausgesprochen schwach ausfallen. Man hat es dann wahrscheinlich mit der Minimalform desjenigen zu tun, was man vom Verfahren her Applikation, vom Ergebnis her Intertextualität nennt (zu alternativen Versuchen einer systematischen Be‐ schreibung des Zitats siehe Abschnitt c). Für die Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit kommt zur doppelten Graduierung von Wörtlichkeit und Paraphrase einerseits, explizitem und implizitem Verweis anderer‐ seits die Vielfalt von Sprachdifferenzen hinzu, die zwischen zitierendem und zitiertem Text womöglich anzutreffen sind. Solche Differenzen lassen sich zum einen systematisch mittels der Kategorien beschreiben, die von der (Sozio-)Linguistik zur Beschreibung von Idiomen benutzt werden: Zitierter und zitierender Text können in unterschiedlichen Soziolekten, Dialekten, Ausbausprachen, Standardsprachen etc. verfasst sein, deren Sprecher einander mehr oder weniger gut verstehen können. Zum anderen aber zeigt die Tatsache, dass bei‐ spielsweise philologische Versuche zur Klärung unbekannter Autorschaft regelmäßig auf eine Vielzahl weiterer stilistischer Merkmale von Sprache zurückgreifen, dass mit Blick auf <?page no="194"?> Zitathaftigkeit auch solche Sprachdifferenzen eine Rolle spielen, die sich nicht unbedingt mit linguistischen Kategorien (oder zumindest nicht mit den eben genannten) erfassen lassen. Denn letztlich ist jede irgendwie regulierte sprachliche Struktur zur Zitation (Ap‐ plikation) in einem neuen, auch anderssprachigen Zusammenhang geeignet - andersspra‐ chige Zitation kann also beispielsweise auch Tonlagen, Reim- und Strophenformen oder Arten und Weisen der Charakterzeichnung betreffen. Die folgende Darstellung geht vor allem auf die markanteren oben genannten Formen der Sprachdifferenz ein und konzen‐ triert sich überdies auf solche Fälle, in denen ein Mindestgrad an Wörtlichkeit der Wie‐ derholung gegeben ist, so dass die Möglichkeit besteht, dass Sprachdifferenzen zwischen zitiertem und zitierendem Text im zitierenden Text erkennbar werden. Zitate tauchen in unterschiedlichen Situationen und Kontexten auf. Sie finden sich in literarischen Texten, in Gérard Genettes Terminologie formuliert, sowohl im Peritext, ins‐ besondere im Motto, als auch im sog. Haupttext. Das Motto bietet als institutionalisierte Form des peritextuellen Zitats in besonderem Maße die Gelegenheit, andere Sprachen als die Grundsprache des jeweiligen Textes zu Wort kommen zu lassen. Im Haupttext wiederum sind es häufig handelnde Figuren, die Zitate benutzen. Für das literarische Feld sind ferner Zitatensammlungen von einer gewissen Bedeutung, die es in unterschiedlichen Formaten seit jeher gibt und die mittelbar auch auf (andere) literarische Texte Einfluss ausüben. Auch Zitatensammlungen gehen auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit Anderssprachigkeit um. Mit Blick auf das anderssprachige Zitat ist zu beobachten, dass sich in viel größerem Maße als bei anderen Verfahren ethische Fragen stellen. Dies gilt schon für das ›einspra‐ chige‹ Zitat, das in Literatur wie Philologie bestimmten ethischen Ansprüchen gerecht werden muss. Dies hat erstens damit zu tun, dass jedes Zitat Autorität ins Spiel bringt - indem es sich entweder auf eine Autorität beruft oder selbst Autorität über das Zitierte beansprucht. Zweitens sind, spätestens seit dem 18. Jahrhundert, Fragen des (geistigen) Eigentums im Spiel. Damit zusammenhängend stellt sich drittens die Frage der Treue des Zitats, die dann besonders akut (und eventuell problematisch) ist, wenn das Zitat aus einer gegenüber der Sprache des zitierenden Textes fremden Sprache stammt. Die Treue gegen‐ über dem Original ist in diesem Falle abzuwägen gegen die Interessen des potentiellen Lesers, der häufig der Meinung ist, er habe ein Recht darauf, den Text zu verstehen. Die grundlegende ethische Problematik des Zitats bringt es mit sich, dass Zitieren immer auch (kultur-)politisch interpretiert werden kann. Zitate können beispielsweise einen Bildungs‐ anspruch signalisieren oder ihn subvertieren, Kulturdifferenzen aufrufen und verarbeiten oder etwas bzw. jemanden vorführen (in jedem Sinne des Wortes). Bei der Analyse anderssprachiger Zitate in literarischen Texten sind somit drei Punkte entscheidend: Erstens muss jeweils genau beschrieben werden, wie wörtlich und wie ex‐ plizit das Zitat ist. Zweitens muss untersucht werden, welche Art von Sprachdifferenz zwi‐ schen zitierendem und zitiertem Text besteht und wie der Text mit der Sprachdifferenz umgeht. Drittens kann gefragt werden, inwiefern dabei zugleich Kulturdifferenzen behan‐ delt werden. Till Dembeck 194 <?page no="195"?> b) Sachgeschichte Historisch betrachtet lässt sich der Umgang von Literatur mit anderssprachigen Zitaten grob in Korrelation zur Geschichte des Zitats in der Literatur beschreiben. Diese wiederum steht in engem Bezug sowohl zur Mediengeschichte als auch zur Geschichte der histori‐ schen Semantik von Sprachvielfalt bzw. der Sprach- und Kulturpolitik. Für die Antike sind hier vor allem zwei Konstellationen von Interesse: der Umgang la‐ teinischer Texte mit griechischen Bezugstexten und der Umgang des (griechischen) Neuen Testaments mit dem (hebräischen) Alten Testament. Im Hintergrund steht dabei, zumindest für die lateinische Literatur, die rhetorische Lehre vom Umgang mit (meist versförmigen) Sinnsprüchen, den ›sententiae‹. Die sententia ist hier vor allem im Zusammenhang mit der inventio, also der Lehre von der Findung von Argumenten, Topoi etc., behandelt worden, etwa bei Aristoteles - dort heißt sie γνώμη (gnōmē) - und später bei Quintilian. Wie Antoine Compagnon hervorgehoben hat, wird über die sententia in privilegierter Weise der Zugriff auf die bewährte Tradition geregelt, ohne den keine Rede erfolgreich sein kann. Für die antike Rhetorik gilt ihm zufolge: »Un discours en somme est jugé sur l’épreuve de contrôle des répétitions qu’il met en œuvre.« (Compagnon, La seconde main, 154; allgemein zum Umgang mit sprachlicher Wiederholung bei Platon und Aristoteles sowie in der rhetori‐ schen Tradition siehe ebd., 95-154.) Die Wörtlichkeit der Wiederholung ist dabei weniger entscheidend, ja sie kann sogar erfolgsverhindernd sein, denn das wörtliche Zitat signa‐ lisiert womöglich weniger die Einbettung in eine gemeinsame Tradition als die Uneigen‐ ständigkeit des Redners (van den Berg, »Autorität und Schmuck«, 14 f.). Dieses Bedenken bleibt aller Wahrscheinlichkeit nicht ohne Auswirkungen auf den Umgang lateinischer Texte mit Bezügen auf griechische Texte. Insgesamt lässt sich nach den Befunden von Otta Wenskus eine Tendenz erkennen, sich dem sog. »Zitatzwang«, also der Verpflichtung zur wörtlichen Wiederholung des anderssprachigen Originals, zu widersetzen (Wenskus, »Zi‐ tatzwang als Motiv für Codewechsel«). Das Zitieren nach dem Original ist zum einen weit‐ gehend auf bestimmte Gattungen beschränkt, nämlich auf Sachliteratur, Briefe und alle Arten von metasprachlicher Argumentation. Zum anderen gilt, dass der Zitatzwang eher bei Versen und bei bereits zitierten Zitaten (Zitat im Zitat) greift als bei der Zitation von Prosa. Bereits in der Antike existiert die Praxis, Florilegien, also Zitatensammlungen, an‐ zulegen; auch entwickelt sich mit dem Cento eine Gattung, die Texte ausschließlich aus Zitaten generiert. Dabei werden strenge Regeln für die syntaktische wie metrische Inte‐ gration der Zitate entwickelt, die eine Einbindung anderssprachiger Texte eher aus‐ schließen (Kunzmann/ Hoch, »Cento«). Allerdings ist das Verfahren spätestens im 20. Jahr‐ hundert aufgegriffen und für die Entfaltung literarischer Mehrsprachigkeit genutzt worden. Spätestens ab der hellenistischen Zeit kann dann unterstellt werden, dass sich ein philolo‐ gisches bzw. im weiteren Sinne medientheoretisches Bewusstein darüber entwickelt hat, dass Texttreue aufgrund der Überlieferungsmethoden nie problemlos angenommen werden kann (Reynolds/ Wilson, Scribes and Scholars, 5-16). Die Zitierpraxis des Neuen Testaments bringt insofern neuartige Strukturen ins Spiel, als hier ein Bezug auf die jüdische Zitierpraxis besteht, d. h., auf den Umgang mit Heiligen Texten, wie sie weder die griechische noch die römische Kulturgeschichte kennt. Die jüdi‐ sche Zitierpraxis selbst ist mit dem Phänomen der Anderssprachigkeit nicht konfrontiert, insofern die Texte des Alten Testaments in einer einigermaßen einheitlichen Sprache ver‐ III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 195 <?page no="196"?> fasst sind. Wichtig ist allerdings die radikale Forderung der Texttreue, die insbesondere die Konsistenz der handschriftlichen Überlieferung sichern sollte. Im Neuen Testament wird indes an keiner Stelle aus den Büchern des Alten Testaments im Original zitiert, sondern meist in griechischer Übersetzung. Erklärlich ist dies vielleicht aus dem mit dem Pfingst‐ wunder der christlichen Kirche aufgegebenen Missionsauftrag, der die Vermittlung der Frohen Botschaft in der κοινή nahegelegt haben mag. Einzig Jesu letzte Worte am Kreuz, ein Zitat aus dem 22. Psalm, sind nicht auf Griechisch wiedergegeben, sondern in mit grie‐ chischen Buchstaben transkribiertem Aramäisch, also der mutmaßlichen Muttersprache Jesu (siehe hierzu III .2). Die Zitierpraxis der Kirchenväter, die vehement ins Mittelalter gewirkt hat, unterscheidet sich laut Compagnon insofern von der jüdischen Zitiertradition, als die christliche Theo‐ logie nicht schlicht eine Einheit (des Glaubens) aus den für sich genommen zunächst sehr diversen Texten konstruiert, sondern die Einheit des Glaubens an die radikale Differenz zwischen Altem und Neuem Testament bindet (Compagnon, La seconde main, 169): Die Kirchenväter haben es mit einem gespaltenen Text zu tun, denn die Frohe Botschaft besteht ja gerade darin, dass Christi Tod und Auferstehung den gesamten Gehalt des Alten Testa‐ ments verändert haben. Das erzeugt einerseits eine gesteigerte Kommentarbedürftigkeit der Texte, der u. a. die Typologie und, ausgehend vom Werk des Origenes, die Lehre vom vierfachen Schriftsinn antworten; andererseits aber eine gesteigerte Bedeutsamkeit, denn anders als für die antiken sententiae gilt, dass »la citation biblique s’offre toujours comme un jugement nécessaire, une proposition universelle, une vérité éternelle; elle se répète sans qu’il faille s’assurer à chaque coup de sa pertinence« (ebd., 201 f.). Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass die mittelalterliche Theologie mehr oder weniger ausschließlich in der lateinischen Einsprachigkeit verharrt. Allerdings ist zu bedenken, dass das Mittelalter von einem starken Vertrauen in die Übersetzung getragen ist, und zwar sowohl mit Blick auf die Bibel, deren (griechische wie lateinische) Übersetzungen durch göttliche auctoritas abgesichert gelten, als auch mit Blick auf die Texte der klassischen Antike, die immer schon, verstärkt dann aber in der Scholastik dank der intensiven Aristoteles-Rezeption, systema‐ tisch in das christliche Weltbild eingebunden werden. Das Vertrauen in die Übersetzung bewirkt hier, so Wim van den Berg, dass in der »Aneignung der Tradition eher die Para‐ phrase als das Zitat« (van den Berg, »Autorität und Schmuck«, 19) als Methode genutzt wird. Mit Blick auf den zitierenden Umgang mit Anderssprachigkeit im Mittelalter ist daher eher die volkssprachliche Tradition von Belang. Hier findet sich eine Vielzahl von Belegen des vor allem lyrischen Umgangs mit biblischen oder liturgischen Texten, die in ihrer la‐ teinischen Fassung in volkssprachliche Texte eingebettet werden. Paul Zumthor hat hierzu eine Vielzahl von Quellen aus dem französischen Sprachraum im 11. bis 13. Jahrhundert zusammengestellt (Zumthor, »Un problème d’esthétique médiévale«). Bei den lateinischen Anteilen dieser Texte handelt es sich meist um Zitate, und zwar vor allem um Zitate aus dem liturgischen Kontext. Zumthor beschreibt insbesondere das Verfahren der »Farciture«, also der ›Ausfüllung‹ lateinischer (liturgischer) Texte durch französische Erklärungen (ebd., 562-566, auch 310). Auch in anderen Sprachräumen finden sich solche Verfahren, bei‐ spielsweise in einem mehrsprachig glossierten »Ave Maria« von Bruder Hans (Noel/ Seláf, »On the Status and Effect of Formulas«). Till Dembeck 196 <?page no="197"?> Im Hochmittelalter entwickelt sich mit der Troubadour-Lyrik eine volkssprachliche Li‐ teraturtradition, deren Vertreter zitierend aufeinander Bezug nehmen, wie Sarah Kay in einer Studie zu Texten aus dem 12. bis 14. Jahrhundert nachgewiesen hat. Kay unterscheidet in der intertextuellen Bezugnahme auf die Dichtung der okzitanischen Troubadoure zwei unterschiedliche Traditionslinien, die sie, einer alten poetologischen Metapher folgend, mit der Nachtigall und dem Papagei in Verbindung bringt (Kay, Parrots and Nightingales, 1-23). In der ›Nachtigallen-Tradition‹ werden Stoffe, Gattungsstrukturen und/ oder metrische Muster in anderen Sprachen als der okzitanischen Literatursprache nachgeahmt. Dabei handelt es sich um mehr oder weniger eng paraphrasierende oder adaptierende Verfahren. Auf diesem Wege entsteht beispielsweise der mittelhochdeutsche Minnesang. In der ›Pa‐ pageien-Tradition‹ werden die okzitanischen Vorbilder wörtlich zitiert, und zwar von Texten, die selbst auf Okzitanisch verfasst sind, auch wenn die Alltagssprache der Autoren (ebenso wie die Alltagssprache ihres Publikums) einigermaßen weit vom Okzitanischen entfernt ist - wodurch die zitierte Sprache des Vorbilds den Text in gewisser Weise affiziert. Nur die ferneren Ausläufer dieses zweiten Verfahrens integrieren wörtliche Zitate aus dem Okzitanischen in andere, neue oder neu zu etablierende Literatursprachen. Dies ist etwa der Fall bei Dante Alighieri und Francesco Petrarca, also ausgerechnet bei den wohl be‐ rühmtesten Autoren, die Kay behandelt, und zugleich denjenigen, deren Wirken, sprach- und kulturpolitisch betrachtet, am stärksten auf die Etablierung jener Vielfalt einander im Prinzip äquivalenter Literatursprachen beigetragen hat, die bis heute die europäische Li‐ teratur prägt. Man kann in ihrer Bereitschaft, aus diesen Sprachen parallel zum Lateinischen zu zitieren, durchaus eine Präfiguration dieser modernen Konstellation sehen (zum Zitat bei Dante siehe auch Klinkert, »Dante Alighieri und die Mehrsprachigkeit«). Die Frühe Neuzeit ist gekennzeichnet durch eine nicht zuletzt medienbedingte Neuord‐ nung der europäischen Sprachlandschaft, die auch das Zitat betrifft, denn die Durchsetzung des Buchdrucks seit dem 15. Jahrhundert verändert die Zitatpraxis in zweifacher Hinsicht. Einerseits wird durch den Buchdruck eine viel größere Menge an Texten potentiell zitier‐ fähig als zuvor. In den ihrerseits an Prestige gewinnenden Volkssprachen vollzieht sich nicht zuletzt auf der Grundlage dieser verbreiterten Quellenbasis der »Durchbruch des klassischen Zitats« (van den Berg, »Autorität und Schmuck«, 21), also einer neuartigen Praxis des gebildeten, in der Regel lateinischen Zitats, die weniger der Absicherung des eigenen Arguments durch die Autorität der Tradition dient denn dem Ausweis der Bildung, auf der das eigene Argument beruht. In ihren langfristigen Konsequenzen führt diese neue Funktion des klassischen Zitats, mit Marjorie Garber gesprochen, dazu, dass »[o]ld authors are regarded as having written, not books, but quotes.« (Garber, »›‹ (Quotation Marks)«, 667). Andererseits führt die Durchsetzung des Buchdrucks in Kombination mit dem Erstarken der Volkssprachen dazu, dass sich massive Kritik am mittelalterlichen auctoritas-Zitat Bahn bricht, die sich zugleich gegen eine neuzeitliche Reproduktion klassischer Bildungszitate als einer Form des »cultural ventriloquism« (ebd., 663) richtet. Laut Compagnon stellen sich der typographischen Kultur die sehr viel unzuverlässigeren Reproduktionsverfahren der handschriftlichen Kultur als in einem grundlegenden Sinne korrupt dar. Das betrifft auch die gesamte auf die auctoritas des Zitats gegründete Tradition (Compagnon, La seconde main, 244-246). Compagnon schreibt hier eine zentrale Rolle dem Schaffen von Petrus III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 197 <?page no="198"?> Ramus zu, dessen 1543 publizierte französischsprachige Dialectique ihm als das erste (fran‐ zösischsprachige) Buch mit systematischer typographischer Zitatkennzeichnung gilt (ebd., 246 f.; siehe zur Zitatkennzeichnung auch Garber, »›‹ (Quotation Marks)«, 660-662 und van den Berg, »Autorität und Schmuck«, 22) und dessen Werk als endgültiger Bruch mit der auf der auctoritas der Heiligen Schrift und ihrer Vermittler beruhenden mittelalterlichen Kommentarpraxis gelten kann. Einschlägig für die Geschichte des (anderssprachigen) Zi‐ tats sind aber vor allem Michel de Montaigne und Erasmus von Rotterdam. Bei Erasmus wird einerseits das Zitat der Eigengesetzlichkeit des philosophischen Den‐ kens wie auch der philologischen Skepsis unterworfen, die beide das Prinzip der auctoritas untergraben (Compagnon, La seconde main, 268); andererseits setzt sich Erasmus massiv dafür ein, seinen Zeitgenossen einen eigenständigen Gebrauch des Lateinischen zu ermög‐ lichen. Sein Dialogus ciceronianus (1528) erweist sehr anschaulich die Einschränkungen, denen sich ein Latein unterwirft, das sich starr am Sprachgebrauch eines klassischen Autors (Cicero) orientiert: Es läuft letztlich nur auf die Reproduktion von Zitaten hinaus, die nicht mehr an neue Kontexte angepasst werden können. Umgekehrt leistet die ausgesprochen erfolgreiche Sinnspruch-Sammlung von Erasmus, die von 1510 bis 1535 in immer wieder erweiterten Ausgaben erschienenen Adagia, eine zeitgemäße Erschließung des antiken Zi‐ tatenschatzes. Montaigne wiederum hat in seinen Essais nicht nur umfassend aus überwiegend antiken Quellen zitiert, sondern auch ebenso umfassend über das Zitieren nachgedacht. Wenn er dabei zu dem Ergebnis kommt, wie Compagnon formuliert, dass »tout le discours […] est affaire de foi ou […] de crédit« (Compagnon, La seconde main, 290), so ist das nicht nur so zu verstehen, dass alle Aussagen immer nur auf Vorschuss Bestand haben können; vor allem impliziert es vielmehr ein radikales Bewusstsein für die Schulden, die das eigene Sprechen bei demjenigen der vielen anderen hat. Dieses Bewusstsein verbindet sich im Fall Mon‐ taignes mit der radikalen Kritik an der unkritischen Autoritätshörigkeit, die sowohl den mittelalterlichen Kommentar als auch die zeitgenössisch sich etablierende Praxis des klas‐ sischen Zitats verbindet. Montaigne unterscheidet theoretisch wie praktisch zwischen al‐ légation und emprunt: Erstere ist die (letztlich auf auctoritas beruhende, zugleich von Montaigne in dieser Funktionalität aber immer dekonstruierte) Wiedergabe von Argu‐ menten auf Französisch, die aber in der Regel auf Latein oder Griechisch geäußert wurden (ebd., 292 f.); letztere »une phrase latine, un vers […] inséré sans transition, et sans nom d’auteur« (ebd., 293). Gerade an den emprunts erweist sich Montaignes Schreiben als auf Kredit gegründet: Er übernimmt ausdrücklich keine ›auktoriale‹ Verantwortung für sie, sondern sie ›unterlaufen‹ ihm gewissermaßen, er kann sie nicht vermeiden, weil seine eigenen Worte zu sehr mit denen der anderen verwoben sind (ebd., 297). Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass Montaigne großen Wert darauf legt, zumindest typographisch die Anderssprachigkeit der emprunts zu markieren. Michael Metschies weist darauf hin, dass die satztechnische Markierung der Zitate durch Kursivierung der lateinischen Passagen und durch Absetzung der Verszitate wohl nicht zuletzt von Montaigne selbst veranlasst wurde, der mit dem Drucker darüber kommunizierte (Metschies, Zitat und Zitatkunst in Montaignes Essais, 73). Die Bedeutung der typographischen Medienrevolution gerade für das Zitat, die sich der‐ gestalt in Montaignes Text niederschlägt, kann kaum zu gering veranschlagt werden. Das Till Dembeck 198 <?page no="199"?> 66 François Rabelais, Le Tiers Livre, hrsg. v. Michel Fezandat, Paris 1995, S. 375-399. typographische Dispositiv trägt nämlich nicht nur dazu bei, dass sich klare Regeln für die Kennzeichnung von Zitaten und von Anderssprachigkeit etablieren (wie sie beispielsweise für die Zitation griechischer Verse in lateinischen Texten nicht nötig waren), sondern vor allem dazu, dass die Texte eine hinreichende Festigkeit erlangen und sich nicht mehr, wie die ›unfesten‹ Texte des Mittelalters, von Abschrift zu Abschrift zumindest potentiell ver‐ ändern. Das liegt nicht nur an der Identität der von der Druckerpresse produzierten Exem‐ plare, sondern mehr noch an der Standardisierung der Orthographie und vor allem des Peritextes im Sinne von Genette. Compagnon hat bereits vor Genette in seinen Ausfüh‐ rungen über die von ihm sog. »périgraphie« (Compagnon, La seconde main, 328, ausführlich 328-346) darauf hingewiesen, dass der typographisch standardisierte Rahmen des Textes entscheidend dazu beigetragen hat, das Modell eines ›homeostatischen Textes‹ zu eta‐ blieren, eines Textes, innerhalb dessen der Anteil des eigenen und des fremden Sprechens ebenso wie derjenige der eigenen und anderen Sprachen klar ausbalanciert ist. So entspricht es auch den Forderungen der neuen, auf das autonome Subjekt und sein cogito sich grün‐ denden Philosophie, deren Vertreter - etwa Blaise Pascal, Antoine Arnauld/ Pierre Nicole und Nicolas Malebranche - Montaignes Umgang mit fremdem Text scharf kritisieren (ebd., 306-313) und überhaupt das klassische Zitat in erster Linie als Ausweis von Narzissmus betrachten (ebd., 319-322). In der Literaturgeschichte sind die Konsequenzen der philosophischen Kritik am Zitat in der Frühen Neuzeit insofern weniger gut zu beobachten, als sich starke Autorschafts‐ konzepte erst später, im 18. Jahrhundert, durchsetzen. Ein neues ›Selbstbewusstsein‹ zeigt sich allerdings im Hinblick auf die literarischen Sprachen. Macht Montaigne seine Anleihen überwiegend im Lateinischen, so vervielfältigt sich der Referenzraum des literarischen Zi‐ tierens mit der zunehmenden Emanzipation der europäischen Volkssprachen, wie es bei Autoren wie Dante und Petrarca bereits deutlich sichtbar wird. Die alte Gattung des Cento kann im 16. Jahrhundert beispielsweise bei Lope de Vega eine ganz neue Form gewinnen, der in seinem Sonett »De versos diferentes« Zitate aus vier Sprachen montiert (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 63). Das heißt nicht, dass nicht weiterhin das Klassiker-Zitat das verbreitetste Mittel der Anknüpfung an die literarische Tradition sei. Dubravka Oraić Tolić hat in ihrem umfassenden Werk zur ›Zitathaftigkeit‹ das Beispiel des kroatischen Autors Petar Zoranić analysiert, dessen Roman Planine (1569) den kroatischen Text mit vielen illustrativen Klassiker-Zitaten, lateinischen Redewendungen und Bibelzitaten auf Kroatisch untermischt, die in den Marginalien allesamt in der Originalsprache angeführt werden (Oraić Tolić, Das Zitat in Literatur und Kunst, 86-92). Die gelehrten Tragödien etwa eines Daniel Casper von Lohenstein sind ebenso von Klassiker-Zitaten durchsetzt wie die Komödien der Renaissance, die allerdings oft - in Anlehnung an die Commedia dell’arte - die lateinisierenden Gelehrten mit ihren Zitaten eher der Lächerlichkeit preisgeben (siehe das Anwendungs-/ Analysebeispiel 1 in III .2). Das neue Selbstbewusstsein der literarischen Volkssprachen zeigt sich so nicht zuletzt in einem subversiven Umgang mit dem Lateinischen. So enthält beispielsweise das Tiers livre von Rabelais (1546) eine Parodie über das von lateinischen Zitaten durchmischte Fran‐ zösisch der Juristen. 66 Herman Meyer hat in seiner Studie über das Zitat in der Erzählkunst III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 199 <?page no="200"?> darauf hingewiesen, dass gerade der humoristische Roman, insofern er auf dem Bauprinzip der Integration des Heterogenen beruht, dem Zitat als Fremdkörper eine zentrale Rolle einräumt (Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst, 12). Meyers Behauptung, vor Cervantes, Rabelais und Sterne habe das (klassische) Zitat nur als Autoritätsstütze fungiert (ebd., 16 f.), ist sicherlich nicht zutreffend. Dennoch ist die humoristische Souveränität, mit der diese Autoren mit (anderssprachigen) Zitaten umgehen, in der Tat neuartig und bemerkenswert. Meyer, der im übrigen auf die Anderssprachigkeit vieler der in seinen Analysen behan‐ delten Zitate in keiner Weise eingeht, weist nach, dass Rabelais die klassischen Zitate durchaus affirmativ verwendet, bei wörtlichen biblischen Zitaten aber subversiv und pa‐ rodistisch vorgeht (ebd., 40 f.). Insbesondere erzeuge hier der Kontrast zwischen ursprüng‐ lichem und neuem Kontext komische Effekte (ebd., 44 f.). Alles in allem könne die Zitatbe‐ arbeitung als Grundstruktur der Erzählung gelten. Zu Cervantes kann Meyer immerhin nachweisen, dass affirmative Zitatverwendung sich auf spanische Texte konzentriert (ebd., 54-68). Die Selbstverständlichkeit des lateinischen, teils auch des griechischen und/ oder he‐ bräischen, später des französischen Zitats bleibt in vielen Formen von Literatur bis in das 18. oder gar 19. Jahrhundert hinein erhalten, auch wenn beispielsweise Lawrence Sterne es in seinem Tristram Shandy (1759-1767) für notwendig erachtet, das längste im Roman er‐ haltene lateinische Zitat, das im dritten Buch des Romans verlesene katholische Exkom‐ munikationsformular, im Paralleldruck zusammen mit der englischen Übersetzung zu prä‐ sentieren. Für Sterne, wie allgemein für den humoristischen Roman, ist laut Meyer »die Schiefheit des Bezugs« das entscheidende »Charakteristikum [der] Zitatverwendung« (ebd., 73). Die humoristisch verzerrende Aneignung der Tradition, in der gerade der latei‐ nische Wortlaut im volkssprachlichen Text dessen (ästhetisch, philosophisch und kultur‐ politisch neuartigen) Gesetzmäßigkeiten angepasst wird, ist dann letztlich nicht mehr nur Zeugnis eines zunehmenden ›Selbstbewusstseins‹ der Sprachen, sondern auch von selbst‐ bewusster Autorschaft. Einer der Erben dieser Tradition, Jean Paul, ist vielleicht nicht zu‐ fällig zumindest mittelbar, nämlich über seine Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichte, auch in die Diskussion des modernen Konzepts des geistigen Eigentums verwickelt, das eine Konfiguration textueller Eigentumsverhältnisse formalisiert, welche die typogra‐ phische Neuordnung der Textualität zu Beginn der Frühen Neuzeit bereits vorbereitet hatte. Die Zeit um 1800 bringt nicht nur mit Blick auf die Geschichte des geistigen Eigentums und auf die sich entfaltende Originalitätsästhetik Veränderungen im literarischen Umgang mit dem anderssprachigen Zitat mit sich. Vielmehr kann diese Zeit auch als diejenige Epoche gelten, in der sich die moderne Einsprachigkeitssemantik, d. h., die Engführung des Konzepts der Muttersprachlichkeit mit demjenigen der Nation, durchsetzt. Dies führt al‐ lerdings, vor allem eben mit Blick auf das fremdsprachige Zitat, keinesfalls dazu, dass An‐ derssprachigkeit aus den Texten ausgeschlossen würde. Vielmehr entsteht mit der Ein‐ sprachigkeitssemantik auch ein neues Konzept fremdsprachlicher Bildung, das sich auf je unterschiedliche neuzeitliche Fremdsprachen bezieht und demzufolge sich Bildung nicht zuletzt durch das fremdsprachliche Zitat ausweisen kann. Die daraus sich ergebende Vielfalt des anderssprachigen Zitierens ist von der Forschung bislang nur ansatzweise in den Blick genommen worden - noch weniger als Sprachwechsel und Sprachmischung im Allgemeinen. Allerdings etabliert sich, auf der Grundlage der Till Dembeck 200 <?page no="201"?> frühneuzeitlichen Emblematik, seit dem 18. Jahrhundert ein paratextuelles Element, das eine Art privilegierten Zugang zur Frage des anderssprachigen Zitats verspricht: das Motto. Auch wenn es nicht zwangsläufig ein Zitat sein muss - Motti sind manchmal auch erfun‐ dene Zitate, Selbstzitate oder schlicht Devisen, die der Autor für eben dieses Werk verfasst hat -, so wird der dem Motto auf der Titelseite, auf einer eigens für Motti eingefügten Seite oder unterhalb von Kapitelüberschriften eingeräumte Platz doch weit überwiegend dazu genutzt, qua Zitat einen Bezug zur (literarischen) Tradition herzustellen. Und sehr häufig entstammen die für Motti verwendeten Zitate nicht derselben Sprache wie der folgende Text, ob sie nun in Übersetzung dargeboten werden oder im Original - oder beides. Eine zentrale Rolle für die Etablierung des Mottos hat in der ersten Hälfte des 18. Jahr‐ hunderts Joseph Addisons Zeitschrift The Spectator gespielt, die weit über den englischen Sprachraum hinaus gewirkt hat (siehe hierzu Segermann, Das Motto in der Lyrik, 31-35). Die zumeist lateinischen Motti zu den essayförmigen Texten in der Zeitschrift galten Ad‐ dison, durchaus im Sinne einer Devise, als Bestätigung der jeweils vertretenen Argumente. Die Popularität dieser Motti, aber auch die Tatsache, dass sie dem Publikum nicht mehr ohne weiteres verständlich waren, zeigt sich daran, dass sie im 18. Jahrhundert zu eigen‐ ständig publizierten Sammlungen zusammengeführt wurden, die auch Übersetzungen ent‐ hielten (Böhm, Das Motto in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, 10 f.). Eine systematische Erforschung der Motti in den europäischen Literaturen steht weit‐ gehend noch aus, kann aber auf wegweisende erste Arbeiten zurückgreifen, denen sich zumindest entnehmen lässt, auf welche anderssprachigen Quellen in den unterschiedlichen Traditionen Bezug genommen wurde. So wurde gezeigt, dass deutschsprachige Texte aus dem 18. Jahrhundert weiterhin vorwiegend Motti aus dem Lateinischen verwenden (mit Horaz als Spitzenreiter), das dann fast immer auch im Original wiedergegeben wird, wo‐ hingegen griechische Zitate oft in lateinischer (! ) Übersetzung, die Bibel hingegen auf Deutsch angeführt wird. Nur Johann Georg Hamann zitiert grundsätzlich (und nicht nur in seinen reichhaltigen Motti) alles im Original (Antonsen, Text-Inseln, 34 f.). Für die Lyrik der französischen Romantik ist, wenn auch nur in Seitenblicken, gezeigt worden, dass die Integration von Motti, die aus anderen Sprachen stammten, selbst bei Wiedergabe in der Übersetzung, zur »Propagierung neuer Vorbilder« genutzt wurde (Segermann, Das Motto in der Lyrik, 121). Beispielsweise hat Théophile Gautier in zwei Gedichten deutschsprachige Lautmalereien aus den vorangestellten Motti von Bürger und Goethe aufgegriffen (ebd., 124). Auch die konventionelle typographische Differenzierung zwischen dem Französi‐ schen und anderen Sprachen konnte bei der Einfügung von Motti formbildend eingesetzt werden (ebd., 46). Alles in allem zeichnet sich im 19. Jahrhundert die Möglichkeit ab, Motti als »Freiraum für gewagte Formexperimente« (ebd., 161) zu nutzen - und insbesondere Anderssprachigkeit ist ja, auch unabhängig vom Zitat, im 19. und 20. Jahrhundert in den unterschiedlichsten europäischen Literaturen als Motor der insbesondere lyrischen Form‐ bildung verwendet worden (siehe III .1 sowie V.1). Für die englische Literatur des 19. Jahrhunderts liegen ausführliche statistische Auswer‐ tungen des anderssprachlichen Zitatmaterials in den Motti vor (Böhm, Das Motto in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts). Der kulturpolitische Stellenwert dieser Motti wie auch der Entscheidung darüber, sie im Original oder in Übersetzung wiederzugeben, müsste allerdings noch an Einzelfällen eingeschätzt werden. Ähnlich wie im deutschsprachigen III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 201 <?page no="202"?> Raum wird auch in englischsprachiger Literatur aus dem Lateinischen überwiegend im Original ohne Übersetzung zitiert (nur 15 % der Motti werden übersetzt), bei griechischen Quellen ist das anders, hier werden 60 % der Motti mit paralleler Übersetzung gegeben (ebd., 52-54). Bei deutschen Quellen finden sich keine solchen Doppelungen, hier wird ungefähr zur Hälfte das Original, zur anderen Hälfte eine englische Übersetzung gegeben (ebd., 57). Demgegenüber wird Französisch so gut wie immer nur im Original zitiert (ebd., 58), was mit der Kenntnis des Französischen als Bildungssprache erklärt werden kann. Dasselbe gilt allerdings auch für das (insgesamt weniger zitierte) Italienische (ebd., 62) und für das Spa‐ nische (ebd., 66) - beides Sprachen, deren Kenntnis eher nicht vorausgesetzt werden konnte. Auch historiographische Quellen sind, unabhängig von der jeweiligen Sprache, in der Regel im Original wiedergegeben (ebd., 71), anders als philosophische (ebd., 74), die zur Hälfte ins Englische übersetzt werden. Die Bibel wird, ebenso wie im deutschsprachigen Raum, fast immer in der Volkssprache zitiert, genauer im Englisch der King-James-Bibel (ebd., 84). Für den deutschsprachigen Raum lässt sich für das 19. Jahrhundert im Vergleich mit dem 18. eine deutliche Abnahme der lateinischen Motti im Vergleich zu denjenigen kon‐ statieren, die aus französischen oder englischen Quellen stammen; das Griechische ver‐ schwindet hier fast gänzlich, während das Italienische an Wirkmacht gewinnt. In Wilhelm Raabes »Abu Telfan« findet sich sogar ein Koran-Zitat in deutscher Übersetzung (An‐ tonsen, Text-Inseln, 38). Auch über die ausgeprägte Motto-Kultur hinaus sind anderssprachige literarische Zitate im 19. Jahrhundert ausgesprochen verbreitet. Die Konjunktur der von Georg Büchmann herausgegebenen Zitatensammlung Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des deutschen Volkes (erstmals 1864, in weiteren Ausgaben bis heute), die im englischen Sprachraum eine Parallele in Bartlett’s Familiar Quotations (erstmals 1855) findet, zeigt einen erheblichen Bedarf an der Verfügbarkeit von Bildungszitaten an. Dabei ist Büchmanns Text sowohl ausgesprochen weltoffen als auch philologisch einigermaßen ambitioniert, denn es geht ihm darum, seinen Lesern nicht nur die Zitate, sondern auch ihre Ursprünge und Hinter‐ gründe mitzuteilen. Büchmann führt, wieder mit Ausnahme der Bibel, nahezu alle der sehr umfassenden fremdsprachlichen Quellen (ihnen widmen sich in der fünften Ausgabe von 1868 fast zwei Drittel des Buchs) im Original an, erläutert mögliche Übersetzungen, Ent‐ stellungen etc. Darin unterscheidet er sich merklich von Bartlett, der (ausweislich der dritten Ausgabe von 1858) ausschließlich auf Englisch zitiert und über den bloßen Wortlaut und die Quellenangabe hinaus kaum weitere Informationen mitteilt. Zumindest die Tatsache, dass das anderssprachige Zitat im 19. Jahrhundert eine gestei‐ gerte bildungswie kulturpolitische Wertigkeit hat, lässt sich an der Verbreitung anders‐ sprachiger Motti wie auch an den populären Zitatensammlungen unmittelbar ablesen. Zudem deutet sich an, dass das anderssprachige Motto als eine Art Index allgemeinerer ästhetischer oder formaler Entlehnungsbewegungen über Sprachgrenzen hinweg gelesen werden kann. Darin erschöpft sich das anderssprachige literarische Zitieren allerdings nicht. Insbesondere im realistischen Roman wird - und zwar im Grunde bis heute -, unter Vorschützen eines »Anlass[es] […], etwa eine[r] bestimmte[n] ästhetische[n] oder senti‐ mentale[n] Vorliebe der Protagonisten oder des Erzählers« (Helmich, Ästhetik der Mehr‐ sprachigkeit, 546), dem Zitat oft die Funktion zugemessen, den Kontakt zur literarischen Tradition herzustellen. Spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird bei‐ Till Dembeck 202 <?page no="203"?> spielsweise im deutschsprachigen Raum, aber nicht nur hier, die Praxis des Bildungszitats selbst zum Gegenstand auch durchaus subversiver Darstellungen, etwa bei Raabe (siehe unten Anwendungs-/ Analysebeispiel 1); Zitate bzw. Zitatkonstellationen können überdies, wie Meyer an Texten Theodor Fontanes nachgewiesen hat, strukturbildend sein, d. h., als ›heimliche Motivation‹ für den Fortgang der Handlung gelesen werden (Meyer, Das Zitat in der Erzählkunst, 170 f.; zum Zitat bei Fontane siehe auch Grätz, »›Four o clock tea‹ […]«). Hier ergibt sich aus dem Bezug auf die literarische Tradition eine ästhetische Überformung der realistischen Darstellung. Die spezifische Funktion von Anderssprachigkeit für den zitierenden Anschluss an die Tradition wäre zwar erst noch im Einzelnen zu ergründen. Eine Vermutung kann aber vielleicht schon in Anlehnung an eine Formulierung von Böhm geäußert werden, dessen Untersuchung über das Motto in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts u. a. den Typus des »orphischen Mottos« (Böhm, Das Motto in der engli‐ schen Literatur des 19. Jahrhunderts, 156) aufführt, also eines Mottos, dessen Verhältnis zum Haupttext zunächst rätselhaft ist. Denn im Grunde schreibt jedes Zitat bzw. jede Konstel‐ lation von Zitaten dem Text ein ihm potentiell fremdes Strukturprinzip ein. Dies wirft immer schon die Frage nach der spezifischen Natur der Beziehung zwischen zitiertem und zitierendem Text, zwischen ›eigenem‹ und ›fremdem‹ Sprechen auf. Gerade die Anders‐ sprachigkeit von Zitaten mag, zumindest seitdem sich eine Ästhetik der Originalität durch‐ gesetzt hat, als Mittel zur pointierten Vergegenwärtigung dieser Frage gedient haben. Für die Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts konstatiert die Zitatforschung ein‐ hellig das Aufkommen einer neuartigen Konstellation von Zitat und zitierendem Text: die Montage. Der Begriff der Montage indiziert in erster Linie eine verminderte Integrations‐ leistung - oder auch: eine verminderte Integrationsbereitschaft - des zitierenden Texts: Zitate werden nicht (mehr) so in die syntaktische, semantische, darstellerische, argumen‐ tative Struktur des zitierenden Textes eingefügt, dass sich auf all diesen Ebenen eine mög‐ lichst große Kohärenz ergäbe. Vielmehr führt der bewusste Verzicht auf die Kohärenzstif‐ tung dazu, dass Zitatmaterial aus unterschiedlichen Kontexten mehr oder weniger unvermittelt nebeneinander zu stehen kommt. In der Forschung ist dieses Verfahren als spezifisch modern ausgewiesen worden, als eine Wendung gegen das ästhetische Ideal des organisierten (organischen) Kunstwerks, das noch der Literatur des Realismus unterstellt werden konnte. Im montierten Kunstwerk, so Volker Klotz, sind Zitate »mehr als nur me‐ trische, fremdsprachliche, stilistische Fremdkörper. Sie verkörpern externe, importierte Äußerungen, die ins Gedicht stoßen, um es mit abwesenden Lebensbezirken zu verklinken« (Klotz, »Zitat und Montage«, 261). Als paradigmatische literarische Werke, die einer sol‐ chen Ästhetik der Montage gehorchen, können Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929) und natürlich James Joyce’ Ulysses (1922) gelten sowie auf dem Gebiet der Lyrik viele Arbeiten aus dem Kontext des Dada. Es liegt auf der Hand, dass Texte, die einer Poetik der Montage gehorchen, eine deutlich größere Bereitschaft dazu an den Tag legen werden, anderssprachige Zitate im Original anzuführen. Das wird am Ulysses augenfällig, der eine sehr hohe Zahl anderssprachiger Zitate aus dem Lateinischen, Deutschen, Französischen, Italienischen usw. aufweist. Ähnliches gilt für die Werke von Ezra Pound und T. S. Eliot, die auf dem Gebiet der Lyrik die wohl prominentesten Beispiele für die montageartige Zitation anderssprachiger (literarischer) Quellen sind. So haben etwa in Eliots The Waste Land (1922) die in den Text eingefügten »Sprach- und Stilechos der toten Autoren« der Forschung zu‐ III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 203 <?page no="204"?> folge die Funktion, »[a]lles Vergangene […] gleichzeitig in die Anwesenheit zu rufen und zur gegenwärtigen Geltung zu bringen« (Hillgärtner, »Das Zitat in T. S. Eliots Waste Land«, 113; siehe auch das Anwendungs-/ Analysebeispiel 2 in V.1). Dem ist allerdings hin‐ zuzufügen, dass Eliots Langgedicht die Tradition zugleich vergegenwärtigt und auf Abstand hält: Noch Eliots eigene Erläuterung nicht zuletzt der anderssprachigen Zitate in den An‐ merkungen, die er der Buchausgabe des Waste Land beigefügt hat, lassen sich nicht nur teils ironisch lesen, sondern tragen ohnehin allenfalls mittelbar zur Erschließung der Ver‐ bindung bei, die Zitate und zitierender Text eingehen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich, soweit dies auf der Grundlage der bestehenden Forschung abgeschätzt werden kann, eine Fortschreibung wie auch eine Ra‐ dikalisierung der bereits entwickelten Verfahren der anderssprachigen Zitation feststellen. Wichtige Hinweise hierzu gibt vor allem die Arbeit von Werner Helmich. Für den franzö‐ sischen Sprachraum gelten ihm insbesondere Texte aus dem Umfeld der Autorengruppen Tel Quel und Oulipo als bemerkenswert. So ist den Romanen des französischen Tel Quel-Au‐ tors Philippe Sollers ein ausschweifender Umgang mit anderssprachigen Zitaten eigen. Sollers arbeitet mit der subversiven Verformung des Zitatmaterials, das gerne lateinischen theologischen Schriften entnommen ist (Helmich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 386-389) - etwa in der folgenden Parodie des Vaterunser: »mater nostra qui est in terra fiascoït voluptas tua« (zit. nach ebd., 389). Georges Perec, Mitglied von Oulipo seit 1967, zitiert in seinem Roman La vie mode d’emploi (1978) neben literarischen Texten eine Vielzahl von oft auch anderssprachigen »alltagsgeschichtliche[n] Auf- und Inschriften« (ebd., 357), die als »Zitat-Objekt[e]« und in ihrer Fremdartigkeit »blinde Motive aus einer nicht romanhaft geschlossenen Lebenswelt« (ebd., 358) darstellen. Maurice Roches Romane Compact (1966) und Circus (1972) bestehen zu sehr großen Anteilen aus Zitatmontagen, die unterschied‐ lichste Quellen wie Sprachen einbegreifen, ohne dass sie notwendigerweise erzählerisch (oder sonst durch den darstellerischen Kontext) integriert würden (ebd., 382-386). Helmich hat in Roches clusterförmigen Zitatanordnungen immerhin eine gewisse Homogenität des jeweils evozierten »Bildfeld[s]« (ebd., 383) ausgemacht und deutet die anderssprachigen Zitate als Teil einer Strategie, die Entlarvung der »Sprachgüter der großen Kulturnationen als Ideologie« mit dem Ausdruck einer ungehemmten »Lust an der Vielfalt der Sprachen, Schriften und Zeichen« (ebd., 386) zu verbinden. Im deutschsprachigen Raum nennt Hel‐ mich als herausragenden Autor Arno Schmidt, der seine Romane mit einem dichten Gewebe aus oft anderssprachigen Zitaten überzieht und zu dessen bevorzugten Referenzautoren nicht zufällig James Joyce zählt. In Abend mit Goldrand (1975) greift (wie auch in anderen Texten Schmidts) die Zitathaftigkeit der Rede des (gebildeten) Ich-Erzählers auf die Rede der anderen Figuren über - gegen jede darstellerische Wahrscheinlichkeit. Diese »Inter‐ textualitätspoetik« baut auf dem Bewusstsein auf, dass »letztlich alles Zitat ist« (ebd., 414-418, hier 418). In der italienischen Literatur sind, neben den Romanen Umberto Ecos, vor allem die Werke Edoardo Sanguinetis von anderssprachigem Zitieren geprägt (ebd., 199-203 sowie 495-500). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist schließlich erneut die antike Tradition des Cento aufgegriffen worden; Helmich nennt als Beispiel einen pol‐ nisch-deutsch-englisch-französisch-italienischsprachigen Cento von Konstanty Jeleński von 1986 (ebd., 52) und Bernardo Schiavettas mehrsprachigen »Lyrik-Generator«, der einen Till Dembeck 204 <?page no="205"?> »prinzipiell unbegrenzt erweiterbaren Cento aus lauter Zitaten in echten und erfundenen Sprachen« (ebd., 526) erzeugt. Eine entscheidende Rolle spielt das anderssprachige Zitat schließlich in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Pop seit den 1970er Jahren, die sich insgesamt durch ein hohes Maß an Zitathaftigkeit sowie die Anwendung von Montagetechniken auszeichnet. Im deut‐ schen Sprachraum ist hier zunächst an Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann zu denken, dessen Texte die Nähe zu Pop-Art wie Pop-Musik suchen und, beispielsweise in den Rom-Gedichten in Westwärts 1&2 (1975), die präzise Beobachtung und Wahrnehmung des großstädtischen Lebensraums mit Ausschnitten von Zitaten aus Alltagstexten und -auf‐ schriften verbinden (Dembeck, »›No pasaran‹«, 25-36). Auch spätere Texte aus dieser Tra‐ ditionslinie zeichnen sich durch intensive Zitathaftigkeit aus, beispielsweise seit den 1980er Jahren diejenigen von Rainald Goetz oder Thomas Meinecke, die sich beide auf die jeweils aktuelle Theorielandschaft ebenso ausgiebig beziehen wie auf Pop-Musik und die dabei anderssprachige (meist englischsprachige) Quellen ausführlich zu Wort kommen lassen. Klaus Modick, der als »Popliterat avant la lettre« (Parr, »Vom Lesen und Schreiben und Leben«) bezeichnet worden ist, integriert in seine Erzählung »Am Parktor« von 1989 über 80 Zitate aus in den 1960er und 1970er Jahren populären Songs, die dem Erzählen einen dichten gegenwartskulturellen Konnotationsteppich unterlegen (ebd.). Ebenso wie die wiederum jüngere Generation von Popliteraten um Benjamin von Stuckrad-Barre (siehe unten Anwendungs-/ Analysebeispiel 3) oder Christian Kracht wird man Goetz, Meinecke und Modick ein klares Bewusstsein dafür unterstellen können, dass jeder Zugriff auf Wirk‐ lichkeit und auf die im Pop beschworene Gegenwart immer schon zitathaft vermittelt ist und dass sich insbesondere individuelle Identität durch die Selektion aus zitierbarem Ma‐ terial konstituiert. Es wäre allerdings noch zu beschreiben, welche kulturpolitische Rele‐ vanz die Auswahl anderssprachigen Zitatmaterials im Zusammenhang von Pop hat. c) Forschungsgeschichte Philologie ist von jeher Zitatkunde. Daher ist die Theorie der Philologie immer auch schon eine implizite Theorie des Zitats; und vielleicht ist deswegen die Zahl der expliziten Zitat‐ theorien so bemerkenswert gering. Die Gruppe der bedeutenden Theoretiker des Zitats ist entsprechend klein, und fast keiner der einschlägigen Texte macht sich ausführlich Ge‐ danken über anderssprachige Zitate. Dies verwundert insofern, als neben dem Verweis auf einen anderen Text fast durchgängig ein gewisser Grad der Genauigkeit in der Wiederho‐ lung des Wortlauts dieses Textes als Definiens des Zitats ausgemacht wird. Die wörtliche Integration anderssprachigen Materials erzeugt immer eine interpretationsbedürftige Spannung im zitierenden Text, während umgekehrt die Zitation von Übersetzungen bzw. die übersetzende Zitation daraufhin befragt werden muss, inwiefern sie überhaupt wörtlich sein kann. Für die Beschreibung der Doppelstruktur des Zitats, die auch hier zugrundegelegt wird, existieren in der Forschung unterschiedliche terminologische Vorschläge. Compagnon, dessen Buch nach wie vor einen zentralen Referenztext der Zitatforschung darstellt, bettet seine Theorie des Zitats in eine allgemeine Theorie der sprachlichen Wiederholung ein und bestimmt das Zitat als eine auf die parole bzw. den discours (in der Terminologie von Émile III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 205 <?page no="206"?> Benveniste) bezogene Wiederholung (Compagnon, La seconde main, 49-92). Dies impliziert, auch wenn Compagnon das nicht direkt so ausführt, eine gewisse Verweisfunktion der Wiederholung, denn als Funktion der parole bezieht sich die zitathafte Wiederholung per definitionem auf einen konkreten Äußerungskontext. Peter Horst Neumann hat in einem kurzen Aufsatz mit Vorüberlegungen zu einer Theorie des Zitats »für das Verhältnis von Zitat-Objekt und Zitat-Medium eine Gleichzeitigkeit von Separation und Integration« ver‐ langt und daraus zwei Extremtypen des Zitats abgeleitet, bei denen dann entweder »die Trennung des Eigenen vom Fremden am deutlichsten oder […] deren Verschmelzung am innigsten ist«, was einerseits beim Motto, andererseits bei der Anspielung der Fall sei (Neumann, »Das Eigene und das Fremde«, 300). Antonsens Überlegungen zum Motto lassen sich damit insofern verbinden, als hier das Motto als »Insel im Text« ausgewiesen wird, das besonders offenherzig die »Signatur des Fremden« trägt (Antonsen, Text-Inseln, 49). Das Motto erweist sich so nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch aus systematischer Sicht insofern als potentiell privilegierter Ort der anderssprachigen Zitation, als es Fremd‐ heit nachgerade verlangt. Beim Motto ist, so ließe sich formulieren, die Gleichzeitigkeit von Wiederholung und Verweis besonders stark ausgeprägt, wie sie auch die Theoriebildung des englischspra‐ chigen Raums als charakteristisch hervorhebt. So unterscheidet die oben zitierte Studie von Kay über Zitate in der Troubadour-Lyrik zwischen »citation«, also Verweis, und »quota‐ tion«, d. h., wörtlicher Wiederholung (Kay, Parrots and Nightingales, 2). Gary Saul Morson wiederum differenziert zwischen der bloßen wörtlichen Wiederholung, die er als »extract« (Morson, The Words of Others, 80) bezeichnet, und dem eigentlichen Zitat, der »quotation«, für die charakteristisch ist, dass sie ›ein Original reproduziert‹ (»reproduce an original«) und zugleich performativ erneuert (»reenactment«; ebd., 79). Dadurch löst sich das Zitat, das laut Morson definitorisch schwer von anderen Formen der Wiederholung - »proverbs, sayings, clichés, and idioms« (ebd., 65) - zu unterscheiden ist, von seinem ursprünglichen Kontext ab und beginnt ein eigenständiges Dasein zu führen. Diese Verdoppelung des Zitats nennt Morson »twinning« (ebd., 84 f.); es ist dasjenige Strukturmoment, das den Zitaten die sprichwörtlichen Flügel verleiht. Morson betont, dass sich ›quotations‹ notwendiger‐ weise in der Benutzung verändern. Diese Veränderung ist für ihn nachgerade das Kriterium dafür, dass aus einem bloßen ›extract‹ eine ›quotation‹ wird (ebd., 92-113). Einen der un‐ terschiedlichen Freiheitsgrade, die sich aus dieser notwendigen Offenheit für Verände‐ rungen ergeben, bezeichnet Morson als »translator’s range« (ebd., 101 f.; vgl. zur »tran‐ scriber’s range« 105-108). Das Zitieren aus anderssprachigen Texten in Übersetzung stellt demzufolge eine spezifische Form der Abweichung vom Wortlaut dar. Daraus ergibt sich die bislang offene Frage, ob, und wenn ja, wie Literatur diese ›translator’s range‹ strategisch nutzt. Die (post-)strukturalistische Theorie hat sich in unterschiedlichen Zusammenhängen mehr oder weniger ausführlich mit dem Zitat auseinandergesetzt. Auch hier steht das an‐ derssprachige Zitat keinesfalls im Mittelpunkt des Interesses. Dennoch lassen sich den Texten durchaus einige Fingerzeige entnehmen. So hat Jacques Derrida in seiner Ausei‐ nandersetzung mit der Sprechakttheorie J. L. Austins die prinzipielle Zitierbarkeit zur Vo‐ raussetzung der Konstitution von Sprachzeichen gemacht - und zugleich gezeigt, dass es gerade aufgrund dieser Zitierbarkeit (oder allgemeiner: Wiederholbarkeit, iterabilité) un‐ Till Dembeck 206 <?page no="207"?> möglich ist, eine fixe Bestimmung ihrer Bedeutsamkeit vorzunehmen (Derrida, »Signatur, Ereignis, Kontext«). Dieses Argument hat Konsequenzen auch für die Bestimmung der Sprachigkeit der Zeichen, also den Grad ihrer Zugehörigkeit zu einer (fest umrissenen) langue. Denn die für das Funktionieren sprachlicher Zeichen grundlegende Möglichkeit, in anderen Kontexten benutzt zu werden, macht an Sprachgrenzen keinen Halt. Gerade darin besteht die theoretische Relevanz des anderssprachigen Zitats. Michael Holquist hat darauf hingewiesen, dass bereits Michail M. Bachtins Begriff der разноречие (›Redevielfalt‹, ›he‐ teroglossia‹), also die Eigenschaft aller Wörter, in ihrer Bedeutung grundsätzlich von dem konkreten Kontext abhängig zu sein, eine strikte Wendung gegen das Konzept der langue impliziert (Holquist, »What Would Bakhtin Do? «, ein entscheidender Bezugstext ist Bachtin, »Das Wort im Roman«). Bachtins Überlegungen, die auch die Grundlage für Julia Kristevas Prägung des Begriffs der Intertextualität gewesen sind, könnten dazu benutzt werden, gerade dem Zitat, und sei es in seinen Minimalformen, das Potential zuzuschreiben, auf dem Wege der Wiederholung von parole/ discours jede Grenze von Sprachigkeit/ langue merklich oder unmerklich zu überwinden. Dubravka Oraić Tolić hat in einer vielbeachteten Monographie im Rückgriff auf Bachtin und Kristeva den Begriff der »Zitathaftigkeit« (kroat. »citatnost«) (Oraić Tolić, Das Zitat in Literatur und Kunst, 19) geprägt, der »jene intertextuelle Beziehung« bezeichnet, »die sich über das Prinzip der Übereinstimmung oder der Äquivalenz zwischen dem eigenen und dem fremden Text vermittelt« (ebd., 29). Oraić Tolić erwähnt an einer Stelle das Vor‐ kommen von »interlingualen Zitaten« (ebd., 42), ohne allerdings weiter auf die Charakte‐ ristik eines solchen Zitierens einzugehen. Interessanter dürfte für die weitere Erforschung des anderssprachigen Zitats etwa ihre Unterscheidung zwischen einer »organischen, ge‐ schlossenen Komposition« auf der einen und einer »offenen, montagehaften Konstruktion« (ebd., 69) auf der anderen Seite sein, die zwei Extremformen der Einbindung von zitiertem Text in den zitierenden Text bezeichnen. Oraić Tolić zeigt auf, dass das erste Verfahren (vergangene) Kultur als » SCHATZKAMMER « (ebd., 70) betrachtet, während das zweite von einer » TABULA RASA « (ebd., 71) ausgeht, also davon, gänzlich frei über die Tradition verfügen und sie zitierend von ihren Ursprüngen ganz ablösen zu können. Dabei schreibt sie das zweite Verfahren vor allem den europäischen Avantgarden zu. Die Unterscheidung könnte insofern für die Erforschung des anderssprachigen Zitats von Interesse sein, als die Entscheidung über die Übersetzung oder Nicht-Übersetzung in Abhängigkeit vom kultur‐ politischen Stellenwert der Originalsprache sehr unterschiedliche Auswirkungen haben kann. So unterscheidet sich etwa die Einbindung von anderssprachigen Bildungszitaten im realistischen Roman gerade in darstellungstechnischer Hinsicht stark von derjenigen in Joyce’ Ulysses. In der Tat unterhält dieser Text ein gänzlich anderes Verhältnis zur Tradition, als es die realistischen Texte tun. In beiden Fällen wird man aber genauer zu bestimmen haben, inwiefern die zitierte Tradition in ihrer Bindungskraft (›Schatzkammer‹) und in‐ wiefern sie in ihrer freien Verfügbarkeit fokussiert wird. In beiden Fällen wird, wenn auch je anders, grundsätzlich beides der Fall sein. Mit Blick auf die kulturelle Wertigkeit von Zitaten unterscheidet Oraić Tolić zwei Funk‐ tionen, die ein zitathafter Text haben kann, nämlich diejenige der »Repräsentation des fremden Textes und der fremden Kultur« von derjenigen der »Präsentation seiner selbst und seiner Kultur« (ebd., 73). Sicherlich ist der Kulturbegriff, der diesen Formulierungen III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 207 <?page no="208"?> zugrundeliegt, angreifbar. Allerdings wird man davon ausgehen können, dass die Zitation anderssprachiger Quellen in Abhängigkeit davon, wie sie erfolgt, mit Blick auf die ihr po‐ tentiell innewohnende Konfiguration von Kulturdifferenz hin untersucht werden kann und muss. In dieser Hinsicht ließe sich auch Elke Sturm-Trigonakis’ Hinweis darauf verstehen, dass »Transtextualität« ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit darstellen dürfte (Sturm-Trigonakis, Global Playing, 139). Ob allerdings der einzige Effekt solcher Transtextualität, also der Bezugnahme auf anderssprachige Texte, in der »Entkanonisierung« (ebd., 155), also der Auflösung bestehender Kanones, besteht, darf insofern bezweifelt werden, als das Zitieren grundsätzlich der (wenn auch womöglich alternativen) Kanonbildung zuarbeitet. So ließe sich beispielsweise für den Gebrauch fremdsprachiger Zitate in Tageszeitungen zeigen, dass sie eine eigene Form von Kanoni‐ sierung darstellen, wenn dieser Kanon auch einer des Gebrauchs und nicht der literaräs‐ thetischen Wertung ist. Ähnliches gilt für das Zitieren von (beispielsweise englischspra‐ chigen) Songtexten in der (beispielsweise deutschsprachigen) Popliteratur bei Klaus Modick, Benjamin von Stuckrad-Barre und Rainald Goetz. In literaturhistorischer Hinsicht findet sich eine große Fülle von Studien, die auf einzelne anderssprachige Zitate eingehen, was sich allein schon daraus erklärt, dass die Erläuterung solcher Zitate eine der vordringlichsten Aufgaben des Stellenkommentars ist. Fallweise mag dabei auch über die Entscheidung, den Text entweder im Original oder in Übersetzung wiederzugeben, nachgedacht werden. Es scheint allerdings bislang durchaus an Versuchen zu mangeln, diese Entscheidung zur Grundlage literaturhistorischer Darstellungen zu ma‐ chen. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung stellt die sehr umfassende und material‐ reiche Studie von Helmich dar, die sich dem Sprachwechsel in der neueren romanischen und deutschen Literatur widmet und die mehr oder weniger systematisch auch anders‐ sprachige Zitate untersucht. Helmich beschreibt die »umfassende Bedeutung des fremd‐ sprachigen Zitats als […] Evokation der Welt der Literatur« (ebd., 37). Damit ist offenbar einerseits die »literarisch[e] Sonderwelt« (ebd., 40) im Unterschied zu anderen (kulturellen oder gesellschaftlichen) Welten gemeint, andererseits aber auch ›Welt‹ im Sinne des Ge‐ samthorizonts menschlicher Sprachlichkeit wie Sprachigkeit. In systematischer Hinsicht bietet Helmich - neben der Vermutung, es falle Autoren zuweilen durch Zitate leichter, auf grammatisch korrekte Art und Weise andere Sprachen erscheinen zu lassen (ebd., 547) - im Sachregister seines Buches noch weitere begriffliche Differenzierungen: »Bibelzitat; Bildungszitat; Literaturzitat; Pseudozitat; Verehrungszitat«, das »Zitat […] als Erzähler- oder Figurenrede«, das »Zitat […] als Generator der Diegese«, die »Zitatentstellung« und die »Zitatmischung aus fremdsprachigen Quelltexten« (ebd., 633). Darauf muss die zu‐ künftige Forschung erst noch aufbauen. d) Anwendungs-/ Analysebeispiele (1) Wilhelm Raabes 1876 erschienene Erzählung Horacker ist, wie viele andere Texte des Autors, gespickt mit einer Vielzahl von (literarischen) Zitaten, überwiegend aus dem La‐ teinischen und Deutschen. Überdies handelt es sich aber um einen Text, der das Zitat und das Zitieren wie auch den Stellenwert der humanistischen Erziehung auf vielfache Art zum Thema macht. Dabei wird das Zitat mit dem Gerücht in Verbindung gesetzt. Till Dembeck 208 <?page no="209"?> 67 Wilhelm Raabe, »Horacker«, in: Ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Karl Hoppe, Bd. 12, Göttingen 1969, S. 291-454, hier S. 314. 68 Zu diesen Interpretationsansätzen und ihren Vertretern in der Forschung siehe Ralf Simon, »›Ho‐ racker‹«, in: Dirk Göttsche/ Florian Krobb/ Rolf Parr (Hrsg.), Raabe-Handbuch. Leben - Werk - Wir‐ kung, Stuttgart 2016, S. 176-180. Die Geschichte, die erzählt wird, ist im Grunde sehr einfach: Zwei Lehrer, Eckerbusch (Latein) und Windwebel (Zeichnen), überreden bei einer Wanderung von ihrer Stadt durch den Wald zum Haus eines befreundeten Pfarrerehepaars den seiner Besserungsanstalt ent‐ flohenen Cord Horacker dazu, sich zu dem Pfarrer seines Heimatdorfes zu begeben, wo er auf seine - ihrerseits ihrer Herrschaft entflohene - Jugendliebe Lotte Achterhang trifft. Dramatik gewinnt die Erzählung aber dadurch, dass über Horacker schlimme Gerüchte im Umlauf sind, die von den Zeitungen weiterverbreitet werden und ihn zu einem Mörder und Räuber stilisieren; Nachrichten, die auch der Anlass dafür sind, dass Lotte ihre Herrschaft verlässt. Erste Erzählungen vom Treffen der Lehrer mit Horacker wachsen sich in der Stadt zu dem Gerücht aus, Horacker habe die beiden ermordet, was auch deren Gattinnen in Bewegung setzt, so dass sich letztlich das gesamte Personal der Erzählung im Pfarrhaus zusammenfindet. Der Text übt ganz offenkundig Medienkritik, nämlich insofern gerade den Zeitungen und ihrem neuen Hilfsmedium, dem Telegraphen, ein verantwortungsloser Umgang mit Gerüchten unterstellt wird; darin liegt auch eine Kritik an der deutschnationalen Bewegung zur Zeit der Handlung (zwischen dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 und dem deutsch-französischen Krieg 1870/ 71) wie auch der Publikation (1876, also fünf Jahre nach Reichsgründung). Die Deutschnationalen sind in der Erzählung durch den bornierten Leh‐ rerkollegen Neubauer vertreten, der in seiner Freizeit eine »Sechsundsechsiade« 67 in He‐ xametern verfasst. Der Vorwurf an den deutschen Nationalismus ließe sich vielleicht da‐ hingehend zuspitzen, dass dieser durch die mediale Manipulation der öffentlichen Meinung die Bevölkerung auf eine Art und Weise in Bewegung setzen will, die strukturell der Funk‐ tionsweise des Gerüchts kongruent ist. Schließlich stellt der Text eine Auseinandersetzung mit der Idylle dar, verstanden sowohl als literarisches Genre wie auch als Lebensform. Man könnte die humoristisch-resignierte Volte des Textes darin sehen, dass in der Einsicht in die Unzulänglichkeit der eigenen Urteilskraft und der eigenen moralischen Integrität zu‐ mindest die Chance liegt, dem überwältigenden Druck der im Text immer bewusst gehal‐ tenen, alles beeinflussenden Großwetterlagen der modernen (politischen) Welt zum Trotz eine, allerdings immer prekäre und instabil bleibende, Sphäre von Geborgenheit zu er‐ zeugen. 68 Raabes Erzählung weist eine sehr hohe Dichte an Anspielungen und Zitaten auf, und eine Vielzahl von ihnen hat mit Anderssprachigkeit zu tun. Im Kommentar der Braun‐ schweiger Ausgabe von Hans Butzmann und Hans Oppermann finden sich Erläuterungen zu 11 klassischen, lateinischen Zitaten, 13 Anspielungen auf die klassische Antike oder klassisch-antike Texte, 29 sonstigen lateinischen oder griechischen Formulierungen, die allerdings größtenteils den Charakter von ›geflügelten Worten‹ haben, und 31 sonstigen III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 209 <?page no="210"?> 69 Raabe, »Horacker«, S. 550-555. Allgemeine statistische Informationen zum Zitat bei Raabe finden sich bei Walther Scharrer, Wilhelm Raabes literarische Symbolik dargestellt an Prinzessin Fisch, Mün‐ chen 1927, S. 27-39. 70 Raabe, »Horacker«, S. 363. 71 Ebd., S. 312. 72 Siehe den Kommentar, ebd., S. 551; zur Deutung siehe Thomas Althaus, »Literatur bis zur Aufklä‐ rung«, in: Dirk Göttsche/ Florian Krobb/ Rolf Parr (Hrsg.), Raabe-Handbuch. Leben - Werk - Wir‐ kung, Stuttgart 2016, S. 327-332, hier S. 329, allgemein zum Zitieren im »Horacker« S. 329 f. (literarischen) Zitaten und Anspielungen. 69 Teils sind diese in die Figurenrede integriert, teils benutzt sie auch der Erzähler selbst. Dabei ist für die unterschiedlichen Gruppierungen, die in der Geschichte aufeinandertreffen, ein jeweils unterschiedlicher Umgang mit dem Zitat und mit der Anderssprachigkeit charakteristisch. Besonders der Lateinlehrer Eckerbusch, in geringerem Maße sein Kollege Windwebel sowie der Pfarrer, greifen routinemäßig auf klassische Zitate zurück, die zu einem nicht geringen Teil zugleich auch geflügelte Worte im Sinne Büchmanns, nämlich Konversati‐ onswissen über Sprachgrenzen hinweg sind. Das Zitat ist hier das Universalmedium der humoristischen Bewältigung des Lebens. So zeigt sich Windwebel, als er sich in einer schwierigen Situation befindet und auf ein Schiller-Gedicht anspielt, »durch das Zitat we‐ nigstens als ein klassisch gebildeter Mensch in seiner Ratlosigkeit«. 70 Und Eckerbusch er‐ zählt seinem Kollegen Windwebel folgendermaßen von der Verlobung mit seiner Frau Ida: Sie haben […] manche schöne Stelle kennengelernt, lieber Freund; was mich anbetrifft, so habe ich in keinem Klassiker eine schönere als diese hier ausfindig gemacht. Stellen Sie’s sich nur vor; da, wo Sie stehen, stand ich auch einmal, und hier, wo ich sitze, saß meine nunmehrige langjährige Proceleusmatica [Ida]. ›Aura veni! ‹ rief ich; denn es war ein sehr schwüler Sommerabend und ein kühlendes Lüftchen höchst erwünscht. Aber was sagte meine Prokris - nein, ich will doch lieber sagen meine Ida? ›O Gott, Herr Kollaborator - lieber Werner, ist es denn wirklich und wahrhaftig dein Ernst? Nun dann habe ich auch nichts dagegen! ‹… Und, Windwebel, so purzelten wir aus den ›Metamorphosen‹ nach Gottes Willen mitten hinein in die ›Ars amatoria‹ und gingen hinunter in die Stadt und sagten es den Eltern. 71 Eckerbusch zitiert hier, angesichts der Hitze, aber wohl auch aus Aufregung, aus Ovids Metamorphosen den Satz des Cephalos, ›Aura veni! ‹, wörtlich: ›Luft, komm! ‹, Ida aber missversteht dies als Versuch eines Heiratsantrags - und hat damit Eckerbuschs Intention wohl korrekt erfasst. Die Ironie des Zitats besteht nicht zuletzt darin, dass bei Ovid die Frau des Kephalos, Procris, das Wort ›Aura‹ ebenfalls missversteht - allerdings mit weniger glücklichen Folgen, denn sie vermutet darin den Namen einer Nebenbuhlerin. 72 Sämtliche Vertreter der ›alten‹, vor-nationalistischen, humanistischen Tradition in der Erzählung benutzen ihre Zitate im Bewusstsein der unhintergehbaren historischen Diffe‐ renz, die diese Episode paradigmatisch vor Augen führt: Angesichts der Kontingenz des Lebens und zumal des medial gesteigerten Bewusstseins dafür, einem dynamisierten Welt‐ geschehen unterworfen zu sein, kann der Rückgriff auf die Tradition immer nur eine scheinbare Rückversicherung darstellen, und es hängt viel davon ab, sich diese Scheinhaf‐ tigkeit bewusst zu halten. Den umgekehrten Fall, nämlich den gänzlich humorlosen und ironiefreien Rückbezug auf die Tradition mit dem Ziel der systematischen Absicherung der Till Dembeck 210 <?page no="211"?> 73 Raabe, »Horacker«, S. 383. 74 Ebd., S. 448. 75 Ebd., S. 433. 76 Ebd., S. 378. eigenen Position, verkörpert der deutschnational gesinnte Oberlehrer Neubauer. Dass seine ›Sechsundsechsiade‹ ausgerechnet in Hexametern verfasst ist, zeigt, dass die ›neue‹ Ge‐ neration keineswegs auf Tradition verzichtet, sondern nur anders über sie zu verfügen sucht. Der Text weist aber subtil darauf hin, dass die souveräne Form, die hier gesucht wird, einer letztlich gewalttätigen Identitätspolitik gehorcht - wenn etwa Neubauer vorgestellt wird, wie er »[d]en letzterzeugten Hexameter der Sechsundsechsiade auf der Rückfläche der linken Hand nachfinger[t] und das Wort Predsmirzitz nochmals nachkostend hinein‐ skandier[t]«. 73 Von Neubauer heißt es, er halte es für »die höchste Bildung«, wenn jemand »in jeder Lage und unter jeglichem Geschrei, Gewirr und Gewinsel das eigene Leben als eigenes Kunstwerk« ansehen und »den Faden in der Hand« behalten kann, »an welchem, sonderbarerweise, das Schicksal auch sie hält.« 74 Der inhumane Grundzug dieser Lebens‐ haltung offenbart sich in Neubauers Reaktion auf das Gerücht, seine Kollegen seien er‐ mordet worden. Auch wenn Neubauer das Gerücht kalt lässt, tut er nichts dafür, die Gattin Windwebels zu beruhigen - im Gegenteil. Eckerbuschs Gattin straft sein Verhalten auf einer anschließenden gemeinsamen Kutschfahrt nicht zuletzt mithilfe eines dem Gatten abge‐ lauschten gelehrten Zitats: »Qwusqwe abbuttereh Patienziam Catilinam? « 75 Wie Neubauer ist die gesamte ›alte‹ Generation, Ida Eckerbusch eingeschlossen, immun gegen das Gerücht. Sie ist in ihrer humoristischen Grundhaltung zugleich ein klein wenig korrupt. So fährt der Staatsanwalt, der ihr ebenfalls zuzurechnen ist, nur deshalb aus der Stadt ins Pfarrhaus, um den Gerüchten über die Ermordung der beiden Lehrer auf den Grund zu gehen, weil er vermutet, dort seine Tabakdose vergessen zu haben. Und der Pfarrer ist sehr interessiert daran, eine ihm von den Bauern seines Dorfs auf der Grundlage alter Dokumente nachgewiesene Verpflichtung loszuwerden. Hier macht sich eine gewisse Nei‐ gung dazu bemerkbar, eigenmächtig mit der Überlieferung umzugehen, auf die man sich zugleich beruft - als rechtfertigte die Korrumpiertheit der Tradition diesen seinerseits kor‐ rupten Zugriff auf sie. Keineswegs ist das humoristische Klassikerzitat also unschuldig, ja, es wird indirekt sogar die Philologie selbst als eine Spielart des Gerüchts, der wohl kor‐ ruptesten Art und Weise der Überlieferung, ausgewiesen: »Also«, heißt es an einer Stelle, »ging die grause Mär mit den dazugehörigen und daraus erwachsenden Kommentationen herum in dem in holdestem Abendsonnenschein daliegenden Städtchen.« 76 Was aber ist charakteristischer für humanistische Bildung als die Kombination aus Zitat und Kom‐ mentar - das Grundelement einer jeden Gerüchtebildung? Dennoch: Gegenüber der unmenschlichen Souveränität Neubauers und der Deutschna‐ tionalen bleibt der korrupte und manchmal vielleicht auch selbstgerechte, humoristische Zugriff auf die Tradition, wie ihn Eckerbusch und die Seinen verkörpern, zumindest in dieser Erzählung die sympathischere Variante der Bewältigung von Moderne. Vielleicht liegt das nur daran, dass sie auf einer ausgesprochen pessimistischen Lehre aus der Ge‐ schichte fußt: »Ach, die Welt ist eben ohne jegliche Rücksicht auf das Sittengesetz und die III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 211 <?page no="212"?> 77 Ebd., S. 344. 78 Paul Celan, Historisch-kritische Ausgabe, Abt. I: Lyrik und Prosa, Bd. 4.1: Von Schwelle zu Schwelle, hrsg. v. Holger Gehle, Frankfurt/ M. 2004, S. 59 f. Ästhetik ganz antiquarisch, d. h. vom Anfang an darauf gegründet, daß eine Spinne die andere frißt! « 77 (2) »No pasaran« - diese Worte finden sich, und zwar in eben dieser ›fehlerhaften‹ Form, also ohne Akzent auf der letzten Silbe von »pasaran«, in Celans berühmtem Gedicht »Schibboleth« aus Von Schwelle zu Schwelle (1955). 78 Das Zitieren der anti-faschistischen Parole aus dem Spanischen Bürgerkrieg hat handfeste politische Implikationen. Zugleich verweist der Titel des Gedichts auf eine Problematik der kulturellen Differenz, denn die Eigenart, das Wort »Schibboleth« nur so oder auch anders aussprechen zu können, offen‐ bart nach dem Buch der Richter (Ri 12, 5 f.) die kulturelle Identität eines Sprechers. Insofern mit dem Schibboleth zugleich die Redeweise der Lyrik selbst angesprochen ist, stellt das fehlerhafte, die Betonung des Wortes verändernde ›Spanisch‹ im ›deutschen‹ Gedicht eine unmittelbare Verbindung zwischen der lyrischen Form und den Politiken der kulturellen wie sprachlichen Differenz her. »Schibboleth« findet sich etwa in der Mitte des Zyklus »Inselhin«, der den Band Von Schwelle zu Schwelle abschließt. Schibboleth Mitsamt meinen Steinen, den großgeweinten hinter den Gittern, schleiften sie mich in die Mitte des Marktes, dorthin, wo die Fahne sich aufrollt, der ich keinerlei Eid schwor. Flöte, Doppelflöte der Nacht: denke der dunklen Zwillingsröte in Wien und Madrid. Setz deine Fahne auf Halbmast, Erinnrung. Auf Halbmast für heute und immer. Herz: gib dich auch hier zu erkennen, hier, in der Mitte des Marktes. Ruf ’s, das Schibboleth, hinaus Till Dembeck 212 <?page no="213"?> 79 Vgl. die Beschreibung der Funktionalität des Schibboleth bei Jacques Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan, Wien 3 2002 [1986], insbesondere S. 51 und 58. in die Fremde der Heimat: Februar. No pasaran. Einhorn: du weißt um die Steine, du weißt um die Wasser, komm, ich führ dich hinweg zu den Stimmen von Estremadura. Es handelt sich bei dem »No pasaran« um ein Losungswort, einen politischen Slogan, der dazu dient, sich als Verfechter eines politischen Programms zu erkennen zu geben. Es scheint so auch zunächst, anders als das »Schibboleth« im Buch der Richter, niemanden zu verraten. Die dargebotene Szene ist mit nur sehr wenigen Kontextinformationen bemer‐ kenswert klar zu rekonstruieren, dank der Anspielungen auf den »Februar« und auf »Wien und Madrid«. Die Monatsangabe verweist einerseits auf die letztlich erfolglosen sozialis‐ tischen Aufstände gegen die erstarkenden autoritären Bewegungen in Österreich im Fe‐ bruar 1934 und in Spanien im Februar 1936. Andererseits erinnert sie daran, dass das Franco-Regime am 13. Februar 1939 die Beteiligung am republikanischen Widerstand gegen die faschistische Bewegung, dessen Parole das »No pasarán« war, auch rückwirkend unter Todesstrafe stellte, was tausende Hinrichtungen zur Folge hatte. Es handelt sich bei dem Gedicht also klar um die Darstellung einer Hinrichtung. Das Losungswort, mit dem sich der Hinzurichtende »in der Mitte des Marktes« zu erkennen geben will, ist aber zugleich eine Behauptung; »no pasarán« besagt so viel wie ›sie [die Faschisten] werden nicht durch‐ kommen‹. Wenn auch die Feinde denken könnten, sie hätten diese Behauptung durch ihren Sieg widerlegt, versucht das Bekenntnis zu ihr, in den Moment der Niederlage, die in der Hinrichtung gipfelt, ein Moment von Selbstbehauptung einzuschreiben. Denn auf die Mög‐ lichkeit des Bekennens als solche haben die Feinde keinen Zugriff gewonnen - gerade dies aber muss ihnen uneinsichtig bleiben. Und in genau diesem Sinne ist »No pasaran« ein ›echtes‹ Schibboleth. Derrida hat darauf hingewiesen, dass das Wort ›Schibboleth‹ für die Möglichkeit einsteht, sprachlichen Differenzen, die scheinbar keine Bedeutung haben, den‐ noch Bedeutung zuzumessen. Damit ist das Schibboleth eben nicht mehr nur ein Kennzei‐ chen, an dem man sich verrät, sondern umgekehrt auch eine unmerkliche Nuance, in der sich etwas Signifikantes verbergen kann. 79 In Celans Gedicht ist die Behauptung, die das »No pasaran« aufstellt, wahr, wenn den Feinden, die es hören und auch hören sollen, den‐ noch diese entscheidende Nuance, auf die es aber gerade ankommt, unvernehmbar bleibt. Sie muss es aber bleiben, weil sie eine Form der persönlichen Unantastbarkeit verkörpert, an welche die Feinde nicht glauben. Insofern geraten die Feinde in diesem Gedicht in die Rolle der Ephraimiter: Sie sind unempfindlich für das Schibboleth - und verraten sich so. Das Schibboleth soll in diesem Gedicht also ein Wort sein, das sich dem Zugriff derjenigen entzieht, die um eines Wortmerkmals wegen willens sind zu töten. III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 213 <?page no="214"?> 80 Siehe ausführlich Dembeck, »›No pasaran‹«, S. 18-25. 81 Derrida, Schibboleth, S. 66. Die Gesamtanlage des Zyklus »Inselhin« legt es nahe, die Figur des Schibboleth, wie es Derrida tut, als Metapher für die hier entworfene Dichtung selbst zu lesen. Denn die Ge‐ dichte sind durchsetzt von Reflexionen auf das Wort und das Sprechen in seinem (buch‐ stäblichen) Bezug auf Leben und Tod, die aus einem dichten Bezugsgeflecht aus Motiven, Argumenten und Imperativen herausstechen. 80 Derrida hat die Doppeldeutigkeit des Schib‐ boleth als Erkennungszeichen sehr genau beschrieben: »Ob nun als Parole oder Losungs‐ wort im Kampf gegen Unterdrückung, Ausschließung, Faschismus, Rassismus, kann der differentielle Wert des Schibboleth umkippen ins Gegenteil, die Bedingung für Verbündung und Gedicht in diskriminierende Einschränkung, polizeistaatliche Methoden, Gleichschal‐ tung und Bespitzelung ausarten.« 81 Gegen den Versuch, das »No pasaran« (oder jedes an‐ dere Wort) als Erkennungsmerkmal festzulegen und so die Zugehörigkeit von Einzelnen zu einer Gruppe zu bestimmen, entwerfen »Schibboleth« und die Gedichte, die es um‐ rahmen, einen Umgang mit dem Erkennungswort, der es ermöglicht, jenseits jedes verall‐ gemeinernden Bekenntnisses das unzugängliche Singuläre des Einzelnen zu bergen. Der Zyklus »Inselhin« fordert so (sich selbst) zu einem poetischen Engagement jenseits be‐ kennender Festlegung auf, bei allen Risiken, welche die zwingende Wörtlichkeit dieses Engagements impliziert. Was bedeutet vor diesem Hintergrund die einfache Tatsache, dass »No pasaran« ein Zitat aus dem Spanischen ist? Zunächst ließe sich formulieren, dass der lyrische Text, will er rettendes, engagiertes Wort sein, sich gegen jede Festlegung verschließen muss, die eine ontologisierende Vereinnahmung mit sich bringen könnte. Dieser Zwang führt einerseits zu einer schattenhaften ›Hermetik‹, zu einer (sich) nicht festlegenden Redeweise, die dazu zwingt, Sinnstrukturen nur mehr aus den im Text vollzogenen Operationen der Bedeu‐ tungsverschiebung, -verzeichnung und -negation zu erschließen. Andererseits ergibt sich die Notwendigkeit, die poetische Form auf eine sehr spezifische Art zu handhaben. Das Gedicht bietet - auf den ersten Blick im Kontext des Zyklus ungewohnt - fast volkslied‐ hafte, klassisch-romantische, mehrheitlich daktylische Formen (dreihebig, nahezu durch‐ gängig zwei Senkungen, abwechselnd weibliche und männliche Kadenzen, bis auf den ersten Vers mit Auftakt). Dieser Rhythmus klingt in allen vorangehenden Gedichten immer wieder an, denn der Zyklus formt fast durchgängig flexibel Verszeilen nach dem Prinzip der Alternation mit ein oder zwei Senkungen, wobei die Doppelsenkungen entschieden zur Dynamik der Reihen beitragen. So ergibt sich eine an den Satzrhythmus angepasste, den‐ noch sehr sinnfällige Redeweise, die ebenso präzise wie unauffällige Sinnsegmentierungen durch die sehr variablen Versgrenzen vornimmt. Ein Effekt dieser Versbauweise ist, dass sich über die Versgrenzen hinweg immer wieder klassische längere Versmaße hören lassen, insbesondere Hexameter. Das ist gerade in »Schibboleth« der Fall - und darin liegt eine bestechende Konsequenz: Wenn das Gedicht zum erinnernden Bekenntnis im Zeichen des »No pasaran« aufruft, so ist es kein Zufall, wenn es hin und wieder in das epischste aller Versmaße fällt. Auch die vier Verse unmittelbar vor dem Vers, in dem das Schibboleth nam‐ haft gemacht wird, bilden zwei Hexameter, die folgende Versgruppe besteht ›fast‹ aus zwei weiteren - der erste umfasst nur fünf Versfüße, was dem Höreindruck aber kaum Abbruch Till Dembeck 214 <?page no="215"?> tut. Der Vers »Februar. No pasaran« selbst könnte sich als doppelter Choriambus ›sym‐ metrisch‹ dazwischen fügen; er stünde dann für sich im Gedicht, ragte aus der Erzählung davor und danach heraus; zugleich aber wäre er der in sich symmetrisch organisierte for‐ male Angelpunkt, um den sich das Gedicht in seinem epischen Tonfall drehte. Dieser in sich sehr stimmigen Deutung der metrischen Form des Gedichts steht nur ein Detail entgegen: Denn es fehlt sowohl in allen acht überlieferten Handschriften des Ge‐ dichts als auch in der Erstausgabe und weiteren Ausgaben der Akzent auf »pasarán«, der anzeigt, dass das Wort auf der letzten und nicht auf der vorletzten Silbe betont wird. Für die Deutung des Gedichts wird in diesem Moment die Frage entscheidend, ob es sich bei dem fehlenden Akzent um einen Fehler handelt oder um eine Figur, ob der ›Fehler‹ also gewollt und damit ein Stück weit kein Fehler mehr ist. Sobald diese Frage auftaucht, weiß man nicht mehr, ob und wie sich das Losungswort in die Gedichtlandschaft einfügt. Die Parole, die man zu kennen und zu verstehen meint, wird fremd gemacht, ihr wird eine Nuance vielleicht genommen oder vielleicht gegeben, die im Umgang mit dem riskanten Wort entscheidend sein könnte. Das Schibboleth, das rettendes Wort sein will, sich aber gerade deshalb nie wird festlegen dürfen, macht sich selbst im entscheidenden Moment unlesbar und torpediert so jene epische Erinnerung, zu der es zugleich anhält. Gegen die eindeutige Festlegung auf ein eindeutiges Merkmal markiert der Text an einer Stelle, wo er darauf aufmerksam macht, dass es auf dieses Merkmal gerade ankommt, seine Offenheit - er schließt sich in dieser Offenheit ab gegenüber dem festlegenden Zugriff: ›no pasarán‹! Er kann dies, weil der fremde Ton des anderssprachigen Zitats den Zweifel an seiner Fest‐ legbarkeit manifest werden lässt. (3) Soloalbum, der 1998 erschienene Debütroman von Benjamin von Stuckrad-Barre, enthält in großer Dichte Zitate von Songtiteln und/ oder -texten, die durchgängig im eng‐ lischen Original wiedergegeben werden. Die Zitate haben dabei einerseits diegetische Funktion, denn der Ich-Erzähler ist mit seinem ganzen Leben, insbesondere aber seinen Beziehungen, unmittelbar auf Popmusik bezogen und gibt großzügig Auskunft über seine Einstellungen zu unterschiedlichen Bands, Genres und deren jeweiligen Fans. Andererseits ist der Roman auf paratextueller Ebene durch anderssprachige Zitate strukturiert: Sämtliche Kapitelüberschriften sind Songtitel der britischen Band Oasis, oft solche, von denen dann auch irgendwo im Roman (aber immer in einem anderen Kapitel als dem mit dem jeweiligen Song überschriebenen) die Rede ist. Der Roman baut also paratextuell parallel zum Erzählen eine Playlist auf. Auch in der Aufmachung sucht das Buch die Nähe zum Format der Schall‐ platte: Es ist unterteilt in eine A- und eine B-Seite, und den Hintergrund des Inhaltsver‐ zeichnisses bildet die graue Kontur von zwei Schallplatten(seiten) bzw. CD s (vgl. dazu Parr, »Literatur als literarisches (Medien-)Leben«). Der Titel des Romans, Soloalbum, bezieht sich aber nicht nur auf dieses Format, sondern auch auf die nicht gewollte Trennung des Ich-Erzählers von seiner Freundin, die dem Er‐ zählten unmittelbar vorangegangen ist. Die Songtexte und -titel werden auf diese Weise mit der Bewältigung der Lebenskrise in Zusammenhang gebracht, so dass die Kapitelüber‐ schriften durch das jeweils Erzählte motiviert sind (»Don’t Look Back in Anger«, »It’s getting Better (Man! ! )«). Der ›Ton‹ des Erzählers verändert sich im Laufe des Erzählens. Gegen Ende weicht der fahrige, von Schimpftiraden und ausgiebigen, allseitigen Abnei‐ III. 3. Zitat und Anderssprachigkeit 215 <?page no="216"?> 82 Benjamin von Stuckrad-Barre, Soloalbum. Roman, Frankfurt/ M. 2001 (1998), S. 42-45. 83 Ebd., S. 219. 84 Ebd., S. 208. 85 Ebd., S. 216-218. gungsbekundungen geprägte Stil des Anfangs einer etwas ruhigeren, nur noch wenig Selbstmitleid zur Schau stellenden Schreibweise. Allerdings gilt es selbst bei dem Versuch einer oberflächlichen Inhaltsangabe zu be‐ denken, dass nahezu alles an und in diesem Text unter dem Verdacht stehen muss, ›nur‹ zitiert zu sein. Das Medienzitat (Buch als Schallplatte) und die Songzitate sind insofern nur die besonders gut sichtbaren Facetten einer Struktur, die für den Text insgesamt kenn‐ zeichnend ist. Der Erzähler ist ein Meister darin, die Klischee- und damit Zitathaftigkeit der Meinungen, Haltungen und Gesinnungen seiner Umgebung zu entlarven. Besonders ge‐ nüsslich betreibt er dies mit Blick auf ›Hippies‹, deren angeblich wohlmeinende und ›au‐ thentische‹ Gesinnung als Attitüde ausgewiesen wird. Die Phrasen- und Zitathaftigkeit der Medienwirklichkeit illustrieren nicht zuletzt eine Reihe von Katalogen, etwa die systema‐ tische Zusammenstellung der Redaktionskommentare zum Page-One-Girl der BILD -Zei‐ tung 82 oder die Zusammenstellung der Gründe, die Band Fury in the Slaughterhouse zu hassen, die sich nahezu alle als zum Zweck der Satire vorgeführte, klischeehafte Fan-Zu‐ schreibungen entpuppen. 83 Die sich hinter der Gesinnungsphrase verbergende Leere ver‐ anschaulicht das Resümee des Erzählers über die allgemeine Bestürzung anlässlich des Todes von Lady Di: »[D]ie Leute sind beim Heulen so froh, daß sie endlich mal wieder wissen, was sie fühlen sollen.« 84 Ein Erzähler wie der von Stuckrad-Barre konzipierte nimmt trotz seines geradezu zur Schau getragenen Distinktionsbedürfnisses keinerlei Authentizität für sich in Anspruch, sondern forciert bewusst die bei anderen (als unbewusst) kritisierten Mechanismen der Identitätskonstitution qua Zitat. Einer Frauenzeitschriftbeilage setzt er einen eigenen Ka‐ talog mit »Singles zum Verlieben« entgegen, der die Tracklists aller Oasis-Singles enthält. 85 Wenn nicht der Erzähler selbst, so doch der Roman macht die Wahl dessen, was zitiert wird, um sich affirmativ darauf zu beziehen, als kontingent kenntlich und baut insofern eine (selbst-)ironische Distanz auf. Dies gilt trotz des Pathos des Erzählers und auch trotz der Tatsache, dass er an seiner Umgebung ebenso leidet wie daran, sich selbst, d. h., den Kon‐ sequenzen seiner kontingenten, qua Zitat bewerkstelligten Identitäts(de)konstruktion nicht entkommen zu können (vgl. Parr, »Literatur als literarisches (Medien-)Leben«). Dass sich der Erzähler zur Konstitution seiner persönlichen Identität ausgerechnet auf Oasis bezieht, ist kein Zufall. Denn die Musik und mediale Inszenierung dieser Band zeichnen sich, wie Eckhard Schumacher betont, ihrerseits durch ein hohes Maß an Zitathaftigkeit aus, die hier paradoxerweise gerade dazu dient, die ewige Präsenz von ›Pop‹ erlebbar zu machen (Schu‐ macher, »›Be Here Now‹«). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Relevanz der Tatsache zuzu‐ schreiben ist, dass Oasis grundsätzlich im Original zitiert wird, bzw., ob es in irgendeiner Weise bedeutsam ist, dass eine Band im Zentrum des Romans steht, die auf Englisch singt und nicht auf Deutsch, der Hauptsprache des Romans. Natürlich spielt die kulturpolitische Konnotation des Englischen hierbei eine Rolle - England ist eben, wie der Erzähler sagt, Till Dembeck 216 <?page no="217"?> 86 Ebd., S. 185. 87 Ebd., S. 218. »Popland«. 86 Insofern verweisen die anderssprachigen Zitate darauf, dass Pop grundsätz‐ lich ›woanders‹ verortet werden muss, in einer ›Oase‹ gleichsam, in der ein andersartiges Erleben möglich ist. Das bedeutet aber nicht grundsätzlich, dass Pop nicht in die Vertraut‐ heit des Erzähleridioms übertragen werden kann. Gegen Ende des Romans gibt es eine Episode, in der genau dies getan wird: Die Gäste einer Party singen den Song »Three Lions (Football’s Coming Home)« von The Lightning Seeds 87 mit einem deutschen Text, der die ursprünglich anlässlich der Europameisterschaft in England 1996 geschriebene Heimkehr‐ hymne (der Fußball kehrt an seinen Ursprungsort zurück) auf den Bundesligisten Werder Bremen bezieht. Dem Erzähler gefällt das offenbar durchaus. Es gilt allerdings genau zu sehen, was gerade diese Übersetzung leistet: Sie nimmt die englische Anspruchsbekundung (›Fußball gehört uns‹) als ironische, also zugleich ernst und scherzhaft gemeinte Feier des Augenblicks (Europameisterschaft im eigenen Land) und eignet sie sich in ebenso ironi‐ scher Art und Weise an (immerhin hatte Deutschland die Europameisterschaft in England gewonnen). In diesem Falle wird also gerade die Übersetzung dem kulturpolitischen Im‐ petus des zitierten Texts gerecht und demonstriert, dass das ›Woanders‹ des Pop an keinen festen Ort gebunden sein kann. So rechtfertigt sich die Sprachwahl des Romans letztlich selbst. e) Offene Forschungsfragen Auch wenn in der Forschung zur literarischen Mehrsprachigkeit immer wieder auf an‐ derssprachige Zitate hingewiesen wird und einzelne Zitate untersucht werden, stellt das Phänomen doch in systematischer wie historischer Hinsicht eines der größten Desiderate der Mehrsprachigkeitsphilologie dar. Zweifelsfrei handelt es sich um die derzeit am we‐ nigsten beschriebene Technik literarischer Mehrsprachigkeit. Das grundlegende Problem des Gebiets besteht darin, dass zwar eine sehr große Menge an Einzelbeobachtungen zu anderssprachigen Zitaten in einzelnen Texten vorliegt, da ihre Erläuterung zu den Kern‐ aufgaben des philologischen Kommentars gehört. Fallweise mag es auch Beobachtungen zur Motivation der Wiedergabe im Original bzw. in der Übersetzung geben. Eine Systema‐ tisierung solcher Einzelbeobachtungen, mit denen man potentiell in jedem philologischen Beitrag rechnen kann, steht aber noch aus. Literatur Antonsen, Jan Erik, Text-Inseln. Studien zum Motto in der deutschen Literatur vom 17. bis 20. Jahrhun‐ dert, Würzburg 1998. Bachtin, Michail M., »Das Wort im Roman«, in: Ders., Die Ästhetik des Wortes, hrsg. v. Rainer Grübel, übers. v. Rainer Grübel/ Sabine Reese, Frankfurt/ M. 1979 [1934/ 1935], S. 154-300. Böhm, Rudolf, Das Motto in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, München 1975. Classen, Albrecht, »Multilingualism in Late-Medieval Poetry. A Case Study with Poetological Impli‐ cations«, in: Komparatistik. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Verglei‐ chende Literaturwissenschaft 1996, S. 44-69. III. 3. 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Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Weinheim 1987; Ulrich Ernst/ Oliver Ehlen/ Susanne Gramatzki (Hrsg.), Visuelle Poesie. Historische Dokumentation, theoretische Zeugnisse, Bd. 1: Von der Antike bis zum Barock, Berlin/ Boston 2012. 89 Frank Flöthmann, Grimms Märchen ohne Worte, Köln 2013; Alexandra Kardinar/ Volker Schlecht, E. T. A. Hoffmann, Das Fräulein von Scuderi, Frankfurt/ M./ Wien/ Zürich 2011. 4. Mehrschriftlichkeit Monika Schmitz-Emans a) Beschreibung des Verfahrens Das Stichwort Mehrschriftlichkeit kann (ähnlich wie Mehrsprachigkeit) auf kategorial Ver‐ schiedenes verweisen: auf Personen, die mehr als eine Schrift beherrschen und verwenden, auf Kommunikations- und Fixierungsprozesse, in denen mehr als eine Schrift zum Einsatz kommt, auf Texte, die in mehr als einer Schrift verfasst sind, sowie auf Textsammlungen (wie etwa Bücher), die Texte in unterschiedlichen Schriften enthalten. Zudem ist, bezogen auf literarische Werke, zu unterscheiden zwischen thematisierter (›erzählter‹) Mehrschrift‐ lichkeit (in Texten über mehrschriftliche Phänomene, über Wechsel zwischen Schriftsys‐ temen, über Transliterationsprozesse etc.) - und ›gezeigter‹ Mehrschriftlichkeit, also sichtbaren Kombinationen mehrerer Schriften innerhalb eines Werkes oder Textzusam‐ menhangs. Relevant für die unter Mehrschriftlichkeit subsumierten Phänomene ist vor allem, wie weit der zugrunde gelegte Schrift-Begriff gefasst wird. Da von ›Schrift‹ bezogen auf viel‐ fältige Formen der Graphie die Rede ist, stellt sich die Frage, was als (potenzieller) Be‐ standteil mehrschriftlicher Gebilde gelten soll (zu dem damit eröffneten Themenkomplex vgl. die Beiträge in Grube/ Kogge/ Krämer, Schrift, sowie Krämer, »Die Schrift als Hybrid aus Sprache und Bild«). Die Grenze zwischen Schrift und Bild wird oft umspielt und un‐ terlaufen durch Kombinationen aus Buchstaben und Bildern, die teilweise auch mehr‐ schriftlich heißen können. 88 Auch können Schriftzüge in Bildgraphisches übergehen; ent‐ sprechende Grenzen in Frage zu stellen, ist ein wichtiges Projekt visualpoetischer Arbeiten (vgl. u. a. Faust, Bilder werden Worte). Buchstabenbilder und Bildalphabete haben eine lange Tradition (vgl. dazu Massin, La lettre et l’image). An diese haben diverse Vertreter der vi‐ sualpoetischen Avantgarden angeknüpft. Gedichte und Romane, in deren Texten Logos und andere Bildsymbole auftauchen, erinnern an Arbeiten, bei denen, flankiert durch ›normal‐ schriftliche‹ Bestandteile, der Hauptanteil der Narration von Logos getragen wird - wie etwa eine rezente logo-graphische Nacherzählung Grimm’scher Märchen oder Teile einer graphischen Nacherzählung von E. T. A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi. 89 Gerade neuere literarische Texte beziehen im Zuge eines wachsenden Interesses an darstellungsästheti‐ <?page no="222"?> 90 Autoren wie Mark Z. Danielewski spezialisieren sich förmlich auf Kollektionen differenter Graphien; vgl. Danielewski, House of Leaves, New York 2000. Vgl. ferner u. a. Matthias Senkel, Frühe Vögel. Roman. Mit einem Comic v. Maryna Zhdanko, Berlin 2012. 91 Bei Perec werden u. a. Puzzlesteine als Text-Zeichen eingesetzt: Georges Perec, La vie mode d’emploi, Romans [! ], Paris 1978. schen und wissenspoetologischen Fragen vielfach multiple Formen der Graphie in die Komposition ein. 90 Ästhetisch stimulierende Probleme ergeben sich ferner hinsichtlich der Abgrenzung zwischen Schriftzeichen und Dingen; ›Dingschriften‹ sind in historisch-praktischen wie in ästhetischen Kontexten anzutreffen; 91 Paläographen und Schrifthistoriker haben sich mit entsprechenden Anfängen schriftanaloger Kommunikation befasst (vgl. zum Thema Leroi-Gourhan, Hand und Wort). Im Bereich arbiträrer Codes existieren vielfältige visuelle Zeichensysteme, die als ›Schrift‹ bzw. ›Graphie‹ potenzielle Zeichenrepertoires für mehr‐ schriftliche Gebilde darstellen. Dies gilt etwa für Spielformen musikalischer und choreo‐ graphischer Notation, wobei es für erstere vor allem im Bereich der Vokalmusik charakte‐ ristisch ist, mit wortschriftlichen Zeichenketten verbunden zu sein; mit Text unterlegte Noten oder mit Notationszeichen versehene Gesangstexte sind als solche mehrschriftlich. Aber auch instrumentalmusikalische Partituren enthalten neben Noten oft geschriebene Wörter (vgl. u. a. Schmitz-Emans, »Notation als Kunst«). Die in verschiedenen Wissensdisziplinen und Praxisbereichen geläufigen Spielformen von Graphie (deren jeweilige Geschichte oft mit der textfixierender Schriften eng ver‐ bunden ist, etwa wenn dieselben Zeichen für Zahlenwerte und Buchstaben stehen) lassen sich in mehrschriftliche Gebilde einbeziehen und für literarisch-ästhetische Arbeiten nutzen: Zahlencodes, mathematische Formeln und Graphien, topographisch-geographi‐ sche Codes, Diagramme sowie Formelsprachen und graphische Repertoires anderer Wis‐ sensdiskurse, ferner Zeichensprachen unterschiedlicher kultureller Provenienz und Funk‐ tion, etwa die Codes des Comics. - Geprägt ist die Geschichte der Mehrschriftlichkeit auch durch diejenige der Erfindung neuer Schriftsysteme, sei es in Konkurrenz zu, sei es als Verbesserung von bestehenden graphischen Codes (zu Geschichte und Facettenreichtum erfundener Sprachen und Schriftcodes vgl. insgesamt Albani/ Buonarroti, Aga magéra di‐ fúra). b) Typologie und Analysebeispiele Der aktuelle Forschungsstand erlaubt es derzeit allenfalls in Ansätzen eine Geschichte der literarischen Nutzung von Mehrschriftlichkeit zu formulieren. Es scheint daher ergiebiger, sich dem Phänomen auf systematischem Wege zu nähern und - ausgehend von den un‐ terschiedlichen Spielarten der Mehrschriftlichkeit - historische Ausblicke zu liefern. Im Bereich der Schriftsysteme, mit denen es um die visuelle Fixierung verbaler Äuße‐ rungen bzw. Texte geht, lassen sich mehrere Ebenen von Mehrschriftlichkeit unterscheiden, die jeweils besondere semantische Potentiale aufweisen und Gestaltungsoptionen bieten. (1) Kombiniert werden können erstens unterschiedliche Typen von Schriftcodes, also etwa Lautschriften, Silbenschriften, Bilderschriften, sowie Codes, deren Zeichen sich weder als Repräsentanten von Lauten noch von Dingen verstehen. Viele gebräuchliche Schriften be‐ Monika Schmitz-Emans 222 <?page no="223"?> 92 Yoko Tawada, Abenteuer der Grammatik, Tübingen 2010. Zur Differenz östlicher und westlicher Schriftsysteme vgl. Yoko Tawada, Verwandlungen: Tübinger Poetik-Vorlesungen, Tübingen 2 2001 [1998], 27 f. 93 Vgl. u. a. Yoko Tawada, Die Botin, in: Dies., Überseezungen, Tübingen 2002, S. 44-50. ruhen auf mehreren Typen von Schrift, wie die japanische Schrift exemplarisch zeigt. Zudem sind Alphabetschriften, wie sie in den westlichen Ländern gebraucht werden, oft aus Bilderschriften abgeleitet worden. Zu Mischungen differenter Typen von Schriften kommt es in außerästhetischen wie in ästhetischen Kontexten. Insbesondere Texte, die der Darstellung und Explikation diffe‐ renter Schriftsysteme gelten (also der Vermittlung von Wissen über Schrift, sowie ggf. ent‐ sprechender Lese- und Schreibkompetenzen), sind in der Regel aus Elementen differenter Typen komponiert. Ein zweites wichtiges Feld der Schrifttypen-Mischung eröffnet sich mit literarischen bzw. künstlerischen Arbeiten. Das unkonventionelle Schriftbild korrespon‐ diert dabei oft mit inhaltlich-thematischen Ausrichtungen, wie sie auch durch literarische Mehrsprachigkeit assoziiert werden: Zur Darstellung kommen Kulturdifferenzen und Grenzüberschreitungen auf synchroner und auf diachroner Ebene. Der mit Mehrschrift‐ lichkeit verbundene Irritations-Effekt lässt sich sowohl ästhetisch (im Sinn eines Selbst‐ verweises der Zeichenkette) als auch für praktische Zwecke funktionalisieren (etwa für Reklame oder andere Strategien der Erregung von Aufmerksamkeit). Transfers zwischen sowie Kombinationen von verschiedenen Schriften-Typen stimulieren vor allem in Mo‐ derne und Postmoderne zu vielfachen poetisch-poetologischen Reflexionen. Den Hinter‐ grund bildet neben dem Interesse an interkulturellen Themen, Beobachtungen und Ver‐ gleichen vor allem das an der Materialität und Medialität von Schrift. Die Integration einzelner einem anderen Typus von Schrift zugehöriger Textbausteine wird innerhalb literarischer Texte u. a. eingesetzt, um einen ›Fremdkörpereffekt‹ zu erzielen (Schmitz-Emans, »Geschriebene Fremdkörper«); fremd-schriftliche Elemente konfron‐ tieren den Leser oft mit den Grenzen seiner eigenen Lektürekompetenz, bilden ein Rätsel innerhalb des Textes, einen Widerstand - und Anlass für spekulative Projektionen. So steht eine hebräische Schriftzeile in Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842) sowohl für die aus christlicher Sicht fremde jüdische Welt als auch für weitere Dimensionen von Fremdheit, die über kulturelle und religiöse Differenzen hinausgehen. Roland Barthes in‐ tegriert in L’empire des signes (1970) seinem französischen Text japanische Zeichen und reflektiert über deren Wirkung auf den westlichen Betrachter. Yoko Tawadas deutsche Texte mit integrierten chinesischen Schriftzeichen legen dem Leser gezielt Stolpersteine in den Weg, lassen ein solches Stolpern aber zur spezifisch ästhetischen Erfahrung werden. 92 Auf inhaltlich-thematischer Ebene verweist Tawada unter anderem auf die differenten Schriftentypen, die die japanische Schrift geprägt haben. Mehrere ihrer Texte stehen im Zeichen spielerischer Experimente mit der Übertragung von Lesestrategien von der asiati‐ schen Schriftkultur auf die westliche. 93 In den von der traditionellen asiatischen Kalligra‐ phie inspirierten Arbeiten des chinesischen Künstlers Xu Bing kommt es zu ästhetisch und politisch programmatischen Hybridisierungen zweier Schriftsysteme: Der Künstler hat eine eigene Schrift erfunden (»Square Word Calligraphy«), deren Zeichen sich aus den III. 4. Mehrschriftlichkeit 223 <?page no="224"?> 94 Vgl. u. a. Sprachräume. Xu Bing in Berlin, Museum für Ostasiatische Kunst, 27. Mai-1. August 2004. 95 Johann Georg Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce, hrsg. v. Sven-Aage Jør‐ gensen, Stuttgart 1974; Johann Georg Hamann, Schriften zur Sprache, hrsg. v. Josef Simon, Frankfurt/ M. 1967. Elementen chinesischer Schriftzeichen zusammensetzen, deren Form aber der Form der lateinischen Buchstaben entspricht. 94 (2) Kombinieren lassen sich zweitens Elemente differenter Schriftcodes innerhalb des‐ selben Typus von Schrift, so etwa innerhalb der (im Wesentlichen) lautschriftlichen Codes Europas Buchstaben der griechischen, lateinischen und kyrillischen Schrift. Damit verbindet sich wiederum zunächst einmal ein Hinweis auf die Differenzen zwi‐ schen den mit den jeweiligen Schriften verbundenen historisch-kulturellen Räumen, Prak‐ tiken und Überlieferungen. Dies kann erstens zu explikativen Zwecken und insbesondere zur Heranführung an ein fremdes Schriftsystem dienen; so etwa sind westeuropäische Wörterbücher des Griechischen in griechischer und lateinischer Schrift gedruckt; vermit‐ telnde Funktionen haben auch Sprachlehrbücher und zweisprachige Textausgaben. Zwei‐ tens können aus extrinsischen Gründen Texte in verschiedenen Schriften versammelt werden. Daran, dass mittelalterliche Sammel-Codices manchmal nebeneinander lateini‐ sche, griechische und arabische Handschriften enthielten, erinnert etwa Umberto Eco in Il nome della rosa (1980), wo der gesuchte Text sich in einem solchen Codex verbirgt. Texte, innerhalb deren sich Buchstaben verschiedener Alphabete mischen, können mit Fremd‐ heitserfahrung, mit gestörter Verständigung, aber auch mit Grenzüberschreitung und Di‐ alog konnotiert sein. Und gerade in Texten, die auf kulturelle Differenzen, auf Fremder‐ fahrungen und grenzüberschreitende Dialoge hinweisen oder diese textuell inszenieren, verbindet sich literarische Mehrsprachigkeit oft mit der Benutzung differenter Laut‐ schriften. Insofern sie an die verschiedenen historischen und medialen Rahmenbedin‐ gungen von Alphabetisierung und Schriftgebrauch erinnern, stehen Alphabet-Mischungen in Literatur und Kunst u. a. im Zeichen der Autoreferenz qua Reflexion über Schriftlichkeit. Fremde bzw. gemischte Schriften können u. a. dazu dienen, fremde bzw. gemischte Sprachanteile an Dialogen zu repräsentieren. Auch werden sie oft als Zitate aus entspre‐ chend fremdschriftlichen Vorlagen arrangiert; zudem ist etwa die Verwendung des Grie‐ chischen vielfach mit Gelehrsamkeit konnotiert. Beispiele gemischt-graphischer Lyrik (la‐ teinisch-griechisch) bietet schon die Barockdichtung. War es im Bereich humanistischer Bildung noch üblich, beim Lesen zwischen Lateinisch, Griechisch und oft auch Hebräisch zu wechseln, so erinnern literarische Texte, die ihrem Leser Entsprechendes abverlangen, an diese Tradition, etwa Laurence Sterne im Tristram Shandy (1759-1767), dessen Motto bereits ein griechisches Zitat bildet. Johann Georg Hamann verwendet neben lateinisch geschriebenen auch griechische und hebräische Textpartikel, die dabei je spezifische Se‐ mantisierungen erfahren. 95 Auch in jüngerer Zeit weisen vor allem solche literarischen Texte, die auf eine Tradition der Gelehrsamkeit und der mehrschriftlichen Kompetenz Bezug nehmen - etwa in Form fingierter Forschungsberichte oder Lexika -, Elemente fremder Alphabete auf. Milorad Pavićs Lexikonroman Das Chasarische Wörterbuch (Ha‐ zarski rečnik, 1984) ist der Rahmenfiktion nach zusammengesetzt aus einem jüdischen, einem christlichen und einem islamischen Teil und entsprechend auf mehrere Schriftkul‐ turen bezogen. Monika Schmitz-Emans 224 <?page no="225"?> (3) Mehrschriftlichkeit begegnet drittens aber auch innerhalb der einzelnen Schriftcodes. So hat etwa das lateinische Alphabet auf der Ebene seiner visuell-graphischen Gestaltung seit der Antike ein breites Spektrum an diachronen und synchronen Ausdifferenzierungen erfahren. Dabei sind mehrere Ebenen zu unterscheiden, so etwa die der Glyphen: Als ab‐ straktes Buchstabenzeichen lässt sich das lateinische »A« handschriftlich sowie druck‐ schriftlich auf sehr unterschiedliche Weisen realisieren. Für die von einem Text vermittelte Botschaft ist nicht zuletzt auch die Art und Weise konstitutiv, wie er geschrieben oder gedruckt wurde. Insgesamt bieten Zeitschriftenlayout und Buchdesign vielfältige Beispiele für den differenzierenden und signifikanten Gebrauch spezifischer Schrifttypen, Schrift‐ größen und Satzweisen. Viele literarische Texte sind durch die Verwendung spezifischer Glyphen geprägt. Dichtungen wie Stéphane Mallarmés graphisches Poem Un Coup de Dès (1897) visuali‐ sieren eine Dimension von Mehrschriftlichkeit, die auf dem Einsatz differenter Schriftfonts in verschiedenen Größen beruht und die in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts (etwa im Dadaismus, im Futurismus und in der Konkreten Poesie) vielfältig erkundet wird. Im Bereich der kalligraphischen Praktiken, wie etwa der asiatischen, erscheint die jeweils konkrete Realisationsform und Gestalt bestimmter Schriftzeichen als für das entstehende Textgebilde und seine ästhetische Aussage prägend. (4) Für die jeweilige Realisierung eines (abstrakten) Buchstabens sind auch seine physi‐ sche Produktionsweise sowie die dabei eingesetzten Medien konstitutiv - insbesondere mit Blick auf die Differenz zwischen Handschrift und Druckschrift sowie rezent von Compu‐ terschriften. Insofern ergibt sich hier eine vierte Option zur Mischung von Schriften. Ma‐ nuelle Schreibpraktiken sind historisch, medienspezifisch und funktional mit jeweils spe‐ zifischen Konnotationen verknüpft; dabei bestimmen auch die Schreibgeräte mit über Schriftduktus und Textgestalt. Mit der persönlichen Handschrift verbindet man bis heute vielfach die Idee einer besonders charakteristischen, Individuelles gestisch abbildenden, Schreibweise. Allerdings gilt der Gebrauch einer charakteristischen Handschrift erst von einer bestimmten Zeit an als Ausweis von Individualität; Barthes weist demgegenüber in seinem Essay »Variations sur l’écriture« (1973) darauf hin, dass einzelne Schreibende (so wie er selbst) durchaus über verschiedene Handschriften verfügen können - und akzen‐ tuiert dadurch das Konzept der Mehrschriftlichkeit auf spezifische Weise. Gerade deshalb kann die Entscheidung für einen bestimmten handschriftlichen Duktus - als nicht-deter‐ minierte, sondern fakultative Ausdrucksform - sinnbildend eingesetzt werden (vgl. Neef, Abdruck und Spur). (Auf die Hypothese eines indexikalischen Bezugs zwischen Schrei‐ bendem, Schreibgeste und Graphie setzt aber noch bis heute die Graphologie.) Es gibt zudem handschriftliche Codes, die weitgehend an bestimmte nationalsprachliche Räume ge‐ bunden sind (wie Sütterlin), aber auch Druckschriften mit nationalen, historischen und kulturspezifischen Konnotationen (etwa deutsche Fraktur). Daran, dass Hand- und Druckschriften jeweils für sich wissensdiskursiv, medientech‐ nisch, funktional oder durch individuelle Gebrauchskontexte semantisiert sind, erinnern literarische Texte vor allem in jüngerer Zeit verstärkt, und zwar u. a. als Folge schrifttheo‐ retischer, schrifthistorischer und medientheoretischer Diskurse und philologisch-editori‐ scher Praktiken. So sind bestimmte Schriften mit bestimmten Produktionsweisen assoziiert (wie Minuskelschrift mit mittelalterlichen Manuskripten, die Courierschrift mit der III. 4. Mehrschriftlichkeit 225 <?page no="226"?> 96 Arno Schmidt, Zettel’s Traum. Reprint nach der 4. Aufl. Frankfurt/ M. 1986, Frankfurt/ M. 2002 [1970]. 97 Nick Bantock, Griffin & Sabine. An Extraordinary Correspondence, San Francisco 1991; dies., Sabine’s Notebook. In Which the Extraordinary Correspondence of Griffin & Sabine Continues, San Francisco 1992; dies., The Golden Mean. In Which the Extraordinary Correspondence of Griffin & Sabine Conti‐ nues, San Francisco 1993; dies., The Gryphon. In Which the Extraordinary Correspondence of Griffin & Sabine Is Rediscovered, San Francisco 2001; dies., Alexandria. In Which the Extraordinary Correspon‐ dence of Griffin & Sabine Unfolds, San Francisco 2002. Schreibmaschine etc.). Zugleich mit dem Einsatz spezifischer Glyphen, typographischer Fonts und anderer Gestaltungsoptionen von Schrift kommen in literarischen Texten jeweils auch deren spezifische Semantiken und Assoziationshorizonte ins Spiel. Das kann durchaus zitatweise und spielerisch geschehen, etwa um in den entsprechenden Schriftzügen ›His‐ torisches‹, ›Nationales‹ oder ›Individuelles‹ darzustellen oder zu simulieren. Auch reprä‐ sentieren unterschiedliche Drucktypen gelegentlich die Angehörigen differenter Sprach‐ räume, so etwa in Asterix-Comics, wo Frakturschrift und andere Schriftfonts fremden Völkern zugeordnet sind. Durch faksimilierte handschriftliche Elemente in literarischen Texten simuliert das jeweilige Textbild, die Spur einer individuellen Schreibbewegung zu sein. Der Einsatz differenter Schriftfonts innerhalb eines Werkes gestattet es literarischen Autoren, komplexe Textgebilde auch auf visuell-graphischer Ebene prägnant zu struktu‐ rieren - etwa im Sinn der Zuordnung zu mehreren fiktionalen Quellen oder Figuren. Ein Beispiel bietet Mark Z. Danielewskis House of Leaves (2000), wo die verschiedenen Dar‐ stellungsebenen und Berichtsinstanzen in verschiedenen Schriftfonts sichtbar werden. Die Markierung unterschiedlicher Textebenen durch differente Zeichensätze ist zudem auch in gedruckten Dramen weit verbreitet, wo Haupt- und Nebentext oft typographisch vonei‐ nander abgehoben sind. Dies greifen Verfasser von Romanen gelegentlich auf - ebenso wie die in wissenschaftlichen Texten geläufige Praxis einer typographischen Abhebung von Zitaten durch Kursivschrift oder kleinere Schrifttypen. Arno Schmidt ergänzt in Zettel’s Traum (1970) die an Joyce anknüpfenden Verfahren der Sprachenmischung durch typo‐ graphische Vielfalt - unter Verwendung von Elementen verschiedener Codes. 96 Die Kombination von faksimilierten handschriftlichen Elementen und gedruckten Text‐ teilen als zwei differenten Spielformen von Schrift kann innerhalb literarischer Texte wich‐ tige Funktionen übernehmen; Analoges gilt auch für Pseudo-Handschriften, die den Duktus manueller Schriftzüge imitieren. So entstehen in Nachfolge fiktionaler Aufzeichnungen und Briefromane in jüngerer Zeit literarische Notizbücher und Briefwechsel, bei denen die Si‐ mulation manueller Schriftanteile spielerisch die Authentizität des Mitgeteilten simuliert: R. Murray Schafers Dicamus et Labyrinthos präsentiert sich als (angeblich) faksimiliertes handschriftlich geführtes Notizbuch; Nick Bantocks Serie Griffin and Sabine besteht aus (angeblich) faksimilierten Briefen und Postkarten, die partiell per Hand geschrieben wurden und insgesamt Schrift in verschiedenen Spielformen exponieren. 97 Echte Faksimiles und fiktional re-kontextualisierte Faksimiles sind als Elemente in hybriden literarischen Texten äußerlich nicht unterscheidbar; dieses Entdifferenzierungspotenzial bezogen auf Faktographisches und Fiktionales lässt sich literarisch gut nutzen. In Monika Marons Fa‐ milien- und Memorialbuch Pawels Briefe (2001) und in W. G. Sebalds Büchern (vgl. etwa Logis in einem Landhaus, 2000) werden faksimilierte handschriftliche Texte als historische Monika Schmitz-Emans 226 <?page no="227"?> 98 Einen ersten universalen Zeichensatz entwarf (als Vorstufe des Unicode) 1988 der Informatiker Jo‐ seph D. Becker zum Zweck der einheitlichen Codierung der modernen Schriftzeichen. Mit dem Uni‐ code ist seitdem ein internationaler Standardcode in Arbeit, der Textelemente und bedeutungstra‐ gende Zeichen aller bekannten Schriftkulturen und -zeugnisse erfassen soll; beginnend bei den geläufigen Schriftcodes sind inzwischen vielfältige, auch ältere und entlegene Codes erfasst und umcodiert worden. Die intendierte Unifizierung differenter Codierungssysteme erscheint vor allem mit Blick auf PC-gestützte Kommunikation als Desiderat. 99 Andreas Thalmayr [d. i. Hans Magnus Enzensberger], Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen in hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr, Nördlingen 1985, Nachdruck: Frankfurt/ M. 1997. 100 U. a. relevant ist die Frage, ob bekannte Zeichen entsprechend einem Zusatzcode verwendet wurden oder ob dem Entzifferer ein Text in einer bekannten Sprache vorliegt, der aber in unbekannten Schriftzeichen verfasst ist, ob es sich demgegenüber um die Verwendung bekannter Zeichen für eine unbekannte Sprache handelt, oder ob Sprache und Zeichencode unbekannt sind. Spuren integriert und entsprechend semantisiert; eine Vielzahl ähnlicher Beispiele wäre zu nennen, bei denen teils die realen, teils erfundene Verfasser genannt werden. Wie (scheinbar) Handschriftliches innerhalb gedruckter Texte vielfach mit Historischem konnotiert ist, so oft auch die für Schreibmaschinenbenutzer typische Courierschrift, vor allem nach dem Ende der Schreibmaschinen-Ära. Gedichte in Courier-Schrift verweisen in Beispielen medienbewusster Autoren wie Ernst Jandl auf den literarischen Arbeitsprozess als solchen. (5) Relevant für praktische und ästhetische Phänomene der Mehrschriftlichkeit sind im Bereich der bestehenden Schriftsysteme fünftens auch sekundäre Schriftcodes, welche als eigens zu diesem Zweck erfundene Zeichenrepertoires dazu dienen, die Elemente der all‐ tagspraktisch verwendeten Schrift (in der Regel die Buchstaben des lateinischen Alphabets) abzubilden oder zu ersetzen. Der Einsatz von Schriften zweiten Grades hat als eine metaisierende Darstellungspraxis Affinitäten zu Formen poetisch-poetologischer Metaisierung. 98 Hans Magnus Enzensber‐ gers poetologische Anthologie Das Wasserzeichen der Poesie (1985) dokumentiert unter an‐ derem, aus welch verschiedenen Schriftcodes poetische Texte bestehen können, wenn man statt der konventionellen Alphabetzeichen andere Zeichenrepertoires (etwa die des Mor‐ secodes, der Brailleschrift und der Flaggen) benutzt, und ist als Ganzes eine programma‐ tisch-mehrschriftliche Sammlung. 99 (6) Kryptographische Codes können sowohl direkt auf Inhalte oder Lautwerte bezogene als auch sekundäre (auf Normalschriften basierende) Schriftcodes sein; sie ermöglichen eine sechste Spielform von Mehrschriftlichkeit. Es gibt nicht nur eine Fülle unterschiedlicher kryptographischer Praktiken, sondern codierte Texte können sich zudem auf unterschied‐ liche Weisen und aus verschiedenen Anlässen mit normalschriftlichen Texten mischen res‐ pektive an deren Stelle treten. 100 Manchmal muss ein kryptographischer Text als solcher überhaupt erst durchschaut werden, da es zu den Verschlüsselungsstrategien gehören kann, sich als normalgraphischer Text zu tarnen. Mehrschriftlichkeit im engeren Sinn liegt dort vor, wo der Kryptograph neue Zeichen zusammen mit konventionellen Zeichen verwendet. Aber auch die Umcodierung konventionell gebräuchlicher Zeichenbestände kann als Be‐ gründung einer anderen Schrift betrachtet werden, insofern die Zeichen nun ja nach einem anderen Schlüssel zu lesen sind. Literarische Texte können kryptographische Elemente in verschiedenen Funktionen enthalten; inhaltlich kann es um entsprechende Codierungs- III. 4. Mehrschriftlichkeit 227 <?page no="228"?> 101 Vgl. Michael Ende, Die unendliche Geschichte, Stuttgart 1979. 102 Jed Rasula/ Steve McCaffery (Hrsg.), Imagining Language. An Anthology, Cambridge, Mass. 2001. 103 Thomas Morus, Utopia (1516), Quattrain in Utopian Vernacular, abgebildet in: Rasula/ McCaffery, Imagining Language, S. 137. und Decodierungsprozesse gehen, oft verbindet sich beides. Dass die Schrift eines fremden Kulturkreises als rätselhafte Geheimschrift erscheinen kann, illustriert durch Integration entsprechender Textelemente u. a. Jules Vernes Voyage au centre de la terre (1864). Ein eher schlichter Spezialfall kryptographischer Textgestaltung ist die Verwendung von Spiegel‐ schrift, wie sie schon in Lewis Carrolls Through the Looking-Glass (1872) erfolgt und von vielen Nachfolgern aufgegriffen wird, u. a. von Michael Ende, 101 Danielewski und Georges Perec. Insofern Kryptographie - als ein Spezialfall von Verschlüsselung, von Hermetik - unter anderem eine poetologische Metapher ist, steht die Integration kryptographischer Elemente in literarische Texte zumindest latent im Zeichen des Selbstverweises. Auch Geschichten über versuchte Entzifferungen von Geheimschriften haben insofern oft eine latent autore‐ ferentielle Dimension, so etwa Edgar Allan Poes Erzählung über die Abenteuer des Arthur Gordon Pym (1838), bei denen u. a. seltsame Schriftzüge entdeckt werden, oder auch die Decodierung einer Geheimbotschaft in Ecos Il nome della rosa (1980) als Anlass zur Erör‐ terung von Decodierungskompetenzen. In Schafers mehrschriftlichem Visual- und Erzähl‐ text Dicamus et Labyrinthos. A Philologist’s Notebook (1984) geht es erstens auf inhaltlicher Ebene um die Entzifferung einer rätselhaften, der Hypothese des Protagonisten zufolge kryptographischen Schrift; darauf abgestimmt, werden zweitens auch die abgezeichneten rätselhaften Texte selbst sichtbar - zusammen mit den (pseudo-)faksimilierten handschrift‐ lichen Notizen des Entzifferers, mit visuellen Zitaten aus Texten verschiedener Sprachen und Schriftsysteme sowie mit einigen (pseudo-)faksimilierten typographischen Doku‐ menten. Der mehrschrittige Entzifferungsprozess und seine Rahmenbedingungen finden sich im Duktus der (angeblichen) Handschrift sowie in den Überarbeitungen des Manu‐ skripts, in Überschreibungen, Streichungen und entgleisender Schrift visuell inszeniert. (7) Dienen kryptographische Texte in der Regel dazu, den Zugang zu einer Botschaft zu erschweren oder eine Kommunikation zwischen Eingeweihten zu begründen, so kann die Abkehr von vertrauten Schriftcodes doch auch durch das Bedürfnis motiviert sein, eine neuartige, eine ›bessere‹, leistungsfähigere oder schönere Schrift zu erfinden. Mit Schrift‐ code-Erfindungen kann sich ein utopisches Moment verbinden: Dies demonstrieren sowohl Texte in Phantasieschriften als auch Beispiele für die Integration neuer (erfundener) Schriften in konventionell-schriftliche Texte - als eine siebte Spielform von Mehrschrift‐ lichkeit. Die Erfindung neuer Schriften bildet einen eigenen Bereich ästhetischer Praxis. Ver‐ suche, eine ›allgemeine‹, ›universale‹ oder ›ursprüngliche‹ Schrift zu (re-)konstruieren oder aber eine neue Schrift zu erfinden, haben viele kreative Phantasien freigesetzt, wie u. a. die Anthologie Imagining Language von Jed Rasula und Steve McCaffery dokumen‐ tiert. 102 Dass Phantasieschriften auch dazu dienen, Berichte über imaginäre Welten mit (fingierten) Authentizitätssignalen auszustatten, illustriert etwa die Probe utopischer Schrift in Thomas Morus’ Utopia. 103 Bei J. R. R. Tolkien, der seine imaginäre Romanwelt mit eigenen Sprachen ausstattet, verstärken ›fremde‹ schriftliche Elemente die suggestive Wir‐ Monika Schmitz-Emans 228 <?page no="229"?> 104 Vgl. Ruth S. Noel, The Languages of Tolkien’s Middle-Earth. A complete guide to all fourteen of the languages Tolkien invented. Contains a dictionary of all non-English words, an English/ Elvish glossary, rules of grammar and pronunciation; translations, how to write Elvish and other alphabets and runes, Boston 1980 [1974]. 105 Luigi Serafini, Codex Seraphinianus, Mailand 1981, Neuauflage 2006. 106 Dazu vielfältige Beispiele in: Christian Scholz/ Urs Engeler (Hrsg.), Fümms bö wö tää zää Uu. Stimmen und Klänge der Lautpoesie, Basel u. a. 2002. 107 Vgl. u. a. Yoko Tawada, Sprachpolizei und Spielpolyglotte. Literarische Essays, Tübingen 2007. kung solcher Weltkonstruktion; 104 sie wirken wie authentische Zeugnisse aus Mittelerde, ähnlich den kartographischen Paratexten der Romane. Ein Extrembeispiel für eine Schrift-Erfindungskunst, mittels deren zugleich eine imaginäre ›Andere Welt‹ porträtiert wird, bietet der Codex Seraphinianus von Luigi Serafini, ein reich illustriertes Buch, das einen erfundenen Kosmos im Stil einer Enzyklopädie porträtiert, dessen Textanteile aber in einer unlesbaren, von Serafini erfundenen Schrift oder Pseudo-Schrift verfasst sind; allein der Buch-Titel Codex Seraphinianus besteht aus lateinischen Lettern. 105 Vor spezifischeren Herausforderungen stehen Vertreter von Lautpoesie und avantgar‐ distischer Musik, die anlässlich von neuartigen oder neu ausdifferenzierten Klängen nach neuen Notationsformen solcher Klangereignisse suchen. 106 Vielfach werden dabei Elemente bestehender Schriftcodes (manchmal mehrerer, wie etwa die Alphabetschrift und die No‐ tenschrift) kombiniert und um neue Schriftelemente erweitert; manchmal kommt es zur Modifikation der Buchstabenschrift wie bei Isidore Isou oder aber zu Anknüpfungen an bildliche Zeichencodes. (8) Im Grenzraum zwischen Alphabetschrift einerseits, Dingbzw. Bildschriften ande‐ rerseits operieren die Gestalter von ausgemalten Initialen und anderen bildhaften Buch‐ staben; ihre Zeichen-Hybride repräsentieren eine achte Ebene von Mehrschriftlichkeit. In‐ wiefern Buchstabenbilder den Leser dazu verlocken, sich auf Text-Welten einzulassen, hat Walter Benjamin in seinen Aufsätzen über Lese- und Kinderbücher verdeutlicht (Ben‐ jamin, »Aussicht ins Kinderbuch«). Vom Mittelalter bis zur Gegenwart entstehen Texte, in denen ein ›normalsprachlicher‹ Anteil um bildhafte und graphisch auffällige Elemente er‐ gänzt wird. Welche Funktion diese konkret auch immer haben mögen - sie demonstrieren, wie sich Schriftzeichen modifizieren lassen und dabei neue Bedeutungsdimensionen ent‐ falten. Die Initialenkunst früherer Zeiten, aber auch der Moderne, dokumentiert u. a. in der umfangreichen Sammlung Robert Massins (La lettre et l’image), findet sich in Ecos Il nome della rosa auf pointierende Weise semantisiert: als Inbegriff einer lebendigen und latent subversiven Zeichenwelt. Michael Ende stattet Die unendliche Geschichte (1979) mit Initi‐ alen aus, aus denen sich - der Alphabetreihe folgend - die Kapitel seines Romans entwi‐ ckeln. (Zudem arbeitet er mit den komplementären Textfarben Rot und Grün.) Yoko Ta‐ wada, inspiriert vor allem durch Benjamin, modifiziert das Konzept der ›lebendigen‹, dinghaften, eigendynamischen Buchstaben ebenfalls wiederholt. 107 Kurt Schwitters’ i-Ge‐ dicht ist für sich zwar nicht mehrschriftlich, bildet im Kontext von Schwitters’ Oeuvre aber einen programmatischen Fremdkörper. Kalligraphen, Visualdichter, experimentelle Ly‐ riker, aber auch Romanciers verdeutlichen mit spezifisch gestalteten Buchstaben oder III. 4. Mehrschriftlichkeit 229 <?page no="230"?> 108 Vgl. Franz Mon, »text und lektüre«, in: Ders., artikulationen, Pfullingen 1959, S. 14. 109 Vgl. u. a. Carlfriedrich Claus, Erwachen am Augenblick. Sprachblätter. Mit den theoretischen Texten von Carlfriedrich Claus und einem kommentierten Werkverzeichnis bearbeitet v. Klaus Werner, hrsg. v. den Städtischen Museen Karl-Marx-Stadt und dem Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster/ Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Münsterschwarzach 1990. 110 Vgl. etwa Ernst Jandl, »innerlich«, in: Ders., Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Po‐ etik-Vorlesungen, Darmstadt 1985, S. 12 f. buchstabenanalogen Formen vielfach, dass Schriftcodes und Zeichenrepertoires zu Hybri‐ disierungen einladen. (9) Offen wie die Grenze zwischen bildlicher Figuration und Schriftzeichen ist die zwi‐ schen Schrift und gestisch erzeugter Spur. Was im Alltag eher versehentlich zu geschehen pflegt, kann zum Ausgangspunkt literarisch-künstlerischer Experimente und Projekte werden: Spuren von Körperbewegungen, klimatischen Verhältnissen und materiellen Ob‐ jekten können sich in die Textgestaltung einmischen und den Buchstaben überlagern; Kleckse, Bewegungsspuren, Spuren anderer Vorgänge können auf dem Papier sichtbar werden. Alles, was so sichtbar werde, habe eine »Lesephysiognomie«, so Franz Mon. 108 Wo der Gebrauch geläufiger Schriftzeichen sich mit gestischen und anderen Spuren verbindet, diese Spuren dabei als Zeichen betrachtet werden, könnte von einer neunten Form der Mehrschriftlichkeit die Rede sein. In avantgardistischen Schreibpraktiken sowie in stark visuell konzipierten literarischen Experimentaltexten fordern vielfältige Spuren zu tentativen Lektüren heraus. Carlfriedrich Claus unternimmt ausführliche Experimente mit einer graphischen Praxis, die im Ausgang von handschriftlichen Prozessen den schreibenden Organismus insgesamt seine Spuren auf dem Papier ziehen lässt; in hochkomplexen Schriftfigurationen bleiben Reste konventionell geschriebener Texte entzifferbar. 109 Auch Ernst Jandl schafft Blätter mit Spuren einer Schreibgestik, die einerseits codifizierte Buchstaben reproduziert, andererseits eigene Be‐ wegungsformen erprobt. 110 Schafers transkribierender und transliterierender Philologe hinterlässt auch heftige gestische Spuren. Der Literaturwissenschaftler hat es insgesamt nicht nur bezogen auf publizierte Werke mit mehrschriftlichen Phänomenen zu tun. Auch und gerade deren Entwürfe und Vor‐ stufen, handschriftliche, maschinenschriftliche oder handschriftlich korrigierte Textfas‐ sungen bieten, was ihre Schriftlichkeit angeht, oft ein ausdifferenziertes und deutungsre‐ levantes Erscheinungsbild. So greift die handschriftliche Variante oder Korrektur als eine spätere Textschicht in das maschinenschriftliche oder gedruckte Textbild ein. Analoges gilt, wo Durchstreichungen einen Ausgangstext modifizieren, wo diakritische Zeichen sich ihm überlagern, wo Leseanweisungen ihn skandieren. Auch solche Phänomene von Mehr‐ schriftlichkeit lassen sich - als fingierte Dokumente schriftlicher Arbeitsprozesse - wie‐ derum artifiziell arrangieren. In der Geschichte der Editionsphilologie haben Schriftbilder, zumal heterogene, einander überlagernde, zunehmend an Relevanz gewonnen. Von vielen Beispielen jüngerer Literatur werden Mehr- und Vielschriftlichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen einfallsreich inszeniert; das Textbild literarischer Publikati‐ onen wird tendenziell bunter. Wiederholt werden Schriftmischungen mit Variationen des Labyrinthmodells verknüpft; der Leser wird entsprechend durch Text- und Schrift-Laby‐ rinthe geschickt, die ihm auch bezogen auf die Codes ständige Richtungswechsel abfor‐ Monika Schmitz-Emans 230 <?page no="231"?> 111 Vgl. u. a. Paul Wühr, Gegenmünchen, München 1970. 112 Vgl. neben Ecos Il nome della rosa, Mailand 1980, u. a. Rafik Schami, Das Geheimnis des Kalligraphen. Roman. Mit einer Extra-Geschichte von der Schönheit der Schrift, München 2008. dern. 111 Insgesamt tragen mehrere Motive zum verstärkten Interesse moderner und neu‐ ester Literatur an Phänomenen der Mehrschriftlichkeit bei - erstens ein thematisch-sachliches Interesse an Kulturspezifischem und kulturell Differentem (vgl. u. a. Pa‐ lumbo-Liu, »Schrift und kulturelles Potential in China«), inbegriffen die Schriftkulturen und Schreibpraktiken früherer Zeiten, deren ästhetische Reize sich aus ihrer relativen Fremdheit ergeben. Entsprechend werden in historischen sowie in Romanen über fremde Kulturkreise wiederholt Fremd- und Mehrschriftlichkeit zu Kernmotiven der Handlung. 112 Analoges gilt für Erzählungen über fremde Welten phantastisch-utopischer Art. Motivie‐ rend ist zweitens ein verstärktes Interesse an der Medialität und Materialität von Schrift, das sich in mehreren Wissensdisziplinen, in Kunst und Literatur sowie auch in anthologi‐ schen Kompendien niederschlägt, sowie drittens eines an Innovations- und Verfremdungs‐ potenzialen, die sich mit Grenzüberschreitungen und Hybridisierungen verbinden. Lyri‐ sche Texte, in denen mehrere Schriften in einen spannungsvollen Dialog treten, nutzen dabei die visuelle Dimension dieser Schriften oft in besonderem Maße, bis hin zum Einsatz ikonischer Effekte oder Suggestionen (zu verschiedenen Beispielen u. a. von Kitasono Katue und Hiro Kamimura vgl. Schmitz-Emans, »Globalisierung im Spiegel literarischer Reakti‐ onen und Prozesse«). Wenn Mehrschriftlichkeit in der jüngeren Literatur verstärkt nicht nur thematisiert, sondern auch konkret gezeigt wird, so profitiert diese Entwicklung nicht zuletzt von einer allgemeinen Tendenz zur Integration graphisch-visueller Elemente in li‐ terarische Buchpublikationen. Comics, Graphic Novels und andere Bilderzählungen, die als eigenes literarisches Genre gelten dürfen, können ohnehin auf eine längere Tradition der Mischung von Schriftcodes, Glyphen und Bildsymbolen zurückgreifen. c) Offene Forschungsfragen Mit den skizzierten Spielformen und Aspekten von Schriftlichkeit, Mehr- und Mischspra‐ chigkeit eröffnet sich ein breites Feld für panoramatische Forschungen und Einzelstudien, auf dem sich literatur-, kunst-, medien- und kulturwissenschaftliche Interessen verbinden. Eine Geschichte der Mehrschriftlichkeit in der Literatur wäre ein Desiderat; sie könnte sich vor allem auf die bestehenden Anthologien und auf Überblickspublikationen zur Geschichte der Schrift, der Schreibkünste und der Schriftimaginationen stützen. Genauere Untersu‐ chungen verdient insbesondere das Verhältnis der Verfahren der Mehrschriftlichkeit zu anderen Verfahren der Mehrsprachigkeit. Literatur Albani, Paolo/ Berlinghiero Buonarroti, Aga magéra difúra. Dizionario delle lingue immaginarie, Bo‐ logna 1994. Grube, Gernot/ Werner Kogge/ Sybille Krämer (Hrsg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005. Barthes, Roland, L’empire des signes, Paris 1970. III. 4. Mehrschriftlichkeit 231 <?page no="232"?> Barthes, Roland, Variations sur l’écriture/ Variationen über die Schrift. Französisch/ Deutsch, übers. v. Hans-Horst Henschen, Mainz 2006 [1973]. Benjamin, Walter, »Aussicht ins Kinderbuch«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 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Semantische Übersetzung Henri Bloemen und Arvi Sepp a) Beschreibung des Verfahrens Im Unterschied zur ›homophonen‹ Übersetzung, die an erster Stelle die lautliche Struktur des Originals zu übertragen versucht, ohne dabei unbedingt dessen Bedeutung zu berück‐ sichtigen, setzt es sich die semantische Übersetzung zum Ziel, den Sinn des Ausgangstextes möglichst adäquat zu übertragen. Die semantische Übersetzung in ihren unterschied‐ lichsten Ausprägungen betrachtet den literarischen Text aus einer auf den Sinn bezogenen Perspektive als Medium, bei dem der Ausgangstext im Mittelpunkt steht, dem gegenüber man zu übersetzerischer ›Treue‹ - wie diese auch immer definiert sein mag - verpflichtet ist. Die textinterne Mehrsprachigkeit ist dabei zwangsläufig weniger ausgeprägt als in ho‐ mophonen Übersetzungen, in denen die Ausgangssprache in der Regel präsenter ist als in semantischen Übersetzungen, in denen die Lautstruktur des Originaltextes meist nur in geringem Maße berücksichtigt werden kann. Prominente Vertreter der homophonen Über‐ setzung wie beispielsweise Rolf Dieter Brinkmann, Ezra Pound, Ernst Jandl und die Mit‐ glieder der Gruppe Oulipo haben wesentlich zur Bedeutung der experimentellen Literatur beigetragen. Beide Verfahren, homophone und semantische Übersetzung bzw. Klang- und Sinnfokussierung, schließen sich allerdings nicht gegenseitig aus und sind kaum in Rein‐ form vorzufinden, denn auch in der semantischen Übersetzung ist häufig eine besondere Aufmerksamkeit für klangliche Charakteristiken anzutreffen, genauso, wie das Prinzip der Sinnübertragung in der homophonen Übersetzung nicht gänzlich aufgegeben wird. Der Ausgangspunkt der sprachlichen Repräsentation der Wirklichkeit als eines Grundprinzips der Zeichenverwendung ist jeder semantischen Übersetzung eigen. b) Forschungsgeschichte Seitdem über das Phänomen ›Übersetzung‹ nachweislich reflektiert wird, also im westli‐ chen Kulturkreis spätestens seit Marcus Tullius Cicero, gilt die semantische Übersetzung, d. h. die Übertragung der Bedeutung einer sprachlichen Äußerung, mehr als die Übertra‐ gung ihrer Form, als Kernanliegen allen Übersetzens. In der Antike waren Dichter wie Cicero, Vergil, Horaz, Quintilian, Terenz auch Übersetzer. Sie wollten die griechische Lite‐ ratur in der Übersetzung bereichern bzw. sogar übertreffen. Horaz beispielsweise warnt im Sinne der aemulatio in seiner Ars Poetica vor der wörtlichen Übersetzung und plädiert für eine freie Übersetzung (vgl. Woodsworth, »Geschichte des Übersetzens«, 39). Ciceros »non verbum de verbo reddere sed genus omne verborum atque vim« (De optimo genere ora‐ torum, V, 14), auf das sich Hieronymus’ Adagium »non verbum e verbo, sed sensum expri‐ mere de sensu« (Ad pamachium: de optimo genere interpretandi, § 5-6) bezieht, hat sich in immer wieder neuer Form bis in die modernen, auch wissenschaftlichen Erörterungen des <?page no="236"?> Übersetzens gehalten. Ein wesentlicher Teil der Geschichte des Übersetzungsdiskurses lässt sich tatsächlich anhand dieser Forderung charakterisieren, nämlich zunächst die Bedeutung wiederzugeben und sich erst dann, sofern es möglich ist, der Form zuzuwenden; dies freilich auch unter Berücksichtigung der Kritik und der Zweifel, die mit dieser Forderung einher‐ gehen. Cicero etwa stellt dem Wort ja nicht die Bedeutung (sensus) gegenüber, sondern dessen genus (Art, Geschlecht, Stil) und Kraft (vis), und Hieronymus macht eine Ausnahme für die Übersetzung des heiligen Textes, weil dort auch die ›ordo verborum mysterium est‹. Bei beiden ist das spannungsvolle Verhältnis der beiden konstitutiven Textebenen, Bedeu‐ tung und Form, also bereits vorgezeichnet; nicht weniger auch der Zweifel an der Mög‐ lichkeit der für das Übersetzen unerlässlichen Unterscheidung von Wort auf der einen, Form und Bedeutung auf der anderen Seite. Diese Spannung ist jedoch noch weitergehend an‐ zusetzen, nämlich in den Begriffen ›Bedeutung‹ und ›Form‹ und in deren Interrelation selbst zu situieren. Die Auseinandersetzung mit der literarischen Übersetzung macht die grundsätzliche Problematik des Zusammenhangs zwischen Sprache, Bedeutung und Interpretation deut‐ lich, was Andrea Lassalle prägnant formuliert, wenn sie schreibt: »Gemeinhin wird ange‐ nommen, in der Übersetzung würde der Sinn eines Textes konserviert, während und obwohl sie ihn in eine andere Sprache, in eine andere signifikative Praxis transportiert.« (Lassalle, Bruchstücke und Portrait, 45) Hinter dieser Annahme steht die Auffassung, dass man zwi‐ schen ›Aussage‹, deren Bedeutung durch Interpretation herausgearbeitet werden kann, und ›Form‹, die die Aussage gleichsam vermittelt, problemlos unterscheiden kann (vgl. ebd.). Diese universalistische These der prinzipiellen Übersetzbarkeit, die der relativistischen, sprachkritischen Auffassung der Trennung von Signifikant und Signifikat gegenübersteht, wird beispielsweise von Leonard Bloomfield vertreten: »As to denotation, whatever can be said in one language, can doubtless be said in any other: the difference will concern only the structure of the forms, and their connotation.« (Bloomfield, Language, 278) Die möglichst vollständige Wiedergabe der Bedeutung ist zweifelsohne das treibende Motiv in der Entstehung und Tradierung der begrifflichen Trias, die bis auf den heutigen Tag trotz aller Kritik die Übersetzungsdiskussion (mit-)bestimmt: ›Text-Treue‹, ›Freiheit‹ und ›Wörtlichkeit‹. ›Treue‹ ist im Grunde immer Treue zur Bedeutung des Wortes, des Satzes, des Textes (vgl. Berman, »La traduction et la lettre ou l’auberge du lointain«, 90). ›Freiheit‹ und ›Wörtlichkeit‹ sind die beiden Mittel, um ›Treue‹ zu bewerkstelligen. Beide beruhen auf verschiedenen Auffassungen darüber, wie Bedeutung zustande kommt: als bloßer Effekt des sprachlichen Materials oder in relativ fester Verbindung damit (vgl. Koller, Grundprobleme der Übersetzungstheorie, 112-117). Die freie Übersetzung nimmt für sich in Anspruch, denselben Bedeutungseffekt notfalls mit völlig verschiedenem Sprachmaterial erzielen zu können, während die wörtliche Übersetzung dieselbe Bedeutung unter mög‐ lichst weitgehender Wahrung der sprachlichen Form des Originals gewährleistet sieht. Die (meist dualistischen) Unterscheidungen, die im Laufe der Übersetzungsgeschichte aufge‐ stellt wurden, gehen auf irgendeine Weise alle auf diese traditionelle Begrifflichkeit zurück: Martin Luther befürwortete in seinem Sendbrief vom Dolmetschen (1530) auf der einen Seite, »dem Volk aufs Maul zu schauen«, während er auf der anderen Seite dafür eintrat, unter bestimmten Umständen »die Wörter genauso stehen zu lassen« wie im Originaltext (Nord, »Translatorische Aspekte«, 142). Nicht nur Joachim du Bellays Unterscheidung (1549) zwi‐ Henri Bloemen und Arvi Sepp 236 <?page no="237"?> schen ›elocutio‹ und ›imitatio‹, John Drydens (1680) Differenzierung in ›Metaphrase‹ oder ›Paraphrase‹, Friedrich Schleiermachers zwei ›Wege‹ (1813), die dem Übersetzer offen‐ stehen (den Leser zum Autor oder den Autor zum Leser zu bringen), gehen in dieselbe Richtung. Auch Eugene A. Nidas Unterscheidung zwischen formeller und dynamischer Äquivalenz (1964), die beiden Bereiche des nach James S. Holmes benannten ›cross‹ (›con‐ servation‹ und ›re-creating‹) (»The Name and Nature of Translation Studies«, 1972), die Unterscheidung zwischen ›adäquater‹ und ›akzeptabler‹ Übersetzung (Toury, In Search of a Theory of Translation, 1980), ›dokumentarischer‹ und ›instrumenteller‹ Übersetzung (Nord, »Translatorische Aspekte«, 2006), ›hypertextueller‹ und ›wörtlicher‹ Übersetzung (Berman, »La traduction et la lettre ou l’auberge du lointain«, als Monographie 1985), ›overt‹ und ›covert translation‹ (House, A Model for Translation Quality Assessment, 1977), direkter und indirekter Übersetzung (Gutt, Translation and Relevance, 1991), Lawrence Venutis Plädoyer für ›foreignization‹ und gegen ›domestication‹ (The Translator’s Invisi‐ bility, 1995), und nicht zuletzt Peter Newmarks Unterscheidung (A Textbook of Transla‐ tion, 1988, About Translation, 1991) zwischen ›kommunikativer‹ und ›semantischer‹ Über‐ setzung lassen sich als Variationen eines eigentlich alten Themas verstehen (vgl. auch Gambier, »Stratégies et tactiques en traduction et interprétation«, 75 f.; Pym, Pour une éthique du traducteur, 21 f.). Theoretisch führen die dualistischen Unterscheidungen aber alle in eine Aporie, weil sie die Klärung des Übersetzungsbegriffs selbst nicht voranbringen und, was die Übersetzungspraxis betrifft, in methodischen Grabenkämpfen enden (vgl. Koller, »Die Übersetzung als Gegenstand der Sprachwissenschaft«, 190). An Versuchen, dieser Aporie zu entkommen, hat es allerdings nicht gefehlt. Die Ästhe‐ tisierung der Übersetzungsdebatte seit der Renaissance führte mit der Komplizierung des Verhältnisses von Form und Inhalt zur Berücksichtigung des Kunstwerks als einer ganz‐ heitlichen Gestalt, die sich hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht einfach in ihre Bestandteile auflösen lässt. Diese Einsicht führte alsbald zu der Überzeugung, dass literarische Werke in letzter Instanz unübersetzbar seien, dass eine Übersetzung höchstens eine Annäherung an das Original und dessen Bedeutung sein könne. Diese These der Unübersetzbarkeit er‐ hielt im ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem in Deutschland ( Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher) Unterstützung durch den aufkommenden Sprach‐ relativismus: Wenn Sprachen jeweils ihre eigene Welt konstituieren, wird die Übersetzung gerade von Meisterwerken der Sprache dann nicht ein »thörichtes Unternehmen« (Schlei‐ ermacher, »Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens«, 45)? Die These der Un‐ übersetzbarkeit hält sich bis ins 20. Jahrhundert mit Vertretern wie Benedetto Croce, George Steiner und Ortega y Gasset. Sie kommt zu linguistischen Ehren mit Roman Jakobson, der Texte mit einer dominanten poetischen Funktion für unübersetzbar hält, u. a. weil »in der Dichtung die innere Form eines Namens, das heißt der semantische Wert seiner Konstitu‐ enten, wieder auflebt« ( Jakobson, »Linguistik und Poetik«, 118). In der Dichtung sind die innere Form bzw. die Materialität des sprachlichen Zeichens auf der einen Seite und der semantische Wert auf der anderen so eng miteinander verbunden, dass die für die Über‐ setzung notwendige Trennung nicht vollzogen werden kann, ohne den poetischen Effekt zu zerstören. Höchstens eine ›poetische Transposition‹ hält Jakobson für möglich, aber keine Übersetzung. Dabei hatte Jakobson 1959 in seinem einflussreichen Aufsatz »On Lin‐ guistic Aspects of Translation« die Übersetzung in das Zentrum der Linguistik, insbeson‐ IV. 1. Semantische Übersetzung 237 <?page no="238"?> dere der Semantik gerückt: »For us, both as linguists and as ordinary word-users, the mea‐ ning of any linguistic sign is its translation into some further, alternative sign« (Jakobson, »On Linguistic Aspects of Translation«, 232). Für den normalen Sprachgebrauch gilt daher, dass der kognitive Inhalt einer sprachlichen Äußerung schlechthin übersetzbar ist, auch wenn der anderen Sprache die grammatischen oder lexikalischen Mittel der Ausgangs‐ sprache fehlen. Für den literarischen Sprachgebrauch aber gilt dies nicht. Statt poetische Texte für »unübersetzbar« zu erklären, kann man versuchen, den Begriff der Übersetzung auf anderer Grundlage als derjenigen der Bedeutungswiedergabe weiterzuentwickeln. Bereits in den 1970er Jahren machte es sich die Polysystemtheorie, vertreten u. a. von Gideon Toury und Itamar Even-Zohar, zur Aufgabe, sich nicht auf die semantische Bedeu‐ tungsübertragung bei der Übersetzung zu richten, sondern die Beziehungen zwischen den literarischen und außerliterarischen Subsystemen in der Gesellschaft und ihre Relevanz für die Übersetzung zu erfassen. ›Übersetzung‹ als Konzept wurde infolgedessen konsequent aus einer soziokulturellen Perspektive definiert und betrachtet, wodurch präskriptive Ten‐ denzen in der Übersetzungswissenschaft allmählich an Bedeutung verloren. Das Original wird in diesem Zusammenhang von beispielsweise Toury (In Search of a Theory of Trans‐ lation, 1980) als »ein Ensemble von Eigenschaften, Bedeutungen und Übersetzungsmög‐ lichkeiten« (Apel/ Kopetzki, Literarische Übersetzung, 59) gesehen. Jede Übersetzung privi‐ legiert vor diesem Hintergrund sowohl diachron als auch synchron andere Möglichkeiten, vermittelt andere Bedeutungen, die von »erlernten und in einer Kultur allgemein akzep‐ tierten Normen gesteuert« werden (ebd.). Gerade die Möglichkeit der Übersetzungsvielfalt eines einzelnen Textes führt auch die literarische Polyinterpretabilität vor Augen, denn »[e]rst dort, wo die Übersetzungen auseinanderdriften, liegt im Ausgangstext eine Mehr‐ deutigkeit, eine interpretationsbedürftige Stelle« vor, »an der sich dessen vielfache Les‐ barkeit zeigt« (Utz, Anders gesagt - autrement dit - in other words, 16). Die Rede von der übersetzerischen ›Treue‹ zum Original - der ›Sinnesnähe‹ - impliziert immer schon, dass angesichts der Polyinterpretabilität des literarischen Textes nicht alle Textmerkmale umgesetzt werden können. Hans-Georg Gadamer hebt aus Perspektive der Hermeneutik hervor, dass der Anspruch auf übersetzerische ›Treue‹ und ihre Unmöglich‐ keit in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen: »Auch wenn wir noch so getreu sein wollen, werden wir vor mißliche Entscheidungen gestellt. Wenn wir in unserer Über‐ setzung einen uns wichtigen Zug am Original hervorheben wollen, so können wir das nur, indem wir andere Züge in demselben zurücktreten lassen oder ganz unterdrücken.« (Ga‐ damer, Wahrheit und Methode, 389) Jegliche Idee sprachlicher Transparenz, die auf der Sinnebene einen rein utilitaristischen Bezug zur Sprache aufzeigen will, stellt sich ange‐ sichts der literarischen Übersetzungspraxis letzten Endes als Täuschung heraus. In der Skopostheorie von Katharina Reiß und Hans J. Vermeer (Grundlagen einer allgemeinen Translationstheorie, 1984) steht daher nicht die übersetzerische Treue im Mittelpunkt, son‐ dern gerade die funktionale, kommunikationsorientierte Adäquatheit der Übersetzung, die an der Zielkultur orientiert ist. Christiane Nord argumentiert, dass für die Skopostheorie mit ihrem funktionalistischen Ansatz die semantische Übersetzung eine ›metatextuelle‹ Funktion habe, indem sie bestimmte Elemente des Ausgangstextes für den Zielleser »do‐ kumentiert«. Eine solche Übersetzung sei - genauso wie die verfremdende - »textextern« durch Hinweise auf den Übersetzer oder »textintern« durch Sichtbarmachung des Über‐ Henri Bloemen und Arvi Sepp 238 <?page no="239"?> setzers oder sprachliche Befremdlichkeit charakterisiert, so dass der Leser nicht der Illusion erliegen könne, es handle sich um einen Originaltext (vgl. Nord, »Translatorische Aspekte«, 142 f.). Im Kontext der semantischen Übersetzung ist der Terminus ›Äquivalenz‹ zwar um‐ stritten, aber zur intuitiven Verständigung zugleich fast unvermeidbar. Die Problematik resultiert daraus, dass das Konzept lediglich im lexikalischen Bereich plausibel erscheint, aber mit der Erweiterung der Übersetzungseinheiten von der Wortauf die Textebene an Prägnanz und Umriss verliert (vgl. Wille, Semantische Figuren in der Übersetzung, 57-73). Nord hebt vor diesem Hintergrund die Spannung zwischen den Textniveaus hervor: »Äqui‐ valenz läßt sich in der Translationswissenschaft als Relation zwischen einzelnen sprachli‐ chen Zeichen eines Textpaares und als Relation zwischen ganzen Texten beschreiben. Wenn Äquivalenzbeziehungen zwischen einzelnen Elementen eines Textpaares bestehen, so heißt das noch nicht, dass auch Textäquivalenz insgesamt gegeben ist.« (Nord, »Translatorische Aspekte«, 131) Juliane House dagegen versteht das Wesen der Übersetzung als den Versuch, die ›Bedeutung‹ einer sprachlichen Einheit möglichst ›äquivalent‹ in eine andere Sprache zu übertragen. Bedeutung bestehe aus drei Komponenten: einer semantischen, einer prag‐ matischen und einer textuellen. House definiert Übersetzen folglich als »das Ersetzen eines in einer Ausgangssprache gegebenen Textes durch einen semantischen, pragmatisch und textuell äquivalenten Text in der Zielsprache« (House, »Offene und verdeckte Überset‐ zung«, 78). In Anbetracht der sehr unterschiedlichen Definitionen von Äquivalenz in der Überset‐ zungswissenschaft spricht Wille von einem disziplinären »Äquivalenzstreit« (vgl. Wille, Semantische Figuren in der Übersetzung, 50-56). Diese Problematik wird auch von Elżbieta Tabakowska in den Mittelpunkt des Interesses gerückt: »The main problem that faces ad‐ vocates of various approaches within the overall framework of present-day theories of translation is - as it has always been - the question of equivalence, no matter whether it is acknowledged as a crucial theoretical notion, or considered as ›an illusion‹.« (Tabakowska, Cognitive Linguistics and Poetics of Translation, 2) Theo Hermans steht einer uni‐ versalistischen Definition der Übersetzungsäquivalenz im Sinne einer interlingualen Mo‐ nosemie sehr kritisch gegenüber, weil derart jegliche Differenz aufgehoben sei: »For a translation […] being declared equivalent to its original, […] marks the end of its status as a translation. […] Strong equivalence is total: it posits congruence of meaning and singu‐ larity of intent, and leaves no room for differential voices, aberrant subject positions or interpretive margins.« (Hermans, »Translation, equivalence and intertextuality«, 39-41) Eine rein übersetzerische Äquivalenz ist also eine contradictio in terminis, denn »[equiva‐ lence] denies the very existence of translation as […] the replacement of an utterance in one language by another, so that the two are interchangeable« (Ebel, »Translation and Linguistics«, 50). Walter Benjamin widersetzt sich auf ähnliche Weise der Idee einer be‐ deutungskongruenten Äquivalenz (»Die Aufgabe des Übersetzers«, 1923). Ihm kommt es dabei darauf an, den formalen »Ausdruck« der Sprache des Originals, den er als »Art des Meinens« bezeichnet, in der Übersetzung ›nachzubilden‹ (Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, 14; vgl. auch Stolze, Übersetzungstheorien, 31). Er unterscheidet in diesem Zusammenhang die Form nachdrücklich von der Bedeutung, dem »Gemeinten«: »In ›Brot‹ und ›pain‹ ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen, dagegen nicht. In der Art IV. 1. Semantische Übersetzung 239 <?page no="240"?> des Meinens nämlich liegt es, daß beide Worte dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben; am Gemeinten aber, daß sie, absolut genommen, das Selbe und Identische bedeuten.« (Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, 14) Benjamin zufolge ist es deshalb die Aufgabe des Übersetzers, »[j]ene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien« (ebd., 19). Indem die Sprache der Übersetzung sich die Art des Meinens der anderen Sprache anbilde (ebd., 18), nähere sie sich jener höheren Sprache, die Benjamin die »reine Sprache« nennt. Bereits Arthur Schopenhauer hebt in »Über Sprache und Worte« (1891) hervor, dass jede Übersetzung entweder »tot« sei, da ihr Stil unnatürlich sei, oder »falsch«, sobald sie freier werde (vgl. Müller, »Übersetzerausbildung - Übersetzerwissen«, 184). In »Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens« (1813) betont Schleierma‐ cher, man müsse das Muttersprachliche durch Wörtlichkeit verfremden (vgl. Weissmann, »Erfahrung des Fremden als Einübung des Eigenen? «, 87). Benjamin scheint seinerseits daran anzuknüpfen, wenn es bei ihm heißt: »[D]ie wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original« (Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, 18). In Toward a Science of Translating (1964) betont Nida, dass eine formgenaue Übersetzung, bei der Wort für Wort bzw. Satz für Satz übersetzt wird, unmittelbar mit der Vermittlung der Botschaft verbunden ist: »Formal equivalence focuses attention on the message itself, in both form and content. In such a translation one is concerned with such correspondences as poetry to poetry, sentence to sentence, and concept to concept. Viewed from this formal orientation, one is concerned that the message in the receptor language should match as closely as possible the different elements in the source language.« (Nida, Toward a Science of Translating, 159) Auch in The Theory and Practice of Translation heben Nida und Charles R. Taber hervor, dass die »Reproduktion der Botschaft« in der Übersetzung zentral stehen solle: »Translating must aim primarily at ›reproducing the message‹. To do anything else is essentially false to one’s task as a translator« (Nida/ Taber, The Theory and Practice of Translation, 12). In ihrer Extremform führt die semantische Übersetzung beim Leser zur Illusion der Originalität des übersetzten Textes. Venuti hebt vor diesem Hintergrund in The Translator’s Invisibility hervor, die Übersetzung müsse den Anforderungen von Verlegern, Lektoren und Lesern genügen, für die gerade die »Flüssigkeit« und »Natürlichkeit« als Erwartungshorizont orientierungsleitend sei: »[A] translated text, whether prose or poetry, fiction or nonfiction, is judged acceptable by most publishers, reviewers and readers when it reads fluently, when the absence of any linguistic or stylistic peculiarities makes it seem transparent, giving the appearance that it reflects the foreign writer’s personality or in‐ tention or the essential meaning of the foreign text - the appearance, in other words, that the translation is not in fact a translation, but the original.« (Venuti, The Translator’s Invi‐ sibility, 1) Um sich der Dominanz zielkultureller Normen und Erwartungen zu widersetzen, sei es, so Venuti, angebracht, eine bruchlose kommunikationsorientierte Bedeutungsüber‐ tragung zu verweigern. In Rethinking Translation heißt es vor diesem Hintergrund: »[R]esistant strategies can help to preserve the linguistic and cultural difference of the foreign text by producing translations which are strange and estranging, which mark the limits of dominant values in the target-language culture« (Venuti, Rethinking Translation, 13). Henri Bloemen und Arvi Sepp 240 <?page no="241"?> In Le monolinguisme de l’autre ou la prothèse d’origine (1996) argumentiert Jacques Der‐ rida, dass der Begriff der Einsprachigkeit, der vom ›anderen‹ stammt, vom ›anderen‹ be‐ wahrt wird, und auf die Konsequenz hinausläuft, dass Menschen immer nur eine Sprache sprechen, diese indes nicht als Besitz in Anspruch nehmen können. Die ›eigene‹ Sprache ist im Gegenteil immer auch beim ›anderen‹, stammt immer schon vom ›anderen‹. Die Spuren des ›Anderen‹ finden sich unweigerlich immer auch im ›Eigenen‹ und umgekehrt schreibt sich das ›Eigene‹ stets in das ›Andere‹ ein (vgl. Derrida, Le monolinguisme, 70). Einerseits spricht man also nie nur eine Sprache, und andererseits nie eine einzige Sprache (vgl. ebd., 20). Aus der Perspektive der Dekonstruktion wird auch die Übersetzung dem‐ entsprechend als ein intertextuelles Beziehungsgeflecht aufgefasst, bei dem das Original bereits selbst als Übersetzung verstanden wird (vgl. Apel/ Kopetzki, Literarische Überset‐ zung, 60). Die Übersetzung gilt somit als ein prinzipiell unabschließbarer semiotischer Pro‐ zess der Zeichen- und Bedeutungsinterpretation, die stets ideologisch und kulturell bedingt ist. Dieser Übersetzungsbegriff geht von der grundsätzlichen Fremdheit des Ausgangstextes hinsichtlich seiner Möglichkeit zu bedeuten aus (vgl. Lassalle, Bruchstücke und Portrait, 45). Auf diese Weise wird die Übersetzungsproblematik zum Brennpunkt sprachphiloso‐ phischer und kulturkritischer Reflexionen. Die Derrida’sche Denkfigur der Verschiebung des Sinns, die différance, steht der Denkfigur der clôture gegenüber, obschon ihr nie zu entkommen ist (vgl. Reckermann, Lesarten der Philosophie Nietzsches, 40). Der sprachre‐ flexive und kulturkritische Impetus tritt insbesondere auch in der mehrsprachigen Literatur in den Vordergrund, indem diese die Dichotomie von Original und Übersetzung, Mutter- und Fremdsprache, Ausgangs- und Zielkultur, Authentizität und Adaptation radikal pro‐ blematisiert: »[T]he focus on multilingual texts […] has blown apart the traditional dicho‐ tomy of source text versus target text, as well as many other structural notions such as fidelity and equivalence« (Suchet, »Translating Literary Heterolingualism«, 151). Jede wis‐ senschaftliche Auseinandersetzung mit (literarischer) Mehrsprachigkeit veranlasst volens nolens immer auch zu übersetzungstheoretischen Überlegungen, wie Reine Meylaerts her‐ vorhebt (vgl. Meylaerts, »Multilingualism and Translation«, 227). Der weitestgehende Versuch, die Übersetzung zu denken, und zwar unter der Bedingung, dass »Wiedergabe des Sinnes aufhört, maßgebend zu sein«, stellt Benjamins Neudefinition der Aufgabe des Übersetzers dar. In seinem wegweisenden Aufsatz betrachtet Benjamin die wörtlichen Übersetzungen des Ödipus und der Antigone von Sophokles durch Friedrich Hölderlin, die durch ihr Ignorieren der Regeln der deutschen Syntax die Verständlichkeit und Kommunikabilität des Textes aufgeben, als »Urbilder ihrer Form« (Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, 21). Ihre »Wörtlichkeit« (ebd.) wendet sich von der Sinnhaftig‐ keit der Textübertragung ab und stellt gerade dadurch die »Harmonie der Sprachen« zur Schau: »Hierfür wie in jeder andern wesentlichen Hinsicht stellen sich Hölderlins Über‐ tragungen, besonders die der beiden Sophokleischen Tragödien, bestätigend dar. In ihnen ist die Harmonie der Sprachen so tief, daß der Sinn nur noch wie eine Äolsharfe vom Winde von der Sprache berührt wird. Hölderlins Übersetzungen sind Urbilder ihrer Form.« (ebd., 21) Dem Übersetzer fällt damit die Aufgabe zu, Zeuge der Sprachbewegung zu sein, jener Dynamik in der Sprache, die dafür sorgt, dass immer neue Bedeutungen und Tendenzen sich aus dem Werk erheben. Diese neuen Bedeutungen sind, entgegen der landläufigen Ansicht, dem Einfluss des Menschen entzogen: »Das Wesentliche solcher Wandlungen wie IV. 1. Semantische Übersetzung 241 <?page no="242"?> auch der ebenso ständigen des Sinnes in der Subjektivität der Nachgeborenen statt im ei‐ gensten Leben der Sprache und ihrer Werke zu suchen, hieße […] Grund und Wesen einer Sache verwechseln« (ebd., 13). Weil sowohl das Original als auch die Sprache des Überset‐ zers in ständiger Wandlung begriffen sind, kann von einer Übersetzung im Sinne einer möglichst genauen Bedeutungswiedergabe keine Rede mehr sein. Übersetzung verab‐ schiedet sich hier von Bedeutungsäquivalenz und steht im Zeichen der Bedeutungswand‐ lung, der unausweichlichen Differenz. Benjamins Argumentation ist ebenso stichhaltig wie ihre Begründung ephemer ist. Er wirft der traditionellen Übersetzungstheorie vor, dass sie von der Übersetzung zwar die möglichst genaue Übermittlung von »Form und Sinn des Originals« (ebd., 12) fordert, ihr aber das Maß für diese Genauigkeit schuldig bleibt: »Über den Begriff dieser Genauigkeit wüsste sich jene Theorie freilich nicht zu fassen, könnte also zuletzt doch keine Rechenschaft von dem geben, was an Übersetzungen wesentlich ist« (ebd.). Zur Beschreibung des Wesens der Übersetzung führt Benjamin aber den ephemeren, mystisch-religiösen Begriff der ›reinen Sprache‹ ein, der es seinen Kritikern einfach ge‐ macht hat, seinen Neubegründungsversuch ins Reich der Spekulation zu verweisen. Das Theorem der ›Unübersetzbarkeit‹, die Widersprüchlichkeit einer auf Bedeutungs‐ wiedergabe beruhenden Übersetzungstheorie (Benjamin) oder gar das gänzliche Fehlen einer ›allgemeinen Übersetzungstheorie‹ (Holmes, »The Name and Nature of Translation Studies«, 74) haben freilich nicht dazu geführt, dass nicht mehr übersetzt würde. Oft wird der Spieß umgedreht: Die Tatsache, dass weiterhin übersetzt wird, weist darauf hin, dass eine Theorie, die das Übersetzen für unmöglich erklärt, selbst falsch sein könnte. Benjamins Forderung einer begrifflichen Klärung des Wesens der Übersetzung und Holmes’ Forderung nach einer allgemeinen Übersetzungstheorie verlieren damit aber nicht ihre Berechtigung. Die weitverbreitete Theoriefeindlichkeit praktischer Übersetzer hat aber dazu geführt, dass wichtige Unterscheidungen aus der Übersetzungstheorie in die (didaktische) Methodik der Übersetzung eingeflossen sind. Die mangelhafte theoretische Klärung des Übersetzungs‐ begriffs ist dort Ausgangslage für Diskussionen und mögliche Wege zu notwendigen Kom‐ promissen, denn einige Bestandteile der Theorie spielen in der Methodik eine wichtige Rolle, und zwar bei der Frage nach der Erstellung der ›richtigen‹ Übersetzung. Titel wie »de optimo genere interpretandi« (Cicero), »Über die verschiedenen Methoden des Über‐ setzens« (Schleiermacher) belegen, dass Theorie und Methodik immer schon eng mitei‐ nander verknüpft sind. Seitdem sich die Übersetzungswissenschaft aber ihres normativen Erbes entledigt hat (oder besser: glaubt sich dessen entledigt zu haben), ist auch das Ver‐ hältnis von Theorie und Methode spannungsvoll. Was die ›semantische Übersetzung‹ betrifft, ist diese Spannung nirgendwo so stark wie im Werk des britischen Übersetzungstheoretikers Newmark. Er hat die Unterscheidung zwischen ›semantischer‹ und ›kommunikativer‹ Übersetzung (die nicht zu verwechseln ist mit der in diesem Handbuch zugrunde gelegten Unterscheidung zwischen semantischer und homophoner Übersetzung) zur Grundlage seiner Herangehensweise gemacht, weil für ihn nur diese beiden die Hauptziele einer Übersetzung, nämlich Akkuratheit und Öko‐ nomie, erfüllen können. Newmark ist nicht so sehr an einer stimmigen Theorie interessiert als vielmehr an einem fruchtbaren Verhältnis von Theorie und Praxis. Übersetzung ist nicht etwas, worüber theoretisch entschieden wird, sondern etwas, das stets zur Diskussion steht: »Translation is for discussion.« (Newmark, A Textbook of Translation, 21) Die traditionelle Henri Bloemen und Arvi Sepp 242 <?page no="243"?> Theorie führe zur Aporie, weil sie mindestens drei Elemente außer Acht lasse: erstens die Funktion der Übersetzung, zweitens das Zielpublikum und drittens die Textsorte. Zur Fest‐ legung der Funktion greift Newmark auf Karl Bühlers und Jakobsons Unterscheidung zwi‐ schen expressiver (oder autorgebundener), informativer (oder wahrheitsgebundener) und appellativer (oder lesergebundener) Funktion zurück. Dieser Unterscheidung entsprechen graduell die semantische (für mehr expressive Texte) und die kommunikative Übersetzung (für mehr appellative Texte), wobei beide in einigen Fällen fast unterschiedslos zusammen‐ fallen können. Wort-für-Wort-Übersetzung und Adaptation stellen jeweils die extremste Form der beiden Übersetzungsmethoden dar. In der Wort-für-Wort-Übersetzung wird die Wortfolge beibehalten, die einzelnen Wörter werden in ihrer allgemeinen Bedeutung angeführt (vgl. Prunč, Einführung in die Translationswissenschaft, 90). Vor diesem Hintergrund heißt es bei Kirsten Malmkjær: »[B]y word-for-word is not meant that one source language word should be rendered by one word in the target language, a strategy which would in the case of most languages, particularly those that are unrelated, render translations very hard to read.« (Malmkjær, »Unit of translation«, 286) Die wörtliche (›literale‹) Übersetzung bedient sich möglichst äquivalenter grammatischer Konstruktionen in der Zielsprache; die treue Übersetzung reproduziert die präzise kontextuelle Bedeutung (›meaning‹) des Originals innerhalb der grammatischen Zwänge der Zielsprache, sie übernimmt kulturspezifische Elemente und respektiert in der Übersetzung den Grad der Normabweichung im Original. Die semantische Übersetzung im Sinne Newmarks unterscheidet sich von der treuen, indem sie den ästhetischen Wert des Originals, den »schönen und natürlichen Klang« (Newmark, A Textbook of Translation, 46) einbezieht und bei der Sinnwiedergabe Kompromisse nicht scheut, dies im Gegensatz zur treuen Übersetzung, die »kompromisslos und dogmatisch« (ebd.) ist. Die semantische Übersetzung gibt der »kreativen Ausnahme« (ebd.) Raum und setzt auf die intuitive Empathie des Übersetzers mit dem Autor. Auf der anderen Seite steht bei Newmark die kommunikative Übersetzung für den Ver‐ such, die exakte kontextuelle Bedeutung des Originals wiederzugeben, und zwar in einer Weise, die sowohl den Inhalt wie dessen sprachliche Verfassung für das Zielpublikum ›ak‐ zeptabel‹ macht. Im Prinzip hat eine kommunikative Übersetzung mehr Freiheiten, weil sie einem schwer definierbaren Zielpublikum verpflichtet ist; die semantische Übersetzung dagegen folgt einer, laut Newmark, wohl umrissenen Autorität: dem Autor, seinen unter‐ stellten Intentionen und seinem Stil. Eine semantische Übersetzung ist ›persönlich‹ und ›individuell‹ und tendiert zur Konkretisierung (»over-translate«, ebd., 47). Semantische Übersetzungen im Sinne Newmarks sind meistens minderwertiger (»inferior«, ebd., 48) als ihre Originale, weil sie notgedrungen mit kognitiven und pragmatischen Verlusten ein‐ hergehen. Literarische Texte stellen in dem Sinne für die semantische Übersetzung (obwohl gerade literarische Texte paradoxerweise ihre geeignetste Textsorte sind) ein Problem dar, dass sie kein konstruierbares Lesepublikum haben, sondern sich an individuelle Leser wenden. Der semantische Übersetzer, der sich empathisch in den Autor versetzen soll, nimmt dann selbst die Stelle des Lesers ein. Eine kommunikative Übersetzung wird eher die ›Kraft‹ (›force‹) einer sprachlichen Äußerung betonen als ihren Gehalt. Sie wird ›Bis‐ siger Hund‹ idiomatisch mit ›Beware of the dog‹ übersetzen; eine semantische Übersetzung IV. 1. Semantische Übersetzung 243 <?page no="244"?> (etwa ›dog that bites‹, ›dangerous dog‹) ist zwar informativer, aber in kommunikativer Hinsicht vielleicht weniger effektiv. Die semantische Übersetzung im Sinne Newmarks bleibt der Ausgangskultur verhaftet, sie unterstreicht die Besonderheit des Ausgangstextes nicht nur in Bezug auf den Inhalt, sondern auch in Bezug auf die Art, wie dieser Inhalt vermittelt wird. Die kommunikative Übersetzung hingegen konzentriert sich auf die Wirkung, passt sich zielsprachlichen Kon‐ ventionen an und wirkt dadurch flüssiger (vgl. Prunč, Einführung in die Translationswis‐ senschaft, 90; Morini, La traduzione, 72-77). »Your text is dependent on another text but […] in communicative translation you have to use a language that comes naturally to you, whilst in semantic translation, you have to empathise with the author.« (Newmark, A Textbook of Translation, 36) Alle Übersetzungsmethoden, auch die semantische Übersetzung im Sinne Newmarks, bedürfen der Interpretation: Denn was ist, um nur einige Beispiele zu nennen, der Unter‐ schied zwischen ›Kunst‹ und ›Fertigkeit‹, zwischen ›Bedeutung‹ und ›Botschaft‹. Der Ver‐ such, alte Formen der Normativität mit neueren theoretischen Einsichten zu verbinden, mag zwar einen unmittelbaren didaktischen Nutzen haben, überzeugt aber insgesamt kaum. c) Anwendungs-/ Analysebeispiel Übersetzungen gibt es nie in Reinkultur. Gewiss könnte man in der Geschichte der litera‐ rischen Übersetzung Beispiele auftreiben, die eher dem Ideal der semantischen Übersetzung im Sinne Newmarks entsprechen, jedoch wird der mitteilende, kommunikative Aspekt der Übersetzung nie fehlen. Ein Beispiel, das es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat, mag hier angeführt sein. In der ersten Szene des ersten Aktes von Sophokles’ Antigone findet Ismene ihre Schwester Antigone in höchster Aufgeregtheit vor. Sie hat soeben er‐ fahren, dass ihre beiden Brüder Polyneikes und Eteokles sich in einem Duell gegenseitig umgebracht haben. Auf Befehl des Königs, Kreon, wird Eteokles begraben, Polyneikes nicht. Das ist für Antigone nicht hinnehmbar. Sie deutet gegenüber Ismene ihren Plan an, worauf diese sagt: τί δ᾽ ἔστι; δηλοῖς γάρ τι καλχαίνουσ᾽ ἔπος. Hölderlins Übersetzung (1804) dieses Verses kann als Beispiel einer semantischen Überset‐ zung im Sinne Newmarks gelten. Sie hat zu seiner Zeit für viel Wirbel gesorgt. Hölderlin übersetzte: »Was ists? Du scheinst ein rotes Wort zu färben? « Die zeitgenössischen Übersetzungen lauten anders; sie können als Beispiele für eher kom‐ munikative Übersetzungen im Sinne Newmarks gelten: »Was ist denn? deine Verwirrung lässt mich etwas Trauriges fürchten.« (Steinbrüchel, 1760) »Was ist’s? Du scheinst so ernst, gedankenvoll.« (Stolberg, 1787) »Was ist es? liebes Kind! du scheinst mir ganz vertieft.« (Fähse, 1804) »Was ist’s? Gewiss unruhig sinnst du auf ein Werk? « (Ast, 1804) Henri Bloemen und Arvi Sepp 244 <?page no="245"?> 1 Das tragische Theater der Griechen. Des Sophocles erster Band, übers. v. J. J. Steinbrüchel, Zürich 1760. - Sofokles [! ], übers. v. Christian Graf zu Stolberg, Bd. 2, Leipzig 1787. - Sophokles, Trauer‐ spiele, Bd. I, übers. v. Gottfried Fähse, Leipzig 1787. - Sophokles, Trauerspiele, übers. v. D. Friedrich Ast, Leipzig 1804. - Des Sophokles Tragëdien. Erster Theil, übers. v. Karl Wilhelm Solger, Berlin 1808. »Was ist’s. Ein tief aufwogend Wort doch sicherlich.« (Solger, 1808) 1 Hölderlins Übersetzung weicht nicht wenig von denen seiner Zeitgenossen ab, was ihm u. a. den Spott des großen Klassikerübersetzers Johann Heinrich Voß eintrug (»Ist der Mann rasend? «). Tatsächlich leuchtet die ›Bedeutung‹ seiner Übersetzung nicht sofort ein. Bei näherem Zusehen aber muss man feststellen, dass Hölderlins Übersetzung sich viel intimer zu Sophokles’ Text verhält als alle übrigen. Hölderlin verzichtet auf die metaphorische Bedeutung des Verbs ›kalchainein‹, das wörtlich ›purpur, dunkelrot färben‹ bedeutet und erst im übertragenen Sinne Bedeutungen annimmt wie ›dunkel machen‹, ›dunkel sein‹, ›trüb machen‹, ›in Gedanken versunken sein‹, ›heftig bewegt sein‹ usw. Hölderlin greift also auf die ursprünglichere Bedeutung des griechischen Wortes zurück und respektiert auch größtenteils die einfache Syntax des griechischen Satzes, wenn man von der Trans‐ ponierung eines Bedeutungsteils des Verbs (»rot«) auf das Objekt (»epos«) mal absieht. Die Übersetzung ist mithin nicht wörtlich oder buchstäblich - dann hätte es heißen müssen: ›du scheinst ein Wort rot zu färben‹ - wohl aber semantisch im Sinne Newmarks, und zwar nicht nur avant la lettre, sondern auch mit einer tieferen Absicht als eine bloße Strategie‐ wahl des Übersetzers Hölderlin. Dass er auf die ursprünglichere Bedeutung zurückgreift, hat mit seiner radikalen Umdeutung des Sophokleischen Werkes zu tun, in der es ihm um die Harmonie der beiden Sprachen - Griechisch und Deutsch - zu tun war (vgl. Verbeeck, »Herrie om een versregel«, 21-29). d) Offene Forschungsfragen Eine klare Unterscheidung zwischen homophoner und semantischer Übersetzung dürfte theoretisch kaum zu legitimieren sein, denn die homophone Übersetzung kann auch Be‐ standteil von semantischer Übersetzung sein bzw. ist dies immer schon. Man kann jedoch sagen, dass die Unterwanderung der Autorität des Originaltextes und die innovationsför‐ dernde Verneinung der Sinnebene geradezu das Wesensmerkmal der homophonen Über‐ setzung ausmacht und diese sich, viel ausgeprägter als die semantische Übersetzung, der Nachdichtung annähert, die »in der der Fremdheit des Originals sich öffnenden, sie in sich aufnehmenden ›Übersetzung‹ eine Überstrapazierung der eigenen Sprache vermutet, die dem Verständnis eher hinderlich als dienlich« ist, so Hans-Christoph Askani (Das Problem der Übersetzung, 116). Der Unterschied zwischen homophoner und semantischer Überset‐ zung mag auch gattungs- und traditionsbedingt sein, indem die ›Übersetzbarkeit‹ des Ori‐ ginals die Gradierung der Bedeutungsübertragung bestimmt. Die Prosa der Neuen Sach‐ lichkeit, um nur ein Beispiel zu nennen, erlaubt mehr als die konkrete und experimentelle Poesie eine ›semantische‹ Übersetzung: »Leichtere oder schwerere Übersetzbarkeit hängen […] vom ›Typ‹ des Originals ab« (Kirsch, Das Wort und seine Strahlung, 13). Eine semantische Übersetzung, die von der Möglichkeit sprachlicher Bedeutungsgleichheit aus‐ IV. 1. Semantische Übersetzung 245 <?page no="246"?> geht, wird aber volens nolens auch immer wieder mit der widerständigen Fremdheit des Ausgangstextes konfrontiert. Richard Kearney hebt in seiner Einführung zur englischen Übersetzung von Paul Ricœurs Sur la traduction hervor, dass ›Übersetzung‹ für Ricœur - auch in ihrer Sinnbezogenheit - letztendlich nicht die zwischensprachliche Bedeutungs‐ gleichheit, sondern vielmehr ihre radikale Differenz zum Ausdruck bringt: »Linguistic hos‐ pitality calls us to forgo the lure of omnipotence: the illusion of a total translation which would provide a perfect replica of the original. Instead it asks us to respect the fact that the semantic and syntactic fields of two languages are not the same, or exactly reducible the one to the other. Connotations, contexts and cultural characteristics will always exceed any slide rule of neat equations between tongues.« (Kearney, »Ricoeur’s philosophy of trans‐ lation«, xvii) Die Übersetzung zeigt, so Berman, dass »lettre et sens sont à la fois dissociables et indissociables« (Buchstabe und Bedeutung sind gleichzeitig trennbar und untrennbar) (Berman, »La traduction et la lettre ou l’auberge du lointain«, 59). Das gilt insbesondere für den Gebrauch des Begriffs ›semantisch‹ für eine Überset‐ zungsmethode, die einen Bonus an Genauigkeit und damit Glaubwürdigkeit hat, ist doch die Semantik selbst ein inzwischen ausgewachsener Zweig der Sprachwissenschaft. Wenn man weiterhin davon ausgehen kann, dass ›Bedeutung‹ für die Übersetzung eine zentrale Rolle spielt, dann dürfte für die Übersetzung und die Übersetzungsdiskussion mehr zu ge‐ winnen sein, wenn man sich genaue Einsicht in die Mechanismen der Bedeutungskonsti‐ tution verschafft. Das kann auch heißen, insbesondere im Falle literarischer Texte, dass der Prozess der Bedeutungskonstitution einer letztlich unbeherrschbaren ›Dissemination‹ (Derrida, La dissémination) unterliegt, der im Zuge der Übersetzung naturgemäß noch po‐ tenziert wird. Hermans unterstreicht dementsprechend, dass spätestens seit dem Post‐ strukturalismus die Idee bzw. das Ideal des inhaltsgetreuen Bedeutungstransfers in der Übersetzungstheorie sowie auch -praxis aufgegeben wurde: »To the extent that poststruc‐ turalist thinking on translation abandons the notion of transferring ›content‹ understood as a determinable semantic load, it has spawned a translation practice which Philip Lewis termed ›abusive fidelity‹, whereby the translation ›goes beyond - fills in for - the ori‐ ginal‹.« (Hermans, »Translation as an Object of Reflection in Modern Literary and Cultural Studies«, 198) Die Vorstellung, dass die Übersetzung über das Original hinausgeht, es über‐ steigt, es ersetzt und erneuert, macht deutlich, dass semantische und homophone Überset‐ zung nicht unbedingt übersetzungsstrategische Extrempole bilden, sondern sich im Punkt der verfremdenden Distanzierung berühren. 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Homophone Übersetzung Till Dembeck a) Beschreibung des Verfahrens Die homophone Übersetzung hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eigene Kunstform vor allem im Bereich der Lyrik etabliert. Im Deutschen spricht man in Anleh‐ nung an eine berühmte homophone Übersetzung von Ernst Jandl auch von ›Oberflächen‐ übersetzung‹. Anders als die semantische Übersetzung versucht die homophone Überset‐ zung die lautliche Struktur des Originals zu übertragen und nimmt dabei nicht unbedingt Rücksicht auf Bedeutungen. In einer homophonen Übersetzung ist daher die klangliche Seite der Ausgangssprache deutlich präsenter als in der Mehrzahl der semantischen Über‐ setzungen, in denen die Lautstruktur des Originaltextes in der Regel nahezu ganz verloren geht (zum Stellenwert dieser Unterscheidung und zum Begriff ›semantische Übersetzung‹ vgl. IV .1). Insofern ist die intrinsische Mehrsprachigkeit homophoner Übersetzungen be‐ sonders ausgeprägt. Das Verhältnis zwischen Original und homophoner Übersetzung kann auf unterschied‐ lichen Ebenen beschrieben werden: (a) Zum ersten bringt die Wiedergabe der phonologischen Struktur einer Sprache mit den Mitteln einer anderen mehr oder weniger große, d. h., mehr oder weniger gut ›hörbare‹ Differenzen zwischen Original und Übersetzung hervor. Der Grad dieser Differenzen kann nicht nur zwischen unterschiedlichen Übersetzungen, sondern auch innerhalb ein und der‐ selben Übersetzung beträchtlich schwanken. (b) Zum zweiten können, wiederum auch in ein und derselben Übersetzung, sehr unter‐ schiedliche Methoden der Transformation von Laut-Buchstabe-Zuordnungen angewendet werden. Man kann sehr unterschiedlich mit den nicht oder nur teilweise lautlich relevanten Strukturen des Originals umgehen: Wortund/ oder syntaktische Grenzen können bewahrt werden oder nicht; dasselbe gilt für metrische Strukturen inklusive des Reims. Überdies ist es manchmal möglich, Wörter zu verwenden, die es in verwandter Form auch in der Ori‐ ginalsprache gibt, etwa Lehnbzw. Fremdwörter. Stellenweise werden auch schlicht Laut-Buchstabe-Zuordnungen der Originalsprache in der Übersetzung vorausgesetzt. (c) Zum dritten kann die Übersetzung in unterschiedlichem Maße konkordant sein, d. h., die Ausdrücke der Ausgangssprache in unterschiedlichem Grade konsistent mit korres‐ pondierenden Ausdrücken in der Zielsprache wiedergeben (vgl. Eastman, »Estranging the Classics«, § 12). Die Analyse konkreter homophoner Übersetzungen muss die Freiheitsgrade, die das Verfahren bietet, genau abwägen. In ihrer Nutzung gibt sich nicht zuletzt die Tendenzhaf‐ tigkeit der Übersetzung zu erkennen: die Art und Weise, wie der Originaltext im Überset‐ zungsvorgang womöglich strategisch auf eine bestimmte Bedeutung hin ›abgehört‹ wird. <?page no="250"?> 2 Axel Hacke/ Michael Sowa, Der weiße Neger Wumbaba. Kleines Handbuch des Verhörens, München 2004. 3 Siehe hierzu George E. Duckworth, The Nature of Roman Comedy. A Study in Popular Entertain‐ ment, Princeton 1971 [1952], S. 354. Das wiederum ist wichtig für die Einschätzung der kulturpolitischen Ausrichtung der je‐ weiligen Texte. b) Sachgeschichte Als künstlerisches, insbesondere in der Lyrik genutztes Verfahren erlebt die homophone Übersetzung seit dem Ende der 1950er Jahre eine gewisse Konjunktur, mit Höhepunkten in den späten 1960er Jahren und um die Jahrtausendwende. Allerdings ist die homophone Übersetzung der Sache nach deutlich älter. Man wird dem Prinzip der homophonen Über‐ setzung nachgerade sprachhistorische Relevanz zusprechen müssen: So greift es beispiels‐ weise immer schon bei der Anpassung von Eigennamen aus fremden Sprachen, bei der Fremdwortübernahme und vor allem bei der Lehnwortbildung, die in der Regel mit der Anpassung des übernommenen Wortes an die phonologischen Regeln der Zielsprache ein‐ hergeht. Ein Beispiel hierfür ist die Benutzung des germanischen Initialakzents für aus dem Lateinischen ins Deutsche übernommene Wörter wie ›Fénster‹ (im Original ›fenéstra‹). Eine im engeren Sinne literarische Praxis der homophonen Übersetzung liegt vor, wenn das Prinzip des Verhörens systematisch zur (meist populärkulturellen) Aneignung anders‐ sprachiger Texte genutzt wird - ob bewusst oder nicht. Dass dieses Verfahren eine gewisse Faszinationskraft birgt, zeigt etwa die vielverkaufte Zusammenstellung verbreiteter Miss‐ verständnisse englischer Liedtexte von Axel Hacke und Michael Sowa. 2 Allerdings bleibt die populärkulturelle Facette der homophonen Übersetzung vor allem in historischer Per‐ spektive noch sehr viel gründlicher zu untersuchen. Anhaltspunkte gibt die Geschichte der Komödie: So übersetzen sich die römischen Figuren in Titus Maccius Plautus’ Komödie Poenulus die Rede einer Figur, die Punisch spricht, homophon ins Lateinische. 3 Dasselbe Verfahren findet sich in Andreas Gryphius’ Horribilicribrifax Teutsch (1663) (siehe das erste Anwendungs-/ Analysebeispiel in III .2) und in William Shakespeares Love’s Labour’s Lost. Hier hält eine Person mit dem sprechenden Namen Dull das Latein des Schulmeisters Ho‐ lofernes pausenlos für reinstes Englisch. Es ist zu vermuten, dass im Rahmen von parodis‐ tischen Adaptionen z. B. des lateinischen Messetextes oder in der frühmodernen makkaro‐ nischen Poesie (siehe V.1) weitere Beispiele für homophone Übersetzung zu finden sind, die allerdings bis heute nicht systematisch erforscht sind. Ein interessantes Zeugnis bilden schließlich eine Reihe von Texten Jonathan Swifts, die in einer Art Pseudolatein geschrieben sind, wie es noch heute von Lateinschülern gepflegt wird: »No quare lingat præ senti de si re«, antwortet ein Arzt seinen streitenden Kollegen in »A Consultation of four Physicians upon a Lord that was dying« (1736, publiziert postum 1746). Das heißt: »No quarrelling at present, I desire.« (Zit. nach Cain, »Phonology and Meter«, 24.) Auch hier handelt es sich im Grunde um eine homophone Übersetzung, auch wenn das ›Original‹ erst durch Rück‐ übersetzung erschlossen werden muss. Seit der literarischen Etablierung der Muttersprachensemantik (also der Durchsetzung der Vorstellung, man könne nur in der Muttersprache echte Literatur schaffen) finden sich Till Dembeck 250 <?page no="251"?> 4 Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 21.1: Satiren und Kleine Prosa, hrsg. v. Maximilian Bergengruen u. a., Stuttgart 2013, S. 95. 5 Ernst Jandl, sprechblasen. verstreute gedichte 3, München 1997, S. 51. 6 Luis d’Antin van Rooten, Mots D’Heures: Gousses, Rames. The D’Antin Manuscript, New York 1967. 7 Celia und Louis Zukofsky (Übers.), »Catullus (Gai Valeri Catulli Veronensis Liber)«, in: Louis Zu‐ kofsky, Complete Short Poetry, Baltimore/ London 1991, S. 241-319. 8 David J. Melnick, Men in Aïda, Den Haag 2015. 9 Siehe zum Beispiel Oulipo, La littérature potentielle (Créations Re-créations Récréations), Paris 1973, S. 111, und Oulipo, Atlas de littérature potentielle, Paris 1981, S. 144 f. der spärlichen Forschung zufolge über lange Zeit kaum literarische Texte, die homophone Übersetzung als literarisches Verfahren einsetzen. Eine Ausnahme bildet Clemens Bren‐ tanos Verssatire »Der Einsiedler und das Klingding« von 1808, die Brentano im Zuge einer Debatte mit Johann Heinrich Voß über die Differenzen zwischen modernem und klassi‐ schem Vers publiziert hat. Hier tritt ein griechisches Sonett (! ) auf - und zwar buchstäblich, denn es betritt die Hütte eines Eremiten. Das Sonett gibt nun einzelne Verse auf Griechisch von sich, die der Eremit, der diese Sprache nicht versteht, auf deutsche Wörter zurückzu‐ führen sucht: »Τοῦ παιδιώδους φιλτάτου τ᾽ἀγῶνος / (Er sagt, bei Dich, o thus, viel da)«. 4 Ihren ersten Höhepunkt erfährt die literarische homophone Übersetzung - nach einer frühen Übersetzung von »Frère Jacques« ins Englische, die Howard L. Chace 1956 unter dem Titel »Fryer Jerker« publiziert hat (siehe Weissmann, »Stop making sense? «, 297) - mit dem nahezu gleichzeitigen Erscheinen des berühmten Gedichts »Oberflächenübersetzung« von Ernst Jandl (1964), 5 den Mots D’Heures: Gousses, Rames. The D’Antin Manuscript von Luis d’Antin van Rooten (1967) 6 und schließlich der Übersetzung der Gedichte Catulls von Louis und Celia Zukofsky (1969). 7 Jandls Übersetzung eines Wordsworth-Gedichts (die nach seinen Angaben schon 1957 entstanden ist) etablierte die Oberflächenübersetzung als ly‐ rische Form im deutschen Sprachraum. Bei den Mots D’Heures handelt es sich um homo‐ phone Übersetzungen englischer Kinderreime ins Französische - was allerdings unter‐ schlagen wird, da der Text nur die französischen Texte liefert und sie zudem als authentische literarische Neuentdeckung mit einem reichhaltigen philologischen Kommentar versieht. Die Catull-Übersetzung von Celia und Louis Zukofsky schließlich zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar ebenfalls homophon vorgeht, aber zugleich versucht, die Bedeutung des Originals zu erhalten. Dieses Verfahren bringt die Nutzung abgelegener Teile des englischen Wortschatzes mit sich - und dementsprechend eine extreme Mischung der Sprachregister des Englischen. Seither ist die homophone Übersetzung ein zwar randständiges, aber doch durchgängig gebrauchtes Verfahren experimenteller Lyrik, besonders in den Vereinigten Staaten und hier vor allem im Kontext der Zeitschrift L=A=N=G=U=A=G=E (siehe Weissmann, »Stop making sense? «, 300). David J. Melnick hat ab 1983 mit Men in Aïda gar an das Projekt der Zukofskys angeschlossen - es handelt sich bei dem Buch um eine zugleich homophone und semantische Übersetzung der Ilias. 8 In Frankreich ist die homophone Übersetzung vor allem von Mitgliedern der literarischen Gesellschaft Oulipo betrieben worden, 9 und im deutsch‐ sprachigen Raum ist in erster Linie das Oulipo-Mitglied Oskar Pastior mit homophonen Übersetzungen hervorgetreten (siehe Abschnitt d). Weitere jüngere Beispiele haben der deutsche Lyriker Schuldt und der amerikanische Lyriker Robert Kelly mit Am Quell der IV. 2. Homophone Übersetzung 251 <?page no="252"?> 10 Schuldt/ Robert Kelly/ Friedrich Hölderlin, Am Quell der Donau, Göttingen 1998. 11 Felix Philipp Ingold, Fremdsprache. Gedichte aus dem Deutschen, Berlin 1984. Donau (1998) vorgelegt 10 - einem Text, der die mehrfache abwechselnd homophone und semantische Hin- und Her-Übersetzung eines Hölderlin-Gedichts dokumentiert (siehe hierzu Schmitz-Emans, »Nach-Klänge und Ent-Faltungen«). Einen Sonderfall stellen die Oberflächenübersetzungen aus dem Deutschen ins Deutsche dar, die Felix Philipp Ingold veröffentlicht hat. 11 Ein zentrales literarisches Gestaltungsprinzip ist die homophone Über‐ setzung schließlich im Werk der bei Literaturwissenschaftlern mit Interesse an Mehrspra‐ chigkeit wohl derzeit beliebtesten Autorin, nämlich Yoko Tawada. c) Forschungsgeschichte Es gibt bislang relativ wenige Forschungsbeiträge, die sich schwerpunktmäßig der homo‐ phonen Übersetzung widmen. In einer Reihe von Arbeiten wird das Phänomen am Rande erwähnt, allerdings oft in verzerrender Weise. So wird - in Übernahme fragwürdiger Vor‐ stellungen von ›Lautpoesie‹ - vielfach behauptet, die homophone Übersetzung negiere die Bedeutung der Originaltexte. Dass diese Behauptung nicht korrekt ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass Übersetzungen homophon und semantisch zugleich funktionieren können, wie beispielsweise die Catull-Übersetzung von Louis und Celia Zukofsky. Den Beiträgen, die sich intensiv mit einzelnen homophonen Übertragungen auseinan‐ dersetzen, lässt sich denn auch entnehmen, dass die Übersetzungen in der Regel eher ten‐ denziös mit den Originalen umgehen und gerne Dinge in sie ›hineinhören‹, die man nicht notwendig in ihnen hören muss. Des Weiteren lässt sich zeigen, dass die homophone Über‐ setzung als Verfahren in sich keineswegs homogen ist, sondern dass in homophonen Über‐ setzungen eine Vielzahl von Transformationsmethoden angewendet wird (siehe Abschnitte a und d). So lassen sich die Möglichkeiten des tendenziösen Übersetzens noch steigern. Der deutsche Lyriker Schuldt hat denn auch im Nachwort zu seinem Gemeinschaftsprojekt mit Robert Kelly gerade die semantische Übersetzung als »semanto-pedantisc[h]« (Schuldt, »Nachwort/ Afterword«, 76) bezeichnet und damit darauf hingewiesen, dass die semanti‐ sche Übersetzung womöglich viel strengeren Konditionierungen unterliege als die homo‐ phone. Neuere Lektüren homophoner Übersetzungen zeigen auf, inwiefern das tendenziöse Verhören der Übersetzungen näher bestimmbaren Strategien folgt, und versuchen daraus Schlussfolgerungen auf den kulturpolitischen Impetus der jeweiligen Texte zu ziehen (vgl. z. B. Schmitz-Emans, »Nach-Klänge und Ent-Faltungen«; Hammerschmidt, »Übersetzung als Verhaltensweise«; Wickham, »Vom Wert der Worte«; Weissmann, »Stop making sense? «; Dembeck, »Oberflächenübersetzung«). In einer Reihe von Arbeiten zu der Catull-Übersetzung von Celia und Louis Zukofsky wird die übersetzungstheoretische Relevanz des Verfahrens hervorgehoben. Ein mittler‐ weile schon kanonisch gewordenes Werk der Translationswissenschaft, Lawrence Venutis The Translator’s Invisibility, charakterisiert es als eine Möglichkeit, der unvermeidbaren Tendenz von Übersetzung zur Domestizierung des fremden Textes entgegenzuwirken bzw. die Automatismen eines Übersetzungsbetriebs, der die Flüssigkeit (fluidity) der Überset‐ zung zentral setzt, auszusetzen (214-224). In diesem Sinne bemerkenswert ist beispiels‐ Till Dembeck 252 <?page no="253"?> 12 Zum »remainder« siehe ausführlich Jean-Jacques Lecercle, The Violence of Language, London 1991, S. 103 f. weise die Art und Weise, wie die Übersetzung der Zukofskys mit der Notwendigkeit um‐ geht, im Englischen das Personalpronomen der ersten Person Singular einzuführen, wo es im Lateinischen fast immer fehlt: Sie setzt das »I« und seine Derivate konsequent syntak‐ tisch mehrdeutig ein - und nimmt so anlässlich des Lateinischen eine Dekonstruktion der impliziten Identitätspolitik des Englischen vor (Eastman, »Estranging the Classics«, § 25). Auch hat das Verfahren der Zukofskys Anlass zu der kulturpolitischen Deutung gegeben, die konsequente Weigerung, etwas anderes als amerikanisches Englisch zu hören, sei als »parody of imperial linguistic universalism« aufzufassen (ebd., § 17). Die für die Catull-Übersetzung konstatierte Proliferation von Obszönität (Horáček, »Pe‐ dantry and Play«, 125-130) ist vielleicht insgesamt für das Genre nicht ganz untypisch; zumindest gilt das für Jandls berühmtes Gedicht, für das Projekt von Schuldt und Kelly und auch für Melnicks Ilias-Übersetzung. Hilson hat das Argument vorgetragen, die homophone Übersetzung bringe den von Jean-Jacques Lecercle als »remainder« bezeichneten Struk‐ turüberschuss der parole zum Erscheinen - also dasjenige am konkreten Sprechen, das sich jeder Einordnung in das System der Langue entzieht (Hilson, »Homophonic Translation«, 101 f.; vgl. Weissmann, »Stop making sense? «, 306). 12 In der Tat ist das Verfahren der ho‐ mophonen Übersetzung in gewisser Weise darauf angelegt, verborgene Strukturmuster der Sprache zu entbergen - und damit bisweilen Strukturen, die aus letztlich kulturpolitischen Gründen normalerweise verborgen bleiben. Wenn Jandl von »Oberflächenübersetzung« spricht, so vielleicht auch deshalb, weil diese Technik einen ›Untergrund‹ der Sinnbildung an die Oberfläche bringt, der hier dann obszön wirkt. d) Anwendungs-/ Analysebeispiele Wie eine Analyse und ansatzweise Interpretation homophoner Übersetzungen funktio‐ nieren könnte, sei im Folgenden an einem Beispiel vorgeführt, das vergleichsweise viele unterschiedliche Verfahren zugleich verwendet. Es handelt sich um eine homophone Über‐ setzung eines der berühmtesten Gedichte von Charles Baudelaire, »Harmonie du soir«, durch Oskar Pastior: Harmonie du soir Voici venir les temps où vibrant sur sa tige Chaque fleur s’évapore ainsi qu’un encensoir; Les sons et les parfums tournent dans l’air du soir; Valse mélancolique et langoureux vertige! karbon knie sud ovar wo saß sie wenn ihr gang & viehbrands ur attische schlackenflöhe aus poren des einsickernden zensors (lektion eins) barfuß turnten - dann lehrt uns sogar das falsche mehl kolchis auf langohr musverzicht und IV. 2. Homophone Übersetzung 253 <?page no="254"?> 13 Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Les Fleurs du Mal, übers., hrsg. und kommentiert v. Fried‐ helm Kemp, München 2011 [1857], S. 98 f. 14 Oskar Pastior, Speckturm. 12 x 5 Intonationen zu Gedichten von Charles Baudelaire, hrsg. v. Klaus Ramm, Basel 2007, S. 12. Chaque fleur s’évapore ainsi qu’un encensoir; Le violon frémit comme un cœur qu’on afflige; Valse mélancolique et langoureux vertige! Le ciel est triste et beau comme un grand reposoir. schlackenflöhe aus poren - ein sickernder zensor schlüpft kimono porphyr mit anker keiner fliege das falsche mehl auf kolchis langustös verzichtend wie hesekiel ist grammophon ein epos randfossil Le violon frémit comme un cœur qu’on afflige, Un cœur tendre, qui hait le néant vaste et noir! Le ciel est triste et beau comme un grand reposoir; Le soleil s’est noyé dans son sang qui se fige. schlüpft kimono porphyr mit anker keiner fliege ein chor tanker quitte lineal fast ethno-haar wie hesekiel ist grammophon ein epos randfossil lass o leise es je neue tangolange küsse feigen Un cœur tendre, qui hait le néant vaste et noir, Du passé lumineux recueille tout vestige! Le soleil s’est noyé dans son sang qui se fige … Ton souvenir en moi luit comme un ostensoir! 13 ein chor tanker quitte lineal fast ethno-haar du hast eh mini-ulmen reh-keulen puffer-stiege lassoleise neue schlangolange kissen schweigen tonspur: venus ihr e-moll blüht summt ofenrohr 14 Pastiors Übersetzung weist einen relativ geringen Grad an Konkordanz auf: Die in Baude‐ laires Gedicht sich regelmäßig wiederholenden Verse sind in der Übersetzung jeweils un‐ terschiedlich wiedergegeben. Pastior verzichtet darauf, den Reim zu imitieren, und behält auch die Silbenzahl der Baudelaire’schen Verse vielfach nicht bei, sondern erhöht sie leicht. Das hängt damit zusammen, dass Pastior immer wieder phonetisches Material hinzufügt, für das kein Äquivalent im Original zu finden ist. So transformiert Pastior »Valse mélan‐ colique« in »das falsche mehl kolchis« (der bestimmte Artikel hat im Original keine Ent‐ sprechung). Weiter finden sich anagrammatische Permutationen, zum Beispiel, wenn »Le ciel est triste« zu »wie hesekiel ist« wird und die Silbe »iel« verschoben wird; oder wenn die zweite Silbe des Worts »noyé« in »je neue« doppelt wiedergegeben wird, so dass das Wort des Originals sowohl in Permutation seiner zwei Silben als auch in der ursprünglichen Reihenfolge hörbar wird. Anagrammatische Verfahren werden auch ganz ohne Berück‐ sichtigung der klanglichen Ebene verwendet: »et beau comme un grand reposoir« wird zu »grammophon ein epos randfossil«, »lumineux« zu »mini-ulmen«. An anderen Stellen scheint Pastior den Baudelaire’schen Textes nach deutschen Laut-Buchstabe-Zuordnungen zu lesen: »vestige« wird zu »stiege«, »Ton« zu »ton« und »Du passé« wird zu »Du hast eh«. Dasselbe gilt übrigens auch für die Übersetzung des Titels: aus »du soir« wird »sud ovar«, was ebenfalls nur dann halbwegs homophon ist, wenn in beiden Fällen entweder ein deutsches ›u‹ oder ein französisches ›ü‹ gelesen wird. In einem Falle macht Pastior schließlich Gebrauch von der Tatsache, dass im französischen Versbau das stumme ›e‹, das ›e-muet‹, als eigenständige Silbe gilt. So wird aus einem stummen Phonem ein eigenes Wort: »vertige« wird zu »verzicht und«. Schließlich werden Wortgrenzen und syntaktische Unterteilungen ständig verschoben, und auch die Regeln, nach denen dies geschieht, ver‐ Till Dembeck 254 <?page no="255"?> 15 Siehe hierzu Robert Stockhammer, Grammatik. Wissen und Macht in der Geschichte einer sprachlichen Institution, Frankfurt/ M. 2014, S. 484. ändern sich offenkundig fortlaufend - wie wiederum die je unterschiedliche Übersetzung der bei Baudelaire identischen Verse zeigt. Alles in allem ist Pastiors Übersetzung weder mit Blick auf die angewendeten Transfor‐ mationstechniken, noch in den Aussprachestandards kohärent, die man zur lauten Lektüre des deutschen Textes wird befolgen müssen. Das Gedicht vollzieht so eine simultane Ver‐ schiebung unterschiedlicher, auf ganz verschiedenen Ebenen der Sprachstruktur angesie‐ delter Standards. Man kann darin, insbesondere in Kenntnis der Biographie des Autors, nicht zuletzt den kulturpolitischen Impuls sehen, das Verhältnis von Standard bzw. Regel und Singularität zum zentralen Bezugspunkt der Poesie zu machen, und zwar mit der Pointe, dass jeder Standard im Namen der Singularität schon im Akt seiner Etablierung wieder destabilisiert werden muss. 15 Vielleicht ist Pastiors homophone Übersetzung nicht zuletzt darauf ausgerichtet, zu zeigen, dass dieser Einsatz für Instabilität keinesfalls in Chaos mündet. Auch das Gedicht »karbon knie sud ovar« macht ja Sinn: Immerhin zieht sich durch Pastiors Gedicht eine Reihe von Wörtern, die sich auf Klanglichkeit und Musik, also auf die Grundprinzipien ihrer Entstehung beziehen: »langohr«, »grammophon«, »chor«, »leise«, »tango«, »tonspur«, »e-moll« und schließlich - ganz unbestimmt: - »summt«. Das »ostensoir«, die Monstranz, in der in der katholischen Liturgie die Hostie gezeigt wird, verwandelt sich in der Übersetzung in ein »ofenrohr«, das wiederum in einem kurzen Pro‐ satext, der auf die Übersetzung folgt, mit einer »Ziehharmonika« assoziiert wird - mit einem Instrument also, das zum Titel des Originals von Baudelaire zurückführt. e) Offene Forschungsfragen Die systematische Erforschung der homophonen Übersetzung steht, wie die Beispiele ge‐ zeigt haben, noch ganz am Anfang. Vordringliche Aufgabe der Forschung sollte zum einen die Erfassung des historischen Materials und zum anderen die Entwicklung eines analyti‐ schen Instrumentariums zur Beschreibung der intrinsischen Vielfalt homophoner Über‐ setzungen sein. Ihre Geschichte wird dabei nicht zuletzt der Nähe des Verfahrens zu po‐ pulärkulturellen Formen des Umgangs mit fremdartigem Sprachmaterial nachgehen müssen. Auf einer abstrakteren Ebene muss der in der Forschung bereits diskutierten überset‐ zungstheoretischen Relevanz des Verfahrens weiter nachgegangen werden. Unter anderem wäre hier zu fragen, inwiefern Elemente homophoner Übersetzung nicht auch Bestandteile semantischer Übersetzungen sein können oder immer schon sind (siehe hierzu IV .1). Einige dieser Forschungslücken wird sicherlich die Publikation der Beiträge zu einer von Vincent Broqua und Dirk Weissmann im Herbst 2016 in Paris organisierten Tagung mit dem Titel »Sound/ Writing: On Homophonic Translation« schließen. Literatur Dembeck, Till, »Oberflächenübersetzung: The Poetics and Cultural Politics of Homophonic Trans‐ lation«, in: Critical Multilingualism Studies 3.1 (2015), S. 7-25. IV. 2. Homophone Übersetzung 255 <?page no="256"?> Eastman, Andrew, »Estranging the Classic: The Zukofskys’ Catullus«, in: Revue LISA/ LISA e-journal VII.2 (2009), URL: https: / / lisa.revues.org/ 312 (Stand: 29. 7. 2015). Hammerschmid, Michael, »Übersetzung als Verhaltensweise«, in: Martin A. Hainz (Hrsg.), Vom Glück sich anzustecken: Möglichkeiten und Risiken im Übersetzungsprozess, Wien 2005, S. 47-64. Hilson, Jeff, »Homophonic Translation: Sense and Sound«, in: Helen Julia Minors (Hrsg.), Music, Text and Translation, London u. a. 2013, S. 95-105. Horáček, Josef, »Pedantry and Play: The Zukofsky Catullus«, in: Comparative Literature Studies 51.1 (2014), S. 106-131. Schmitz-Emans, Monika, »Nach-Klänge und Ent-Faltungen: Hölderlins Am Quell der Donau und seine Schallgeschwister«, in: Manfred Schmeling/ dies. (Hrsg.), Multilinguale Literatur im 20. Jahrhun‐ dert, Würzburg 2002, S. 68-95. Schuldt, »Nachwort/ Afterword«, in: Ders./ Robert Kelly/ Friedrich Hölderlin, Am Quell der Donau, Teil II & III, Göttingen 1998, S. 75-78. Venuti, Lawrence, The Translator’s Invisibility. A History of Translation, London/ New York 1995. Weissmann, Dirk, »Stop making sense? Ernst Jandl et la traduction homophonique«, in: Études Ger‐ maniques 69.2 (2014), S. 289-306. Wickham, Christopher J., »Vom Wert der Worte: Zu Ernst Jandls oberflächenübersetzung«, in: Ger‐ manisch-Romanische Monatsschrift 57.3 (2007), S. 365-370. Till Dembeck 256 <?page no="257"?> V. Gattungs- und medienspezifische Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit <?page no="259"?> 1. Versform Till Dembeck a) Beschreibung des Verfahrens Sprachdifferenzen und Mehrsprachigkeit spielen in Texten, die in Versform abgefasst sind, auf vielfältige Weise eine Rolle. Im Folgenden geht es jedoch in erster Linie um solche Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit, zu denen die Versform einen spezifischen Beitrag leistet. Dies ist z. B. der Fall, wenn aus unterschiedlichen Sprachräumen stammende Formen des Versbaus in einem Verstext zugleich zur Anwendung kommen. In der europäischen Literaturgeschichte entwickelt sich die Versform bis ins späte 19. Jahrhundert in erster Linie aus der Ausformung metrischer Schemata - jedenfalls dann, wenn man den Reim in die Metrik einbezieht. Damit ist der Versbau unmittelbar an die phonologischen Regularitäten der jeweils beteiligten Sprachsysteme gebunden. Zugleich ist es gerade der bloße Schematismus der Metrik, der die Übertragung von Versformen über Sprachgrenzen hinweg ermöglicht (siehe hierzu Bunia, Metrik und Kulturpolitik, 207-215). Es kommt so zu vielgestaltigen Austauschprozessen, die als Manifestationen literarischer Mehrsprachigkeit in einzelnen Verstexten aufgefasst werden können. Ab dem späten 18. Jahrhundert kann man für den deutschen Sprachraum davon ausgehen, dass sich Lyrik als eigenständiger Gattungszusammenhang konstituiert, der die Zuständigkeit für den Versbau zunehmend für sich beansprucht. Von nun an etablieren sich mehr und mehr auch solche Arten des Versbaus, die sich nicht auf metrische Schemata zurückführen lassen, sondern andere Verfahren der sinnfälligen Segmentierung der Rede benutzen, um versför‐ mige Gliederungen zu erzeugen (beispielsweise durch typographische Auszeichnung). Da‐ durch werden auch neue Formen des Einsatzes von Sprachdifferenz für die Zwecke des Versbaus möglich. Die konkrete Analyse des mehrsprachigen Versbaus muss die unter‐ schiedlichen Strukturebenen, auf denen die Versbildung stattfindet, daher genau unter‐ scheiden (siehe die Abschnitte c und d). Zunächst kann zwischen solchen Verfahren versbaulicher Mehrsprachigkeit differen‐ ziert werden, die sich auf die Übernahme formal-ästhetischer Schemata aus anderen sprach‐ lichen Zusammenhängen beschränken, und solchen, die sprachliche Elemente oder sprach‐ bauliche Strukturen anderer Idiome übernehmen und für den Versbau nutzen. Es wird vorgeschlagen, hier von latenter und manifester Mehrsprachigkeit des Versbaus zu spre‐ chen. Latente Mehrsprachigkeit des Versbaus liegt z. B. dann vor, wenn der deutsche Vers aus den romantischen Sprachen den Endreim übernimmt. Mit manifester Mehrsprachigkeit des Versbaus haben wir es hingegen zu tun, wenn in einem deutschsprachigen Gedicht französische Wörter auftauchen und die metrische Struktur und das Reimschema irritieren. Allerdings lässt die Unterscheidung zwischen latenter und manifester Mehrsprachigkeit des Versbaus Abstufungen zu. So ist z. B. fraglich, inwieweit die syntaktischen Auffällig‐ keiten, die bei Friedrich Hölderlins Versuchen auftreten, griechische Odenversmaße im <?page no="260"?> Deutschen zu benutzen, Extravaganzen des Autors oder sprachstrukturelle Übernahmen aus dem Griechischen sind. Weiter wird man auch davon ausgehen müssen, dass anfangs als anderssprachig erkennbare Strukturmuster - beispielsweise der Endreim im Deut‐ schen - im Laufe der Zeit diese Konnotation vollständig verlieren. Sowohl manifeste als auch latente Formen des mehrsprachigen Versbaus haben in der Regel kulturpolitische Konnotationen oder folgen sogar dezidiert kulturpolitischen Strategien - wie die Verwen‐ dung antiker oder ›exotischer‹ Versmaße in modernen Sprachen zeigt. b) Sachgeschichte Die Geschichte des mehrsprachigen Versbaus steht einerseits in Bezug zur sprachge‐ schichtlichen Entwicklung; andererseits handelt es sich um einen bedeutenden Strang der Entwicklung der (neuzeitlichen) Lyrik als Gattungszusammenhang. Deren hochkomplexes Zusammenspiel müsste aus der Perspektive vieler verschiedener Sprachen und literarischer Traditionen dargestellt werden. Exemplarisch werden im Folgenden mehrsprachige Vers‐ bauformen aus dem Blickwinkel der europäischen Literaturgeschichte rekonstruiert, ins‐ besondere für den deutschsprachigen Raum. Die Erforschung der Geschichte des Versbaus in den indoeuropäischen Sprachen findet im Grenzgebiet zwischen historischer Linguistik und Literaturwissenschaft statt. Der Versbau wird so einerseits in Bezug gesetzt zur Entwicklung der phonologischen Struktur der jeweiligen Sprache(n). So besteht z. B. ein Zusammenhang zwischen dem Wegfall der Unterscheidung zwischen langen und kurzen Vokalen im spätantiken Latein und der Ent‐ wicklung des silbenzählenden Versbaus im Mittellateinischen. Andererseits spielt die Re‐ konstruktion literarischer Einflüsse eine zentrale Rolle. So wird etwa der syllabisch-ak‐ zentuierende Versbau der germanischen Sprachen in der Neuzeit auch im slawischen Sprachraum übernommen, wobei kulturpolitische Motivationen eine zentrale Rolle spielen. Mit Blick auf den mehrsprachigen Versbau sind aus dieser Perspektive zumindest die fol‐ genden literaturgeschichtlichen Stationen von Interesse (im Anschluss an die Darstellung von Gasparov, History of European Versification): (1) Im zweiten und dritten Jahrhundert v. Chr. übernimmt das Lateinische den quanti‐ tierenden Versbau des Griechischen. Dieses metrische System unterscheidet Silben nach Länge und Kürze, wobei die Länge nicht nur von der Länge der Vokale abhängt, sondern sich auch aus den auf einen Vokal folgenden Konsonanten ergeben kann (Positionslänge). Weiter gründet es auf der Identifikation von Versfüßen, setzt also den Vers aus einzelnen, einander äquivalenten Segmenten zusammen; daher Namen wie ›Hexameter‹ für einen Vers, der aus sechs einander äquivalenten Versfüßen besteht. Schließlich können in be‐ stimmten Positionen zwei kurze Silben eine lange Silbe vertreten, was von entscheidender Wichtigkeit gerade für den Hexameter ist. So sind beispielsweise die ersten fünf Füße des ersten Verses der Odyssee (8./ 7. Jhd. v. Chr.) durchgängig Daktylen: Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ (āndră mŏ[i] | ēnnĕpĕ | mūsă, || pŏ| lӯtrŏpŏn, | hōs mălă | pōllă). Demgegenüber sind im zweiten Vers die ersten beiden Füße Spondeen: Till Dembeck 260 <?page no="261"?> 1 Homer, Odyssee, Griechisch-deutsch, übers. v. Anton Weiher, Berlin 2013, S. 6. 2 P. Ovidius Naso, Metamorphosen, Lateinisch/ Deutsch, übers. und hrsg. v. Michael von Albrecht, Stuttgart 1994, S. 6. πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσε· (Plānchthē [e]|peī Troī|ēs || hĭĕ|rōn ptŏlĭ|ēthrŏn ĕ|pērsĕn). 1 Die Übernahme des quantitierenden Versbaus ins Lateinische zeugt einerseits von den einsetzenden Bemühungen der Römer, das Lateinische zu einer Kultursprache auf Augen‐ höhe mit dem Griechischen auszubauen. Insofern ist die latente Mehrsprachigkeit des la‐ teinischen Verses Indikator eines starken kulturpolitischen Impetus. Andererseits ist aus der Perspektive der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung interessant, dass sich z. B. die Umsetzung des Hexameters im Lateinischen von derjenigen im Griechischen unter‐ scheidet, und zwar im Umgang mit der für den Hexameter charakteristischen Zäsur im dritten Versfuß, also einer obligatorischen Wortgrenze, die entweder hinter die erste Silbe fallen kann (männliche Zäsur) oder (im Falle eines Daktylus) hinter die zweite (weibliche Zäsur). Während das Griechische weibliche Zäsuren bevorzugt, finden sich im Lateinischen mehr männliche Zäsuren. Der Grund dafür liegt nach Michail L. Gasparov darin, dass sich im Lateinischen - anders als im Griechischen - bei der Verwendung männlicher Zäsuren im letzten Wort vor dem Versende ein Zusammenfall von Länge bzw. Hebung und Wort‐ akzent ergibt, nicht allerdings im Wort vor der Zäsur. Dadurch werden Zäsur und Versende hörbar unterschieden (Gasparov, History of European Versification, 85-87). So finden sich z. B. in der invocatio zu Ovids Metamorphoses (um 5 n. Chr.) ausschließlich männliche Ka‐ denzen (hier durch Kursivdruck markiert; der Wortakzent liegt jeweils auf der ersten mar‐ kierten Silbe): Īn nŏvă | fērt ănĭ|mūs || mū|tātās | dīcĕrĕ | fōrmās cōrpŏră: | dī, coē|ptīs || (nām | vōs mū|tāstĭs ĕt | īllās) ādspī|rātĕ mĕ|īs || prīm|āqu[e] ăb ŏ|rīgĭnĕ | mūndī ād mĕă | pērpĕtŭ|ūm || dē|dūcĭtĕ | tēmpŏră | cārmĕn! 2 (2) Im Hochmittelalter übernimmt die Dichtung in den Volkssprachen Verfahren der Versbildung, die das Lateinische nach der Rückbildung der Differenz zwischen langen und kurzen Vokalen in der gesprochenen Sprache etabliert hatte. Dabei handelt es sich zum einen um das Prinzip der Silbenzählung, zum anderen um die Markierung des Versendes durch Reimstrukturen - beginnend mit bloßen Assonanzen bis hin zum vollen Reim. Für den Reim wird überdies die These vertreten, er sei aus dem Arabischen in die europäische Literatur übernommen worden, so dass gereimte Verse auch in diesem Sinne zunächst eine latent mehrsprachige Dimension haben (Menocal, The Arabic Role in Medieval Literary History, 88). Reim und Silbenzählung liegen in unterschiedlichen Ausprägungen dem Versbau in den romanischen Literaturen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein (und darüber hinaus) zugrunde. Besondere Prägnanz erhält im Französischen dabei der Alexandriner, ein 12- oder 13-silbiger gereimter Vers mit einer Zäsur nach der sechsten Silbe, der, wie ein bekannter Beispielvers aus Boileaus L’art poétique (1674) zeigt, seine Sinnfälligkeit durch V. 1. Versform 261 <?page no="262"?> 3 Boileau, Œuvres, Paris 1961, S. 162. 4 Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, Bd. 1: Edition nach dem Wiener Codex 2687, hrsg. v. Wolf‐ gang Kleiber, Teil 1, Tübingen 2004, S. 1r. den Wechsel zwischen den (in der Regel syntaktisch erzeugten) Zäsuren in der Versmitte und den Reimen am Versende erhält: Que toujours, dans vos vers || le sens coupant les mots, Suspende l’hémistiche, || en marque le repos. 3 Zumindest teilweise dürfte die Anlehnung des romanischen Versbaus an (mittel-)lateini‐ sche Vorbilder kulturpolitisch motiviert sein, denn auch wenn diese Vorbilder im Latei‐ nischen neu waren, konnte die Sprache auf eine eindrucksvolle literarische Tradition zu‐ rückblicken. Ähnlich ist ein weiteres Kernelement des französischen Versbaus, das Hiatverbot, als Versuch gedeutet worden, am kulturellen Prestige des klassischen latei‐ nischen Versbaus zu partizipieren (Bunia, Metrik und Kulturpolitik, 167-171). Da das Hiat‐ verbot im gesprochenen Französisch nicht existiert, würde es sich hierbei um ein bleibendes Element latenter Mehrsprachigkeit des Versbaus handeln, also um eine Struktur, deren an‐ derssprachige Herkunft zwar nicht mehr bewusst ist, die aber dennoch eine gewisse in‐ nersprachliche Fremdheit markiert. (3) Zu verschiedenen Zeiten kommt es zu Übernahmen von Versbaustrukturen aus dem Mittellateinischen bzw. aus den romanischen Sprachen (vor allem aus dem Französischen) in den germanischen (insbesondere den deutschen und englischen) Versbau. So findet sich in Otfrids von Weißenburg Liber evangeliorum (um 870) eine Überformung des althoch‐ deutschen stabreimenden Langverses durch den Reim: Lúdouuıg ther ſnéllo · theſ uuíſduameſ fóllo · er óſtarrıchı ríhtıt ál · ſo Fránkono kúnıng sca; Vbar Fránkono lant · ſo gengıt éllu ſın gıuualt, thaz ríhtıt, ſo ıh thır zéllu · thıu sın gıuuált ell 4 Dies ist umso bedeutsamer, als der Text auch seinem Inhalt nach eine sprachliche Grenz‐ überschreitung vollzieht: Es handelt sich nämlich um eine Darstellung der Evangelien in der Volkssprache. Literaturgeschichtlich folgenreicher ist demgegenüber die Übernahme des silbenzählenden Prinzips aus dem Französischen und seine Kombination mit dem be‐ reits im Hochmittelalter im Deutschen gebräuchlichen akzentuierenden Versbau. Ist zuvor für den Vers einzig und allein die Zahl der betonten Silben entscheidend, so wird nun auch darauf geachtet, dass die Zahl der Silben eines Verses konstant bleibt. Auch hier hat man es wahrscheinlich mit einer kulturpolitisch motivierten Strukturübernahme zu tun, denn die altfranzösische höfische Literatur musste gegenüber der weniger entwickelten deutsch‐ sprachigen Tradition als außerordentlich fortschrittlich gelten. In Spätmittelalter und Früher Neuzeit gerät das silbenzählende Verfahren des Versbaus wieder weitgehend in Vergessenheit. Ein Beispiel hierfür ist der Meistersang, hier vorgestellt am Beispiel einiger Verse von Hans Sachs: VOR zéyten áls ich Júnger wás Da ích das grós Wéldtbuch durch lás Till Dembeck 262 <?page no="263"?> 5 Hans Sachs, Die vier wunderberlichen Eygenschafft und würckung des Weins, Nürnberg [1553], unpag. 6 Martin Opitz, Teutsche Poemata. Abdruck der Ausgabe von 1624, hrsg. v. Georg Witkowski, Halle/ Saale 1902, S. 88. Wíe vil ínsel thét erfáren Chrístoff Colúmbus vór vil járen 5 Konstant sind in diesen Versen die Hebungszahl und der Paarreim, Hebungspralle und Füllung hingegen sind variabel. Gefestigt und expliziert wurde die Kombination von ak‐ zentuierendem und silbenzählendem Versbau im Zuge der sog. Opitz’schen Versreform im 17. Jahrhundert. Martin Opitz wird zwar immer wieder das Verdienst zugesprochen, das Prinzip des akzentuierenden Versbaus im Deutschen mehr oder weniger erfunden zu haben. Dies trifft sicher nicht zu. Vielmehr erkannte Opitz den Nutzen der Zweiwertigkeit der meisten einsilbigen Wörter für den Versbau in reiner Alternation und empfahl daher, sich die Tatsache zunutze zu machen, dass einsilbige Wörter im Deutschen betont oder unbetont sein können (Bunia, Metrik und Kulturpolitik, 74-89). In der Tat fällt an den eigenen deutschsprachigen Gedichten von Opitz schon die schiere Zahl der ›füllenden‹ einsilbigen Wörter auf: ACh wó ist jètzt die Zeít, da jédermàn thet gleíchen Der Rósen schóne Zíer mein’ édelè Gestállt? Ja wòl bin ích wie síe, nun ích bin wòrden ált. 6 Letztlich hat das von Opitz propagierte Prinzip einen entscheidenden kulturpolitischen Vorteil, denn es lässt deutsche Verse als Umsetzungen antiker Versfußmetren erscheinen (Gasparov, History of European Versification, 197): bei gleichbleibender Verteilung der be‐ tonten Silben über eine feststehende Silbenzahl ergab sich schnell ein entweder jambischer oder trochäischer Rhythmus. (4) Spätestens im 18. Jahrhundert wird schließlich der Versuch unternommen, die quan‐ titierenden Versmaße des Griechischen und Lateinischen in die neuzeitlichen Sprachen zu übernehmen. Dies geschieht u. a. im Deutschen, das im Folgenden genauer in den Blick genommen wird. Die kulturpolitische Zielrichtung der Integration scheint zunächst klar: Es geht darum, den Versbau in der neuen Sprache am Prestige der alten Sprache und ihrer Kultur teilhaben zu lassen. Vorgeschlagen werden im wesentlichen drei Modelle: (1) Die Nachbildung der Hebungen durch Betonungen. Auch wenn sich dieses Modell auf lange Sicht durchsetzt (so etwa in Goethes einflussreicher Dichtung in antiken Versmaßen), hat es doch den Nachteil, dass die Ersetzung von Doppelsenkungen durch Hebungen (und um‐ gekehrt) u. a. dazu führt, dass zwei Betonungen aufeinander folgen, was in der Regel eine Sprechpause in der Mitte des Versfußes erzeugt. Um die Nachbildung des Spondeus ranken sich dementsprechend die heftigsten Diskussionen im Streit um die (Un-)Möglichkeit des Hexameters im Deutschen. Die häufigste und letztendlich pragmatischste Lösung besteht darin, statt Spondeen Trochäen zuzulassen. (2) Das zweite Modell besteht darin, Positions‐ längen im Deutschen zu etablieren, also eine Silbe als Hebung zu werten, wenn auf den Vokal mindestens zwei Konsonanten folgen. Dieses Modell scheiterte jedoch daran, dass solche ›Längen‹ im Deutschen nicht hörbar sind (›Scheinprosodie‹). (3) Ein drittes Modell zur Nachbildung antiker Versmaße im Deutschen hat Friedrich Gottlieb Klopstock vorge‐ V. 1. Versform 263 <?page no="264"?> 7 Friedrich Gottlieb Klopstock, Oden, Auswahl und Nachwort v. Karl Ludwig Schneider, Stuttgart 1999, S. 6. 8 P. Vergili Maronis Aeneidos liber primus, Oxford u. a. 1971, S. 4 (V. 92). schlagen. Seine Idee besteht darin, Hebungen durch mehr als eine prosodische Silbenei‐ genschaft zu realisieren, d. h., sowohl durch Betonung als auch durch ›Bedeutungsschwere‹ und eine situativ erzeugte prosodische Prominenz (Bunia, Metrik und Kulturpolitik, 96-115). Diese flexible Art des Versbaus führt dazu, dass Klopstock etwa die folgenden Verse als perfektes Distichon ansehen kann: Wēhĕtĕn | dōch sānft|rāuschĕndĕ | Wīndĕ seĭn | brǖnstĭg Vĕr|lāngĕn Seīnēr | Seūfzēr | Lāut ||, seīnĕ Gĕ|sāngĕ dĭr | zū! 7 Die Silben »doch«, »sanft« und »rau« gelten hier aus je unterschiedlichen Gründen als Hebungen: »rau« als Wurzelsilbe des Verbs »rauschen«; »sanft«, weil auf ihm der Akzent des zusammengesetzten Partizips liegt; und »doch«, weil auf ihm ein ›Bedeutungsakzent‹ liegt (denn in ihm bündelt sich die Emphase des ausgedrückten Wunsches). Zwar hat sich Klopstocks Vorschlag längerfristig nicht durchgesetzt, aber seine Metriktheorie kann als bemerkenswerter Neuansatz in der Geschichte des Versbaus angesehen werden. Gegenüber den latenten Spielarten von Mehrsprachigkeit im Versbau, die sich aus der Migration von Versbauregeln ergeben, lassen sich immer schon auch unterschiedliche Formen manifester Mehrsprachigkeit im Vers feststellen. Diese müssen hier zumindest in‐ sofern beachtet werden, als sie im Vers teilweise anders funktionieren als in anderen lite‐ rarischen Formen. Dies hat aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zuletzt damit zu tun, dass Grammatik wie Rhetorik seit der Antike der Versrede Ausnahmen zubilligen, d. h., eine gewisse Nachlässigkeit in der Sprachrichtigkeit, die es dann teils auch ermöglicht, groß‐ zügiger Elemente aus anderen Sprachen einzugliedern. Dass anderssprachige Wörter in Verstexte integriert werden, ist ein sehr altes Phänomen. Dabei ist spezifisch für den Versbau, dass die Übernahme solcher Wörter Entscheidungen darüber nach sich zieht, wie man mit ihren womöglich abweichenden prosodischen Ei‐ genschaften umgeht - ein Problem, das sich ganz ähnlich bei anderssprachigen Eigennamen stellt. So zwingt die durchaus geläufige Aufnahme griechischer Wörter (oder auch nur Lehnwörter) in lateinische Verse oft zu Entscheidungen über die Vokallänge, so etwa wenn im Griechischen zwei lange Vokale unmittelbar aufeinander folgen, was der lateinischen Regel widerspricht, dass Vokale vor langen Vokalen kurz sind. Beispielsweise wird in dem Vers, der in Vergils Aeneis den Helden einführt, dessen griechischer Name mit zwei aufei‐ nanderfolgenden Längen skandiert: »ēxtēm|pl[o] Aēnē|āe || sōl|uūntūr | frīgŏrĕ | mēmbră«. 8 (Für weitere Beispiele aus der Antike siehe Liede, Dichtung als Spiel, 207; Frit‐ sche, »Maccaronea«, 175 f.) Das Verfahren, Wörter aus kulturell prestigeträchtigen Sprachen zu übernehmen und in den Versbau zu integrieren - mit der Bereitschaft zu prosodischen Konzessionen und Li‐ zenzen - ist auch für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters charakteristisch. Das bekannteste Beispiel sind wahrscheinlich Teile der Carmina Burana (11./ 12. Jahrhundert; siehe hierzu auch den Abschnitt zur Sachgeschichte, Mittelalter, in III .1). Aber schon zuvor werden im altenglischen Vers Wörter aus dem Lateinischen benutzt, und es gibt Anzeichen Till Dembeck 264 <?page no="265"?> dafür, dass dies unter Anpassung des lateinischen Wortakzents an den germanischen Ini‐ tialakzent geschah (Cain, »Phonology and Meter«). Dante Alighieris Commedia verwendet als fremdes Idiom neben dem Lateinischen auch das Okzitanische; hier ist vermutet worden, dass dies auch einen Einfluss des okzitanischen Versbaus auf den von Dante etablierten italienischen Endecasillabo signalisiert (Bunia, Metrik und Kulturpolitik, 216-218). In der mittelhochdeutschen Dichtung ragen einige Gedichte Oswalds von Wolkenstein aus dem 14. Jahrhundert heraus, die bis zu sechs klar fremde Idiome ins Deutsche mischen (Classen, »Multilingualism in the Middle Ages«, 139 f.). Für die nur wenig später verfassten vier‐ sprachigen Glossen zum »Ave Maria« von Bruder Hans wurde nachgewiesen, dass die englischen, französischen und lateinischen Verse dem akzentuierenden Versmaß der deut‐ schen Verse angepasst sind (Noel und Seláf, »On the Status and Effects of Formulas«). Ein demgegenüber neues Phänomen etabliert sich zur Zeit des italienischen Huma‐ nismus, nämlich die makkaronische Dichtung. Die Bezeichnung für dieses Genre geht auf die Publikation des Carmen macaronicum (1493) von Tifi degli Odasi zurück, der zunächst im italienischen Sprachraum weitere Publikationen folgten, etwa die populären Macaroneae (1517) von Teofilo Folengo. Das Grundprinzip dieser Texte war es, in das Lateinische Wörter aus der Volkssprache einzufügen, diese aber den Flexionsregeln des Lateinischen (und auch dessen syntaktischen Regeln) zu unterwerfen. In der Nachfolge verbreitete sich die Gattung auch in anderen europäischen Ländern; Autoren wie François Rabelais und Johann Fischart haben zu ihr beigetragen (siehe Wiegand, »Makkaronische Dichtung«). Der sprach- und kulturpolitische Hintergrund dieser Art von Versbau ist einerseits un‐ mittelbar einsichtig, nämlich das zunehmend auch eine Konkurrenz mit sich bringende Nebeneinander der Bildungssprache Latein und der erstarkenden Volkssprachen. So ist die makkaronische Poesie als Reaktion auf Auseinandersetzungen um die Sprachpolitik der italienischen Humanisten gedeutet worden (Liede, Dichtung als Spiel, 210-212; Fritsche, »Maccaronea«, 176 f.). Allerdings handelt es sich sprachpolitisch um eine Zeit komplexer Gegenbewegungen. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Vielfalt der sprachmischenden poetischen Genres wider. Als Vorläufer der Makkaronia zählen u. a. die Pedantesca, die auf die morphologische Überformung der nicht-lateinischen Wörter verzichteten (siehe Wie‐ gand, »Makkaronische Dichtung«). Gegenüber dieser Art von Dichtung wie auch gegen‐ über Strategien wie dem als ›Küchenlatein‹ denunzierten Verfahren, wörtlich aus der Volkssprache ins Lateinische zu übersetzen oder Verfahren der homophonen Übersetzung einzusetzen, zeichnet sich die makkaronische Poesie in ihren avanciertesten Varianten da‐ durch aus, dass sie das (humanistische) Latein perfekt handhabt und so noch unter Ein‐ schluss der volkssprachigen Wörter die Prinzipien des antiken Versbaus wahrt. An dem kulturellen Prestige, das auf diese Weise signalisiert wird, versuchen nicht nur karneva‐ lesk-satirische Autoren wie eben Rabelais und Fischart teilzuhaben, sondern noch die Phi‐ lologen, die sich (angefangen mit Genthe, Geschichte der Macaronischen Poesie) um die Auf‐ arbeitung des Genres bemüht haben und die nahezu durchgängig an der strengen Abgrenzung der makkaronischen Poesie von ihren Nebengattungen festhalten (siehe Dem‐ beck, »Mehrsprachigkeitsphilologie leben«). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich, zumindest für den deutschen Sprachraum, ein Epocheneinschnitt konstatieren, für den sich allerdings auch in den ü‐ brigen europäischen Literaturen - wenn auch unter Umständen zeitversetzt - Parallelen V. 1. Versform 265 <?page no="266"?> 9 Johann Gottfried Herder, »Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente«, in: Ders., Werke, Bd. 1: Frühe Schriften, hrsg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt/ M. 1985, S. 161-650, hier S. 407. 10 Zit. nach Armin Schäfer, Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln 2005, S. 53. finden (siehe zum Folgenden Breuer/ Dembeck, »Literarische Gattungen«; Dembeck, »Vers und Lyrik«). Bis in die Frühe Neuzeit hinein sieht das Gattungssystem eine Vielzahl lyri‐ scher Kleingattungen vor, für die sich jeweils eine einigermaßen stabile Korrelation von Versform und Inhalt etabliert hat: Eine Elegie ist ein Klagegedicht in Distichen (wie auch immer man dieses antike Versmaß im Deutschen nachbildet). Dabei lassen sich zwar viel‐ fältige individuelle Innovationen in der Versbautechnik ausmachen, die teils auch indivi‐ duell zurechenbar sind (etwa Opitz). Innovation ordnet sich jedoch dem Ziel unter, den deutschen Vers zu profilieren. Beides ändert sich in dem Moment, in dem die lyrischen Kleingattungen zu einer umfassenden Gattung ›Lyrik‹ zusammengeführt werden, und zwar zunächst in der systematischen Gattungstheorie in der Nachfolge Charles Batteux’ und kurz darauf mittels der folgenreichen Theorie, Lyrik sei eine in besonderer Art auf Subjektivität bezogene Gattung (Völker, »Einleitung«, 18-20). In diesem Zusammenhang erfolgt nicht nur eine Freisetzung der lyrischen Form von vormals gegebenen Formbindungen, sondern Lyrik etabliert sich nachgerade als Experimentierfeld für Verfahren der Versbildung. Die Klopstock’sche Metriktheorie kann diese Umstellung verdeutlichen, auch wenn es ihm zu‐ nächst erklärtermaßen ebenfalls um die Etablierung besserer Versbautechniken für das Deutsche geht. Denn indem Klopstock ein ganzes Bündel an prosodischen Strukturen zur Markierung von Hebungen zulässt, erschließt er vormals nicht genutzte Ebenen der Sprach‐ struktur für die Ausarbeitung neuartiger Formen von sinnfälliger Segmentierung der Rede und greift damit den Entwicklungsprinzipien der modernen Lyrik vor. Diese Beschreibung der modernen Lyrik als Entwicklungszusammenhang, der sich um die Erzeugung von sinnfälligen Segmentierungsmustern in der Rede auf allen sprachlichen Strukturebenen dreht, ermöglicht eine systematische Verortung der Mehrsprachigkeit im Versbau der Moderne. Denn anderssprachige Strukturen und Elemente können nun als treibende Kraft dieses Entwicklungszusammenhangs genutzt werden. Tatsächlich lässt sich seit dem späten 18. Jahrhundert eine beachtliche Erweiterung des lyrischen Formenreper‐ toires beobachten, die auf zwei unterschiedliche Arten und Weisen mit Sprachdifferenz zu tun hat. Zunächst lässt sich - paradoxerweise im Zusammenhang mit der gleichzeitig sich vollziehenden Etablierung der Muttersprachensemantik - eine Ausweitung der Spielräume für poetische Lizenzen ausmachen. Johann Gottfried Herders Formulierung, nur der Mut‐ tersprachler wisse, wann er eine sprachliche Regel nur biege, aber nicht breche, 9 bezeichnet präzise das Selbstbewusstsein von Autoren, die die Muttersprache gleichsam von Innen heraus um neue und teils eben aus anderen Sprachen angeeignete Strukturen bereichern. Im Sinne eines Bonmots von Oskar Pastior, der »Hölderlin« definiert als »eine schöne, dem Deutschen verwandte Sprache«, 10 kann die poetische Lizenz nun potentiell auch zur Über‐ schreitung von Sprachgrenzen dienen, gleichsam zur Etablierung lyrischer Privatidiome. Mit seinen Übersetzungen europäischer ›Volkslieder‹ ist abermals Herder wegweisend für das um 1800 breit einsetzende Phänomen, dass nicht mehr nur prestigeträchtige antike Versformen, sondern alle möglichen, aus anderen Sprachzusammenhängen stammenden Formen nachgebildet werden. Zu denken ist etwa an das Experimentieren der Romantiker Till Dembeck 266 <?page no="267"?> mit romanischen Formen, an Goethes extrem vielseitige Lyrik, insbesondere an seine Ex‐ perimente mit orientalischen Formen, an Platens oder Rückerts Experimente in dieselbe Richtung und an vieles mehr. Gleichwohl dürfte die Wirkmächtigkeit der Muttersprachensemantik im 19. Jahrhundert dafür gesorgt haben, dass sich die Eingliederung anderssprachiger Elemente in deutsch‐ sprachige Verse nur am Rande etablieren konnte, etwa in Heinrich Heines Gedichten, in denen insbesondere französische Reimwörter in Kombination mit deutschen eine zentrale Rolle spielen, und zwar teils mit dem Effekt, dass entweder das deutsche oder das franzö‐ sische Wort entgegen der Ausspracheregeln artikuliert werden muss (Solms, »Reine und unreine Reime von Heine«). Gegen Ende des Jahrhunderts beginnt sich dies nicht nur im deutschen Sprachraum zu ändern, insbesondere im Zuge verschiedener Avantgarde-Be‐ wegungen. Zu denken ist hier etwa an die von Stefan George (allerdings nur an einer Stelle auftauchende) erfundene Sprache, an Christian Morgensterns Unsinns-Gedichte (die einen Vorläufer beispielsweise in Lewis Carrolls »Jabberwocky« haben), an den DADA , der Mehrsprachigkeit einsetzt, um mit der lyrischen Form nicht nur in Bereiche jenseits von Sprachigkeit, also von der Zugehörigkeit zu einer als langue systematisierbaren Sprache (siehe I.3), sondern auch von Sprachlichkeit überhaupt zu gelangen (siehe zu diesen Bei‐ spielen im Einzelnen die Ausführungen zur Sachgeschichte, Das 18. und 19. Jahrhundert, in III .1). In diesem Falle wie auch im Falle der sehr wirkmächtigen mehrsprachigen Lyrik T. S. Eliots und Ezra Pounds folgt der mehrsprachige Versbau starken ästhetischen und kulturpolitischen Impulsen. Eine stärkere Konjunktur erleben manifeste Formen der Mehrsprachigkeit erst wieder am Ende des 20. Jahrhunderts (mit Ausnahme einiger Arbeiten von Ernst Jandl und Rolf Dieter Brinkmann; hierzu Dembeck, »›No pasaran‹«; Dembeck, »Oberflächenüberset‐ zung«; Dembeck, »Was ist hier defekt? «). Dies geschieht insbesondere im Zeichen postko‐ lonialer und interkultureller Theoriebildung. Im ›deutschsprachigen‹ Sprachraum stechen die mehrsprachigen lyrischen Texte Oskar Pastiors oder Yoko Tawadas hervor. c) Forschungsgeschichte Es wäre übertrieben zu behaupten, der mehrsprachige Versbau sei als eigenständiger For‐ schungsgegenstand mit eigenständiger Forschungstradition etabliert. Dennoch lässt sich eine Forschungsgeschichte zumindest in Ansätzen skizzieren. Ihr gehören neben den we‐ nigen Beiträgen zur manifesten Mehrsprachigkeit in einzelnen Verstexten zum einen alle Beiträge an, die sich mit der Übertragung metrischer Schemata und anderer Versbauver‐ fahren über Sprachgrenzen hinweg befassen, und zum anderen auch systematische Ver‐ suche zur Bestimmung von Vers und/ oder Lyrik, die Beschreibungsmodelle für den mehr‐ sprachigen Versbau zur Verfügung stellen. Gewöhnlich wird die Versform als Resultat einer auffälligen Segmentierung der Rede bestimmt. Dabei wird in der Regel genau spezifiziert, welche Art von Segmentierung im Gegensatz zu anderen Arten der Segmentierung verstauglich sei. Die nachfolgenden Aus‐ führungen stützen sich demgegenüber auf die vergleichsweise offene Begriffsbestimmung von Gasparov. Diese hat den Vorteil, dass sie sich mit einer evolutionstheoretischen Gat‐ V. 1. Versform 267 <?page no="268"?> tungstheorie verbinden lässt, durch die sich die Hintergründe des modernen mehrspra‐ chigen Versbaus besser erhellen lassen. Gasparov beschreibt den Vers im Rahmen seiner kontrastiven Metrik als Ergebnis einer zur syntaktischen Segmentierung der Rede hinzukommenden »divisio[n] into correlatable and commensurate segments« (Gasparov, History of European Versification, 1). Dabei wird nicht von vornherein festgelegt, auf welcher Ebene der Sprachstruktur Verssegmentierung stattfinden kann. Die Offenheit der Beschreibung bei Gasparov ermöglicht es, Verschie‐ bungen im Verhältnis zwischen metrischen Mustern und prosodischen Elementen, die im Laufe der Geschichte des Versbaus auftreten, als Erschließung neuer Segmentierungse‐ benen zu beschreiben. Es bleibt somit nicht, wie vielfach anzutreffen, bei der pauschalen und keinesfalls zutreffenden Behauptung, einzelne Sprachen hätten je spezifische Regeln zur Abbildung metrischer Muster auf das jeweils gegebene prosodische Material entwickelt (vgl. Bunia, Metrik und Kulturpolitik, 40-51, für eine instruktive Ergänzung dieses von Bunia als »Norm« bezeichneten »Versprogramms« um zwei weitere Programmformen, »Deduktion« und »Reziprozität«). Vielmehr lassen sich Evolutionsprozesse in den Blick nehmen, die Sprachgrenzen überschreiten und die Sprachdifferenz als genuines Medium der versbaulichen Innovation nutzen. Gasparovs Beschreibung des Verses greift letztlich auch jenseits des historischen Be‐ reichs, den seine Arbeit im Wesentlichen abdeckt. Die moderne Lyrik kann dann als ein Zusammenhang beschrieben werden, der sich in der fortlaufenden Erprobung von (neuen) Segmentierungsmustern auf allen denkbaren Ebenen der Sprachstruktur fortentwickelt hat (siehe Dembeck, »Vers und Lyrik«). Eine solche Beschreibung hat den Vorteil, dass sie nicht einschränkt, welche Arten von Strukturmustern aus anderen Sprachräumen für den Versbau prinzipiell übernommen werden können. Zudem kann sie erklären, warum die Integration anderssprachiger Elemente und Strukturen für die Lyrik überhaupt attraktiv ist. Für die konkrete Versbau-Analyse jenseits der üblichen metrischen Beschreibungs‐ formen finden sich beispielsweise in Roman Jakobsons Arbeiten zu konkreten Texten, die in jüngerer Zeit wiederentdeckt werden, sehr viele Anhaltspunkte. Dies verdankt sich nicht zuletzt Jakobsons Interesse an der Möglichkeit, ›grammatische‹ Strukturen versbildend einzusetzen (Jakobson, »Poesie der Grammatik«). In den Vereinigten Staaten hat sich in‐ zwischen die historische Prosodie als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung etabliert (siehe z. B. Prins, »Historical Poetics«). Dies ist für die Erforschung des mehrspra‐ chigen Versbaus insofern von besonderem Interesse, als die Erschließung neuer Arten und Weisen der Formkonstitution durch Sprachdifferenz eines erweiterten versbauanalytischen Instrumentariums bedarf. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass mindestens folgende Ebenen der Sprachstruktur in Betracht gezogen werden müssen, wenn die Auswirkungen von Mehr‐ sprachigkeit auf den Versbau, also die jeweils im (latent oder manifest) mehrsprachigen Vers zu beobachtenden Segmentierungsmuster, umfassend berücksichtigt werden sollen (vgl. Dembeck, »Vers und Lyrik«, 283-285): - Auf der Ebene von Phonetik und Phonologie ergeben sich die folgenden Möglich‐ keiten der Segmentbildung: nach Betonungsakzent, nach Silbenlänge und nach As‐ sonanzen (also durch die Wiederkehr bestimmter Phoneme, siehe Stabreim und Till Dembeck 268 <?page no="269"?> Reim). Auf dieser Strukturebene findet immer schon ein Austausch zwischen den in unterschiedlichen Sprachen etablierten Arten und Weisen der Musterbildung statt. - Auch aus morphologischen Mustern können sich Segmentierungen ergeben, etwa in der sog. Lautdichtung, die mit der variierenden Wiederholung von quasi-morphe‐ mischen (aber zunächst bedeutungslos erscheinenden) Versatzstücken arbeitet und so Muster etabliert. Auch die regelmäßige Wiederholung von Flexionsmorphemen kann einen Text bereits sinnfällig segmentieren. Auf dieser Ebene sind im mehr‐ sprachigen Versbau vor allem solche Muster zu beobachten, die sich durch den wie‐ derholten Einsatz anderssprachiger Elemente ergeben - also etwa in der makkaro‐ nischen Poesie durch die wiederholte Kombination lateinischer und deutscher Morpheme. - Syntaktische Einheitenbildung impliziert immer schon eine Segmentierung der Rede; dies zeigt die hohe Relevanz, die schon Jakobson dem syntaktischen Parallelismus beimisst. Diese Strukturebene gibt in erster Linie Anlass zu eher latenten Formen der Mehrsprachigkeit, so etwa, wenn im Deutschen die verhältnismäßig strengen Vorgaben an die Wortstellung in Anlehnung an das Lateinische oder Griechische gelockert werden. - Auch die Einteilung des Satzes in Kola (Sinneinheiten im Satz) und Wörter, selbst wenn sie syntaktisch bzw. morphologisch nur teilweise systematisierbar ist, hat an der Verssegmentierung teil. - Schließlich finden sich graphisch konstituierte Segmentierungen, von der sinnfäl‐ ligen Wiederholung von Graphemen (die nicht mit der Wiederholung von Pho‐ nemen zusammenfallen muss, wie der englische ›eye rhyme‹ zeigt, also die Wie‐ derholung identischer Buchstabenfolgen, die aber unterschiedlich ausgesprochen werden) über Interpunktionsmuster bis hin zur Segmentierung durch Zeilenum‐ brüche oder andere Strukturen des Layouts. Hier können insbesondere Verfahren der Mehrschriftlichkeit mehrsprachigen Versbau ermöglichen (siehe III .4). Den derzeit wahrscheinlich umfassendsten Vorschlag für die Analyse rhythmischer Muster hat Henri Meschonnic vorgelegt (Meschonnic, Critique du rythme). Meschonnics Grund‐ interesse besteht darin, Rhythmus unabhängig von jeglichem Schematismus zu beschreiben, um ihn als Träger von Individualität ausweisen zu können. Diese Beschreibung, die im deutschen Sprachraum durch Hans Lösener vertreten wird, umfasst auch die semantische Struktur, insbesondere die Musterbildung durch Tropen (siehe z. B. Löseners rhythmische Analyse von Goethes »Erlkönig«; Lösener, Der Rhythmus in der Rede, 136-153). Es mag sein, dass auch auf dieser Ebene durch Mehrsprachigkeit versbaulich relevante Strukturen erzeugt werden können, etwa durch die regulierte Übernahme anderssprachiger Phraseo‐ logismen. Studien zum Transfer metrischer Formen sind zum überwiegenden Teil aus einzel‐ sprachlicher Perspektive betrieben worden und haben in erster Linie das Ziel, zu erklären, wie sich die in der jeweiligen Sprache vorkommenden Versbautechniken etabliert haben. Ein herausragender Vertreter einer »kontrastiven Metrik«, die über diese Perspektiven hi‐ nausgeht, ist Gasparov. Studien zur manifesten Mehrsprachigkeit des Versbaus gibt es mit Blick auf die frühneuzeitliche makkaronische Poesie. Diskutiert wird hier vor allem die soziale Funktion des makkaronischen Sprachgebrauchs vor dem Hintergrund der Zwei‐ V. 1. Versform 269 <?page no="270"?> 11 Für eine etwas ausführlichere Interpretation dieser Textstelle siehe Dembeck, »Mehrsprachigkeits‐ philologie leben«. sprachigkeit europäischer Bildungsinstitutionen bzw. der Emanzipation der Volkssprachen gegenüber dem Lateinischen. Allerdings wird auch ein Zusammenhang gesehen zwischen der makkaronischen Dichtung der Frühen Neuzeit und der experimentellen mehrspra‐ chigen Dichtung um 1900 (siehe insbesondere die frühe Übersichtsdarstellung von Forster, The Poet’s Tongues). Wichtig ist auch hier die Annahme, dass Mehrsprachigkeit dazu genutzt wird, ästhetische Innovation zu befördern und so zur Evolution des Verses und der Lyrik beizutragen. Bei all dem ist die Anzahl der Einzelstudien zum mehrsprachigen Versbau erstaunlich gering. Beispielsweise interessiert sich der überwiegende Teil der Forschung zu T. S. Eliots The Waste Land zwar für die Herkunft der vielen nicht-englischsprachigen Zitate, nicht aber für das Faktum, dass sie im Original zitiert werden. d) Anwendungs-/ Analysebeispiele Die Leitlinien zur Analyse des mehrsprachigen Versbaus, die sich aus der vorliegenden Forschung zum Vers ableiten lassen, können an zwei Beispielen verdeutlicht werden, die aus zwei sehr unterschiedlichen, aber für die Mehrsprachigkeit des Versbaus jeweils be‐ deutenden Epochen stammen. Untersucht werden ein (spätes) makkaronisches Gedicht aus dem Jahre 1690 und die Schlussverse von T. S. Eliots The Waste Land. (1) Für die makkaronische Poesie ist, wie gesehen, charakteristisch, dass eine Sprache, in der Regel das Lateinische, Wörter einer anderen Sprache in sich aufnimmt und ihren Flexionsregeln unterwirft. Das folgende Beispiel zeigt allerdings, dass sich die Bestim‐ mungsmacht des Lateinischen im Einzelfall sehr unterschiedlich weit erstrecken kann. Das ausgewählte Beispiel stammt (wie die überwiegende Mehrzahl der Beispiele) aus dem uni‐ versitären Milieu. 11 Als Erscheinungsort wird zwar »Athen« angegeben, es dürfte sich aber um Leipzig handeln: Triumphirendes PROSIT so den Herren Professoren-Purschen / als sie ihr Recht in einer solennen Disp[utatio] erhalten / zuruffet BACCHUS Collegii subterranei Director & p[ro] t[empore] Decanus Hem Professorenbursi, nunc rufite Juch hei! Lustigeosque simul multos anstimmite Liedros: Schmausite, & in tieffam sub schmausis saufite Nachtam! Non etenim vobis unquam bona bieria fehlunt. Namque Halberstadicam Breihanam, Gratia, Duchstein Et Zersterbirium in menga semper habetis: Adsunt & langæ Pfeifæ. & Bremense Tabacum Cum cranzo. Vobis vero si geldria desunt, Ne modo sorgatis, nam scitere vivere Credit: Till Dembeck 270 <?page no="271"?> 12 Curiöse INAUGURAL-DISSERTATION von dem Recht/ Privilegiis und Praerogativen Der Atheniensi‐ schen PROFESSOREN-Purschen [Leipzig 1690], S. 37 f. Optimus hic semper vestrum curator et hülffa. 12 Auf den ersten Blick scheint es so, als werde in diesem Text - der üblichen Definition der makkaronischen Poesie entsprechend - tatsächlich sowohl die lateinische Satzstellung als auch die lateinische Flexion bewahrt. Die deutschen Wörter scheinen dem Lateinischen angepasst zu sein. Allerdings ist der Anteil der eigentlich lateinischen Wörter recht gering, so dass zu fragen ist, wie weit eigentlich die Bestimmungsmacht des Lateinischen hier noch geht. Orthographisch gibt es einen starken Einfluss des Deutschen: Davon zeugen zum einen die Großschreibung vieler Substantive, viele deutsche Laut-Buchstaben-Zuord‐ nungen (z. B. »Liedros«, »tieffam«) und Buchstaben, die im Lateinischen gar nicht vor‐ kommen (das »z« in »cranzo«). Zum anderen gibt es aber auch den Fall, dass die lateinische Flexionsendung nur scheinbar aus dem Lateinischen stammt, eigentlich aber deutsche Pho‐ neme in lateinischer Schreibung wiedergibt: »langae Pfeifae« steht dann für ›lange Pfeife«, »hülffa« für »Helfer«. Schließlich finden sich auch ursprünglich lateinische Wörter, die im Deutschen gängig sind und gerade nicht lateinisch flektiert werden (»Professor« in »Pro‐ fessorenbursi« und »Credit«). Die vergleichsweise starke Stellung des Deutschen in diesem Gedicht hat auch zur Folge, dass es zunächst schwierig ist, überhaupt ein metrisches Muster zu finden. Folgt man le‐ diglich den lateinischen Regeln für die Feststellung langer und kurzer Silben (mit der Vo‐ raussetzung, dass sowohl im Deutschen lange Vokale als lang gelten als auch positionslange Vokale), ergeben sich keinerlei wiedererkennbare Muster: Hēm prŏfēssōrĕnbūrsĭ, nūnc rūfītĕ Jūch hēi Lūstĭgĕōsquĕ sĭmūl mŭltōs ānstīmmītĕ Līedrōs. Schmāusīt[e] ĕt ĭn tīeffām sūb schmāusīs sāufītĕ Nāchtăm. Nōn ĕtĕnīm vōbīs ūnquăm bŏnă bīerĭă fēhlŭnt. Selbst wenn man annimmt, dass deutsche Verben wie ›rufen‹ im Lateinischen den i-Stämmen der dritten Konjugation angehören und also der Imperativ ›rūfĭtĕ‹ zu skandieren sei, macht dies keinen großen Unterschied. Beim Versuch wiederum, die Verse akzentuie‐ rend zu skandieren, muss man zunächst entscheiden, ob neben dem lateinischen auch der deutsche Wortakzent zugrunde gelegt werden soll, um zumindest Nebenakzente zu er‐ zeugen. Für die Imperativformen ist es allerdings möglich, den deutschen und den latein‐ ischen Wortakzent zusammenfallen zu lassen (unter der Voraussetzung, dass es sich um Verben der dritten Konjugation handelt). Schwieriger zu handhaben sind Wörter wie »Pro‐ fessorenbursi«, denn hier müsste der Wortakzent der lateinischen Prosodie zufolge auf der drittletzten Silbe liegen. Hier kann man lateinischen und deutschen Wortakzent mitei‐ nander versöhnen, wenn man »Professoren« und »bursi« als zwei verschiedene Wörter behandelt. Unter Zulassung aus dem Deutschen abgeleiteter Nebenakzente ergibt sich dann: Hèm Professórenbúrsi, nunc rúfite Júch hei! Lùstigeósque símul múltos anstímmite Líedros: V. 1. Versform 271 <?page no="272"?> 13 T. S. Eliot, The Waste Land. Authoritative Text. Contexts. Criticism, hrsg. v. Michael North, New York/ London 2001. 14 Die folgende Analyse ist eine leicht verbesserte Version derjenigen, die in Dembeck, »›No pasaran‹«, 11-13, zu finden ist; für eine Kritik an dieser Lektüre siehe Bunia, Metrik und Kulturpolitik, 246-248. Schmáusit[e] èt in tíeffam sub schmáusis saufíte Náchtam! Non étenim vóbis únquam bóna bíeria féhlunt. Es handelt sich um fünf- und sechshebige Verse mit freier Füllung und durchgängig weib‐ licher Kadenz - alles in allem ein mehr der deutschen als irgendeiner lateinischen Tradition verpflichteter Versbau. Hinzu kommt noch, dass zumindest teilweise Formen des ursprüng‐ lich germanischen Stabreims und der Assonanz zu beobachten sind (»simul multos anstimmite«, »Schmausite […] sub schmausis saufite«, »bona bieria«). Allenfalls signalisiert die Wiederholung lateinischer Flexionsformen (vor allem »ite«) eine Form der Segmentie‐ rung auf der morphologischen Ebene, die sich in erster Linie dem Lateinischen verdankt. Der offenkundige Verzicht des Textes darauf, sich durch latinitas, also die lateinische Sprachrichtigkeit auszuzeichnen, deren Wahrung ja gerade das Distinktionsmerkmal der ›höheren‹ makkaronischen Dichtung war, ist nun seinerseits auf seine sozialen und kul‐ turpolitischen Implikationen hin zu befragen. Insofern der Text den Triumph der ›Profes‐ sorenburschen‹, also derjenigen privilegierten Gruppe von Studierenden besingt, die, an‐ ders als etwa die ›Bürgerburschen‹, in Professorenhaushalten lebten, darf man diese Nachlässigkeit vielleicht als Demonstration der Unabhängigkeit von einer Form der aka‐ demischen Strenge werten, die nur für Angehörige der Akademie mit niedrigerem Status gilt: eine ostentative Distanznahme vom Bildungsstandard als Ausweis höherer Bildung, wie sie später auch die aus dem universitären Milieu stammende Philistersemantik aus‐ zeichnet. (2) In den Schlussversen des letzten Gedichts aus The Waste Land, »What the Thunder said«, verdichtet sich die Einbindung der fremdsprachlichen Zitateinsprengsel, die schon vorher für Eliots Langgedicht charakteristisch ist. Mit einer einzigen Ausnahme sind alle nicht-englischen Wörter im Gedicht Teil von Zitaten: I sat upon the shore Fishing, with the arid plain behind me Shall I at least set my lands in order? London Bridge is falling down falling down falling down Poi s’ascose nel foco che gli affina Quando fiam ceu chelidon - O swallow swallow Le Prince d’Aquitaine à la tour abolie These fragments I have shored against my ruins Why then Ile fit you. Hieronymo’s mad againe. Datta. Dayadhvam. Damyata. Shantih shantih shantih (V. 423-33) 13 Die einzelnen Zitate lassen sich allesamt auf vorangehende Anspielungen, Zitate und Mo‐ tive des Gedichts beziehen, wodurch sie verschiedene Grundzüge des Textes noch einmal zusammenführen. 14 Sie lassen weiterhin die Gemeinsamkeit erkennen, dass sie im Origi‐ Till Dembeck 272 <?page no="273"?> nalzusammenhang auf dichterische Neuanfänge aus einer hoffnungslosen Situation heraus anspielen: Das italienische Zitat stammt von Dante und berichtet von der Reinigung des Dichters Arnaut Daniel (der in den unmittelbar vorangehenden Versen der Commedia übrigens noch auf Okzitanisch gesprochen hat) in den Flammen des Purgatorio; das latei‐ nische Zitat (»Quando fiam …«) aus dem spätantiken Pervigilium Veneris ist Teil der Klage eines verstummten Dichters, der wieder »wie die Schwalbe« singen möchte; das sodann zitierte Gedicht von Nerval, »El Desdichado« (1853), führt mit der Figur des ›Prinzen von Aquitanien‹ möglicherweise ebenfalls eine untröstliche Dichterfigur vor Augen; die ab‐ schließende Passage in Sanskrit zitiert die Rede des Donners, die das gesamte Abschluss‐ gedicht strukturiert. Interessanter als diese ›thematische‹ Konzentration ist aber die formale Verbindung, die die zitierten Fragmente untereinander eingehen. Die Verse führen verklungene Versformen aus der Tradition und verklungene Formen und Motive des Gedichts selbst zusammen, und zwar jenseits der Unterschiede in den Prosodien und den gängigen Versbauverfahren der verwendeten Sprachen. Im Anschluss an den doppelten Hebungsprall in »London Bridge is falling down falling down falling down«, der sich bei akzentuierender Lesart jeweils in »down falling« ergibt, wird ein flüssiger, alternierender Rhythmus eingeführt, der min‐ destens drei verschiedene Versbauweisen nutzt. Die anderssprachigen Verse führen jeweils ein in der jeweiligen Tradition klassisches Versmaß ein: Dantes Vers ist ein Endecasillabo, der lateinische Vers spielt einen katalektischen trochäischen Trimeter an, der Vers von Nerval ist ein Alexandriner, er wird gefolgt von einem Blankvers, der von Eliot selbst stammt. Natürlich konstituiert sich der italienische Vers nicht eigentlich akzentuierend, aber das Italienische verfügt durchaus über hinreichend starke Akzentuierungsdifferenzen, um beispielsweise folgendes Muster in dem Vers aktualisiert zu sehen: Pói s’ascóse nel fóco ché gli affína. Das dann folgende lateinische Zitat ist (zumindest in der Erstausgabe des Zyklus) verfälscht, denn das Original hat statt des einsilbigen (langen) »ceu« das zweisilbige »uti«. Durch diese Änderung lässt sich der Vers auch ohne Synaloiphe nach der klassischen, quantitierenden Versbauweise als Trochäus einordnen. Es ergibt sich dann: Quāndŏ fīām cēu chĕlīdōn, nicht: Quāndŏ fī[am] ŭtī chĕlīdōn. Am Übergang zum Englischen findet sich dann allerdings in beiden Varianten ein Bruch des trochäischen Metrums, denn auf das »on« ist ein eher unbetontes »O« vor die betonte erste Silbe von »swallow« eingeschoben, obgleich an dieser Stelle eine Hebung zu erwarten wäre. Wenn man für die lateinischen Verse akzentuierenden Versbau unterstellt (siehe hierzu Bunia, Metrik und Kulturpolitik, 246-248), ergibt sich, zumindest bei Ersetzung von »uti« durch »ceu«, ebenfalls ein tro‐ chäischer Rhythmus - und auch darin mag die Ersetzung begründet sein. Allerdings weist das Wort »chelidon«, wenn man es als griechisches Wort nimmt, eine Besonderheit auf. Denn χελιδών hat Längen auf dem ι wie auf dem ω, aber auf der letzten Silbe den Beto‐ nungsakzent. So gelesen geht in diesem Wort der ›lateinische‹ Trochäus in einen ›engli‐ schen‹ über: dón - O swállow, swállow. Damit verschiebt sich die metrische ›Unregelmä‐ ßigkeit‹ zwischen dem Zitat und der englischen Fortsetzung des Verses in das Zitat selbst - entweder, wenn man in »chelidon« eine Betonung auf der ersten Silbe zulassen will, vor das oder aber in das griechische Fremdwort hinein. Die Zäsur, die der Vers durch den am Übergang vom Lateinischen zum Englischen vor dem »O« gesetzten Gedankenstrich so oder so markiert, nimmt nun seinerseits die Mittelzäsur des folgenden französischen Ale‐ V. 1. Versform 273 <?page no="274"?> xandriners vorweg - die Zäsur rückte dort gewissermaßen um eine Hebung näher zum Versbeginn. Dieser Vers ließe sich zugleich, wenn man ihn nach der französischen Alltags‐ sprache ausspricht und also das stumme ›e‹ nicht betont, als Anklang an den Dante-Vers und seine dynamischen Doppelsenkungen lesen: Le Prínc(e) d’Aquitáin(e) à la tóur abolí(e). Dasselbe gilt für Eliots Blankvers, dessen dynamische Fünfhebigkeit ebenfalls ohne Zäsur auskommt. Durch die Zusammenfügung der Verse und Versteile aus insgesamt fünf Sprachen (Ita‐ lienisch, Latein, Griechisch, Englisch, Französisch) werden hier in nur vier Versen in un‐ terschiedlichen ›Sprachen‹ etablierte Verfahren des Versbaus so zueinander ins Verhältnis gesetzt, dass sich möglicherweise ein neues Verfahren etabliert, das metrische Muster nach anderssprachigen Versifizierungsverfahren auf das jeweilige Sprachmaterial abbildet. Damit ergibt sich die Möglichkeit, über die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Bauweisen hinweg einen rhythmischen Zusammenhang zu erzeugen, der in seinem dyna‐ mischen ›Fluss‹ die Stauungen des vorangehenden kindlich-apokalyptischen Verses (»London Bridge …«) aufbricht. Die Herstellung dieses Zusammenhangs ermöglicht aber, zumindest in dem lateinisch-griechisch-englischen Vers, eine prosodische Uneindeutigkeit: Das Wort »chelidon« wird als Kippfigur lesbar, es gehört sowohl den lateinischen (klassisch quantitierenden und/ oder akzentuierenden) Trochäen in der ersten als auch den englischen (akzentuierenden) Trochäen in der zweiten Vershälfte zu. Inszeniert wird so die Gefügigkeit und zugleich auch die Widerständigkeit des vorgegebenen Materials, das in der verein‐ heitlichenden ›Überformung‹ letztlich nicht ganz aufgeht und dem kulturpolitischen Pro‐ gramm des Textes gemäß auch nicht aufgehen darf. e) Offene Forschungsfragen Desiderate der Erforschung des mehrsprachigen Versbaus lassen sich auf nahezu allen hier berührten Themenfeldern konstatieren. Zuvorderst ist die mangelnde Erschließung des Materials hervorzuheben, vor allem, was Formen der manifesten Mehrsprachigkeit angeht. Das Vorkommen von Versen, die anderssprachige Elemente und/ oder Strukturen enthalten, wird in der Forschung in der Regel nur im Vorbeigehen konstatiert, nicht aber systematisch erfasst. Das mag damit zu tun haben, dass sich diese Art des Versbaus nur in wenigen und dementsprechend auch besser erforschten Zusammenhängen zu einer Art Gattungstradi‐ tion verdichtet hat, beispielsweise im Falle der makkaronischen Poesie. Vor allem wäre die Menge der berücksichtigten Sprachen deutlich zu steigern. Die hier referierten Überle‐ gungen zum Einfluss des arabischen Versbaus auf die Entwicklung des romanischen Reims stellen nur ein Anfang dar. Die Rolle latenter und manifester Mehrsprachigkeit für die Evolution der modernen Lyrik bleibt ebenfalls ausführlicher zu erschließen. Daran schließt sich die grundlegende gattungstheoretische Frage an, inwiefern sich Vers und/ oder Lyrik grundsätzlich als eine Form von Sprachdifferenz beschreiben lassen. Die Ausweitung der historischen Rekonstruktion muss einhergehen einerseits mit einer Ausarbeitung des analytischen Instrumentariums, das bislang nicht wirklich vorliegt - im vorliegenden Beitrag werden nur erste Vorschläge referiert. In diesem Zusammenhang sind linguistische wie philologische Präzision gleichermaßen anzustreben. Andererseits muss versucht werden, grundsätzlich die kulturpolitische Funktionalität von Mehrsprachigkeit Till Dembeck 274 <?page no="275"?> im Versbau zu bedenken - aber dies ist eine Forderung, die insgesamt für die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit zu erheben ist. Literatur Breuer, Ulrich/ Till Dembeck, »Literarische Gattungen: Neuzeit/ Moderne«, in: Natalie Binczek/ Till Dembeck/ Jörgen Schäfer (Hrsg.), Handbuch Medien der Literatur, Berlin/ Boston 2013, S. 511-517. Bunia, Remigius, Metrik und Kulturpolitik. Verstheorie bei Opitz, Klopstock und Bürger in der europä‐ ischen Tradition, Berlin 2014. 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Im Prinzip lassen sich nahezu alle beschreibbaren Verfahren der literarischen Mehrsprachigkeit auch in dra‐ matischen Texten nachweisen, wobei sich die folgenden Ausführungen vor allem auf ge‐ druckte Theatertexte beziehen und Hörspiele, Singspiele, Opern, Kabarett sowie andere benachbarte dramatische Formen ausgespart bleiben. Zugleich sollen für die jüngere Zeit, für die der Zugang zu Überlieferungszeugnissen leichter ist, auch exemplarisch Inszenie‐ rungen von Theaterstücken berücksichtigt werden, da auch über die Bühnentechnik, etwa durch Übertitelung oder Einspielung von Aufnahmen, Mehrsprachigkeit im Theater in Er‐ scheinung treten kann. Bei Text und Inszenierung ist der Entstehungs-, Rezeptions- und Produktionskontext des jeweiligen dramatischen Stückes stets mitzudenken. Da der Dra‐ mentext zumindest potentiell auf eine Aufführung vor Publikum ausgerichtet ist, ist zu‐ mindest seit dem 18. Jahrhundert der Aufführungskontext, von einigen mehrsprachigen Kulturräumen abgesehen, einsprachig definiert. Dramengeschichtlich kommt mehrspra‐ chiges Theater von Aristophanes und Plautus über Bartholomé de Torres Naharro, Andrea Calmo und die Commedia dell’Arte, von William Shakespeare, Lope de Vega, Molière, Carlo Goldoni und Tristan Bernard bis ins 21. Jahrhundert immer wieder vor, ohne dass sich ein eigenständiges Genre ›mehrsprachige Dramatik‹ herausgebildet hätte (Weissmann, »Mehrsprachigkeit auf dem Theater«, 76). Während mehrsprachiges Theater in Ländern mit kolonialer Vergangenheit (in Afrika, Indien oder Lateinamerika) gängig ist, treten mul‐ tilinguale Theaterformen in Europa in traditionell mehrsprachigen Ländern wie der Schweiz, Belgien oder Luxemburg bzw. in Städten auf, die eine hohe Internationalität und/ oder eine ausgeprägte kulturelle Vielfalt aufweisen. Unabhängig vom Wirkungsumfeld manifestiert sich Mehrsprachigkeit im Drama entweder durch die Verwendung unter‐ schiedlicher Sprachvarietäten oder durch Sprachwechsel. (1) Sprachvarietäten im Dramentext manifestieren sich im Vergleich zu einer dominanten und quantitativ erkennbaren Standardsprache dadurch, dass sie markiert anders oder durch den Aufführungskontext auffällig, wenn auch in beiden Fällen verständlich sind. Solche Sprachvarietäten können auf einzelne oder wenige Figuren begrenzt sein und haben sodann kulturhermeneutische Relevanz. In Georg Büchners Woyzeck (Entstehung 1836, Druck 1879, Uraufführung 1913) etwa kontrastiert die von Satzbrüchen und Ellipsen geprägte Dialektsprache von Woyzeck und anderen Figuren mit der Gelehrtensprache des Doktors. Eine figurenspezifische Sprachdifferenz wird oft als Indikator sozialer Zugehörigkeit ver‐ standen, im Fall von Woyzeck verweist der Dialekt auf die proletarische Zugehörigkeit. Es gilt insgesamt genrespezifische Unterscheidungen festzuhalten: In Lustspielen und Komö‐ <?page no="278"?> dien erzielt sprachvarietätisches Sprechverhalten häufig eine komische Wirkung und führt eine hierarchische soziale Verortung vornehmlich der Nebenfiguren herbei, etwa in Luise Adelgunde Victorie Gottscheds Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736), in der Frau Glau‐ beleichtin, die teils Sächsisch spricht, als gegenaufklärerische Figur konzipiert ist. In Schau‐ spielen und Dramen, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, ist sprachvarietätisches Sprech‐ verhalten oftmals Ausdruck von Sozialkritik in einem sich verändernden sozialen Umfeld, wie etwa im sozialen Drama Die Weber (1892) von Gerhart Hauptmann, das zunächst auf Schlesisch unter dem Titel De Waber verfasst wurde. Soziolekte sind im Drama des Natu‐ ralismus wie z. B. in Die Familie Selicke (1890) von Arno Holz und Johannes Schlaf oder in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) Instrument sozialpolitisch motivierter Ide‐ ologiekritik. Diese Tradition wird im Theater der Weimarer Republik (Ödön von Horváth, Marieluise Fleißer) bis ins neue Mundarttheater, etwa bei Franz Xaver Kroetz, weiterge‐ führt. Eine Sonderform sprachvarietätischen Sprechens stellt das dialektsprachliche Theater dar, in dem der gesamte Dramentext in einem überwiegend standardsprachigen Umfeld eine durchgehende und kohärente Sprachvarietät aufweist. Vor allem in regionalen Sprach‐ räumen, in denen die Varietät einer Sprache zu einer dominanten Standardsprache sozial anerkannt und praktiziert wird, sind Texte im Dialekt erfolgreich, populär und in der The‐ aterlandschaft institutionalisiert, wie im Fall des Millowitsch-Theaters in Köln (bis ins 18. Jahrhundert zurückreichend), des Ohnsorg-Theaters in Hamburg (auf das Jahr 1902 zurückgehend; mit niederdeutschen Stücken oder niederdeutschen Übersetzungen aus dem Standarddeutschen) oder des Komödienstadls (seit 1959 Bühnenstücke in bairischer Mundart im Bayerischen Rundfunk). Insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren erlebte das Dialekttheater eine gewisse Aufwertung (vgl. Reinert-Schneider, Gibt es eine Dialekt‐ renaissance? ). (2) Der Sprachwechsel äußert sich ebenso auf der Autorenwie auf der Textebene. Unter literatursoziologischer Perspektive manifestiert er sich bei mehrsprachigen Autoren. Sa‐ muel Beckett beispielsweise schrieb seit 1944 zweisprachig, auf Englisch in seiner Mutter‐ sprache und auf Französisch in seiner Wahlsprache: En attendant Godot (1948-1949), Fin de partie (1955-1957) und Oh les beaux jours (1960) übersetzte der Autor selbst ins Englische (vgl. Tophoven, »Beckett dreistimmig«). Gabriele D’Annunzio verfasste in seinem franzö‐ sischen Exil in Paris auch französischsprachige Theatertexte wie Le Martyre de Saint Sé‐ bastien (1911), La Pisanelle (1913) oder Le chèvrefeuille (1913) (vgl. Meter, »D’Annunzio oder die Dramatik des doppelten Registers«). Der seit 1991 in der Nähe von Paris wohnende slowenisch- und deutschsprachige Peter Handke, der Werke von Emmanuel Bove, René Char, Francis Ponge und Patrick Modiano aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt hat, schrieb Les Beaux Jours d’Aranjuez. Un dialogue d’été (2012) in der Sprache seiner Wahlheimat. Sprachwechsel tritt zudem als Verfahren der literarischen Mehrsprachigkeit auf der Textebene hervor. Dabei ist zunächst der Umfang mehrsprachiger Anteile am Text zu beachten. Kurze Zitate und Redewendungen bzw. Ausdrücke können bereits in Stück‐ titeln (etwa bei Falk Richter, Small Town Boy [2014], Never Forever [2014], Fear [2015]) und auf der Figurenebene vorkommen oder sie haben insgesamt eine textstrukturelle Bedeu‐ tung, wenn sie sich auf Dialoge, einzelne Szenen oder ganze Stücke erstrecken. In solchen Fällen können eine einzelne oder mehrere Figuren mehrsprachig sein. Claude D. Conter 278 <?page no="279"?> b) Sachgeschichte Die Dramen- und Theatergeschichte wird traditionell entweder im nationalen literaturge‐ schichtlichen Kontext, im Kontext der europäischen Dramen- und Theatergeschichte (Brauneck, Europas Theater; Brauneck, Die Welt als Bühne) oder im internationalen Kontext (Brauneck, Kleine Weltgeschichte des Theaters) beschrieben. Dabei werden Formen der Mehrsprachigkeit zumeist nicht thematisiert, sondern eher am Rande erwähnt. Lediglich in der Einflussforschung der Vergleichenden Literaturwissenschaft wird hervorgehoben, dass z. B. die Anfänge des Lustspiels etwa in Deutschland von Übersetzungen aus franzö‐ sischen oder englischen Komödien geprägt sind, wodurch nicht nur ganze Modelle, sondern auch einzelne Figuren und manchmal auch Redewendungen in die deutschsprachigen Dramen übernommen wurden. Da die entstehungs- und wirkungsgeschichtlichen Bedingungen von Mehrsprachigkeit im europäischen Drama und Theater je nach Staat oder Region zu unterschiedlich sind und nicht auf eine allgemeine Art und Weise historisch zusammengefasst werden können, scheint ein typologischer Zugriff eher erkenntnisfördernd. Insgesamt lassen sich in der Dramengeschichte Formen der latenten Mehrsprachigkeit im monosprachigen Entste‐ hungs- und Wirkungskontext von denen der manifesten Mehrsprachigkeit unterscheiden. Bei latenten Formen der Mehrsprachigkeit wird auf eine anderssprachige Rede, die nicht wörtlich wiedergegeben wird, lediglich verwiesen, wobei der Bezug zur Fremdsprache auf eine implizite oder explizite Weise erfolgt. (1) Von einer impliziten latenten Mehrsprachigkeit ist dann die Rede, wenn die gespro‐ chene Sprache in einem Drama fiktionslogisch nicht mit jenem sprachlich-kulturellen Raum im Stück kongruiert, der die Kulisse bildet und die Handlung eines Textes bestimmt. Schauplatz des bürgerlichen Trauerspiels Miss Sara Sampson (1755) von Gotthold Ephraim Lessing z. B. ist ein Gasthof in England. Dass die englische Namen tragenden Figuren in dem im Exerzierhaus zu Frankfurt an der Oder uraufgeführten Stück Deutsch sprechen, ist ein Beispiel einer solchen latenten Form der Mehrsprachigkeit im Drama. Latente Mehr‐ sprachigkeit bedarf eines Paktes des Theaterbesuchers mit dem Inszenierungskontext. Ob‐ gleich Namen und Orte als fremd und ausländisch wahrgenommen werden, irritiert der fiktionslogisch falsche Sprachgebrauch der Protagonisten nicht. Es handelt sich um eine wirkungsgeschichtlich geduldete Art einer ansonsten im jeweiligen soziokulturellen Um‐ feld ungewöhnlichen Form der Mehrsprachigkeit. Implizite latente Mehrsprachigkeit ist eine Charakteristik von Stücken, die im Kontext bestimmter literarischer Moden entstehen, z. B. Johann Gottlieb Stephanies des Jüngeren von Mozart vertontes Libretto Die Entführung aus dem Serail (1782), das die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt kursierende Türkenmode aufgreift, oder das Ritterstück von Shakespeare The Tragicall Historie of Hamlet, Prince of Denmarke (1601/ 1602) bis hin zu Erfolgsstücken des 18. Jahrhunderts. Vor allem aber findet sich eine implizite latente Mehr‐ sprachigkeit in historischen Dramen und historischen Gemälden wie z. B. Ben Johnsons Catiline His Conspiracy (1611), Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783) und Don Karlos (1787) von Schiller oder in Tragödien wie Romeo and Juliet (1597) von Shakespeare, die in Verona spielt, und Hernani, ou l’Honneur Castillan (1830) von Victor Hugo. Sie dient in Komödien indes auch als Projektionsfläche und versteckte Kritik an zumeist gesellschaft‐ lichen oder politischen Zuständen vor Ort, so etwa in Dom Juan ou le Festin de pierre V. 2. Dramatik/ Theater 279 <?page no="280"?> 15 Christoph Martin Wieland, »Briefe an einen jungen Dichter«, in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. XIV: Supplemente 6, Hamburg 1984, S. 267-296, hier S. 289. (1665/ 1682) und Les Fourberies de Scapin (1671) von Molière oder im Vaudeville Le verre d’eau ou Les effets et les causes (1840) von Eugène Scribe, die in Sizilien, Neapel bzw. Groß‐ britannien spielen. In Deutschland beobachtete Christoph Martin Wieland in seinen Briefen an einen jungen Dichter (1784) den Tatbestand, dass gerade diese implizite latente Mehr‐ sprachigkeit auch den Erfolg dieser Schauspiele erkläre, da sie vor jeweils unterschied‐ lichem Publikum Beifall gefunden hätten. Und mit etwas Bedauern fügt er hinzu: »Bei den allermeisten Trauerspielen, Lustspielen, Dramen usw. womit wir seit Gottscheds Zeiten unterhalten wurden, mussten wir uns bald nach Griechenland, bald nach Italien, bald nach Frankreich oder England, bald nach Konstantinopel, Babylon, Memfis oder Peking ver‐ setzen lassen. Diese Ausländer waren, so zu sagen, das einheimische eigenthümliche Land unserer Tragödie.« 15 Eine Sonderform stellt die imaginierte latente Mehrsprachigkeit im monosprachigen Ent‐ stehungs- und Wirkungskontext dar, bei der auf der Textebene unterschiedliche Sprach‐ räume und Sprachen imaginiert werden, die auf der Kommunikationsebene des Stückes als (imaginierte) Varietäten einer Sprache wahrgenommen werden. In Johann Nepomuk Nestroys »indianischer Faschings-Burleske« Häuptling Abendwind oder Das greuliche Fest‐ mahl (1862) unterhalten, verständigen und missverstehen sich die Gross-Luluerer und Pa‐ patutuaner »von den fernen Inseln in Australien« in Phantasiesprachen, die aufgrund von mit dem Wiener Dialekt vergleichbaren Sprachstrukturen den Zuschauern durchaus ver‐ traut klingen. (2) Eine explizite latente Mehrsprachigkeit liegt häufig in solchen Stücken vor, in denen der Konflikt zwischen zwei Familien, Geschlechtern, Königshäusern aus unterschiedlichen sprachlich definierten Kulturräumen stattfindet, wobei der Dramentext in einer einzigen Sprache gesprochen wird, in Dialogen aber die Anderssprachigkeit erwähnt oder themati‐ siert wird (z. B. in Aischylos’ Orestie). Dramatisierungen des Iphigenie-Stoffes, ausgehend von Euripides’ Tragödie (408-406 v. Chr.), oder des Antigone-Stoffes, auf der Grundlage des Sophokles’schen Dramas (442 v. Chr.), sind Beispiele dafür. Gelegentlich wird auf der Figurenebene darauf verzichtet, die Fremdsprachigkeit zu thematisieren, so dass die anta‐ gonistische Konstellation und die Zwistigkeiten zwischen Repräsentanten zweier wider‐ streitender Staaten nicht sprachlich, sondern über kulturelle und politische Verweissysteme kommuniziert werden. Explizite latente Mehrsprachigkeit kommt zudem in Texten vor, die in fremden Ländern spielen und Protagonisten unterschiedlicher sprachlicher und kultu‐ reller Herkunft vereinen. Zu nennen ist Voltaires Zaïre (1732), dessen Handlung in dem von Saladin eroberten Jerusalem stattfindet und worin nebst dem Sultan auch französische Kreuzritter auftreten. (3) Außer latenten Formen der Mehrsprachigkeit gibt es, dramengeschichtlich zunächst seltener, in den letzten Jahrzehnten jedoch häufiger anzutreffen, Formen der manifesten Mehrsprachigkeit. Hier ist zu unterscheiden zwischen manifester Mehrsprachigkeit im mo‐ nosprachigen oder im mehrsprachigen Entstehungs- und Wirkungskontext. Im monospra‐ chigen Produktions- und Rezeptionsumfeld lässt sich manifeste Mehrsprachigkeit auf der Figurenebene anhand des Sprachwechsels festmachen, wobei zwischen einzelnen Wörtern Claude D. Conter 280 <?page no="281"?> von Protagonisten oder der einer Figur exklusiv zugewiesenen Fremdsprache zu unter‐ scheiden ist. Manifeste Mehrsprachigkeit ist insbesondere in Komödien zu finden und übernimmt unterschiedliche Funktionen. Von einer epochenspezifischen Funktion mani‐ fester Mehrsprachigkeit wird gesprochen, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt Multilin‐ gualität in dramatischen Genres eher dem Erwartungshorizont des Publikums entspricht. Dies trifft etwa auf die Renaissance zu, wo sich an den oberitalienischen Höfen die Com‐ media erudita, zumeist Komödien oder Pastoralspiele, großer Beliebtheit erfreut. Bernardo Dovizi da Bibbiena hob etwa in der Einleitung zu La Calandria (1513) hervor, dass sein Stück nicht auf Latein, sondern auf Italienisch geschrieben sei. Von einer genrespezifischen Funktion manifester Mehrsprachigkeit spricht man, wenn sie einer Figur oder einem Typus zugewiesen werden kann. In Soldatenstücken, in denen die berufsbedingte Migration thematisiert wird, tritt häufig der Typus des bramarbasierenden Capitano auf (vgl. de Michele, »Der Capitano der Commedia dell’arte«), der nicht nur mit seinen kriegerischen Heldentaten, sondern nicht selten mit seinen Fremdsprachenkennt‐ nissen als Ausweis seiner Weltläufigkeit prahlt. Solche genrespezifischen Funktionen ma‐ nifester Mehrsprachigkeit besitzen in den Komödien Langzeitwirkung und kehren, etwa im Rollenfach (vgl. Florack, Bekannte Fremde), häufig wieder: der radebrechende, der sich in der Fremdsprache ausdrückende Fremde taucht etwa als miles gloriosus bei Plautus oder als Il Capitano in der Commedia dell’arte auf. Während der Maulheld dort im Kostüm der spanischen oder französischen Soldaten als äußerem Zeichen der Fremdheit spielte, besetzt in anderen Komödien die Fremdsprachigkeit diese Form der Marginalisierung. So flucht Capitain Daradiridatumtarides Windbrecher von Tausend Mord aus Horribilicribrifax Teutsch (1663) von Andreas Gryphius auf Französisch. Daneben wird in dieser Komödie auch Altgriechisch, Lateinisch, Hebräisch, Italienisch sowie Spanisch gesprochen, und Cy‐ rilla verulkt Sempronius mit einer Phantasiefremdsprache. Ebenso mehrsprachig wie der miles gloriosus ist in den Komödien auch der Gelehrte. Der Dottore etwa, der pseudogebildete Jurist oder Gelehrte aus Bologna und Padua, der aus der Commedia dell’arte bekannt ist und noch in der sächsischen Typenkomödie, in den Vaudevilles und in den Possen des 18. und 19. Jahrhunderts in der Gestalt des falschen Gelehrten weiterlebt, ist für seine Besserwisserei und sein gelehrtes Geschwätz bekannt. In einer Art »Küchenlatein«, einer Vermengung von Fach- und Fremdsprachen, befleißigt sich diese lächerliche Figur der übertriebenen Verwendung von Latinismen, um zu impo‐ nieren und seiner Person Bedeutung gegenüber anderen zu verleihen. Sie gilt seit ihren Anfängen über Gryphius’ bereits erwähntes Scherz-Spiel Horribilicribrifax Teutsch, worin der Dorflehrer Sempronius altgriechische, lateinische und hebräische Wortfetzen ein‐ fließen lässt, bis hin zu den Wiener Haupt- und Staatsaktionen etwa von Josef Anton Stranitzky und Nestroys Zauberposse Der böse Geist Lumpazivagabundus oder Das lieder‐ liche Kleeblatt (1833) als komische Figur. In manchen Komödien lebt der Typus weiter, doch wird die fremdsprachige Komponente reduziert, etwa in Molières Le Malade imaginaire (1673), in der der Arzt Diafoirus nur noch wenige lateinische Wörter spricht. Manifeste Mehrsprachigkeit kann überdies eine sprachkritische Funktion übernehmen. Im 17. Jahrhundert, als die Sprachgesellschaften entstanden und sich um die Reinheit der Sprache und die Bereinigung des Deutschen von Fremd- und Lehnwörtern und Mundarten bemühten, dienten Fremdsprachen in Komödien der Förderung der sprachpflegerischen V. 2. Dramatik/ Theater 281 <?page no="282"?> 16 Isaak Euchel, Reb Henoch, oder: Woß tut me damit. Eine jüdische Komödie der Aufklärungszeit, Text‐ edition v. Marion Aptroot und Roland Gruschka, Hamburg 2006. und -puristischen Bemühungen, wobei die Sprachkritik nicht selten mit einer Diffamierung des Fremden einherging. So verbindet noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts Luise Adel‐ gunde Victorie Gottsched, die mehrere Bühnenstücke aus europäischen Sprachen ins Deut‐ sche übersetzt hat, im Lustspiel Die Hausfranzösinn oder Die Mammsell (1744) die Kritik an der Gallomanie der Oberschicht seit den 1740er Jahren mit dem falschen und übertriebenen Gebrauch des Französischen, sowohl um die Praxis der adeligen Kavalierstour zu karikieren als auch alles Französische als lächerlich und lasterhaft darzustellen. Und der Vertreter der jüdischen Aufklärungsbewegung (Haskala) Isaak Euchel hat in seiner deutschsprachigen und jiddischen, postum erschienenen Komödie Reb Henoch oder: Woß tut me damit (1793) am Beispiel des Jiddischen Konflikte beleuchtet, die im Aufklärungs- und Akkulturations‐ prozess aufgetreten sind; zugleich thematisiert er in seinem Sittengemälde kulturelle, so‐ ziale und politische Aspekte des jüdischen Lebens im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts. 16 Euchel, der sich für den Gebrauch des Hebräischen stark machte, ergänzt diese Formen der Mehrsprachigkeit (Englisch, Französisch, Hebräisch) durch weitere Sprachvarietäten (deutsche Dialekte, gebrochenes Deutsch, philosophischer Jargon). Diese Beispiele zeigen, dass Sprachkritik Mehrsprachigkeit nicht verdrängt, sondern durch den bewussten Rückgriff auf dieselbe diskutiert und bewertet, ohne sie zu ignorieren. (4) Manifeste Mehrsprachigkeit übernimmt im mehrsprachigen Kulturraum eine andere Funktion als in der monosprachigen Literaturlandschaft. In europäischen Ländern wie der Schweiz, Belgien oder Luxemburg, in denen eine mehrsprachige Literaturlandschaft mit teils verschiedenen koexistierenden Sprachtraditionen besteht, wird manifeste Mehrspra‐ chigkeit nicht als deviant oder irritierend, sondern als selbstverständlich wahrgenommen. Formen einer manifesten Form der Mehrsprachigkeit werden auch in Städten, deren Kultur- (und meist auch Wirtschaftsleben) von einem hohen Grad an Internationalität ge‐ prägt ist, immer geläufiger. Eine Sonderform bildet der Werkauftrag eines Theaters an einen Schriftsteller, wonach das Stück zuerst in der Übersetzung uraufgeführt wird. Yasmina Rezas Stücke Ihre Version des Spiels (2012) oder Bella Figura (2015) wurden je am Deutschen Theater in Berlin und an der Schaubühne Berlin uraufgeführt. Während diese Stücke dort noch in der Muttersprache der Zuschauer gespielt werden, werden in Metropolen mit einem hohen Anteil an Arbeitsmigration hingegen fremdsprachige Aufführungen immer üblicher. So lädt das Theater der Stadt Luxemburg jedes Jahr konsequent Theater aus anderen europäischen Ländern zu deutsch-, französisch-, englisch- oder polnischsprachigen Pro‐ duktionen ein. Insgesamt ist in den europäischen Staaten seit den 2000er Jahren eine In‐ ternationalisierung der Theaterlandschaft, grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei Ko‐ produktionen sowie international ausgerichtete Theaterfestivalkultur zu beobachten, durch die Multilingualität im Drama gefördert wird. Mehrsprachigkeit kann dabei zeitlich punktuell anlässlich von internationalen Theater‐ festivals (Avignon, Berlin, Edinburgh, Sibiu, Zürich) praktiziert werden. In Zürich waren 2014 insgesamt 36 Theaterproduktionen aus 30 Ländern von 5 Kontinenten eingeladen. Dabei werden nicht nur Texte in Übersetzungen gespielt, sondern immer häufiger Produk‐ tionen eingeladen, zu deren Kennzeichen manifeste Mehrsprachigkeit gehört. Multilinguale Claude D. Conter 282 <?page no="283"?> 17 Falk Richter, »Rausch«, in: Ders., Theater. Texte von und über Falk Richter 2000-2012, hrsg. v. Friede‐ mann Kreuder unter Mitarbeit v. Annika Rink, Marburg 2012, S. 579-627, hier S. 625. Stücke, die sich an ein polyglottes Publikum wenden, sind nicht länger ungewöhnlich. In Avignon wurde 2016 Angélica Liddells Stück ¿Qué haré yo con esta espada? (Que ferai-je, moi, de cette épée? ) auf Spanisch, Französisch und Japanisch gespielt; andere Stücke wurden auf Arabisch, Deutsch oder Englisch aufgeführt und jeweils in Französisch untertitelt. Der belgische Autor Antoine Laubin fragt in Heimaten (2016) nach der Bedeutung der Heimat und lässt zwei belgische und zwei deutsche Schauspieler miteinander u. a. auf Französisch, Deutsch und Englisch über ihre Sprachheimat diskutieren. Wie hier entsteht Mehrspra‐ chigkeit im europäischen Theater insbesondere durch internationale Zusammenarbeit von Theaterhäusern, die durch die Mehrsprachigkeit von Schauspielern, Regisseuren und an‐ deren Akteuren zusätzlich verstärkt wird. Doch nicht nur zu besonderen Festivalanlässen, sondern auch in die regulären Spielpläne integrieren Theater immer häufiger fremdsprachige Produktionen. Das Kollektiv Rimini Protokoll (vgl. Abschnitt d) lässt Experten des Alltags auf der Bühne auf Englisch über eigene Erfahrungen berichten, und Milo Rau verfährt in seinen Stücken mehrsprachig: In einer als Trilogie angelegten Hinterfragung einer europäischen conditio humana im 21. Jahrhundert (The Civil Wars [2014], The Dark Ages [2015] und Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs [2016]) reflektiert Rau die Geschichte Europas in privaten Lebens‐ läufen. In The Dark Ages teilen Schauspieler aus Bosnien, Deutschland, Russland und Ser‐ bien in ihrer jeweiligen Muttersprache gebrochene Lebensläufe mit, erzählen von der Ver‐ treibung und der Heimatlosigkeit, vom Engagement und der Verzweiflung. Mehrsprachige Stücke scheinen gegenwärtig besonders erfolgreich zu sein und eine avancierte Position im deutschsprachigen Theater anzuzeigen. Neben Rimini Protokoll und Milo Rau ist auch Falk Richter zu erwähnen, dessen Stück Play Loud (2012) zunächst in französischer Sprache am Théâtre national in Brüssel aufgeführt wurde und in dem Songs in anderen Original‐ sprachen über youtube eingeblendet oder als Reenactement gespielt werden. Während Hotel Palestine (2004), im gleichnamigen Hotel in Bagdad spielend und eine Pressekonferenz zwischen Reportern, PR -Leuten und Regierungssprechern darstellend, ausschließlich auf Deutsch verfasst ist und sogar die Zitate des amerikanischen Präsidenten auf Deutsch wie‐ dergibt, verfährt Richter, gemeinsam mit der niederländischen Choreografin Anouk van Dijk, im Stück Rausch (2012) anders. In diesem Tanz-Stück über die menschliche Psyche und Ängste im Zeitalter sozialer Netzwerke und des Narzissmus einerseits, der Umbruchs‐ signale (Occupy-Bewegung) und des bröckelnden Finanzkapitalismus andererseits, werden ganze Passagen auf Englisch gesprochen und die letzte Szene und nun endet die Sprache ist mehrsprachig; so soll einer Regieanweisung zufolge Virginia Woolfs Text So on a summer’s day in unterschiedliche europäische Sprachen übersetzt und »überlagert gesprochen [werden]: Englisch, Französisch, Ungarisch, Serbisch …« 17 Es verwundert nicht, dass das Stück bereits mehrfach übersetzt und auf verschiedenen Festivals gespielt wurde. Über‐ haupt wurden Richters Werke bislang in mehr als 25 Sprachen übertragen. Mehrsprachig‐ keit im zeitgenössischen Theater geht eben häufig mit einer internationalen Vermarktung einher; darüber hinaus inszeniert Richter insbesondere in Belgien und Frankreich seine Stücke oftmals selbst. V. 2. Dramatik/ Theater 283 <?page no="284"?> c) Forschungsgeschichte Es gibt keine eigenständige Forschungstradition, die sich der Formen der Mehrsprachigkeit im Drama angenommen hätte. Es überrascht daher nicht, wenn in der mittlerweile umfas‐ senden Sekundärliteratur zum Gegenstand »Mehrsprachigkeit und Literatur« (Schmeling, Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert) Theatertexte und Inszenierungen unberück‐ sichtigt bleiben. Zugleich ist es aber unzweifelhaft, dass ohne die zahllosen Beiträge zur Mehrsprachigkeit in der Literatur die teils an entlegenen Orten erschienenen Fallbeispiele zur Multilingualität in Drama und Theater nicht bekannt wären. Da es zu diesem Thema insgesamt weniger Beiträge gibt, lassen sie sich kaum systematisieren. Erkennbar ist jedoch, dass Epochen, die eine starke europäische Ausrichtung gekannt haben und die zudem mehrsprachig waren, wie etwa die Renaissance, bislang ein regeres Forschungsinteresse hervorgerufen haben (vgl. Doppelbauer, »Mehrsprachige Außenseiterinnen in der Renais‐ sancekomödie«). Das humanistische Mehrsprachigkeitsideal und die Praxis der Mehrspra‐ chigkeit in Lyrik, Reiseberichten, Novellen und Erzählungen, Lexika und Traktaten sind aber im Vergleich zum Drama stärker in den Mittelpunkt gerückt (vgl. Maaß/ Volmer, Mehrsprachigkeit in der Renaissance). Mehrsprachige Dramentexte oder Texte, in denen Formen manifester Mehrsprachigkeit festzustellen sind, entstehen nicht selten in Sprachräumen, in denen mehrere Fremdspra‐ chen nebeneinander bestehen und mit einer historischen Sachlage korrespondieren. Dass in den Werken des in Italien wirkenden Spaniers Bartolomé de Torres Naharro (Comedia Soldadesca, 1517) oder in den Komödien des Neapolitaners Giambattista Della Porta (La Tabernaria oder Lo Astrologo, 1560-1600) Spanisch und Italienisch/ Toskanisch nebenei‐ nander auftreten, hängt eben damit zusammen, dass das Königreich Neapel unter dem Herrschaftsgebiet der Spanischen Krone stand (Gruber, »Imitation und Karikatur«, 338). Damit Handlung und Komik nachvollziehbar bleiben, sind demnach zumindest passive Fremdsprachenkenntnisse unter den Zuschauern notwendig. Auch anhand anderer Studien wird deutlich, dass die Grundlage mehrsprachiger Texte oder mehrsprachiger Insertionen ein polyglottes Umfeld ist. So war Polen im 17. Jahrhundert ein Vielvölkerstaat, in dem, wie Brigitte Schultze (»Benutzte und verhandelte Multikulturalität und Mehrsprachigkeit«) zeigt, z. B. Piotr Baryka im Versdrama Z chłopa król (Vom Bauern zum König) aus dem Jahre 1633 das Sujet des Bauernfürsten aufgreift (wie man ihn aus Shakespeares The Taming of the Shrew kennt). In der sprachlichen Konfrontation des Ukrainischen als Soziolekt und Mundart für die Sprache von unten und dem Polnischen als Hochsprache der höfischen Rede werden Konflikte in einer stratifikatorisch geordneten Gesellschaft ausgemalt, wobei in der Karnevalskomödie der Rollentausch von Bauer und Fürst eben für die Dauer des Ausnahmezustandes möglich ist. In einem europäischen Kontext sind also Formen mani‐ fester Mehrsprachigkeit insgesamt in polyglotten Gesellschaften zu beobachten; in diesem Zusammenhang erwähnenswert sind die deutschsprachige Theaterproduktion (ab 1753) in Temeswar (Pechtol, Thalia in Temeswar; Fassel, Das Deutsche Staatstheater Temeswar) oder Sibiu in Rumänien (Mazilu/ Weident/ Wolf, Das rumänische Theater nach 1989), Hybridtexte und die Theaterlandschaft in Luxemburg (De Toffoli, »Damnation et salut babélique dans le théâtre luxembourgeois«; Bloch, »Internationales und lokales Theater in Luxemburg«). Bleibt zu ergänzen, dass Mehrsprachigkeit und Theater in ehemaligen europäischen Ko‐ lonien im Diskurs des Postkolonialismus durchaus Gegenstand der Forschung sind. Chris‐ Claude D. Conter 284 <?page no="285"?> 18 Josef Freiherr von Sonnenfels, Briefe über die Wienerische Schaubühne von einem Franzosen, Wien 1768 [18.3.], zitiert nach: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, Bd. 6: 1767-1769, hrsg. v. Klaus Bohnen, Frankfurt/ M. 1985, S. 824-826, hier S. 825. topher Balme diskutiert die Verwendung der Mehrsprachigkeit als dramaturgische Stra‐ tegie von Ausgrenzung bzw. Einbeziehung verschiedener ethnischer Gruppen innerhalb des Publikums, was etwa im zeitgenössischen europäischen Theater in einem häufig mul‐ tikulturellen Diskurs kaum thematisiert wird (Balme, Theater im postkolonialen Zeitalter). Dies gilt ebenso für das Nichtverstehen, eine der ersten Barrieren des Sprachkontaktes, wie für das Code-Switching. Nicht die Forschung, sondern Theaterakteure beschäftigen sich mit Fragen der Verständlichkeit von Mehrsprachigkeit auf der Bühne. Während Filme und Opern in den meisten europäischen Ländern in der Originalsprache mit Unter- oder Ober‐ titeln gezeigt und gespielt werden, ist diese Praxis in Theatern noch unüblich. Umstritten ist, inwiefern Fremdsprachigkeit von Theatermachern z. B. zur Erschließung neuer Besu‐ chergruppen eingeführt werden soll. Befürchtet werden eine geringe Akzeptanz durch ein traditionelles Publikum, die durch eine fremde Sprache aufgebaute Distanz zwischen Dar‐ stellern und Zuschauern oder mangelnde Fremdsprachenkompetenz der Schauspieler, doch werden auch die Chancen einer derartigen Theaterpraxis gesehen (vgl. Holthaus, »Jeder macht das mal auf seine Art und Weise«). Der Übertitelungstechnik, die potenziell dazu geeignet ist, Sprachbarrieren zu überwinden, wurden jüngst mehrere Studien gewidmet (Griesel, Die Inszenierung als Translat; Griesel, Welttheater verstehen). Als Sonderform der Mehrsprachigkeit im Theater gilt das Gebärdensprachendolmetschen in einem inklusiven Theater von und für Gehörlose (Ugarte Chacón, Theater und Taubheit). d) Anwendungs-/ Analysebeispiel Im Folgenden werden drei Beispiele für Formen manifester Mehrsprachigkeit in Theater‐ stücken besprochen: (1) Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (1767) ist bezeichnenderweise ein kanonischer Text, in dem fremdsprachige Sätze von einer einzigen Figur gesprochen werden. Der geringe Umfang manifester Mehrsprachigkeit auf der Figurenebene ist dabei durchaus typisch für Komödien mit Sprachwechsel (vgl. Conter, »Fremdsprachen in der Komödie«). (2) Die Farce now here & nowhere (2007) des Luxemburger Schriftstellers Nico Helminger ist ein Beispiel für die seltenere Form eines Hybridtextes, bei dem mehrere Sprachen gleichberechtigt nebeneinander fungieren, so dass nicht mehr von einer dominanten Sprache ausgegangen werden kann. (3) Schließlich sollen die Inszenierungen des Schweizer Theaterkollektivs »Rimini Protokoll« diskutiert werden, die eine jüngere Tendenz im europäischen Theater der Gegenwart exemplifizieren und wonach Texte in einer oder mehreren Fremdsprachen und mit Übersetzungen in Übertiteln aufgeführt werden. (1) In Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (1767) taucht im vierten Akt die Figur des Riccaut de la Marliniere auf, über deren Auftreten und Sprechen in gebrochenem Deutsch mit untermengtem Französisch Josef Freiherr von Sonnenfels sich wunderte; er vermutete, dass Lessing nur ein paar Lacher im Publikum, eine »Risade«, 18 habe provozieren wollen. Eine komisch-desavouierende Funktion hat das Französische in V. 2. Dramatik/ Theater 285 <?page no="286"?> 19 Gotthold Ephraim Lessing, Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück. Ein Lustspiel in fünf Auf‐ zügen, in: Ders., Werke, Bd. 6: 1767-1769, hrsg. v. Klaus Bohnen, Frankfurt/ M. 1985, S. 9-110, hier S. 71. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe im laufenden Text unter Angabe der Sigle M und der Seitenzahl zitiert. jenen Passagen, in denen der leidenschaftliche Kartenspieler Riccaut sich offen als Falsch‐ spieler zu erkennen gibt: »Je sais monter un coup«, »Je file la carte avec une adresse« und »Je fais sauter la coupe avec une dexterité« (M 75). Doch hat Riccaut durchaus auch eine zentrale Funktion für den Fortgang der Handlung. Es ist nämlich Riccaut, der dem Major Tellheim die »Nouvelle« überbringen will, »davon er sehr fröhlik sein wird.« 19 Er kündigt die »Lettre de la main«, »eine Könikliken Handbrief« (M 72) an, in dem Tellheim mitgeteilt wird, dass er während des Krieges rechtmäßig gehandelt und Preußen nicht geschadet habe, was ihm zuvor vorgeworfen worden war. Riccaut berichtet darüber hinaus, dass der Major bei Hofe nicht in Ungnade gefallen sei, immerhin eine Nachricht, die für den Handlungs‐ verlauf nicht ganz unwichtig ist, auch wenn manche Zeitgenossen Lessings wie Johann Joachim Eschenburg die Figur Riccauts für mehr als überflüssig hielten, was bei einigen zeitgenössischen Aufführungen wie etwa in Wien auch zur Streichung der Szene führte. Die Fremdsprachigkeit Riccauts hängt mit der komödiengeschichtlichen Tradition seiner Figur zusammen. Riccaut wird wiederholt in der Tradition des miles gloriosus, des bra‐ marbasierenden Capitano gesehen. Indes bedient er sich einer gewählten Ausdrucksweise. Und er tritt als höflicher, eleganter homo politicus auf, stammt zudem aus einer adeligen Familie und ist keineswegs mit dem verrohten Soldaten gleichzusetzen, der den Lustspiel‐ typus charakterisiert. Auch rühmt sich Riccaut nicht seiner Tapferkeit und Kampfeslust, wie es das Rollenfach des Capitano erfordert, sondern er berichtet freimütig davon, dass er vor einem Duell geflohen ist. Zudem verführt er Minna nicht, was dem gängigen Anfor‐ derungsprofil des Typus entsprochen hätte. Wenn Riccaut sich vorstellt, dann dienen seine Worte nur auf den ersten Blick der satirischen Selbstentlarvung und Karikierung des Fran‐ zosen: »Ihro Gnad seh in mik Le Chevalier Riccaut de la Marliniere, Signeur de Pret-au-val, de la Branche de Prensd’or« (M 72). Wenn der preußische König ihn den ›Herrn von Schmeichler und Schmarotzer‹ nennt, so eine mögliche Übersetzung aus Riccauts Bericht, dann wird er zwar in eine Reihe mit einem Betrüger (Prensd’or = Goldnehmer) gestellt, allerdings wird der aufmerksame Leser bemerken, dass Riccaut nicht das Geld anderer für sich gestohlen hat, sondern ebenso wie Tellheim im Auftrage Friedrichs II . Kontributionen, also Steuern und Zwangserhebungen zur Finanzierung militärischer Belange eintreiben musste. Wenn Riccaut demnach ein Dieb wäre, wie es in der Konjektur ›Prensd’or‹ anklingt, dann ist er es im preußischen Dienste. Auch berichtet Riccaut aus dem Zentrum der Macht in Preußen und erläutert Entscheidungsabläufe zwischen Ministerium und König, wobei die so offenbar werdenden Entscheidungsfindungsprozesse im Ministerium wenig schmei‐ chelhaft für die preußische Politik und den Hof sind. Lessing nutzt also den Sprachwechsel auch zu einer versteckten Kritik an Preußen, genauer: er verlagert diese Kritik in die Worte einer Figur, die komödiengeschichtlich in dem Sinne vorbelastet ist, dass sie vom Publikum zunächst als Fortschreibung eines traditionell nicht ernstzunehmenden Figurentyps kate‐ gorisiert wird. Lessing formuliert seine Kritik in der französischsprachigen Camouflage. Diese Kritik wird indes nur jenen Mitgliedern des Publikums als Kritik verständlich, die erstens das Stück auch in seinen fremdsprachigen Passagen verfolgen und zweitens Les‐ Claude D. Conter 286 <?page no="287"?> sings Nutzung eines auf die überholte Ästhetik Gottscheds zurückgehenden Rollentyps mit interessierter Skepsis begegnen und darin ein auffälliges, und damit besonderer Aufmerk‐ samkeit würdiges, dramatisches Detail erkennen. Die Informationsdichte von Riccauts Aussagen ist zu groß, als dass sie in der Fremdsprache von jedem Zuschauer schnell und in der ganzen Brisanz ihrer Details begriffen werden könnte. Auch wenn die geringen Deutschkenntnisse des Franzosen, die in den deutschsprachigen Komödien des 18. Jahrhunderts zumeist als Merkmal des Betrügers, des Unsteten oder Lis‐ tigen gelten, die Riccaut-Figur zunächst zu desavouieren scheinen, ist Lessings Figuren‐ konzept und Dramaturgie viel subtiler, als dass er einfach nur Konventionen übernehmen würde: Riccaut ist keine lächerliche Figur, weil er Franzose ist, sein Radebrechen ist nur auf den ersten Blick komisch. Vielmehr ist dem Französischen eine politische Kritik einge‐ schrieben. Auch handelt es sich bei Teilen von Riccauts Rede auf Französisch ja gerade nicht um seine eigene Rede, sondern, was in der Forschung bislang kaum angemerkt worden ist, um die wiedergegebene Rede des preußischen Ministers. Wenn die Sächsin Minna sich also weigert, in Berlin Französisch zu sprechen, dann ist dies letztlich eine Kritik an der Fran‐ kophilie und Gallomanie Friedrichs II . selbst. (2) Charakteristikum der Komödie now here & nowhere oder den här io ming pei hätt mueres gär krewetten des Luxemburger Schriftstellers Nico Helminger ist ihre Polyphonie und Polyglossie (De Toffoli, »Damnation et salut babélique dans le théâtre luxembour‐ geois«, 74). Das Stück, das 2007 entstand, als Luxemburg und die Großregion Kulturhaupt‐ stadt Europas waren, handelt von den administrativen Vorläufen der vom Kulturministe‐ rium geplanten Errichtung einer Installation des chinesisch-amerikanischen Architekten Ieoh Ming Pei als kulturellem Aushängeschild Luxemburgs in der Großregion. Diese Farce über Kulturpolitik in Luxemburg und die Ideologie der Mehrsprachigkeit spielt an einem babylonisch anmutenden Ort, an dem das Deutsche, Englische, Französische, Luxembur‐ gische sowie verschiedene Ideolekte und Soziolekte einander begegnen. Während Hel‐ minger genrespezifische Elemente der Komödie wie Verwechslungen, vertauschte Identi‐ täten, Missverständnisse und Situationskomik fortführt, besteht die Originalität des Hybridtextes in der dekonstruktiven Beschreibung einer multikulturellen Gesellschaft, in der Sprache zum zentralen Verhandlungsgegenstand wird. Sprachwechsel findet auf mehreren Ebenen statt: zwischen einzelnen Figuren, innerhalb der Figurenrede und zwischen Regieanweisungen und Text. Wie der Dramaturg Andreas Wagner hervorstreicht, ist das Gleiten von einer Sprache in eine andere kein »bloßer Sprachwechsel, sondern auch immer ein Wechsel zwischen Sprachschichten« (Wagner, »friem ass een nëmme viru sech selwer«, 84). Helminger konstruiert und überspitzt die Situation der Mehrsprachigkeit: Ein Geschäftsmann führt Telefongespräche in vier Spra‐ chen, ein Gabunese mit isländischen Wurzeln lernt Luxemburgisch als Fremdsprache zwecks erhoffter leichterer Integration; die wie aus einem Beckett-Stück herausgefallenen Figuren Tim und Struppi sprechen Französisch mit wallonischem Akzent, der Ministerial‐ beamte wechselt zwischen einem gelehrten Bildungsfranzösisch, einem verknöcherten Verwaltungsfranzösisch und dem Luxemburgischen, ein Polizist radebrecht u. a. Franzö‐ sisch in einer luxemburgischen Syntax, der Kulturminister kauderwelscht in einem sinn‐ freien mehrsprachigen Hybridtext, und Diane und Robbie Williams wechseln zwischen dem Englischen und Luxemburgischen. now here & nowhere geht über eine Sprachkomödie hi‐ V. 2. Dramatik/ Theater 287 <?page no="288"?> naus, insofern sie die auch sprachenbedingten Friktionen zwischen Sprechern von Fremd‐ sprachen, Vorurteile gegenüber Grenzgängern und Ausländern und Missverständnisse oder Kommunikationsanstrengungen in einer multikulturellen Gesellschaft verhandelt. Außer den erwähnten Figuren werden noch ein portugiesischer Cafébetreiber, eine Deutsch spre‐ chende Prostituierte, eine Frau aus Algerien und eine bosnische Immigrantenfamilie er‐ wähnt. In den auf 39 Szenen verteilten, überwiegend interkulturellen Begegnungen werden Sprachen nicht nur als Verständigungsmedium, sondern auch als Machtinstrument zwecks Hierarchisierung innerhalb einer privaten, geschäftlichen oder sozialen Beziehung genutzt. »In now here & nowhere existieren gleich mehrere Sprachgemeinschaften, zwischen denen sich die Charaktere bewegen. Ihre Identität geht dort verloren, wo ihre Privatsprachen in der Kommunikation der Sprachgemeinschaften versagen.« (Ebd., 84) Helminger themati‐ siert also in seinem Hybridtext Formen des Fremdsprachengebrauchs, um zugleich den Identitätsdiskurs zu kritisieren und nationale Identitätsentwürfe zu subvertieren. Auf Ver‐ suche kultureller Festschreibungen von Identitätsentwürfen (auch interkulturellen) gibt now here & nowhere eine Antwort, bei der die Lust an den Sprachen und an der Kommu‐ nikation ästhetisch vollzogen wird. Der Hybridtext von Nico Helminger, in dem das Neben- und Miteinander der in Luxem‐ burg gängig gesprochenen Sprachen reflektiert und vorgeführt wird, zeigt Möglichkeiten und Grenzen manifester Mehrsprachigkeit in einem mehrsprachigen Aufführungskontext. Notwendig sind Schauspieler mit einer mehrsprachigen Ausbildung und vor allem ein Pub‐ likum, das der Handlung folgen kann, wobei die sprachlichen Finessen im Text sowie die Sprachkomik immer dann ein höheres Fremdsprachenniveau erfordern, wenn keine Über‐ setzung bei der Aufführung mitgeliefert wird. Hybridtexte können als sprachexperimen‐ telle Literatur verstanden werden, in der die Sprachenkombinatorik auch als ein Ausweis ästhetischer Virtuosität begriffen wird; sie verweisen indes zugleich auf ein mehrsprachiges literarisches Feld, in dem paradoxerweise auch das Nichtverstehen als Option konzeptionell mitgedacht werden muss. In anderen Hybridtexten wie in Yoko Tawadas deutsch-japani‐ schem Stück Till (1998) ist ebendieses Nichtverstehen Bestandteil der Theaterästhetik. (3) Unter dem Label »Rimini Protokoll« haben Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel Theaterprojekte inszeniert und initiiert, bei denen Personen als Experten des Alltags auftreten und ihre Geschichten erzählen, folglich keine herkömmlichen Schauspielrollen übernehmen. Es ist ein »Theater der Partizipation« (Birgfeld, »Nachwort«, 168), in dem das Publikum direkt angesprochen wird. Eines seiner Kennzeichen ist die Internationalität. Projekte haben Rimini Protokoll nach Ägypten, Argentinien, Belgien, Brasilien, Deutsch‐ land, Griechenland, Indien, Kanada, Kasachstan, Lettland, Nigeria, Norwegen, Österreich, Polen, Tschechien, Venezuela, Wales, in die Schweiz und in die Türkei geführt. Es kann demnach nicht ausbleiben, dass Mehrsprachigkeit konstitutiv für die Inszenie‐ rungspraxis eines international ausgerichteten Theaterfeldes ist. Breaking News - Ein Ta‐ gesschauspiel (2008) ist ein von Helgard Haug und Daniel Wetzel initiiertes Projekt, bei dem neun Experten u. a. aus der Medienwelt tägliche Nachrichtensendungen aus Ägypten, Deutschland, Irak, Island, Lateinamerika, Österreich, Pakistan, Russland, Saudi-Arabien, Syrien und weiteren Ländern vor dem jeweiligen kulturellen und linguistischen Horizont übersetzen und kommentieren (vgl. Roselt, »Szenarien der Übertragung«). Rimini Protokoll hat im Vorfeld vier Satellitenschüsseln auf dem Dach des Theaters anbringen lassen, so dass Claude D. Conter 288 <?page no="289"?> die Zuschauer eine Auswahl des täglichen, von den Experten aus Nachrichten von 2000 Sendern aufbereiteten 15-minütigen Infotainment-Pakets live und synchron verfolgen können. Das Projekt sensibilisiert zunächst für den jeweiligen Ausschnitt der Wirklichkeit, die den Zuschauern eines Senders dargeboten wird. Durch den Vergleich der Nachrichten‐ sendungen entsteht das Bild einer disparaten Medienwirklichkeit, vor allem aber die Ein‐ sicht in die Sprachenbedingtheit von Nachrichten. Während die Expertin im Saal die indi‐ schen Nachrichten simultan übersetzte, wurden die isländischen Nachrichten zunächst von einem Isländer ins Englische, anschließend von einem weiteren Dolmetscher ins Deutsche übersetzt. Gehört wurden Nachrichten auf Arabisch, Englisch, Hindi, Kurdisch, Russisch, Spanisch, Urdu, wobei die fremdsprachigen Nachrichten lautlich deutlich von den Kom‐ mentaren und Übersetzungen überlagert und zwischendurch von Auszügen aus Ais‐ chylos’ Perser unterbrochen wurden. Rimini Protokoll führt Projekte weltweit durch und greift zudem Themen heraus, die den Alltag und Lebensläufe in einer globalisierten Welt betreffen. In Airport Kids (2008) kommen jene siebenbis dreizehnjährigen Kinder zu Wort, deren Nomadismus durch die beruflichen Odysseen der Eltern in den Bereichen Handel, Wissenschaft, Militär, Interna‐ tionale Politik oder Diplomatie entsteht, und die sich immerzu in einem Zustand des Tran‐ sits befinden. Bei der Aufführung im Théâtre Vidy-Lausanne erzählten Kinder mit unter‐ schiedlichen nationalen, kulturellen und religiösen Hintergründen von ihren von der Globalisierung geprägten Lebensläufen überwiegend auf Französisch und Englisch sowie in weiteren Muttersprachen wie Russisch, wobei die Experten allesamt zweisprachig waren. Paradoxerweise äußerte eine dreisprachige Jugendliche, die vier Wörterbücher mit sich führt, den utopischen Wunsch nach Monosprachigkeit, nach der einen Sprache, die die Welt vereinen würde und aus der Sicht der Jugendlichen die drei Sprachen (Russisch, Französisch und Englisch) umfasst, die sie beherrscht. Diese künstliche (neue) Mischsprache fand bei einer Umfrage der Experten keine mehrheitliche Akzeptanz. Die Utopie eines die interna‐ tionalen Gewässer befahrenden, gigantischen Friedensschiffes, auf dem die Gesetze einer Freihandelszone bestünden, sowie die Kolonisierung des Mars wurden hingegen von einem Großteil der globalisierten Kinder (third culture kids) begrüßt. e) Offene Forschungsfragen Die Erforschung von Mehrsprachigkeit in Theatertexten kann erst als in ihren Anfängen betrachtet werden. Außer wenigen Interpretationen zu einzelnen mehrsprachigen Stücken (etwa in Luxemburg) und vereinzelten Studien zu Formen der Mehrsprachigkeit im Rol‐ lenfach (Florack, Bekannte Fremde) liegt bis heute keine systematische Erschließung von Mehrsprachigkeit im europäischen Drama vor. Die Desiderata sind demnach vielfältig: In welchen Dramen Formen der manifesten Mehrsprachigkeit vorkommen, ist ebenso wenig literaturhistorisch erschlossen wie funktionsgeschichtlich präzisiert. Ertragreich scheinen in diesem Kontext genrespezifische, auf einer breiten Textgrundlage basierende Untersu‐ chungen zu solchen Stücken, in denen fremde Figuren auftreten; das Soldatenstück wäre hierfür nur ein Beispiel. Eine textbasierte Dramenanalyse müsste zudem um eine Analyse der Formen von Mehr‐ sprachigkeit in den Inszenierungen sowohl in produktionsals auch in rezeptionshistori‐ V. 2. Dramatik/ Theater 289 <?page no="290"?> scher Hinsicht ergänzt werden. Wie fremdsprachige Passagen in Theatertexten auf der Bühne in Geschichte und Gegenwart umgesetzt wurden, ist gelegentlich aufgrund der Auswertung von Theaterkritiken oder Aufnahmen bekannt, jedoch handelt es sich dabei um Einzelfälle mit Ausnahmecharakter. Darüber hinaus wären Regiebücher und Rollen‐ hefte heranzuziehen. Sprachwechsel kann zudem Teil der Drameninszenierung sein, wenn Schriftzeichen auf Kulissen- und Requisitenelementen, O-Töne oder audiovisuelle Einspie‐ lungen in einer Fremdsprache einen monosprachigen Text ergänzen, kommentieren oder reflektieren. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass historisch-mehrsprachige Kulturräume lite‐ raturgeschichtlich weniger gut aufgearbeitet sind und deren Theatergeschichte in der Regel kaum bekannt ist. Dass es in Mainz zur Zeit der Französischen Revolution ein französisch‐ sprachiges, im baltischen Raum des 18. und 19. Jahrhunderts ein deutschsprachiges, im polnischen Gebiet ein russisches und ukrainisches Theater gab, mag im Einzelfall bekannt sein, eine theatergeschichtliche Beschreibung fehlt allerdings bereits allein wegen Schwie‐ rigkeiten bezüglich der Rekonstruktion der Spielpläne an den unterschiedlichen Theatern bis heute. Manche Städte und Regionen, die heute überwiegend monosprachig sind, waren zu früheren Zeitpunkten mehrsprachig. Umgekehrt lassen sich Formen der Mehrsprachig‐ keit mangels Zeugnissen nicht immer präzise nachweisen. So wurde in diesem Beitrag das Theater der Wandertruppen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts ausgespart, weil Formen der Mehrsprachigkeit nicht zwingend an den eher rudimentären Textvorgaben rekonstruiert werden können, sondern vielmehr aus zeitgenössischen Berichten extrapo‐ liert werden müssen. Aus ähnlichen Gründen ist über Mehrsprachigkeit im Improvisati‐ onstheater wenig bekannt. Das Schreiben im Exil bildet eine Sonderform des mehrsprachigen Theaters in einem multilingualen Kulturraum. So haben sich in Luxemburg, Belgien und in den Niederlanden, aber auch in Frankreich und in Spanien zwischen 1933 und 1939 deutschsprachige Bühnen gebildet, die ein Emigrantenpublikum ansprachen, sich aber auch an eine fremdsprachige Bevölkerung richten konnten. Die Exil-Forschung hat hierzu umfassende Ergebnisse ge‐ liefert, die von der Forschung zur Multiliteralität bislang jedoch kaum aufgegriffen wurden. Mehrsprachigkeit im Theater ist ein Diskurs, der in erster Linie von den Theaterakteuren geführt wird. Die Forschung hat sich bislang kaum der Fragen angenommen, inwiefern der Einsatz von Mehrsprachigkeit den Stellenwert einzelner Sprachen in der Gesellschaft re‐ flektiert, inwiefern der experimentelle Charakter von polyglotten Inszenierungen eine Überforderung des Publikums darstellen kann und inwiefern Multilingualität nicht auch als Ergebnis einer Subventionspolitik und demnach einer Kulturpolitik zu begreifen ist, welche durch Internationalisierung und Schaffung europäischer Theaterfestivals einen eu‐ ropäischen Kommunikationsraum etablieren will, durch den Mehrsprachigkeit gefördert wird. Notwendig sind in diesem Zusammenhang Studien über die interkulturelle Spielplan‐ gestaltung, die durch internationale Koproduktionen gefördert wird und auf der Grundlage internationaler Ensembles oder Inszenierungen ausländischer Regisseure entsteht. Unter‐ suchungen zur Organisation von Theaterfestivals und zur Finanzierung grenzüberschrei‐ tender Produktionen sowie über den Gebrauch von Fremdsprachen im Theaterbetrieb bleiben Desiderata. Claude D. Conter 290 <?page no="291"?> Literatur Balme, Christopher B., Theater im postkolonialen Zeitalter. Studien zum Theatersynkretismus im eng‐ lischsprachigen Raum, Berlin 1995. Birgfeld, Johannes, »Nachwort«, in: Ders. (Hrsg.), Rimini Protokoll: ABCD. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik, Berlin 2012, S. 168-173. Bloch, Natalie, »Internationales und lokales Theater in Luxemburg: Zwischen Koproduktion und regionaler Ausrichtung«, in: Eva Wiegmann (Hrsg.), Interkulturelles Labor. 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Zum ästhetischen Mehrwert von Frank We‐ dekinds dreisprachiger Lulu-Urfassung«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3 (2012), 2, S. 75-90. Claude D. Conter 292 <?page no="293"?> 20 Homer, Ilias, übers. v. Raoul Schrott, Darmstadt 2008, S. 91. 3. Erzählen Rüdiger Zymner a) Begriffe Erzählen ist eine Allerweltsredetätigkeit. Strukturell besteht sie aus adressierter, serieller, entfaltend berichtender Rede mit zwei Orientierungszentren über nichtaktuelle, zeitlich bestimmte Sachverhalte von Seiten eines Außenstehenden (Weber, Erzählliteratur, 11-70). Phonisch repräsentierte Erzählungen bestehen aus erzählender Rede, fakultativ zudem aus Redewiedergabe, aus Rede zur erzählten Sache oder aus Anlass der erzählten Sache sowie aus Rede zur Rede und zur Redesituation. Graphisch repräsentierte Erzählungen bestehen aus der schriftlich gebundenen Darstellung von Erzählen (Weber, Erzählliteratur, 71 ff.; Schmid, Elemente, 1 ff.), der Darstellung von Redewiedergabe, der dargestellten Rede zur erzählten Sache oder aus Anlass der erzählten Sache sowie aus dargestellter Rede zur Rede und zur Redesituation in einem Text. Erzählungen können fiktional oder faktual sein, und sie können zur Literatur gezählt werden oder auch nicht (wie z. B. Polizeiberichte, medizi‐ nische Fallberichte etc.). Erzählungen können allein syntaktisch gebunden (in Prosa) oder auch metrisch gebunden (in Versen) sein und darüber hinaus den Schemata historisch und kulturell variabler Genres entsprechen - also z. B. als Epos oder als Roman, als Kurzge‐ schichte oder als Novelle betrachtet werden. Für die Untersuchung literarischer Mehrspra‐ chigkeit ist insbesondere der Bereich der graphisch repräsentierten Erzählungen von Be‐ deutung, sofern sie der Literatur zugerechnet werden. b) Sachgeschichte Eine Geschichte des Einflusses von Mehrsprachigkeit auf Erzähltexte bzw. umgekehrt der Funktion von Erzählen für die Konstitution literarischer Mehrsprachigkeit ist bislang nicht rekonstruiert worden. Dennoch lässt sich feststellen, dass Mehrsprachigkeit in der gra‐ phisch repräsentierten Epik anscheinend ein ubiquitäres Phänomen ist. Es ist in allen Er‐ zählkulturen der Welt anzutreffen und reicht literarhistorisch bis in die frühesten Phasen der schriftsprachlich bezeugten Dichtung zurück. Wenn man sich etwa den Anfängen der okzidentalen Dichtung zuwendet, so finden sich bereits in der Ilias des Homer Hinweise auf Mehrsprachigkeit. Im Buch IV wird z. B. das Heer der Trojaner beschrieben. Ihr Kampf‐ gebrüll sei »nicht ein ton, ein einziger schrei / aus einer kehle« gewesen, »sondern die lallenden zungen, das wirre sprachgelärm / eines heeres, das aus aller herren länder bunt zusammengewürfelt war«. (V. 438 f.) 20 An anderer Stelle, im zweiten Buch, wird über die Verbündeten der Trojaner gesagt: »diese fremden / die verstehen uns nicht, die sprechen <?page no="294"?> 21 Ebd., S. 59. 22 Ebd., S. 61. 23 Ebd., S. 27. alle andere sprachen« (V. 803 f.). 21 Später werden insbesondere die »karer aus der stadt milet« beschrieben, und unter anderem werden sie als die »mit den barbarischen rachen‐ lauten« bezeichnet (V. 867). 22 Schließlich gibt es in der Ilias einige Stellen, an denen neben der Mehrsprachigkeit der Menschensprachen auch von der Mehrsprachigkeit, die sich aus der Sprache der Götter und denen der Menschen konstituiert, die Rede ist. So wird im ersten Buch der Ilias über ein ›hundertarmiges Urweltwesen‹ berichtet, »das die menschen, die der sprache der götter unkundig sind, bloß ›aigaíon‹ nennen« (V. 403 f.). 23 Die Spur der Mehrsprachigkeit in Erzähltexten ließe sich von hier aus über die Dichtungskulturen des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart verfolgen (siehe Knauth, »Weltliteratur«; »Literary Multilingualism«). Dargestellte Mehrsprachigkeit ge‐ hört unter den Bedingungen der jüngsten Globalisierungsschübe inzwischen zu den mar‐ kantesten Zügen einer in vielerlei Hinsicht hybriden, globalisierten, weltweit geschrie‐ benen und weltweit rezipierten Erzählliteratur der Gegenwart (siehe hierzu III .2). c) Forschungsgeschichte Zum Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Erzählen bzw. zur Mehrsprachigkeit in Erzähltexten gibt es nur wenige wissenschaftliche Arbeiten. Mehrsprachigkeit und Er‐ zählen bzw. Mehrsprachigkeit in Erzähltexten ist bislang kein Thema der Narratologie und steht nicht im Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen Komparatistik. Die wenigen Ar‐ beiten zum Problem der Mehrsprachigkeit in Erzähltexten befassen sich zudem hauptsäch‐ lich mit Texten aus den jüngeren Phasen der Globalisierung, vor allem mit Texten des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Vielfach interessiert dabei die Thematik der Fremd‐ heit und Fremdheitserfahrungen oder ›des Fremden‹ in den Erzähltexten mehr als Text‐ strategien und Verfahren in der narrativen Darstellung von Mehrsprachigkeit. Außerdem ist festzustellen, dass Mehrsprachigkeit in Erzähltexten als textstrukturell-semiotischer Sachverhalt häufig mit der Mehrsprachigkeit der Autorinnen und Autoren als kog‐ nitiv-epistemischer Sachverhalt vermischt oder verwechselt wird. Die Textstrategien, die in der Forschung im Zusammenhang mit erzählerischer literari‐ scher Mehrsprachigkeit untersucht werden, sind weitgehend identisch mit allgemeineren, also nicht für das Erzählen spezifischen Darstellungsverfahren (siehe III .1 und III .2). Mit Blick auf die Strukturen des Erzählens spezifische Verfahren mehrsprachiger Literatur werden in der Regel nur punktuell analysiert, beispielsweise in Ernst Rudins Untersuchung von englischsprachigen ›Chicano-Erzähltexten‹ (Rudin, Tender Accent of Sound), die an einem Korpus von 17 Romanen und zwei Autobiographien herausarbeitet, dass die ›em‐ bedded language‹ Spanisch in einem Großteil der untersuchten Fälle in Form von infe‐ rierten Einzelwörtern (»single word entries«; über 7000 Belegfälle) dargestellt wird, die zumeist in der nichterzählenden Redewiedergabe positioniert sind und hier vor allem fi‐ gurencharakterisierende und situationsgestaltende, atmosphärisch konstitutive Funkti‐ onen übernehmen. Wladimir Krysinski entwickelt u. a. am Beispiel von Finnegans Wake die Rüdiger Zymner 294 <?page no="295"?> 24 Dt. Übersetzung (R. Z.): »dass im Raum der modernen Literatur trotz aller Unterschiede die viel‐ sprachigen Texte dem angehören, was ich als ›den unsichtbaren Mund‹ zu nennen vorschlage«. möglicherweise auch narratologisch relevante These, »que dans l’espace de la littérature moderne - en dépit de différences -, les textes polyglottes appartiennent tous à ce que je propose d’appeler les poétiques de la bouche invisible« 24 (Krysinski, »Poétique de la bouche invisible«, 40), wobei mit dem Begriff »bouche invisible« ›Poetiken‹ der Komplexitätsstei‐ gerung bezeichnet werden, bei denen Polyglossie als ein ›Verstärker‹ (»multiplicateur«) sprachlicher, textueller, literarischer und kultureller Bezüge und Beeinflussungen von außen (»extra-réferents«) fungiert. Im Fall der Sprachenverschmelzungen von Finnegans Wake etwa könne man sich nicht mehr fragen, wer hier eigentlich spreche (Krysinski, »Po‐ étique de la bouche invisible«, 49). Schmeling (»Multilingualität und Interkulturalität«) hat im Hinblick auf einen Roman von Sten Nadolny (Selim oder die Gabe der Rede, 1990) gezeigt, dass man es hier vor allem mit der Thematisierung der Differenz zwischen lingualen Stan‐ dards bei gleichzeitiger Bewahrung eines Standards (Deutsch) in allen Textteilen sowie mit intratextueller Konstituierung der Darstellung von Mehrsprachigkeit durch Implikation bzw. Insinuation von Abweichungen vom Standard durch die im Text dargestellten Um‐ stände zu tun bekommt, gelegentlich auch mit Fällen von Sprachmischung, die sich zumeist auf die Einführung einzelner Wörter in den Kotext der ›matrix language‹ beschränkt. Ähn‐ lich wie Manfred Schmeling stellt auch Georg Kremnitz aus Sicht einer ›Soziologie der Kommunikation‹ fest, dass der Wechsel von einer Sprache zu einer anderen innerhalb eines Textes ein »textstrategisches, mithin ein stilistisches Verfahren« sei, »das man gewöhnlich als Element von Realismus im Text ansehen kann« (Kremnitz, Mehrsprachigkeit und Lite‐ ratur, 14). Eine deutliche narratologische Orientierung hat die Untersuchung von Giulia Radaelli. Anhand von Fallstudien zu Elias Canetti und Ingeborg Bachmann entwickelt sie die Hy‐ pothese, dass Mehrsprachigkeit »zumeist innerhalb der Personenrede« vorkomme oder sich auf diese beziehe (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 125). Radaelli befasst sich weiter im Anschluss an die narratologischen Kategorien Gérard Genettes mit dem Konzept der narrativen Stimme und untersucht nicht nur die Frage, wie sich überhaupt eine ›den‐ kende‹ oder ›sprechende‹ Stimme schreiben lasse und welche Konsequenzen die Konsti‐ tuierung einer Stimme für die Rezeption hat, sondern mehr noch, wie (mehrsprachiger) Wortlaut und Stimme im literarischen Text erzeugt werden. Hier rücken Verfahren der direkten Rede, der ›Mimesis der Stimmen‹ oder auch der ›erinnerten Stimme‹ in den Fokus. Unter anderem kommt sie zu der Hypothese, dass sich durch die »Kopplung von Sprach‐ wechsel und Wortlaut […] grundsätzlich eine besonders starke Bindung an die sprechende Person bzw. an deren Stimme« ergebe (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 139). Man könne daher die ›matrix language‹ als Medium einer referentiellen Illusion bezeichnen, eine Funktion des Sprachwechsels sei möglicherweise der ›Realitätseffekt‹ im Sinne von Roland Barthes. Radaelli unterscheidet weiter das Phänomen der Mehrstimmigkeit von der Mehrsprachigkeit und befasst sich mit der narratologischen Positionierung von Stimme und Sprachwechsel zwischen Erzähler und Figur. Sie formuliert als ein allgemeines Ergebnis ihrer Untersuchung eine ›Poetologie literarischer Mehrsprachigkeit‹. In diesem Zusam‐ menhang erweist sich nach Radaelli »der Sprachwechsel im literarischen Text als Träger V. 3. Erzählen 295 <?page no="296"?> semantischer Eigenheit, und zwar als Nicht-Übersetzung«: »Denn gerade narrative Texte haben grundsätzlich die Möglichkeit, auf eine andere Sprache zu verweisen, ohne sie tat‐ sächlich zu verwenden, d. h., latente anstelle von manifester Mehrsprachigkeit, Übersetzung statt Sprachwechsel zu wählen. Wenn sie aber eine Differenz zwischen ›Sprache des Er‐ zählens und Sprache des Erzählten‹ einführen, so ist eben diese Differenz bzw. der Sprach‐ wechsel an sich signifikant, unabhängig von den Sprachen und den Worten.« (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 284) Zusammenfassend kann man über die literaturwissenschaftliche Forschung zum Pro‐ blembereich ›Mehrsprachigkeit und Erzählen‹ sagen, dass sie sich noch immer weitgehend in einer Phase der Datensammlung befindet, dass sie die gefundenen Daten selten erzähl‐ analytisch erschließt (wichtige Ausnahme: Radaelli) und stattdessen schnell zur Entwick‐ lung literarhistorischer und geistesgeschichtlicher Interpretationen benutzt. Es finden sich lediglich Ansätze zu einer theoretisch und methodologisch geklärten Perspektivierung der Untersuchungen, die Forschungen nehmen dabei weder koordiniert aufeinander Bezug, noch gelingt es bis auf Ausnahmen (Rudin, Radaelli), systematische Kenntnisse über den Zusammenhang von ›Mehrsprachigkeit und Erzählen‹ zu gewinnen oder gar geschichtliche Entwicklungslinien zu rekonstruieren. Unsere Kenntnisse über den Bereich ›Mehrspra‐ chigkeit und Erzählen‹ sind daher insgesamt lückenhaft. Die Forschung zu diesem Pro‐ blembereich steht im Grunde immer noch am Anfang. d) Offene Forschungsfragen Literaturwissenschaftliche Untersuchungen und Erklärungen des Verhältnisses von ›Mehr‐ sprachigkeit und Erzählen‹ könnten oder müssten sich sogar stärker als bisher systematisch mit Blick auf umfangreiche, historisch und kulturell verteilte Korpora auf Formen und Ver‐ fahren der Darstellung von Mehrsprachigkeit in (graphisch repräsentierten, dichterischen) Erzählungen richten, um beispielsweise zu erhellen, welche Verfahrensmöglichkeiten es zur Markierung von Mehrsprachigkeit in Erzähltexten überhaupt gibt, welche generischen Unterschiede bei der Darstellung von Mehrsprachigkeit in Erzähltexten festzustellen sind, wie und wo spezifische Verfahrensweisen zur Darstellung von Mehrsprachigkeit historisch/ kulturell auftreten, wie sich unterschiedliche Nutzungen von Verfahrensmöglichkeiten er‐ klären lassen, wie eine Typologie der Mehrsprachigkeit in Erzähltexten aussieht und wie die Geschichte der Mehrsprachigkeit in Erzähltexten anzugehen wäre. Dabei könnte oder müsste der Fokus bei der literaturwissenschaftlichen Untersuchung von ›Mehrsprachigkeit und Erzählen‹ auf allen ›Bauelementen‹ der Erzählung/ des Erzähl‐ textes liegen, auf erzählender Rede ebenso wie auf den Formen der außererzählenden Rede (und dabei würde sich u. a. vermutlich zeigen bzw. bestätigen, dass Sprachmischungen und/ oder Sprachwechsel zumeist in außererzählender Rede vorkommen - etwa in der zitierten Rede des Figurals -, seltener in erzählender Rede in einem strukturellen Sinn, etwa der Rede einer ›Erzählinstanz‹). Daneben kann sich Mehrsprachigkeit aber auch schon im paratex‐ tuellen Bereich des Erzähltextes bzw. durch den Kontrast zwischen paratextuellem Bereich des Erzähltextes und dem Erzähltext selbst manifestieren, besonders bei Titeln (Werktitel und Kapitelüberschriften), Widmungen und Motti. Rüdiger Zymner 296 <?page no="297"?> Literatur Knauth, K. Alfons, »Literary Multilingualism I: General Outlines and Western World«, in: Lisa Block de Behar (Hrsg.), Comparative Literature, Oxford 2007 (= UNESCO Enyclopedia of Life Support Systems, Bd. 6.8), URL: www.eolss.net/ ebooks/ Sample%20Chapters/ C04/ E6-87-07-05.pdf (22. 10. 2012). Knauth, K. Alfons, »Weltliteratur: Von der Mehrsprachigkeit zur Mischsprachigkeit«, in: Monika Schmitz-Emans (Hrsg.), Literatur und Vielsprachigkeit, Heidelberg 2004, S. 81-110. Kremnitz, Georg, Mehrsprachigkeit und Literatur. Wie Autoren ihre Sprachen wählen, Wien 2004. Krysinski, Wladimir, »Poétique de la bouche invisible. Polyglossie et codes discursifs de la modernité. Joyce, Haroldo de Campos, E. Pound, T. S. Eliot, H. Heissenbüttel et M. Roche«, in: Manfred Schmeling/ Monika Schmitz-Emans (Hrsg.), Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, Würzburg 2002, S. 39-50. Radaelli, Giulia, Literarische Mehrsprachigkeit. Sprachwechsel bei Elias Canetti und Ingeborg Bach‐ mann, Berlin 2011. Rudin, Ernst, Tender Accents of Sound. Spanish in the Chicano Novel in English, Tempe 1996. Schmeling, Manfred, »Multilingualität und Interkulturalität im Gegenwartsroman«, in: Monika Schmitz-Emans (Hrsg.), Literatur und Vielsprachigkeit, Heidelberg 2004, S. 221-235. Schmid, Wolf, Elemente der Narratologie, Berlin/ New York 2 2008. Weber, Dietrich, Erzählliteratur, Göttingen 1998. V. 3. Erzählen 297 <?page no="299"?> 4. Liedtexte Anne Uhrmacher a) Beschreibung des Verfahrens und Begriffsgeschichte In Liedtexten sind Mehrsprachigkeit und das Spiel mit Sprachdifferenz seit Jahrhunderten bekannt und populär. Sie stellen in der Öffentlichkeit den wahrscheinlich prägendsten und zugleich prägnantesten Beitrag zur literarischen Mehrsprachigkeit dar. Liedtexte mischen sowohl Sprachen, z. B. Latein, Englisch, Französisch und Türkisch, als auch Sprachvarie‐ täten, etwa Gruppensprachen und deren künstlerische Stilisierungen. Die Multilingualität populärer Lieder ist ein literaturwie sprachwissenschaftlich reizvolles Forschungsfeld. Der Begriff ›Lied‹ wird in der Musik- und Literaturgeschichte sehr unterschiedlich und oft unpräzise verwendet (Jost, »Lied«, 1260 f.; Müller, »Lied«, 42 f.; Reichert, »Lied«, 56). Die Bezeichnung beschreibt unter anderem Kirchenlieder, sog. Volkslieder, Kunstlieder und auch zeitgenössische Unterhaltungsmusik. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Arten von Liedern sind oft nicht scharf zu ziehen. Im Folgenden wird daher die weite Definition von Horst Brunner zugrunde gelegt. Er definiert ›Lied‹ als v. a. »singbare oder als singbar intendierte lyrische (meist strophische) Texte vorwiegend kleineren Umfangs« (Brunner, »Lied«, 420). Multilinguale Sprachspiele finden in Liedern auf allen Ebenen der Sprache statt. Das betrifft Laute, Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze und ganze Texte; verbreitet sind Klang- und Buchstabenspiele, Wort- und Reimspiele sowie Wortneuschöpfungen. Nicht selten gibt es in Liedtexten auch Sprachmischungen bis hin zu radikalen Verschmelzungen von Spra‐ chen, etwa auf phonetischer, grammatischer, orthographischer oder typographischer Ebene (zur Definition von »Sprachwechsel« als »aufeinander folgend« und »Sprachmischung« als »miteinander vermengt«, die auch hier zugrunde gelegt wird, vgl. Radaelli, »Literarische Mehrsprachigkeit«, 165). Liedtexte wirken im Zusammenspiel mit Musik. Die Mehrsprachigkeit kann dabei linear vorhanden sein (wie z. B. durch Sprachwechsel schon in frühen dt.-lat. Kirchenliedern), aber auch simultan, etwa im Kanon (z. B. Ludwig van Beethoven: »Signor Abate« oder Wolfgang Amadeus Mozart: »Bona nox«). Besondere Effekte entstehen bei der Verknüpfung von Musik und Text durch Betonungen, die in Melodie und Wortakzent gegenläufig sein können (z. B. im Kirchenlied »In dulci jubilo« durch das Melisma, die verzierende Tonfolge auf dem Vokal o), sowie durch Rhythmus und Tempo. Sprachwechsel und Sprachmischung haben, ebenso wie verschiedene Varietäten und Sprachregister, enorme Bedeutung in der zeitgenössischen Popularmusik (diese Bezeich‐ nung unterliegt in ihrer Reichweite ständigem Wandel, vgl. Rösing, »Populäre Musik - was meint das? «); gängig sind ein internationaler Wortschatz und regelmäßige Sprachwechsel, etwa zwischen Zeilen, verschiedenen Strophen oder zwischen Refrain und Strophen. Oft lässt sich auch in vermeintlich einsprachigen Texten latente Mehrsprachigkeit erkennen. <?page no="300"?> Da Erfolgsstücke zeitgenössischer Popularmusik meistens einem stereotypen musikali‐ schen Grundmodell mit einfachster Kadenz-Harmonik und formelhafter Melodik folgen, wirken die Liedtexte hier insbesondere auch im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wie dem Sound, also dem Klanggewand der Stücke, der optischen Gestaltung der Lied-Darbie‐ tungen sowie der intendierten Ausstrahlung der Auftretenden. Mehrsprachigkeit unterstützt in Liedtexten oft konventionelle Funktionen der Unter‐ haltungsmusik, die sehr konträr sein können, etwa kollektive Sehnsüchte und Phantasien (z. B. »Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini«, »Que sera sera, whatever will be, will be«), oder das Spiel mit drastischen Kampfansagen (z. B. Haftbefehl: »Chabos wissen wer der Babo ist«). Es herrschen, v. a. aufgrund ihrer jugendsprachlichen Bedeutung, in zeitgenössischer Popularmusik englischsprachige Elemente vor. Aber auch Soziolekte sind in Liedtexten Teil des Spiels mit Sprachdifferenzen, so z. B. Elemente des kindlichen Sprachspiels, vermeint‐ liche bzw. tatsächliche multi-ethnisch geprägte Jugendsprache, Dialekt, multilingualer Jargon sowie dessen künstlerische Überzeichnung, etwa im stark mehrsprachig konzi‐ pierten Genre ›Gangsta-Rap‹. Reizkumulation, wie sie in der Popularmusik häufig ist, wird in manchen Texten zur multilingualen Provokation, die sich allerdings im Zuge von Popu‐ larisierungen zwangsläufig abnutzt: Dazu gehören Vulgärausdrücke aus verschiedenen Sprachen, misogynes und gewaltverherrlichendes Vokabular, internationale rassistische und homophobe Textelemente, Bezeichnungen der Rangordnung und Fäkalsprache, Um‐ schreibungen von Drogen oder sexueller Gewalt. b) Sachgeschichte Die Geschichte mehrsprachiger Liedtexte ist so vielfältig, dass sie hier nicht gänzlich nach‐ gezeichnet werden kann. Die Beschreibung konzentriert sich daher auf einzelne, besonders exemplarische Verfahren und Varietäten von multilingualen Liedern. Sprachwechsel und Sprachmischungen in Liedtexten sind diachron dokumentiert und die Liedsorten, in denen Mehrsprachigkeit eine Rolle spielt, sind sehr zahlreich. Oft resul‐ tiert ihre Bezeichnung aus den Texten bzw. ihrer Rezeption: Kirchenlieder, Volkslieder, Landsknechtslieder, Studentenlieder, Kinderlieder, Pfadfinderlieder, politische Lieder, dia‐ lektale Lieder. Andere Bezeichnungen verweisen eher auf musikalische Varietäten: z. B. Kunstlieder, Schlager, Lieder (vermeintlicher) Volksmusik, Rap. Künstlerische Dimensionen des Spiels mit Sprachdifferenz waren und sind sehr weit. Die Geschichte multilingualer Liedtexte bezeugt neben Gesellschaftskritik auch die Befreiung von Konventionen, die Inszenierung von Freiheit oder Aufforderungen zur Sprachreflexion, z. B. durch die Destruktion semantischer Eindeutigkeit. Sprachmischung kann seit jeher Erheiterung intendieren, Artikulationsvergnügen, Sprachspiel und Klangspiel bis hin zur Lautpoesie. Beispielsweise weckt die Kölner Gruppe »De Höhner« unter anderem durch Überzeichnung mundartlicher Reduplikationen im Lied »Sansibar« Assoziationen einer Fremdsprache: »Hömma Mamma samma somma ma na Afrika? « Wie in diesem Beispiel erzielt das Spiel mit Sprachdifferenz in Liedern ästhetische Effekte; oft stehen auch Konnotationen im Vordergrund und das Vergnügen am kreativen Experiment oder Unsinn. In diesen Fällen stellte sich schon früh die Frage nach der Spezifik Anne Uhrmacher 300 <?page no="301"?> 25 Georg Forsters Frische Teutsche Liedlein in fünf Teilen, Abdruck nach den ersten Ausgaben 1539, 1540, 1549, 1556 mit den Abweichungen der späteren Drucke, hrsg. v. M. Elizabeth Marriage. Halle/ S. 1903, S. 89. der Sinnbildung bei sprachmischenden Texten. Als für die Sinnbildung konstitutiv kann man etwa Parodie und Satire einordnen, Demontage und Identitätsbildung; als (bestreit‐ baren) Unsinn die pure Freude an Klang und Nonsens. Schon in frühen Beispielen populärer Liedtexte konterkarierte ein regelwidriger Sprach‐ gebrauch bestimmte Sprachmuster. Beliebt ist dieses Verfahren seit jeher im Karneval; in frühneuzeitlicher Karnevalsmusik waren etwa Landsknechte und ihre Sprachmischung ein Thema. Manche genrehaften ›Landsknechtslieder‹ des 15. und 16. Jahrhunderts paro‐ dierten ein fehlerhaftes Italienisch der umherziehenden Söldner, so im bis heute populären Lied »Wir zogen in das Feld«: WIr zogen in das feldt do het mir weder seckel noch geld Strampede mi Alami presente al vostra signori. 25 Während derartige frühneuzeitliche Liedtexte wissenschaftlich wahrgenommen und auch ediert wurden, ist gerade mit Blick auf zeitgenössische Popularmusik eine Sachgeschichte dieses weitläufigen Feldes noch zu schreiben; das Material ist häufig kaum greifbar, ge‐ schweige denn aus zuverlässigen Quellen. Einige Aspekte der aktuellen Multilingualität in Liedern sind: (a) Die den konventionellen Liedtexten der Popularmusik eigene Reizwort‐ häufung wird auch in mehrsprachiger Form goutiert (wie z. B. im Schlager »Sag mir quando, sag mir wann«). (b) Normverstöße und das Aufbrechen gewohnter Liedmuster liegen aber in mehrsprachigen Texten ebenfalls nahe, was exemplarische Beispiele zeigen. (c) Sprach‐ liche Kontrastierung, die in ästhetischer und satirischer Absicht erfolgen kann, bewirkt oft Verfremdung, manchmal erzeugt sie (d) eine zielgerichtete Sprachkritik und weckt Sprach‐ skepsis gegenüber konventionellen Liedtexten (prägnant etwa im dt./ engl. Erfolgsstück »Da, da, da« der Gruppe Trio). (e) Damit verbunden sind der Bruch mit Erwartungshal‐ tungen, das Konterkarieren von Rollen sowie verschiedenste Formen der Demontage. (f) Multilingualität in Liedtexten bringt auch Parodien mit artistischen, agitatorischen und kritischen Tendenzen hervor; nicht selten werden Schlagerelemente ironisch verwendet (z. B. parodierte der TV -Moderator Stefan Raab Cowboy-Klischees der Country-Musik im dt./ engl. Lied »Maschendrahtzaun«). (g) Mehrsprachigkeit dient in Liedtexten außerdem oft der Demonstration von Internationalität, sie kann Authentizität eines Textes sugge‐ rieren oder betonen. (h) Nicht zuletzt bieten Sprachwechsel und Sprachmischung die Mög‐ lichkeit zur Identitätsbildung von abgegrenzten Gruppen, etwa durch die Verwendung von Anglizismen, türkischen Wörtern, dialektalen Elementen oder ganzen Passagen in wech‐ selnden oder vermischten Sprachen. Popularmusik ist hinsichtlich der Konstruktion solcher Identitäten als außerordentlich wirksam einzuschätzen (vgl. z. B. Rösing, »Populäre Musik und kulturelle Identität«, 13 f.). Wie Mehrsprachigkeit in Liedtexten früherer Jahrhunderte zur Abgrenzung gesell‐ schaftlicher Gruppen beitragen konnte, etwa zur Differenzierung ›gelehrter‹ Rezipienten V. 4. Liedtexte 301 <?page no="302"?> von ›ungelehrten‹, ist nicht empirisch überprüfbar; manche Liedtexte, etwa aus dem Be‐ reich der maccaronischen Poesie, spielten mit Vorstellungen von Bildung bzw. mangelnder Bildung, meist Lateinkenntnissen. Heute ist gruppensprachliche Abgrenzung oft ein An‐ gebot an bestimmte Segmente des Musikmarktes. Dazu zählen die Anlehnung an englisch geprägte Jugendsprache oder die schon genannten Stilisierungen im Gangsta-Rap (ähnlich den von Feridun Zaimoglu verdichteten Sprachbeispielen der Kanak Sprak, erschienen 1995), ein in Wortwahl, Grammatik und Syntax von der Standardsprache abweichendes Deutsch mit multi-ethnischen Einflüssen. Die Identitätsmuster von Fangruppen werden dabei v. a. durch Abgrenzung von konkurrierenden Angeboten gefestigt (vgl. Keller, »Le‐ gitimation durch Verachtung«, 114 f.). Andererseits sind Variationen der etablierten Diversität gesellschaftlicher Gruppen in der Rezeption von Popularmusik nicht selten, gerade das Spiel mit Sprachdifferenz kann milieuübergreifend integrativ wirken, wie etwa Dialekt aufgreifende, zugleich aber in Teilen standardsprachliche Liedtexte zeigen, die sehr weite Popularität erreichen (z. B. Songs der Stilrichtung »Kölschrock« oder verschiedene Titel der »Bläck Fööss«). Es ist unübersehbar, dass vielfältige Methoden des Sprachwechsels und der Sprachmi‐ schung gerade in zeitgenössischen Liedtexten der Popularmusik prägend sind und favori‐ siert werden. Dies gibt vermehrt Anlass, die Zweifel der traditionellen Literaturwissen‐ schaft am Wert dieser Textsorte als Untersuchungsgegenstand zu überdenken. Populäre Liedtexte, die massenhaft konsumiert werden, haben immense sprachprägende Bedeutung und verbreiten Mehrsprachigkeit, sie schreiben Sprachgeschichte. Dazu trägt die Tatsache bei, dass Musikrichtungen, die sich ursprünglich voneinander abgrenzten, gefälligere Va‐ rianten hervorbringen und zum Mainstream werden. Ursprünglich auf Subkulturen bezo‐ gene Richtungen können dann zur Popmusik gerechnet werden, die Extreme vermeidet und eine weite Vermarktung anstrebt. Verstärkt werden z. B. Elemente des multilingualen, marktgängigen ›Gangsta-Rap‹ popularisiert und ›Kanak Sprak‹ oder ›Kiezdeutsch‹ in mi‐ lieuübergreifender Jugendsprache aufgegriffen (vgl. hierzu auch Mein, »Die Migration ent‐ lässt ihre Kinder«, 214 f.; Kotthoff/ Jashari/ Klingenberg, Komik (in) der Migrationsgesell‐ schaft, 89). c) Forschungsgeschichte Die Germanistik setzt sich seit langem mit einer spezifischen Auswahl von Liedern ausei‐ nander, vor allem Kirchenliedern, Kunstliedern und alten ›Volksliedern‹. In diesen Berei‐ chen wird Mehrsprachigkeit im Zuge von Analysen bestimmter Textkorpora betrachtet. Ein eigenes Thema ist sie hier bislang allerdings nur selten. Liedsorten, in denen Mehr‐ sprachigkeit eine Rolle spielt, sind aber sehr viel zahlreicher. Gerade in der Popularmusik sind sie ebenso vielfältig wie die Flut von Musikstilbezeichnungen. Dieser gesamte Lied‐ bereich wurde in der Germanistik bis vor kurzem als randständig behandelt. Immerhin schließen bisweilen Studien zur Literaturrezeption Texte der Popularmusik ein; insbesondere ist hier die Untersuchung von Jost Schneider, Sozialgeschichte des Le‐ sens, zu nennen. Zu Liedern der Popularmusik fehlen Analysen der Texte und multilingualen Innovati‐ onen, und zwar sowohl zur Erläuterung qualitativer Unterschiede als auch für die Ab‐ Anne Uhrmacher 302 <?page no="303"?> schätzung gesellschaftlicher Funktionen und Risiken. Die wenigen Gesamtdarstellungen zu Liedtexten, die es bisher gibt, bleiben in der Textanalyse ob ihrer Überblicksfunktion meist oberflächlich (so z. B. Reisloh, Deutschsprachige Popmusik, 15, der selbst darauf ver‐ weist). Im Popularmusikbereich beschränkt sich der Beitrag der Germanistik auf einzelne jüngere Arbeiten und wenige veraltete Darstellungen, überwiegend aus den 1970er Jahren. Da das Feld der Popularmusik aber äußerst dynamisch ist, müssten Forschungen zu diesem Bereich auch neueste Tendenzen berücksichtigen; dies gilt verstärkt für den aktuellen Boom mehrsprachiger Texte. Erste Ansätze gibt es inzwischen, denn mit Blick auf Popularmusik hat sich in jüngerer Zeit eine rege interdisziplinäre Forschungsszene etabliert. Auch musikwissenschaftliche Analysen beschäftigen sich verstärkt mit Popularmusik, nachdem diese lange ignoriert wurde. Besonders häufig ist sie inzwischen Gegenstand medien- und kulturwissenschaft‐ licher Studien, speziell der Genderforschung geworden. Hier werden zum Beispiel miso‐ gyne Sprechweisen im mehrsprachigen Rap analysiert (etwa Beschimpfungen wie ›bitch‹, ›Nutte‹, ›Schlampe‹, ›motherfucker‹, um nur einige zu nennen). Die Vermarktung der Po‐ pularmusik, die ein Motiv für Mehrsprachigkeit zur Ansprache bestimmter Zielgruppen sein kann, ist - im Gegensatz zu Texten und Inhalten - eher interessiert (aus wirtschafts‐ wissenschaftlicher Sicht) betrachtet worden. Die geisteswissenschaftliche Forschungslandschaft im Feld der Popularmusik entwickelt sich nun rasant. Studien zur Populärkultur, wie sie im angelsächsischen Raum bereits seit Jahrzehnten durchgeführt werden (z. B. Middleton, Reading Pop), verzeichnen auch im deutschsprachigen Raum einen raschen Zuwachs und werden mehr und mehr institutio‐ nalisiert, z. B. durch die Einrichtung von Studiengängen für Popularmusik und Forschungs‐ gruppen. Zunehmend wird die Notwendigkeit erkannt, populäre Kultur wissenschaftlich zu begleiten. Vereinzelt wurde diese Aufgabe schon vor Jahrzehnten betont, etwa durch die Frankfurter Schule, die Funktionen von Musik als Ware kritisierte (z. B. Horkheimer/ Adorno, »Kulturindustrie«). Popularmusik kritisch ernst zu nehmen, war ein berechtigter Appell dieser Einschätzungen, besonders augenfällig ist dies nun im Bereich des millio‐ nenfach konsumierten multilingualen Rap, dessen Beiträge manchmal kreative Sprach‐ kombinationen (etwa deutsch/ türkisch/ kurdisch/ arabisch/ englisch) sein können, die aber in anderen Fällen auch oft Ausdruck problematischer Virilitätsvorstellungen in patriarcha‐ lisch geprägten Gesellschaften sind und nicht selten von der Bundesprüfstelle für jugend‐ gefährdende Medien indiziert werden. d) Anwendungs-/ Analysebeispiele Da Liedtexte in weiten Teilen der Lyrik zuzurechnen sind, empfehlen sich klassische Me‐ thoden der Lyrikanalyse auch bei der Erforschung mehrsprachiger Liedtexte. Insbesondere die Verbindung mit Musik und die Singbarkeit der Texte sind dabei in den Blick zu nehmen. Sprach- und literaturwissenschaftliche Perspektiven können die Texte im Zusammenspiel grammatisch, semantisch und pragmatisch untersuchen. So sind mit Blick auf Mehrspra‐ chigkeit in Liedtexten beispielsweise zu analysieren: Wortwahl und Wortbildung, Syntax, Wort- und Reimspiele, Klang und Metrik, semantische Assoziationsräume, Ironie, Satire und parodistische Elemente sowie die metasprachliche Thematisierung verschiedener V. 4. Liedtexte 303 <?page no="304"?> 26 Chablife, »Nette Kanaken«, http: / / www.magistrix.de/ lyrics/ Chablife/ Nette-Kanacken-120309.html (Stand: September 2015). Sprachen. Inhaltlich (und damit kulturell) betrifft Mehrsprachigkeit etwa Perspektiv‐ wechsel, Wertvorstellungen und Geschlechterrollen, Differenzierungsmuster auf der Ebene soziokultureller Milieus, den Bruch mit Konventionen und nicht selten das Karikieren von Stereotypen. Auch gesellschaftliche Abgrenzung ist ein zentrales Thema mehrsprachiger Liedtexte, ebenso wie Subversion und die lautstarke Etablierung von Randständigkeit. Nicht zuletzt Sprachskepsis kann durch das Spiel mit Sprachdifferenz in Liedern geweckt werden, explizit ebenso wie unterschwellig. Provokativ und mit Blick auf manche Zielgruppen des Musikmarktes zugleich Beifall heischend kann Sprachdifferenz heute als ein Identitätsmarker eingesetzt werden. Ein Bei‐ spiel ist das 2005 veröffentlichte Lied »Nette Kanaken« der Band »Chablife« unter Betei‐ ligung der unter den Künstlernamen Kay One und Eko Fresh auftretenden Rapper, die internationale Wurzeln haben: Ich bin Kanacke man ich fick dich und beiß dir den Kopf ab Des is Player-Shit und ich scheiß auf alle Player Hater Kleine Kinder kommen her und vergleichen Kay mit Jada Ich bin ein Boss-Player lauf auf dem roten Teppich Denn bei normalem Boden wird auch meine Sohle dreckig So sieht es aus man ich pass zu dem Track Ich bin ein Gee und ich kli kla klatsche dich weg Das is der Soundtrack ja Kanacken lieben den Scheiß Ich ziele jetzt gleich auf dich und schieß dich mit rhymes 26 Die Übergänge zum echten Jargon, der als multilinguales Phänomen auch Gegenstand lin‐ guistischer Studien zu Gruppensprachen ist, sind hier fließend. Der Text ist als eine typi‐ sierende, teilweise sogar parodierende Figurenrede zu verstehen; er wird durch den Titel des Liedes »Nette Kanaken« ironisch konterkariert. Inwieweit der Liedtext künstlerischen Anspruch hat oder eher Effekthascherei betreibt, ist hier wie in vielen ähnlichen Beispielen fraglich. Georg Mein hat vor einer »voyeuristisch geprägten Lesart« der »Kanak Sprak« gewarnt (Mein, »Die Migration entlässt ihre Kinder«, 214), gerade diese Lesart allerdings wird, wie das Beispiel zeigt, im Rap oftmals provoziert. Mehrsprachigkeit selbst kann in Liedtexten latent, offen sichtbar oder metasprachlich auftreten. Mehrsprachigkeit in der Einsprachigkeit wird heute mehr und mehr sichtbar und zum Beispiel in der Werbesprache etabliert (etwa in deutschen Werbetexten des Möbel‐ hauses »Ikea«, in denen Kunden - wie im Schwedischen - konsequent geduzt werden). Gerade in vielen Liedtexten der Popularmusik schimmert Mehrsprachigkeit in der ver‐ meintlichen Einsprachigkeit durch. Beispielsweise schwelgt der deutsche Musiker Peter Fox in seinem Schlager »Lok auf 2 Beinen« nicht nur in einer Vielzahl von Anglizismen, sondern englische Ausdrücke scheinen auch manchen seiner deutschen Sprachbilder zu‐ grunde zu liegen: Anne Uhrmacher 304 <?page no="305"?> 27 Peter Fox, Songbook, Berlin 2010, S. 59. 28 texta, »sprachbarrieren«, http: / / www.texta.at/ texte/ sprachbarrieren.htm (Stand: September 2015). Die Mucke pumpt laut, ich riech’s von weitem: Rum, Rauch, Frauen und Seife. Drei Türchecker fliegen zur Seite, weil ich in den Schuppen wie auf Schienen einreite. Ich renne zehn Runden durch den Club, ich dance, der Dancefloor geht kaputt. 27 Der Ausdruck »in den Schuppen einreiten« ist ein prägnantes Beispiel für eine subkutane Form von Mehrsprachigkeit in der Einsprachigkeit. Zwar kann er als Aufgreifen und me‐ taphorisches Umdeuten des alten deutschen Verbs »einreiten« mit der Bedeutung ›auf einem Pferd ankommen‹ verstanden werden. Er ist aber sehr wahrscheinlich inspiriert vom nicht nur in der Popularmusik überaus verbreiteten englischen Verb »to ride«, das auch im Zusammenhang mit dem Zugfahren verwendet wird, »to ride a train«, und somit zum Bild der Lok auf zwei Beinen passt. Die mediale Präsenz des als schick geltenden englischen Ausdrucks hat allem Anschein nach zum Aufgreifen des alten Bildes geführt. Neben dieser latenten Präsenz von Mehrsprachigkeit steht das andere Phänomen: Nicht wenige Lieder der Popularmusik thematisieren Sprachdifferenz ganz explizit auf meta‐ sprachlicher Ebene. Die österreichische HipHop-Gruppe »Texta« etwa nennt einen Titel »sprachbarrieren« und kontrastiert darin deutsche und österreichische Idiome aus dem Bereich der Umgangs- und Jugendsprache. Im Refrain nennt die Gruppe als ihre Absicht den Abbau von »Sprachbarrieren«: Wans da de schuach ausziagt bläst dich unser Sound weg Und bist’ a Obizahra dann nennt man dich Faulpelz. Waun i sog »hoit de papn« dann wird’s Zeit daß du das Maul hältst. […] Wir vier brechen Sprachbarrieren vom Hamburger Hafen bis zum Wiener Praterstern. Meine Damen und Herren wir wollen nix von euch nur verstanden werden! 28 Multilingualität dominiert besonders die Sprechgesänge des Rap. Stefan Raabs Erfolgsstück »Wadde hadde dudde da? «, ein anderes Beispiel, nähert sich der Unsinnspoesie in Anleh‐ nung an Kindersprache. Inszenierungen des Liedes auf der Bühne sind ein Kompendium ironisch überzeichneter Schlagerelemente, aber der Witz des Liedes resultiert auch we‐ sentlich aus seinen Sprachwechseln und seiner Sprachmischung: Wadde hadde dudde da? Hadder denn da wat, un wenn ja, wat hadder da hadder da wat glatt, oder hadder da wat haar da? Hadder da wat, wat sonst keiner hat oder hadder dat auf dat, dat wadder da hat? Dat wadder da da hat dat hadder nu ma da? […] I am so curious, I just wanna know whatta you there have V. 4. Liedtexte 305 <?page no="306"?> 29 Stefan Raab, Raab total. Das offizielle Stefan Raab Fanbuch, Köln 2000, S. 48. I am so curious, I just wanna know whatta you there have Wadde hadde dudde da […] 29 Zum einen wird im gedruckten Liedtext eine verschriftlichte Mündlichkeit dargeboten, die an sich schon komisches Potential hat. »Wadde hadde dudde da? « bedeutet: ›Was hast du da‹? Ein komisches Klangspiel wird über die Erinnerung an Kindersprache weiterge‐ sponnen. Hinzu fügt Raab einen englischen Refrain, der die deutsche Wortstellung nach‐ ahmt. Er erscheint auf den ersten Blick schlagertypisch, die Kombination ergibt jedoch eine kritische Parodie, einen Angriff auf traditionelle Ästhetiken des Schlagers. Der englische Text scheint eine Übersetzung des deutschen Unsinns zu enthalten: »I am so curious, I just wanna know / whatta you there have.« Der Refrain bildet eine komische Umrahmung des deutschen Unsinns, dann wird der Refrain auch noch selbst mit dem Unsinn verknüpft, da er ihn zitiert: »wadde hadde dudde da? « Der Unsinn scheint geadelt, er wird übersetzt und ist selbst Gegenstand des Gesangs. Raabs komplexes mehrsprachiges Verfahren weckt Skepsis gegenüber Schlagertexten. Wie seine Parodie vorführt, ist das Englische als ver‐ meintlicher Ausweis des ernsthaft Besungenen ein Klischee. Zugleich reizt der Klang des Sprachspiels zur Nachahmung: »Wadde hadde dudde da« war ein außerordentlich popu‐ lärer Liedtext, er wurde oft und anhaltend in den Medien zitiert. e) Offene Forschungsfragen Obwohl die Popularmusik im Hinblick auf Mehrsprachigkeit heute sehr wirkmächtige Liedtexte hervorbringt, bleiben diese trotz ihrer massenhaften Rezeption und großen ge‐ sellschaftlichen Bedeutung noch in weiten Teilen unerforscht. Ihre Multilingualität und ihre Rezeption sind vielversprechende Forschungsdesiderate. Anregungen sind auch in Zukunft durch die Kooperationen mit anderen Fachdisziplinen zu erwarten (zur Notwen‐ digkeit einer interdisziplinären Betrachtung von Populärkultur vgl. z. B. Jacke, Einführung in die Populäre Musik und Medien, 54). Zur Einordnung von Liedern der zeitgenössischen Unterhaltungsmusik existiert noch kaum ein wissenschaftliches Instrumentarium; es wird in Studien manchmal spezifisch entwickelt. Klare Trennungen zwischen Stilrichtungen mehrsprachiger Lieder wie Rock- und Popsongs, sog. volkstümlicher Musik, Blues, Rap, HipHop und anderen sind schwierig. Zur Abgrenzung werden stets neue Bezeichnungen erfunden. So unterscheidet Roy Shuker (Key Concepts in Popular Music, xii) ca. 60 Bezeichnungen populärer Musikrichtungen; in seiner Studie zu deutschsprachiger Popularmusik beschreibt Jens Reisloh die Musikstile als »nahezu endlos« (Deutschsprachige Popmusik, 21). Ob es sich um stilistisch Neues oder nur um Äußerlichkeiten handelt, steht dahin. Entsprechend sind Definitionen oft uneinheitlich, inkonsequent oder wertend. Neben rhythmischen Merkmalen und Kennzeichen des »Sounds« können Funktionen, Formen, Inhalte, Arten des Vortrags und nicht zuletzt Eti‐ ketten des Marketings zur Unterscheidung mehrsprachiger Lieder herangezogen werden. Darüber hinaus ist die Wandelbarkeit und Kurzlebigkeit der Popularmusik ein Charakte‐ Anne Uhrmacher 306 <?page no="307"?> ristikum, das dauerhaft gültige Definitionen erschwert, das aber auch den Blick auf Wechsel verbreiteter Sprachen in der Popularmusik des deutschsprachigen Raums lenken sollte. Eine Schwierigkeit des Forschungsfeldes besteht momentan noch darin, dass manche Forscher wenig Distanz zu den Untersuchungsgegenständen zeigen. Nicht selten finden sich enthusiastische Würdigungen der Popularmusik im Vorwort wissenschaftlicher Stu‐ dien (z. B. Reisloh, Deutschsprachige Popmusik, 16 f.). Oft wird suggeriert, eine Affinität zu den untersuchten Musikrichtungen sei nötig, um deren Rezeption zu erfassen (z. B. Roccor, »Rezension«, 210); das Ablegen einer »traditionell-philologische[n] Distanzhal‐ tung« wird wohlwollend beschrieben (Androutsopoulos, HipHop, 10). Hingegen wäre es nicht nur zur Erforschung von Mehrsprachigkeit lohnend, der Textsorte nüchtern mit li‐ teraturwissenschaftlichem Handwerk zu begegnen. Gerade Distanz der Betrachtenden zu dem Gegenstand ihres Interesses kann den Blick für eine Analyse schärfen und ist in ge‐ sellschaftlich riskanten Bereichen wie etwa dem multilingualen ›Gangsta-Rap‹ unab‐ dingbar. Breit angelegte, kontrastive Untersuchungen mehrsprachiger Liedtexte könnten Er‐ kenntnisse über die tatsächliche oder vermeintliche Einfalt der Sprache populärer Lieder liefern. Die verschiedenen Philologien sollten hier verstärkt zusammenarbeiten. Kon‐ stanten und Variationen der Multilingualität in Liedtexten könnten herausgearbeitet, ana‐ lytische Instrumentarien erstellt werden. Mehrsprachige Liedtexte der Popularmusik wei‐ chen von den sprachlichen Merkmalen, die ihnen als typisch zugeschrieben werden, oft stark ab und entfalten subversive gesellschaftliche Potentiale. Es ist lange bekannt, dass pauschalisierende Urteile über populäre Musik nicht all ihren Erscheinungsformen gerecht werden. Literatur Abele, Ute, »Die Landsknechtslieder in den Codices Magliabechi XIX, 121 und Banco Rari 230«, in: Annemarie Firme/ Ramona Hocker (Hrsg.), Von Schlachthymnen und Protestsongs. Zur Kulturge‐ schichte des Verhältnisses von Musik und Krieg, Bielefeld 2006, S. 41-59. Androutsopoulos, Jannis (Hrsg.), HipHop. Globale Kultur - lokale Praktiken, Bielefeld 2003. Brunner, Horst, »Lied«, in: Harald Fricke (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II, Berlin/ New York 2000, S. 420-423. Horkheimer, Max/ Theodor W. Adorno, »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/ M. 1987, S. 144-196. Jacke, Christoph, Einführung in die Populäre Musik und Medien, Berlin 2009. 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Beide, das Hörspiel wie das Hörbuch, verdanken sich ursprünglich den technischen Mög‐ lichkeiten der analogen Schallaufzeichnung und -reproduktion, die seit den 1990er Jahren zunehmend durch digitale Verfahren ersetzt werden. Als Besonderheit der analogen Tech‐ nologien gilt dabei, dass sie nicht nur die auf Sinn hin angelegten Laute bzw. Geräusche aufzeichnen und wiedergeben, sondern auch Artikulationsfehler, Pausen, Dehnungen oder das Stottern, Versprecher etc. und nicht zuletzt das Hintergrundrauschen. Dazu können sich Hörspiel- und Hörbuchproduktionen jeweils unterschiedlich verhalten: Sei es, dass sie in O-Ton-Aufnahmen die Störungen des Sprechvorgangs und die dialektal-idiomatischen Eigenheiten als selbstreflexive Dokumente der Aufnahmesituation hervorheben und als spezifische Mitteilungselemente einsetzen, sei es, dass im Tonstudio sowie in der Postpro‐ duktion alle zufälligen Hintergrundgeräusche ausgeblendet und dialektal-idiomatischen Färbungen vermieden werden; sei es schließlich, dass Geräusche, die an O-Töne erinnern bzw. ihnen nachempfunden sind, im Studio simuliert werden. In Bezug auf anders- und mehrsprachige Textelemente oder Intertexte im Sinne authen‐ tischer Zeugen bedeutet dies, dass sie durch Einbezug fremdsprachiger Aufnahmen - etwa als Zitate anderer Sprachen, als stilistische Markierungen bestimmter Sprechweisen oder Status- und Milieumarkierungen - sowie durch Imitation von fremd- und anderssprachigen Akzenten gezielt hergestellt werden. Der Begriff ›Hörspiel‹ geht auf Hans Siebert von Heister zurück, der ihn 1924 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Der deutsche Rundfunk zur Bezeichnung funkdramati‐ scher Bearbeitungen von Theateraufführungen prägt. Nachdem sich der Terminus ›Hör‐ spiel‹ allmählich gegen konkurrierende Termini wie ›Funkdrama‹, ›Sendungs- und Funk‐ spiel‹ durchgesetzt hat, nimmt er die heute noch gültige Bedeutung als ein sowohl im Sinne einer Adaption als auch im Sinne eines eigens für den Hörfunk konzipierten Kunstformats an, welches sich durch seine Nähe zu fiktiven Darstellungsformen vom Feature als einem tendenziell dokumentarischen Format unterscheidet. Konstitutiv für die poetologische Be‐ stimmung des Hörspiels ist die Frage, ob es als eine autonome, mit dem Rundfunk eng verknüpfte und nur ihm eigene Kunstform (Huwiler, »Sound erzählt«) - durchaus in der Tradition seiner Bestimmung als »die Krönung des Funks« (Kolb, »Das Hörspiel«) - oder doch als eine besondere, außerhalb des Buchmediums operierende literarische Form ver‐ <?page no="310"?> 30 Alfred Döblin, »Literatur und Rundfunk«, in: Ders., Schriften zur Ästhetik, Politik und Literatur, Frei‐ burg 1989, S. 251-261. standen wird, wie es Alfred Döblin bereits 1929 forderte. 30 Vor allem in den 1950er Jahren gibt es eine intensive Kooperation von Literatur und Hörspiel, welche die Poetik des soge‐ nannten literarischen Hörspiels (Schwitzke, Das Hörspiel) begründet. Die Bezeichnung ›Hörbuch‹ entsteht im Kontext der 1954 gegründeten Blindenhörbü‐ cherei und bezieht sich zunächst auf akustische Aufnahmen von zuvor in Buchform er‐ schienenen Texten, die auf diese Weise Sehbehinderten zugänglich gemacht werden sollen. Jedoch unterscheidet sich das ursprüngliche Blindenbuch vom seit den 1990er Jahren an Popularität gewinnenden kommerziellen Hörbuch bzw. Audiobook dahingehend, dass es eine möglichst getreue Wiedergabe der Druckvorlage anstrebt und deshalb sowohl die Sei‐ tenzahlen als auch die Absatzzäsuren des schriftlichen Bezugstextes sprachlich markiert. Demgegenüber bemüht sich das kommerzielle Hörbuch um eine eigenständige Vorlesepo‐ etik, die den akustisch aufgezeichneten Text nicht nur als Zweitverwertung, sondern auch als spezifische tonale Interpretation des Ausgangstextes konstituiert (Binczek/ Ep‐ ping-Jäger, Text+Kritik: Literatur und Hörbuch; Binczek/ Epping-Jäger, Das Hörbuch). Ver‐ einzelt lassen sich auch Hörbuchprojekte nachweisen, welche eigens für die Audio‐ book-Veröffentlichung verfasst oder - ohne schriftliches Manuskript - konzipiert worden sind und daher als Originalhörbücher gelten. Besondere Prominenz hat diesbezüglich Peter Kurzecks Ein Sommer, der bleibt (2007) erlangt. Hörspiele sowie als Hörbuch aufgezeichnete Lesungen reproduzieren andersbzw. mehrsprachige Textelemente oder -passagen nicht nur so, wie sie bereits im Schriftbzw. Druckmodus realisiert werden. Vielmehr machen sie auch die ›binnensprachliche Mehr‐ sprachigkeit‹ unterschiedlicher dialektaler und artikulatorischer Formen hörbar. Während die andersbzw. mehrsprachigen Textelemente sowie -passagen von Anbeginn zur schrift‐ lich verfassten Dramaturgie der Hörspiele und Lesungen gehören und in der Regel auf eine spezifische poetologische Entscheidung zurückgehen, handelt es sich bei den Effekten ›binnensprachlicher Mehrsprachigkeit‹, insbesondere bei Markierungen eines spezifischen artikulatorischen Akzentes, nicht selten um Mitteilungen, welche erst durch die Umsetzung einer schriftlichen Vorlage in einen Sprechtext entstehen und vielfach als besonderes dra‐ maturgisches Mittel eingesetzt werden. Die analogen Aufzeichnungstechnologien des Auditiven sind stets mit dem Umstand konfrontiert, dass sie Sprache wie im Theater nur im Sprechvollzug und mithin in einer Materialität zum Ausdruck bringen können, in welche sich trotz etablierter und geforderter Standards der Hochlautung, die mit dem Ideal artikulatorischer Neutralität einhergehen, die jeweilige Individualität, aber auch der jeweilige Kultur-, Milieu- und Regionalbezug mischen, wie ihn der artikulatorische Akzent jeweils verkörpert. In Frage steht dabei, in‐ wiefern es überhaupt eine neutrale und damit akzentfreie Aussprache gibt oder ob nicht vielmehr innerhalb eines bestimmten Rahmens unterschiedliche Varianten und Grade der Hochlautung realisiert werden können. Demnach gibt es nicht die eine mögliche Form der Hochlautung, sondern einen an den Rändern fluiden Bereich, innerhalb dessen sich unter‐ schiedliche, nicht zuletzt regional verschiedene, Formen und Grade der Hochlautung nach‐ weisen lassen. Ferner ist in diesem Zusammenhang auch zu fragen, ob und inwiefern unter Natalie Binczek 310 <?page no="311"?> 31 Johann Wolfgang von Goethe, »Regeln für Schauspieler«, in: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe (= Sophien-Ausgabe), 133 Bände, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 40, Weimar 1901, S. 139. 32 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Leipzig 1793-1801, Bd. 1, Sp. 653. 33 Ebd. 34 Ebd., Bd. 3, Sp. 311. Anders- und Mehrsprachigkeit Konzepte theatraler Sprechweisen fallen, wie sie etwa mit dem ›Burgtheaterdeutsch‹ bezeichnet und maßgeblich durch eine spezifische Prosodie charakterisiert werden (Peter, »Mythos Burgtheaterdeutsch«), keineswegs jedoch als eine eigene dialektale Ausprägung bestimmbar sind. Verwiesen ist damit auf eine lange Tradi‐ tion, die Aussprache als einen zentralen Bestandteil theatraler Aufführung anzuerkennen und zu kultivieren. Bereits in seinen 1803 entstandenen »Regeln für Schauspieler« ver‐ knüpft Goethe das Problem der Aussprache explizit mit dem Gesichtspunkt des Dialekts und mit der Differenz Zentrum/ Provinz. Für das Theater postuliert er eine »von allen Feh‐ lern des Dialekts« befreite, »reine Aussprache«. Denn: »Kein Provinzialismus taugt auf die Bühne! « 31 Da bis ins 19. Jahrhundert hinein die gesprochene Sprache weitgehend an die einzelnen Dialekte geknüpft gewesen ist und das Neuhochdeutsche eine vor allem für die Schriftsprache geltendes Reglement darstellte, wird die Forderung nach einer Vereinheit‐ lichung der deutschen Aussprache auf den Theaterbühnen noch 1898 gefordert. In diesem Jahr erscheint Theodor Siebs’ Standardwerk deutschsprachiger Orthoepie Deutsche Büh‐ nenaussprache. Die historische Rekonstruktion der ›binnensprachlichen Mehrsprachigkeit‹ ist in viel‐ facher Hinsicht problematisch (vgl. dazu Weithase, Zur Geschichte der gesprochenen deut‐ schen Sprache). So gibt es bis in das 19. Jahrhundert hinein keine akustischen Zeugnisse des Sprechens, welche eine empirische Aufarbeitung dieses Feldes ermöglichten. Bis in das 18. Jahrhundert hinein lässt sich überdies kein systematisches Bewusstsein für die Spezifik des Akzents und damit einer dialektalen Bestimmung der Aussprache ausmachen. Die Aussprache wird zum einen in den Kategorien der antiken pronunciatio gedacht, d. h. über Merkmale der Deutlichkeit oder Lautstärke etc. beschrieben. So findet sich in Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart zwar das Lemma »Aus‐ sprache«. Jedoch wird diese sehr allgemein definiert als die »Stimme und der Ton eines Sprechenden, und deren Art und Weise«. 32 Vor allem die stilistische Dimension der Aus‐ sprache wird zunächst hervorgehoben, bevor der Artikel auch auf die sprachkonstitutive Bedeutung der Aussprache eingeht, wenn er eine korrekte von einer falschen unterscheidet. »Besonders das Aussprechen der Buchstaben, Sylben und Wörter. Eine falsche Aussprache, ein Fehler in der Aussprache, oder wider die Aussprache.« 33 Ausgegangen wird dabei von Standards der Artikulation, die selbst zwar nicht im Einzelnen genannt sind, jedoch unter‐ stellen, dass bestimmte Formen des Aussprechens eine Abweichung bilden, die das Ver‐ ständnis einer Mitteilung zu beeinträchtigen drohen. Auf dialektale Unterschiede verweist hingegen die Bezeichnung »Mundart«, die Adelung als »die besondere Art zu reden, wo‐ durch sich die Einwohner einer Gegend von den Einwohnern anderer Gegenden unter‐ scheiden«, 34 definiert und damit territorial festlegt. Erst in Joachim Heinrich Campes Wör‐ terbuch der deutschen Sprache wird unter »Mundart« die jeweilige, dialektal bestimmte V. 5. Hörspiel/ Hörbuch 311 <?page no="312"?> 35 Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache, Braunschweig 1809, S. 363. Sprechweise mit der jeweils regionalen Aussprache verknüpft. Demnach realisiere sich die Mundart »nicht allein durch verschiedene Aussprache, sondern auch durch Abweichungen in der Bildung, Bedeutung und im Gebrauch der Wörter«. 35 Etabliert wird somit auch die Differenz zwischen dialektaler Aussprache und der grammatischen sowie lexikalischen Beschaffenheit eines Dialektes, der, insofern er die Relativierung auf ein bestimmtes Gebiet impliziert, auch das Problem der Hochlautung auf den Plan ruft. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung erst wird die Analyse von dialektalen Aussprachen in Form einer hoch‐ sprachlichen Lexik und Grammatik ermöglicht. Beobachtet werden können hybride Sprechweisen, die eine grammatisch korrekte Sprachverwendung mit einem regionalen Akzent verbinden. Im Zuge der Herausbildung der Linguistik im ausgehenden 19. Jahr‐ hundert wird die sprachkonstitutive Bedeutung des Akzents grundgelegt und einer syste‐ matischen Betrachtung unterzogen. Saussure unterscheidet in diesem Sinn die Funktion des Akzents als sprachbildend - im Sinne seiner ›grammatischen‹ Bedeutung - von einer Funktion, die nicht unmittelbar das Sprachverstehen betrifft, sondern lediglich eine dia‐ lektale Herkunft des Sprechers andeutet; hier spricht er vom ›natürlichen Akzent‹ (Jäger/ Buss/ Ghiotti, »Notes sur l’accentuation lituanienne«). Für die deutsche Sprache gilt, dass sie im Hinblick auf die Lexik und Grammatik, vor allem jedoch im Hinblick auf die Phonetik plurizentral ist, was insbesondere im Nebenei‐ nander unterschiedlicher Hochlautungen der deutschländischen, österreichischen, schwei‐ zerischen und luxemburgischen Akzentuierung zutage tritt. Selbst wo in der schriftsprach‐ lichen Fassung eines Textes aus dem österreichischen oder Schweizer Sprechraum keine Hinweise auf regionale Spezifika erkennbar sind, werden die Texte in der Lesung stets einer spezifischen Standardvarietät des Deutschen unterzogen. So lassen sich die Erzählungen Ingeborg Bachmanns beispielsweise in ihrer schriftsprachlichen Fassung als deutschspra‐ chige und - für den hier verhandelten Zusammenhang nicht unerheblich - mehrsprachige Strukturen reflektierende Texte beschreiben. In der Autorenlesung durch Ingeborg Bach‐ mann werden sie jedoch als österreichischsprachige Texte markiert, wohingegen sie in einer Lesung in deutschländischer Hochlautung durch eine Schauspielerin etwa umakzen‐ tuiert, ja in gewisser Weise sogar übersetzt würden. Insofern die analoge Schallreproduk‐ tion bzw. -übertragung somit die jeweilige artikulatorische Herkunft des Sprechers festhält, macht sie zugleich auch einen analytischen Umgang mit diesen Informationen erforderlich. Dabei sind die von der Linguistik auf dem Feld der Dialekt- und Akzentforschung entwi‐ ckelten Beschreibungskategorien an die literaturwissenschaftlich interessierenden Frage‐ stellungen nur bedingt anschlussfähig. Erprobt werden hier hingegen die Konzepte des Paratextes (Schwering, »›Achtung vor dem Paratext! ‹«), des Schibboleth (Binczek, »Lite‐ ratur als Sprechtext«) sowie der Figur/ Ornament-Differenz (Dembeck, »Schibboleth/ Sibbo‐ leth«). Hörspiel- und Hörbuchproduktionen verfügen über eine Fülle von ›Verfahren‹, Mehr‐ sprachigkeit zu erzeugen oder zu simulieren. Entscheidend ist dabei, dass sie dies nicht ausschließlich auf der Ebene der Lexik und Syntax leisten können, sondern auch auf der Ebene der akustischen Umsetzung, mithin der Phonetik. Das bedeutet, dass Effekte der Fremd- und Mehrsprachigkeit sich hier auch als ein Hybrid aus Lexik und Syntax einer Natalie Binczek 312 <?page no="313"?> Sprache einerseits und dem artikulatorischen Akzent einer anderen Sprache andererseits hervorbringen lassen. Wenn Emine Sevgi Özdamar ihren Roman Das Leben ist eine Kara‐ wanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus (1992) für das gleichnamige 2006 erschienene Hörbuch einspricht, dann lässt sich die genannte Hybridität darin fassen, dass hier ein in deutscher Sprache, im Modus einer Ich-Erzählung verfasster Text, der von der türkischen Kindheit der Protagonistin handelt und dabei immer wieder ein mehrsprachiges, zwischen Türkisch, Anatolisch und Arabisch gespanntes, von der deutschen Sprache jedoch stets zusammengehaltenes Netzwerk entwirft, in seiner Reali‐ sation als Lesung konterkariert wird von einem starken nicht-muttersprachlichen artiku‐ latorischen Akzent der Autorin. Immer wieder verstoßen die von Özdamar vorgenom‐ menen Betonungen der Wörter und Sätze gegen die im Deutschen geregelte Aussprache und verweisen somit im Kontrast zur regelhaften, korrekten schriftsprachigen Fassung des Textes auf seine phonetische Fremdsprachigkeit hin, die zugleich eines der zentralen Themen des Romans ist. In dieser Hinsicht ist die Autorenlesung ein Beispiel für die lite‐ rarische Bedeutung des artikulatorischen Ethnolekts sowie, damit einhergehend, für den interpretatorischen Zugewinn der akustischen Umsetzung eines Textes. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass anhand der artikulatorischen Signatur der Sprechweise die Frage nach der ›muttersprachlichen‹ (Martyn, »Es gab keine …«) Herkunft des Sprechers motiviert wird, und dies insbesondere, wenn Abweichungen von den Standards der Hochlautung feststellbar sind. Dabei wird dem Akzent eine indexikalische Funktion zugeschrieben, welche von Hörspiel- und Hörbuchproduktionen - auch in Form von simulierten Ak‐ zenten - poetisch genutzt und durch Untermalung von beispielsweise folkloristischer Musik oder atmosphärischen Klängen hervorgehoben werden kann. b) Sachgeschichte Hörspiele und Hörbücher bauen medientechnisch auf den Möglichkeiten der analogen Schallaufzeichnung und -reproduktion auf, wie sie erstmalig Thomas Alva Edisons Pho‐ nograph (1877) ermöglicht hat (zur Geschichte des Phonographen siehe exemplarisch Hiebler, »Zur medienhistorischen Standortbestimmung …«; Hiebler, »Weltbild ›Hörbild‹«; Hiebler, »Der Sound zwischen …«; Jüttemann, Phonographen und Grammophone; Gauß, Nadel, Rille, Trichter). Zwar können Audioaufnahmen auf Tonwalzen und Wachsplatten als Vorformen des Hörbuchs angesehen werden (siehe Rühr, Tondokumente von der Walze zum Hörbuch), jedoch beginnt die Geschichte dieses Mediums im engeren Sinn mit Schallplat‐ tenaufnahmen. Insgesamt ist hierbei festzuhalten, dass mit den Audio-Medientechnologien Dimensionen der Sprache aufgezeichnet und reproduziert werden können, welche für die Mehrsprachigkeitsforschung von großem Interesse sind. Sie machen das Sprechen als einen Prozess hörbar, der seine eigene akustische Physiologie aufweist und mithin unterschied‐ liche Sprachen, Dialekte bzw. Ethnowie Soziolekte zu vergleichen und vermessen ermög‐ licht. In Anlehnung an den schon um 1900 erfolgten Einsatz der Audio-Aufzeichnung durch die Ethnologie (vgl. Stangl, Ethnologie im Ohr) lässt sich auch für Tondokumente literari‐ scher Provenienz eine ethnographische Perspektive in Anschlag bringen. Bereits in den 1920er Jahren vertrieben die Schallplattenfirmen Aufnahmen literarischer Lesungen. So haben schon in der frühen Phase der Audiovermarktung Schriftsteller wie V. 5. Hörspiel/ Hörbuch 313 <?page no="314"?> Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann oder Alfred Döblin ihre Texte selbst eingelesen (vgl. dazu Tgahrt, Dichter lesen). In Zusammenarbeit mit Theatern wurden in den 1950er Jahren auch Theaterinszenierungen auf Schallplatte vertrieben. Nach der Schallplatte wurden in der Zeit von den frühen 1970er bis in die späten 1990er Jahre Hörbücher vor‐ zugsweise auf Musikkassetten und damit auf einem elektromagnetischen Tonträger pu‐ bliziert. Abgelöst wurde diese Technologie Ende der 1990er Jahre von der beschreibbaren CD -R, die sich als Audio-Aufnahmemedium durchsetzte, bis sie ihrerseits in den 2000er Jahren von der MP 3-Technologie Konkurrenz bekam. Dabei ist hervorzuheben, dass mit der Umstellung von der Musikkassette als zentralem Trägermedium des Hörbuchs auf die digitalen Technologien CD und MP 3 die Produktion von literarischen Audiopublikationen einen enormen Aufschwung erfuhr (vgl. Schätzlein, »Von der automatischen Sende‐ regie …«, 402-414). Zwar ist die Geschichte der Fremd-, Anders- und Mehrsprachigkeit im Kontext der akustischen Medientechnologien weder aufgearbeitet noch auch als Problem erkannt. Gleichwohl handelt es sich hierbei um ein überaus ergiebiges Forschungsfeld. Anzunehmen ist, dass bereits die Schallplattenindustrie der Gründerjahre trotz technischer Inkompati‐ bilitäten der in Frankreich, Großbritannien und Deutschland üblichen Abspielapparate die grundsätzliche Öffnung gegenüber anderssprachigen Audioaufnahmen befördert hat. Spä‐ testens jedoch nach 1945 wurde durch den Einfluss der Alliierten nicht nur die US -ameri‐ kanische Musik in die Bundesrepublik breitenwirksam importiert, sondern mit ihr auch andere kulturelle, für die Literatur der Zeit relevante Phänomene bzw. die Literatur selbst. Inzwischen sind neben englischauch andere fremdsprachige Hörbücher auf dem deut‐ schen Markt verfügbar. Insbesondere aber kann die englische Sprache in Form von Zitaten bzw. Intertexten - sogenannten Anglizismen und Amerikanismen - seit den späten 1960er Jahren als zentraler Bestandteil deutschsprachiger Literatur und ihrer akustischen Umset‐ zung für Hörbücher nachgewiesen werden. Überdies beeinflusst die zunehmende Multi‐ kulturalität der deutschen Gesellschaft seit den 1970er Jahren die deutschsprachige Lite‐ ratur insoweit, als sie den anderssprachigen Einzugsbereich auch auf das Italienische, Türkische und Arabische erweitert hat. Gleichzeitig lässt sich die deutsche Sprache z. B. bei den Einwanderern in die USA als Fremdsprache beschreiben. Ein frühes Zeugnis dieser Konstellation ist das aus dem Jahr 1915 stammende Stück von Karl Frischer »Wie man Englisch lernt«, welches als Schallplatte bei Columbia Records erschien und das Deutsche mit dem Angloamerikanischen verbindet. Die Mediengeschichte des Hörspiels ist an die Medientechnologie des Hörfunks ge‐ bunden, dessen technische Voraussetzung in der Umwandlung von Schallenergie in elek‐ trische Energie besteht. Drahtlos, also per Funk werden akustische Signale durch elektro‐ magnetische Strahlen von einem Sender zu einem Empfänger übertragen. Bis 1946 sind Hörspiele in Hörfunkstudios produziert und live gesendet worden. In einigen Fällen wurde die Sendung von den Hörfunkanstalten gleichzeitig mitstenographiert. Aufgrund dieser Struktur gilt zumindest für die Anfangsphase des Genres, dass es sich von einem Hörbuch im Sinne eines akustisch konservierten Textes grundlegend unterscheidet. Es ist gerade nicht medientechnisch reproduzierbar, sondern als jeweils einmalige Aufführung angelegt. In den 1920er Jahren wurden Möglichkeiten literarischer Improvisation als ein Versuch erprobt, orale Kulturen wieder aufleben zu lassen, wobei es sich dabei weitgehend um Natalie Binczek 314 <?page no="315"?> abgelesene Texte handelte, welche als Spontanrede bzw. -gespräch lediglich inszeniert wurden (Gethmann, Die Übertragung der Stimme, 116 ff.). Das erste deutschsprachige Hör‐ spiel ist Hans Fleschs Zauberei auf dem Sender, welches im Frankfurter Sender am 24. Ok‐ tober 1924 uraufgeführt wurde. Erst seit den 1950er Jahren werden Hörspiele auch akustisch konserviert, zunächst auf Tonbändern, später als Kassette und heute digital. Ermöglicht werden somit nicht nur wiederholte Ausstrahlungen von Hörspielproduktionen, sondern auch vom Hörfunkprogramm unabhängig verlaufende Vertriebswege. Seitdem können Hörspiele als Hörbücher publiziert, zum Teil sogar auch vor dem Erstausstrahlungstermin im Hörfunk bereits als Tonträger käuflich erworben werden. Ebenso wie Hörbücher - etwa als Lesungen literarischer Klassiker - von Hörfunkanstalten koproduziert und daher auch im Radio gesendet werden, entstehen Hörspiele in Koproduktion mit Hörbuchverlagen, die sie distribuieren. Unter dem Vorzeichen der Digitalisierung werden Hörspiele neuerdings auch als von den Rundfunkanstalten zur Verfügung gestellte Podcasts zugänglich gemacht. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass es zwischen den Sprechstandards und -praktiken im Theater und im Hörspiel enge Austauschbeziehungen gegeben hat, insofern zum großen Teil dieselben Schauspieler in beiden Bereichen mitwirkten. Dennoch hat sich der Hörfunk immer auch um eigene Formen der akustischen Inszenierung bemüht und folglich auch eigene Formen des Sprechens ausgebildet. Dabei spielte die Orientierung an der mündlichen Spontaneität von Beginn an eine wichtige Rolle, ebenso wie nach 1945 die Forderung nach einer von affektiv-pathetischen Konnotationen gereinigte ›Neutralität‹ der Sprechweise gefordert wurde, was auch Einfluss auf die Art und Weise der Autorenlesung hatte (Ep‐ ping-Jäger, »Der ›unerlässlich ruhige Ton‹«). In Bezug auf die ›binnensprachliche Mehr‐ sprachigkeit‹ ist zwar grundsätzlich festzuhalten, dass der Hörfunk als auditives Massen‐ medium einen starken Standardisierungsschub bewirkte, der zum Dialektausgleich führte. In diesem Sinne ist es als Medium der tendenziellen Einsprachigkeit zu betrachten. Jedoch lässt sich auch umgekehrt eine Kultivierung dialektaler Traditionen, vorwiegend im ko‐ mödiantisch-humoristischen Bereich, beobachten. In den ersten Nachkriegsjahren ge‐ hörten beispielsweise Dialekt-Hörspielserien wie Die Familie Staudenmeier oder Die Aben‐ teuer des Herrn Pfleiderer von Wolf Schmidt in schwäbischer Mundart zu sehr beliebten Hörspielsendungen. Hinsichtlich der Frage der Mehrsprachigkeit ist hierbei nicht uner‐ heblich, dass die Alliierten in der Bundesrepublik Radiosender wie BFBS etablierten, welche auch von der deutschsprachigen Bevölkerung gehört wurden. c) Forschungsgeschichte Die Hörspielforschung ist sowohl in Bezug auf die Analyse einzelner Hörspiele als auch im Hinblick auf systematische Fragestellungen vor allem an gattungstypologischen und mit der Medialität der Radiophonie zusammenhängenden ästhetisch-semiotischen Überle‐ gungen interessiert. Die akustische Rezeptivität des Hörspiels (Arnheim, Rundfunk als Hör‐ kunst, zuerst 1939) und die spezifische Kommunikationsform des Rundfunks (Brecht, zuerst 1932) wird von Anbeginn als eines seiner konstitutiven Merkmale hervorgehoben. Lange Zeit stand der schriftliche Text als maßgebliche auktoriale Referenz im Zentrum der Hör‐ spielforschung, wohingegen dem Regisseur und den Schauspielern bzw. Sprechern, mithin der performativen Dimension des Hörspiels, nur selten Beachtung zukam. Auch wenn die V. 5. Hörspiel/ Hörbuch 315 <?page no="316"?> 36 Feridun Zaimoglu, »Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft«, in: Ders., Kanak Sprak/ Koppstoff. Die gesammelten Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Köln 2011 [1995], S. 15. 37 Ebd., S. 18. Bedeutung der Klanggestaltung inzwischen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt ist (Huwiler, »Sound erzählt«), so spielt die Analyse der Sprechformen weiterhin keine Rolle. Fragen der Sprachdifferenz und Mehrsprachigkeit sind in der Hörspielforschung bislang nicht gestellt und reflektiert worden. Eine Hörbuchforschung lässt sich bislang lediglich in Ansätzen beobachten (Rühr, Ton‐ dokumente von der Walze zum Hörbuch; Binczek/ Epping-Jäger, Text+Kritik: Literatur und Hörbuch, Binczek/ Epping-Jäger, Das Hörbuch). Zwar fokussiert sie das Feld des Akusti‐ schen, indem sie es vorrangig im Hinblick auf seine Beziehung zur Schrift in den Blick nimmt und an Ansätze zur Vortragskunst anschließt (Weithase, Zur Geschichte der gespro‐ chenen deutschen Sprache; Müller, Die zweite Stimme; Maye, »Eine kurze Geschichte der deutschen Dichterlesung«). Jedoch wird der Gesichtspunkt der Mehrsprachigkeit in den bisherigen Überlegungen nicht berücksichtigt. Allein der Problemzusammenhang der ›bin‐ nensprachlichen Mehrsprachigkeit‹ wurde zum einen mit Blick auf Paul Celans Lesung vor der Gruppe 47 in Niendorf 1952 untersucht (Epping-Jäger, »Der ›unerlässlich ruhige Ton‹«); zum anderen wurde die Bedeutung von Peter Kurzecks artikulatorischem Akzent als Me‐ dium der mündlichen Narration hervorgehoben (Binczek, »Literatur als Sprechtext«). d) Anwendungs-/ Analysebeispiel Als ein in mehrfacher Hinsicht interessantes Beispiel für die Analyse der Mehrsprachigkeit im Kontext der literarischen Audiomedien Hörspiel/ Hörbuch gilt die unter der Regie von Götz Naleppa entstandene Hörspielproduktion Kanak Sprak (DeutschlandRadio/ Südwest‐ funk 1997). 2000 ist dieses Hörspiel beim Audio Verlag als Hörbuch erschienen. Es handelt sich bei diesem Projekt um eine akustische Bearbeitung des von Feridun Zaimoglu ver‐ fassten und 1995 beim Rotbuch Verlag publizierten Textes Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Anhand dieses im Kontext der aktuellen migrationskulturellen Sprachentwicklungen maßgeblichen Referenztextes lassen sich nicht nur linguistisch motivierte Fragen des Sozio- und Ethnolektes diskutieren (Füglein, Kanak Sprak), sondern es werden auch poetologische Stellungnahmen zur Situation der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur herausgefordert, insofern der Text die literarischen Möglichkeiten dieser als Slang beschreibbaren Sprech‐ form in fiktiven bzw. teilfiktiven Interviews auslotet. Zaimoglus Text geht, wie er in der Einführung festhält, von der Beobachtung aus, die ursprünglich pejorativ verwendete Be‐ zeichnung »Kanake« werde von den »Gastarbeiterkinder[n] der zweiten und vor allem der dritten Generation mit stolzem Trotz« 36 geführt und mit dem Bekenntnis zu einem pro‐ duktiv-subversiven »Jargon« verknüpft: »Längst haben sie einen Untergrund-Kodex ent‐ wickelt und sprechen einen eigenen Jargon: die ›Kanak-Sprak‹, eine Art Creol oder Rot‐ welsch mit geheimen Codes und Zeichen. Ihr Reden ist dem Free-Style-Sermon im Rap verwandt, dort wie hier spricht man aus einer Pose heraus.« 37 Mit der »Pose« verweist der Text auf das Sprechen als eine Inszenierung und damit auch auf ihre dezidiert kunstsprach‐ Natalie Binczek 316 <?page no="317"?> 38 Ebd. liche Dimension, welche auch die im Zitat erwähnte Verwandtschaft mit dem »Rap« stiftet. Auf der Grundlage einer solchen Typologie wird die nachfolgende Darstellung selbst als ›Rap‹ lesbar, was die Hörbuch-Umsetzung aufgreift, indem sie einzelne Tracks als »Rap« bezeichnet. Muss Zaimoglu die primär mündliche ›Kanak-Sprak‹, die er als ein »Hybrid« aus feh‐ lerhaftem Türkisch und ebenso fehlerhaftem Deutsch 38 kennzeichnet (vgl. dazu Yıldız, »Multikulturalität - Interkulturalität - Kosmopolitismus«), in Schriftsprache übersetzen, um sie textuell festzuhalten, womit er eine weitere, nämlich medientechnische Hybridisie‐ rung an ihr vornimmt, so wird dieses zweifache Hybrid in der Hörspielproduktion wie‐ derum in gesprochene Sprache übersetzt und von eigens für dieses Projekt von Ali Aksoy und Ole Peter Jeß komponierten Rap-Stücken musikalisch erweitert. Zugleich treten die beiden Musiker neben vier weiteren Personen auch als Sprecher auf. Das Hörspiel stellt keine dramatische Handlung dar, sondern ist eine Collage aus der Buchfassung entnom‐ mener, dort als O-Ton-Monologe und Interviewprotokolle ausgewiesener Passagen, die hier als Sprechtexte akustisch übersetzt und mit Hintergrundgeräuschen unterschiedlicher Pro‐ venienz (Gespräche, Gebete, Automotoren etc.) unterlegt werden. Auf der Ebene des arti‐ kulatorischen Akzents fällt indes auf, dass der von dem Text erwartete ethnolektale Aus‐ druck entweder vollständig fehlt, da der Text über weite Strecken in akzentfreier deutscher Hochlautung gesprochen wird, oder in lediglich leichter Ausprägung - wie im Fall von Zaimoglu selbst - hörbar wird. Die akustische Umsetzung von Kanak Sprak dokumentiert somit in Bezug auf den artikulatorischen Akzent eine Minimierung der ethnolektalen Aus‐ prägung, während sie auf der narrativen Ebene die Autonomisierung der Kanak-Sprak ver‐ tritt. Darin unterscheidet sich Zaimoglus/ Naleppas Hörbuch-Projekt von Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei-Lesung, welche erst 2006 und damit fast fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen des Buchs als Hörbuch entstanden ist, da hier ein starker fremdländischer Akzent zum wichtigen Protagonisten der akustischen Erzählung wird. e) Offene Forschungsfragen Der Zusammenhang der Mehr-, Fremd- und Anderssprachigkeit bildet ein Forschungsfeld, welches von der bisherigen Hörspiel- und Hörbuch-Forschung nicht berücksichtigt worden ist, obgleich es sich dabei um ein Desiderat handelt. Sowohl in deutschsprachigen Texten vor der Entstehung des Konzepts der Mutter-/ Einsprachigkeit als auch nach dessen Eta‐ blierung sowie im Kontext aktuellerer migrationskultureller Sprachentwicklungen können mehr- und fremdsprachige Elemente als wichtiges und spezifisches Mitteilungselement beschrieben werden. Die literatur- und kulturwissenschaftliche Aufarbeitung des Phäno‐ mens muss freilich noch geleistet werden. Das trifft in besonderem Maße auf die mittels der Audiomedien Rundfunk und Hörbuch betriebenen Adaptionen sowie Weiterentwick‐ lungen der Mehr- und Fremdsprachigkeit zu. Vor allem in Bezug auf die Aspekte der ›bin‐ nensprachlichen Mehrsprachigkeit‹, wie sie durch den Einsatz dialektalen Sprechens, durch bestimmte Akzente und sprechtechnische Stilisierungen entstehen, lässt sich eine Fülle an Audio-Material ausmachen, welches diesbezüglich zu erschließen und sowohl systematisch V. 5. Hörspiel/ Hörbuch 317 <?page no="318"?> als auch historisch zu analysieren wäre. Ferner ist die poetologische Dimension dieser un‐ terschiedlichen Formen der Mehr- und Fremdsprachigkeit in der akustischen Inszenierung von Literatur als Lesung und als Hörspiel zu erörtern. Literatur Androutsopoulos, Jannis, »Ethnolektale Entwicklungen im Sprachgebrauch Jugendlicher«, in: Peter Wiesinger (Hrsg.), Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien, Frankfurt/ M. 3 2000, S. 257-262. 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Film Claude Kremer a) Gegenstand Mit Sicherheit lässt sich nicht sagen, wann der erste mehrsprachige Film in die Kinos kam, denn erste mehrsprachige Elemente findet man bereits in Stummfilmen, wie z. B. die Über‐ blendung eines französischen Zeitungsartikels zur englischen Übersetzung in T HE F O U R H O R S EMEN O F THE A P O CAL Y P S E aus dem Jahre 1921. 39 Allerdings gilt auch: »[W]hat’s usually of interest to us when we try to track the history of film forms is not the first time something is done but the moment when it becomes recognized as an active option. It stands forth as a strategy that can be copied, standardized, and revised.« 40 Dieser Punkt ist sicherlich mit dem Aufkommen des Tonfilms in den 1930er Jahren erreicht. Eine starke Zuwanderung europäischer Filmschaffender nach Hollywood in den Zwischenkriegsjahren hat die dortige Filmgemeinschaft deutlich internationalisiert, und Darstellungen des Ersten Weltkriegs, wie z. B. Howard Hughes’ H E LL ’ S A NG E L S von 1930, 41 setzen bereits mehrere Sprachen ein. Auf Grund der identitätsstiftenden Wirkung von Sprache bieten Kriegsfilme, in denen Gegner aus unterschiedlichen Sprachgemeinschaften aufeinandertreffen, ideale Voraus‐ setzungen, um Mehrsprachigkeit einzusetzen. Spätestens mit der filmischen Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs ist die Mehrsprachigkeit dann aus dem Kriegsfilm nicht mehr weg‐ zudenken. Die Gesellschaft verändert sich nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schnell, und mit ihr die Filmlandschaft. Größere Mobilität und transportierbares Material verlagern die Dreh‐ orte aus den Studios heraus und erlauben Produktionen an den verschiedensten Orten der Welt. Agentenfilme wie die James Bond-Reihe oder Abenteuerfilme wie L’ HOMME DE R IO 4 2 treten auf den Plan und profitieren ebenso vom exotischen und kosmopolitischen Charakter der Drehorte wie von den dort verwendeten Sprachen. Die Filme erwecken die Reiselust einer Gesellschaft, die zunehmend die Mittel für diese Freizeitbeschäftigung hat, und infolge davon wird der internationale Jet Set auch selbst zum Thema vieler Filme. 43 Ab Mitte der 1960er Jahre verlagern sich Produktionen für den lokalen Markt ins Fernsehen, und das Kino sieht sich angesichts dieser neuen Konkurrenz gezwungen seine Marktanteile durch andere Mittel zu erhalten. Die Filme werden für ein breiteres Publikum geschrieben und ihr Vertrieb internationalisiert. Produktionsfirmen aus Amerika drehen Filme in Europa 44 <?page no="322"?> 45 David Bordwell, »No coincidence, no story«. Online unter: http: / / www.davidbordwell.net/ blog/ 2010/ 08/ 26/ no-coincidence-no-story/ (Stand: 31. 3. 2016). und internationale Filmfestspiele bieten Plattformen, auf denen man Filme aus aller Herren Länder entdecken kann. Das definitive Ende des Studiosystems beschleunigt die Entstehung unabhängiger Studios, wodurch auch außergewöhnlichere Filme in den Kinos gezeigt werden, die mit den gängigen Konventionen der Zeit brechen. Die Globalisierung, die die Berührung mit anderen Sprachen verstärkt, und die ständige Weiterentwicklung von Gen‐ rekonventionen führen schließlich dazu, dass der Sprachgebrauch in den Filmen immer weniger auf Stereotypen aufbaut (Bleichenbacher, Multilingualism in the Movies, 219-222). b) Grundproblematik Kaum möglich ist es, im Rahmen dieses Beitrags einen Überblick über die Mehrsprachigkeit in der gesamten Filmgeschichte zu geben. Das Korpus beschränkt sich daher bis auf einige wenige Ausnahmen auf das nordamerikanische und europäische Kino, wobei die Beispiele hauptsächlich der Veranschaulichung dienen. Sie sind keineswegs die einzigen, in denen die im Folgenden beschriebenen Verfahren filmischer Mehrsprachigkeit zur Anwendung kommen. Filmische Erzählung steht in einem künstlerischen Verhältnis zur außerfilmischen Wirk‐ lichkeit und bedient sich ihrer, um Geschichten zu erzählen. Die möglichen Erzählwelten und die darin stattfindende Handlung werden von Produzenten und Rezipienten im jewei‐ ligen kulturellen und genrespezifischen Kontext bestimmt. Was in einem indischen Bolly‐ woodfilm plausibel erscheint, muss nicht notwendigerweise auch für einen amerikanischen Actionfilm gelten. Obwohl Wahrscheinlichkeit und Plausibilität für den Zusammenhalt einer sinnhaften Erzählung unerlässlich sind, 45 darf man nicht vergessen, dass es sich bei Spielfilmen um fiktionale Erzählungen handelt und dass die Gesetzmäßigkeiten der Erzäh‐ lung generell Vorrang gegenüber der Wirklichkeit haben. Trotz diverser Einschränkungen durch äußere und innere Faktoren wie z. B. Zielpublikum, Sprachen in der Vorlage, Vor‐ gaben durch Handlungsort oder Figuren, behalten die Filmemacher einen gewissen Spiel‐ raum, wenn es darum geht, zu entscheiden, welche Sprachen in einem Film vorkommen und welche Funktionen diese im Rahmen der Handlung einnehmen. Da ihnen grundsätzlich die Option offensteht, einen einsprachigen Film zu drehen, signalisiert der Einsatz von mehreren Sprachen in einem Film, dass hier gegenüber anderen Mitteln mehr oder anderes erreicht werden kann. Es gibt verschiedene Ebenen der filmischen Mehrsprachigkeit, die man nach Graden der expliziten und impliziten Mehrsprachigkeit aufteilen kann, angefangen bei solchen, in denen alle Sprachen, die in der Handlung vorkommen, gesprochen werden, bis hin zu Filmen, in denen die vorkommenden Sprachen übersetzt werden. Die Taxonomie von Lukas Bleichenbacher verschafft einen guten Überblick über die möglichen Fälle (Bleichenba‐ cher, Multilingualism in the Movies, 24; vgl. das Schema in V.7). In Filmen, in denen die Sprachen übersetzt werden, hören die Zuschauer nur eine Sprache, obwohl die Figuren nicht notwendigerweise alle die gleiche Sprache sprechen. In manchen Fällen wird die ei‐ gentliche Sprache durch Namen und Anreden oder besonders ausgeprägte Akzente ange‐ Claude Kremer 322 <?page no="323"?> 46 T H E H U N T F O R R E D O C T O B E R . USA 1990; J U D G E M E N T A T N U R E M B E R G . USA 1961. 47 G O O D M O R N I N G V I E T N A M . USA 1987. 48 G E R M A N I A A N N O Z E R O . ITA 1948. 49 Voraktivierung, priming: oft unbewusste Aktivierung bestimmter Assoziationen; damit wird die Wahrnehmung, das Gedächtnis oder die Reaktion in bestimmter Weise empfänglich gemacht (David G. Myers, Psychologie, Berlin 2014, S. 901). deutet, in anderen Fällen wird versucht den Wechsel zu einer einzigen Sprache mit erzäh‐ lerischen oder stilistischen Mitteln zu rechtfertigen. 46 Sprache kann sowohl visuell als auch akustisch in Filmen vorkommen und dabei sowohl als Teil des Settings als auch als Teil der Handlung eines Films eine Rolle spielen. Das Setting ist Teil der Mise-en-Scène eines Films und umfasst den sichtbaren Hintergrund sowie die Requisiten. Als linguistisches Setting kann man die sprachliche Landschaft einschließlich der Geräuschkulisse und aller Requisiten, die mit Sprache zu tun haben, bezeichnen. Ge‐ schriebene Sprache findet man hauptsächlich in Form von Hinweis- oder Ladenschildern, Plakaten, oder in Zeitungen, Notizen, intradiegetischen Untertiteln, 47 auf Schultafeln etc. Die Relevanz des schriftsprachlichen Settings für den Handlungsverlauf ist sehr unter‐ schiedlich und hängt davon ab, wie die Figuren damit interagieren. In allen Fällen trägt sie jedoch zur Gesamtstimmung des Films bei. Je detailreicher und naturgetreuer das Setting die Stimmung des jeweiligen Ortes der Handlung wiedergibt, umso glaubwürdiger wird die Handlung für die Zuschauer. Wenn Figuren sich an Orten wiederfinden, in denen eine andere Sprache gesprochen wird, ist es durchaus plausibel, dass sich im Hintergrund Wörter und Schriftzeichen in dieser Sprache befinden. Insbesondere dann, wenn diese Sprachen in anderen Alphabeten oder Schriftzeichen geschrieben sind, als es der Zuschauer gewohnt ist, können die mit den Zeichen verbundenen Konnotationen eine Rolle spielen. Das lin‐ guistische Setting kann wichtige Hinweise für den Handlungsverlauf liefern, indem es dem Zuschauer die Orientierung in Raum und Zeit erleichtert oder Figuren charakterisiert. So erinnern deutschsprachige Plakate und Hinweistafeln den Zuschauer in G E RMANIA A NNO Z E R O 4 8 daran, dass die Handlung in Berlin spielt, obwohl im Film Italienisch gesprochen wird. Die sprachliche Einbettung bleibt auch bei synchronisierten Fassungen erhalten und ist in manchen Fällen so relevant für die Handlung, dass Teile davon untertitelt werden. Da viele dieser Zeichen im Hintergrund bleiben, ist ihre Wirkung eher implizit. Solche Pri‐ mingeffekte 49 tragen zur Stimmung des Films bei, indem sie Assoziationen zum Fremden und Andersartigen aktivieren und die Zuschauer darauf vorbereiten, dass die Dinge in dieser Umgebung möglicherweise etwas anders als gewohnt ablaufen. Dieser Effekt funk‐ tioniert unabhängig davon, ob die Zuschauer perfekt verstehen, was in der anderen Sprache ausgedrückt wurde, oder ob die Sätze und Zeichen grammatikalisch und orthographisch korrekt sind, ja sogar, ob sie überhaupt einen Sinn ergeben. Obwohl Film eher als visuelles Medium verstanden wird, taucht Sprache vorwiegend in gesprochener Form auf. Dabei können Sprachen in unterschiedlichen Konstellationen auf‐ einandertreffen. Eine einsprachige Figur kann ebenso auf eine anderssprachige wie auch auf eine mehrsprachige Figur treffen, die auch die eigene Sprache spricht, oder auf eine mehrsprachige Figur, die ihre Sprache nicht spricht. Mehrsprachige Figuren können auf andere mehrsprachige Figuren treffen und sich untereinander in ihrer Muttersprache un‐ terhalten, eine Sprache sprechen, die entweder für eine der Figuren eine Fremdsprache ist V. 6. Film 323 <?page no="324"?> 50 H E L L I N T H E P A C I F I C . USA 1968; T H E G O D S M U S T B E C R A Z Y . BWA/ ZAF 1980. 51 S T A R W A R S . USA 1977; O C E A N ’ S E L E V E N . USA 2001; H A S T A L A V I S T A . BEL 2011. 52 M I D N I G H T I N P A R I S . ESP/ USA/ FRA 2011. 53 T H E 13 T H W A R R I O R . USA 1999. 54 H I T C H H I K E R ’ S G U I D E T O T H E G A L A X Y . USA/ UK 2005. oder für beide. Mehrsprachige Filme, die ohne mehrsprachige Figuren auskommen, sind sehr selten. 50 Darüber hinaus gibt es Figuren, die mehrere Sprachen verstehen, aber aus den verschiedensten Gründen nur eine Sprache sprechen. 51 Sprachen müssen zudem nicht an eine Figur gebunden sein, sondern können als Tonbandaufnahme, Lautsprecherdurchsage, im Radio, Fernsehen und Film, als Gespräch oder Geräusch im Hintergrund, intradiegeti‐ sche Musik auf Band oder live auftauchen. Auch für die gesprochene Sprache kann das Andersartige der Sprache bereits zur Stimmung des Films beitragen. Gesprochene Sprache, als Hauptträger der Mehrsprachigkeit, erfüllt den Großteil der Erzählfunktionen der Mehr‐ sprachigkeit. Die Gründe hierfür liegen im Medium selbst. Durch die allgemeine Abwe‐ senheit einer beschreibenden Erzählerstimme unterscheidet sich Film wesentlich von der Literatur. Tendenziell lässt sich sagen, dass im Film konkretere Mittel eingesetzt werden, um eine Figur als Mitglied einer Sprachgemeinschaft zu charakterisieren. Zu diesem Zweck reicht es, wenn eine Figur ein paar Worte in der jeweiligen Sprache spricht. Hierdurch werden mehrsprachige Elemente notwendigerweise häufiger in audiovisuelle und darstel‐ lende Medien eingebaut. Dadurch, dass die akustische Umsetzung der verschiedenen Spra‐ chen vom Medium übernommen wird, müssen die Zuschauer/ -hörer nicht, wie die Leser, die fremden Zeichen selbst entziffern und interpretieren, sondern sind ihrem Klang ohne großen Aufwand unmittelbar ausgesetzt. Gegenüber der Literatur befördert dieser Unter‐ schied den Einsatz einer wesentlich breiteren Palette an mehrsprachigen Elementen und erklärt möglicherweise auch, warum Mehrsprachigkeit im Film erst mit dem Aufkommen des Tonfilms größere Verbreitung fand. c) Verfahren Sprache ist das Hauptverständigungsmittel der Figuren in einem Film und entsprechend viel hängt davon ab, ob die Figuren einander und ob die Zuschauer die Figuren verstehen können. Ein perfektes sprachliches Verstehen der Figurenrede ist jedoch nicht immer not‐ wendig, um der Handlung folgen zu können. Je nach Wichtigkeit der Figur kann selbst Figurenrede zum sprachlichen Hintergrund gehören und mehr zur Gesamtstimmung als zur eigentlichen Handlung beitragen. In manchen Fällen ist das Verständnis einer Fremd‐ sprache unmittelbar an eine Figur gekoppelt. Das mehrsprachige Umfeld im Paris der Zwanziger Jahre, das in M IDNIGHT IN P AR I S 5 2 im Mittelpunkt steht, bleibt ohne Untertitel, weil die Hauptfigur die Sprachen nicht versteht. Obwohl manche Passagen von anderen Figuren gedolmetscht werden, liegt die Hauptfunktion in der ästhetischen Darbietung der Klangqualität der verschiedenen Sprachen. In T HE 13 T H W AR R IO R 5 3 wird die Sprache der Wikinger nach und nach ins Englische übersetzt, um den Lernprozess der Hauptfigur zu veranschaulichen, und im H ITCHHIK E R ’ S G UID E TO THE G ALAXY 5 4 wird das Vogonische mit dem Einsetzen eines Babelfisches gleichzeitig für die Hauptfigur und die Zuschauer ver‐ ständlich. Auf der Figurenebene schaffen sprachliche Unterschiede ein Bewusstsein für das Claude Kremer 324 <?page no="325"?> 55 D I E H A R D . USA 1988; T R U E L I E S . USA 1994. 56 R U S H H O U R . USA 1998; B O N C O P , B A D C O P . CAN 2006. 57 H E L L I N T H E P A C I F I C . USA 1968; J O Y E U X N O Ë L . FRA/ DEU/ GBR 2005. 58 B A B E L . FRA/ USA/ MEX 2006. 59 O T T O E M E Z Z O . ITA 1963; À B O U T D E S O U F F L E . FRA 1960; L ’ A U B E R G E E S P A G N O L E . FRA/ ESP 2002. 60 I N G L O U R I O U S B A S T E R D S . USA/ DEU 2009; H U N T F O R R E D O C T O B E R . USA 1990. 61 V I A G G I O I N I T A L I A . ITA/ FRA 1954; L O V E A C T U A L L Y . GBR 2003; L O S T I N T R A N S L A T I O N . USA/ JAP 2003. 62 Vgl. Claudia Maria Riehl, Mehrsprachigkeit. Eine Einführung, Darmstadt 2014, S. 14. 63 T H E F I F T H E L E M E N T . FRA 1997. Andere und führen (bewusst oder unbewusst) zu einer Aufteilung nach sprachlichen Gruppen. Sprache wird hierdurch zu einem eleganten und effizienten Mittel, um kulturelle Differenzen darzustellen. Diese Differenzen sind z. T. integraler Bestandteil der Konventi‐ onen bestimmter Filmgenres, die vor allem im amerikanischen Kino eine große Rolle spielen (vgl. Bordwell/ Thompson, Film Art, 328-348). In amerikanischen Actionfilmen z. B. gibt es oft eine Gruppe internationaler Terroristen, deren Fremdsprachengebrauch sie zusätzlich vom amerikanischen Helden abgrenzt. 55 Im Genre der ›Buddy Cop Comedy‹ werden die persönlichen und kulturellen Unterschiede zwischen den Hauptfiguren mit Hilfe der Spra‐ chen zusätzlich verschärft. 56 In Kriegsfilmen helfen Sprachen und Dialekte, die beteiligten Parteien zu charakterisieren und klarer voneinander zu trennen. Filme, in denen zwei ver‐ feindete Gruppen, freiwillig oder gezwungen, miteinander kooperieren, heben durch den Einsatz verschiedener Sprachen den Ausnahmecharakter dieser Situation hervor. 57 Filme wie B AB E L 5 8 machen sich dieses Prinzip zu Nutze, um zu zeigen, dass die Schicksale der Menschen, trotz verschiedener Sprachen, im Grunde genommen sehr ähnlich sein können. Mehrsprachigkeit kann letzten Endes auch als unproblematischer Teil des jeweiligen sozi‐ alen Umfelds dargestellt werden. 59 Je nachdem, welche Rolle Sprachen im Film einnehmen und ob Einsprachigkeit als Norm dargestellt wird, können mehrsprachige Figuren, unab‐ hängig davon, ob der Zuschauer sie versteht oder nicht, besonders kompetent wirken 60 - und einsprachige Figuren im Gegenzug dazu in manchen Situationen schnell hilflos. 61 Die unmittelbare Nachvollziehbarkeit dieser Hilflosigkeit angesichts fremder Sprachen macht dieses Mittel sehr effizient. Muttersprachliche Kompetenz in mehr als einer Sprache gilt als Ausnahme, 62 was für Figuren, die mehrere Sprachen akzentfrei sprechen oder eine Hochbzw. Prestigesprache oder eine situationsrelevante Sprache perfekt beherrschen, bedeuten kann, dass sie insgesamt souveräner erscheinen. Figuren, die die gleiche Sprache oder mit dem gleichen Akzent sprechen wie die Zuschauer, kommen diesen mit einiger Wahrschein‐ lichkeit sympathisch vor. Die Filme unterscheiden sich auch nach der Art von Sprache, die sie einsetzen. Natürliche Sprachen, die auch heute noch gesprochen werden, machen den überwiegenden Teil der vorkommenden Sprachen aus. Man kann hier davon ausgehen, dass ein Teil der Zuschauer in der Lage ist, Dialoge in diesen Sprachen zu verstehen. Hierzu zählen Dialekte, Soziolekte und Gebärdensprachen. Bei sog. ›toten‹ Sprachen, wie z. B. dem Latein, dem Altgriechi‐ schen oder im Falle von Hieroglyphen, ist es wahrscheinlich, dass nur ein geringer Teil der Zuschauer diese Sprachen versteht. Diese Sprachen werden häufig als Hindernis für den weiteren Verlauf der Handlung eingesetzt, das durch die Sprachkompetenz einer der Fi‐ guren überwunden werden kann. 63 So erlauben es Indiana Jones seine Lateinkenntnisse, V. 6. Film 325 <?page no="326"?> 64 R A I D E R S O F T H E L O S T A R K . USA 1981. 65 S T A R W A R S . USA 1977. 66 A V A T A R . UK/ USA 2009. 67 L O R D O F T H E R I N G S T H E F E L L O W S H I P O F T H E R I N G . NZL/ USA 2001. 68 C L O S E E N C O U N T E R S O F T H E T H I R D K I N D . USA 1977. 69 T I N K E R , T A Y L O R , S O L D I E R , S P Y . FRA/ GBR/ DEU 2011. 70 I N G L O U R I O U S B A S T E R D S . USA/ DEU 2009. 71 H E L L I N T H E P A C I F I C . USA 1968. 72 François Truffaut, Hitchcock, New York 1984, S. 73. die antiken Artefakte in R AID E R S O F THE L O S T A R K 6 4 zu entziffern. Es handelt sich gewöhn‐ lich um Prestigesprachen. In Science-Fiction oder Fantasyfilmen können fiktionale Spra‐ chen auftauchen. Sie verleihen den Filmen ein gewisses exotisches Lokalkolorit und lassen die Filmwelt damit lebendiger wirken. In den Fällen, in denen die Laute über sinnloses Grunzen 65 hinausgehen, können sie das Werk eines begeisterten Linguisten sein, wie im Falle von J. R. R. Tolkien, oder das Ergebnis von Auftragsarbeiten wie im Falle von A VATAR . 6 6 Fiktionale Sprachen können ebenfalls die Handlung weitertreiben 67 oder als Ziel der Hand‐ lung fungieren, wie im Falle von C LO S E E NC O UNT E R S O F THE T HI R D K IND . 6 8 In diesem oh‐ nehin schon mehrsprachigen Film wird Musik als Sprache eingesetzt, um mittels einer bestimmten Tonfolge mit Außerirdischen zu kommunizieren. Sofern es überhaupt möglich ist, haben die Zuschauer in den genannten Fällen nur einen leichten Vorteil, wenn sie alle Sprachen verstehen. Wenn das Verständnis fremder Sprachen jedoch unerlässlich für das Verständnis der Handlung ist, werden meistens Untertitel eingesetzt, um die Informati‐ onsverteilung zu Gunsten des Zuschauers auszugleichen. Solche Untertitel sorgen dafür, dass die Zuschauer mindestens genauso viel vom Gesprochenen verstehen, wie die Figuren selbst; in vielen Fällen wissen sie durch die Untertitel sogar deutlich mehr als alle handeln‐ den Figuren. Je nach erwünschtem Effekt haben fremdsprachige Sequenzen in der Kino‐ fassung entweder durchgehend, 69 nur in bestimmten Situationen 70 oder gar keine Unter‐ titel. 71 Durch den Einsatz von extradiegetischen Untertiteln entsteht eine besondere Form der visuellen Mehrsprachigkeit. Die Kombination von Mehrsprachigkeit und Untertiteln erlaubt es den Filmemachern zu bestimmen, wie sich das Wissen der Zuschauer vom Wissen der Figuren unterscheidet (Bordwell/ Thompson, Film Art, 97). Wenn der Film den Zuschauern mehrere Sprachen ver‐ ständlich macht, verfügen sie womöglich über Informationen, die den Figuren unbekannt sind. Eine solche Asymmetrie kann Spannung erzeugen, wie sie Alfred Hitchcock im Ge‐ spräch mit François Truffaut beschreibt. Hitchcock verhandelt hier die beiden Begriffe ›Surprise‹ und ›Suspense‹, indem er eine Szene beschreibt, in der zwei Figuren um einen Tisch sitzen, unter dem eine Bombe liegt. Surprise entsteht, wenn die Bombe ohne das Wissen der Zuschauer plötzlich hochgeht. Suspense wird dadurch erzeugt, dass die Zu‐ schauer im Gegensatz zu den Figuren wissen, dass eine Bombe unter dem Tisch liegt und wann sie explodieren wird. Während der gesamten Szene gilt ihre ganze Aufmerksamkeit so der Frage, ob die Figuren es rechtzeitig merken. 72 Im Falle der Mehrsprachigkeit müssen die Zuschauer wissen, welche Figuren welche Sprachen verstehen, damit sie nachvollziehen können, wer zu einem gegebenen Zeitpunkt über welche Informationen verfügt. Wie man mit Hilfe von Mehrsprachigkeit Suspense herstellt, kann man an Hand der Anfangssequenz von I NG LO U R IOU S B A S T E R D S veranschaulichen. Ein mehrsprachiger Nazi‐ Claude Kremer 326 <?page no="327"?> 73 L A V I T A È B E L L A . ITA 1997. 74 L A G R A N D E V A D R O U I L L E . FRA 1966. 75 T H I R T E E N D A Y S . USA 2000. 76 L O S T I N T R A N S L A T I O N . USA/ JAP 2003. 77 H E L L I N T H E P A C I F I C . USA 1968. offizier besucht einen mehrsprachigen französischen Bauern, der eine jüdische Familie unter seinem Haus versteckt. Die Unterredung beginnt auf Französisch, das von den Juden verstanden wird, und wechselt ins Englische, die Hauptsprache des Films, das von ihnen nicht verstanden wird. Durch den Sprachwechsel sind die Zuschauer in der Lage, den Verrat auf Englisch zu verstehen, und wissen dadurch mehr, als die versteckten Juden. Die Zu‐ schauer verstehen, dass die Lage der Juden sich mit jeder Minute, die sie warten, weiter verschlechtert, und warten so gespannt auf den Ausgang der Situation. Statt einer kurzen, überraschenden Schießerei erlebt man eine minutenlange Nervenprobe. In ähnlicher Weise beruht die Spannung, die der zweiten Hälfte von L A VITA È B E LLA 7 3 zu Grunde liegt, auch auf einer asymmetrischen Informationsverteilung, die mittels Mehrsprachigkeit erzeugt wird. Bei der Ankunft im Lager sollen den Insassen, zu denen auch die Hauptfigur Guido und ihr Sohn gehören, die Lagerregeln erklärt werden. Ein einsprachiger deutscher Soldat benötigt hierfür einen Übersetzer, den er unter den Insassen zu finden hofft. Um zu ver‐ hindern, dass sein Sohn die schmerzhafte Wahrheit über das Konzentrationslager durch einen kompetenten Übersetzer erfährt, meldet sich der einsprachige Guido freiwillig als Übersetzer und erfindet kurzerhand ein Spiel, bei dem man sich an gewisse Regeln halten muss, um zu gewinnen, anstatt die Erläuterungen des Soldaten korrekt zu übersetzen. Weder der deutsche Soldat, noch Guidos Sohn sind in der Lage, die falsche Übersetzung als solche zu erkennen. Aufgrund der Untertitel sind die Zuschauer sich der tragischen Komik der Situation bewusst und wissen genau, welche Rollen die einzelnen Figuren in dieser Lügengeschichte spielen, so dass jede Situation, in der sie aufzufliegen droht, zusätzliche Spannung erzeugt. In manchen Fällen lässt sich eine solche latente Spannung auch ohne Untertitel erzeugen. Die Hauptfiguren in L A G RAND E V AD R O UILL E 7 4 sind während des Films in Frankreich auf der Flucht vor den Deutschen. An mehreren Stellen geben sie vor, zu einer Sprachgruppe zu gehören, deren Sprache sie nicht sprechen: ein englischer Soldat reist im Zug als Franzose, Franzosen und Engländer verkleiden sich als deutsche Soldaten. Die la‐ tente Spannung rührt daher, dass sie bei jeder Begegnung mit einem Sprecher der anderen Sprache Gefahr laufen, bloßgestellt zu werden. Dolmetscher erlauben es einem Film ebenfalls ohne Untertitel auszukommen und den‐ noch die Möglichkeiten der Mehrsprachigkeit auszuschöpfen, sei es um die Spannung hi‐ nauszuzögern, wie in der UN -Debatte zwischen Amerikanern und Russen in T HI R T E E N D AY S , 75 oder um die Verwirrung und Hilflosigkeit der Figuren zu verdeutlichen, wie bei den viel zu knappen Übersetzungen der Regieanweisungen in L O S T IN T RAN S LATION . 76 Der Wunsch zu verstehen und verstanden zu werden trägt maßgeblich zur Spannung bei und kann sogar zum Hauptmotiv eines Films werden. H E LL IN THE P ACI F IC 7 7 erzählt die Ge‐ schichte eines amerikanischen und eines japanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, die beide die Sprache des anderen nicht sprechen und trotzdem zusammenarbeiten müssen, um die Insel, auf der sie gestrandet sind, verlassen zu können. Das latente Misstrauen ge‐ V. 6. Film 327 <?page no="328"?> 78 X-M E N : F I R S T C L A S S . USA 2011; B O N C O P , B A D C O P . CAN 2006. 79 W I N D T A L K E R S . USA 2002. 80 R E V E N A N T . USA 2015. 81 T H E G O D S M U S T B E C R A Z Y BWA/ ZAF 1980. genüber der anderen Sprachgruppe und die allgemeine Unsicherheit hinsichtlich der Auf‐ richtigkeit des anderen erzeugt zusätzliche Spannung. d) Schlussbemerkungen Mehrsprachigkeit in Filmen hat sich seit ihren Anfängen kontinuierlich weiterverbreitet. Interessanterweise ist sie nicht auf sog. ›ernste‹ Filme beschränkt, sondern kommt quer durch alle Filmgenres und selbst in großen Hollywoodblockbustern oder reinen Unterhal‐ tungsfilmen vor. 78 Mehrsprachigkeit bringt in Filmen eine Reihe von Vorteilen mit sich, die man durch andere Mittel nur schwer erreichen könnte. Die Tatsache, dass die darstellende Ebene vom Medium selbst abgedeckt wird, erleichtert selbst den Einsatz von eher unbe‐ kannten Sprachen wie Navajo, 79 Pawnee 80 oder Jul’hoan. 81 Angesichts der ausgedehnten Bandbreite der Mehrsprachigkeit stellt letzten Endes jeder einzelne Film einen Spezialfall dar, den es zu analysieren gilt. Literatur Bleichenbacher, Lukas, Multilingualism in the Movies. Hollywood Characters and their Language Choices, Tübingen 2008. Bordwell, David/ Kristin Thompson, Film Art. An Introduction, New York 2010. Claude Kremer 328 <?page no="329"?> 7. Fernsehen Rolf Parr a) Gegenstand Bei der Rede von ›Fernsehen‹ ist zu unterscheiden in erstens die technische Apparatur (den Fernseher), zweitens das Dispositiv Fernsehen mit Sendeanstalten, technischer Infra‐ struktur, politischen Kontrollgremien und drittens das Fernseh-Programm mit den ver‐ schiedenen Formaten und einzelnen Sendungen. Sieht man auf der Ebene der Apparatur von DVD - und Blu-Ray-Playern als solchen technischen Erweiterungen des Fernsehens einmal ab, die eine Rezeption von Filmen in verschiedenen Sprachen ermöglichen, dann sind für die Frage der Mehrsprachigkeit v. a. die zweite und dritte Ebene relevant. Dabei hat man es auf derjenigen des Dispositivs ›Fernsehen‹ in der Regel mit akkumulierenden Formen der Institutionalisierung von Mehrsprachigkeit zu tun, bei denen verschiedene Sprachen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten im Programm neben- oder auch nacheinander stehen. So zeichnet sich ein Sender wie ARTE beispielsweise durch sein parallel oder auch zeitlich versetzt in deutscher und französischer Sprache ausgestrahltes Programm aus, was Oliver Hahn als »separate« bzw. »parallele (interlineare) Multilingu‐ alität« bezeichnet hat: »Mit separater Multilingualität […] ist eine getrennte Sprachenver‐ teilung in unterschiedlichen Sendesprachversionen bei gleicher visuellsprachlicher Pro‐ gramm-Basis gemeint«. Dabei muss die »verbalsprachliche Betextung« des Bild- und Tonmaterials »in den einzelnen Sendesprachversionen unterschiedlich viele Informationen transportieren, um ein fernsehjournalistisches Thema jeweils angemessen aufzubereiten«. Demgegenüber versteht Hahn unter »paralleler (interlinearer) Multilingualität« die »ne‐ beneinander verlaufende Sprachenverteilung in einer einzigen gemeinsamen Sendesprach‐ version mit einer gemeinsamen visuellsprachlichen Programm-Basis«. Für die »Rezipienten unterschiedlicher (sprach-) kultureller Herkunft […] werden nebeneinander un‐ terschiedliche Sendesprachen zu den jeweils selben Bildern von unterschiedlichen Fern‐ sehjournalisten als ›native speaker‹ mit relativem Bezug aufeinander eingesetzt« (Hahn, Arte - der europäische Kulturkanal, 123 f.). Solche Formen der akkumulativen Mehrspra‐ chigkeit auf Ebene der Sender bzw. des Dispositivs ›Fernsehen‹ betreffen aber eher die Präsentationsformen sowie An- und Abmoderationen (vgl., ebd., 196-198) denn ›literatur‐ nahe‹, fiktional-erzählende filmische Genres. Integrative Mehrsprachigkeit dagegen kommt meist erst auf der Ebene einzelner Sende‐ formate und Sendungen zum Tragen. Im Folgenden werden daher solche ›literaturnahen‹ fiktionalen Fernsehnarrationen in den Blick genommen, die im Sinne eines medial erwei‐ terten Literaturbegriffs als ›mehrsprachige Literatur‹ verstanden werden können. Ausge‐ spart bleiben Nachrichten-, Magazin- und Dokumentationssendungen sowie Hybridfor‐ mate. <?page no="330"?> b) Grundproblematik Als Grundproblematik von Multilingualität in literaturnahen Fernsehsendungen stellt sich - ganz anders als für das Kino - die Frage: Wie lässt sich Mehrsprachigkeit in allen ihren Formen von Sprachmischung und Sprachwechsel (zur Unterscheidung von Sprach‐ wechsel und Sprachmischung sowie von manifester und latenter Mehrsprachigkeit vgl. Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 53) bis hin zu Code-Switching in der je konkreten filmischen Textur so realisieren, dass auch diejenigen Zuschauer, die nur eine oder vielleicht gar keine der benutzten Sprachen verstehen, der Sendung bzw. Serie dennoch problemlos folgen können? Und wie kann man im Idealfall erreichen, dass die nicht-polyglotten Zu‐ schauer darüber hinaus in der Lage sind, die über die jeweiligen Sprachen erfolgenden Semantisierungen von Figuren bzw. Charakteren (vgl. dazu Bleichenbacher, Multilingua‐ lism in the Movies), von Gruppen und Ethnien sowie filmischen Räumen - verstanden im weiten semiologischen Sinne Jurij M. Lotmans (Die Struktur literarischer Texte, 311-329) - nachzuvollziehen? Denn gerade der Übergang von sprachlichen Differenzierungen zu räumlichen und zu kulturellen Differenzen ist wichtig, da darüber Identitäten ebenso wie stereotype Attribute konstruiert werden. Diese Ausgangsproblematik wird noch einmal komplexer, wenn man sich erstens klar‐ macht, dass man es beim Fernsehen mit einem multikodalen Medium zu tun hat, kann Mehrsprachigkeit im Fernsehen doch ebenso hörbar wie sichtbar gemacht werden, auch gleichzeitig, was sich bei geteiltem Bildschirm und/ oder der Gleichzeitigkeit von Sprache und Sound noch einmal vervielfacht, und zweitens vor Augen führt, dass Mehrsprachigkeit in Fernsehfilmen vielfach nicht analog zur Verteilung der Sprachkompetenzen der Figuren realisiert wird, sondern dass paradoxe Formen von Positionstausch in Kauf genommen werden, um auch einem nicht-polyglotten Publikum das Verstehen zu ermöglichen, ohne aber auf Mehrsprachigkeit zu verzichten. Das fällt in der Regel kaum auf, wenn der Rahmen der Mehrsprachigkeit bereits zu Beginn einer Sendung hinreichend deutlich gemacht wird. Von daher ist es auch durchaus möglich, in einer nachfolgenden Sequenz wieder zu einer anderen Verteilung der Sprachen und Sprechenden überzugehen. c) Verfahren der Präsentation von Mehrsprachigkeit im Fernsehen In seiner Untersuchung zur Multilingualität in Kinofilmen, die sich speziell für die Sprach‐ wahl der Charaktere interessiert, hat Lukas Bleichenbacher (Multilingualism in the Mo‐ vies, 24) für drei Dimensionen, nämlich erstens die Behandlung anderer Sprachen im Film, zweitens das Publikumsbewusstsein anderer Sprachen und drittens das Publikumsver‐ ständnis der über andere Sprachen vermittelten Inhalte, jeweils vier verschiedene Formen des Umgangs mit Fremdsprachlichkeit unterschieden: (a) die »Elimination«, d. h. Ersetzung der Fremdsprache durch eine unmarkierte Standardvarietät der Basissprache (was für Filme nichts anderes heißt als Vollsynchronisation in der Basissprache des Publikums), (b) die »Signalization« durch die Figuren, durch eine Erzählerfigur oder durch metalinguistische Kommentare, (c) die »Evocation«, beispielsweise das Sprechen mit Akzent, also das, was hier als simulierte Fremdsprachigkeit in der Basissprache bezeichnet wird, und (d) die »Presence«, d. h., die Fremdsprache wird nicht mehr ersetzt, sondern ist im Film selbst vorhanden (vgl. Abb. 1). Rolf Parr 330 <?page no="331"?> Abb. 1: A taxonomy of multilingualism in fictional texts, based on Mareš (Bleichenbacher, 24) Die sich daraus ergebende zweidimensionale Matrix macht zwar deutlich, dass man es bei der Frage der Mehrsprachigkeit filmischer Texturen mit Abstufungen in einem Kontinuum zwischen den Polen von ›Elimination‹ und ›Presence‹ zu tun hat, doch muss man diese Matrix für Mehrsprachigkeit im Fernsehen hinsichtlich der Vielzahl und der Bandbreite an eingesetzten Verfahren deutlich erweitern und ausdifferenzieren. Zudem geht es in vielen Fernsehformaten gerade nicht um ›Elimination‹, sondern um die doppelte Zielsetzung, Mehrsprachigkeit durchaus sichtbar und hörbar zu machen, aber zugleich eben auch ver‐ ständlich. (1) In der eigenen Sprache simulierte Mehrsprachigkeit. Eine generelle Lösung der Aus‐ gangsproblematik, einerseits Multilingualität im Fernsehen realisieren zu wollen, anderer‐ seits aber Verstehbarkeit auch für ein nicht-mehrsprachiges Publikum sicherstellen zu müssen, liegt darin, zwar punktuell mit Sprachwechseln und auch mit verschiedenen Formen der Sprachmischung zu arbeiten, dominant jedoch Multilingualität innerhalb der Basissprache in Form von als jeweils typisch für andere Sprachen erachteten Eigenheiten in Prosodie, Grammatik und Lexik zu simulieren und auf diese Weise Effekte von Mehr‐ sprachigkeit innerhalb der Basissprache zu erzielen. In Anlehnung an Jacques Derridas Überlegungen in »Die Einsprachigkeit des Anderen« könnte man sagen: ›Das Fernsehen spricht vielfach nicht in einer einzigen Sprache, wenn es nur in einer Sprache spricht.‹ (Derrida, »Die Einsprachigkeit des Anderen«, 154: »1. Man spricht immer nur eine einzige Sprache./ 2. Man spricht niemals eine einzige Sprache.«) Punktuell erlaubt dieses Verfahren der in der eigenen Sprache simulierten Mehrsprachigkeit es sogar, genuin fremdsprachliche Elemente einzubeziehen, etwa einzelne fremdsprachliche Wörter oder feststehende Rede‐ wendungen. Dadurch wird die simulierte Mehrsprachigkeit im Sinne einer »zusammen‐ führenden und vermittelnden Tätigkeit« (Radaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 15) zu einer Art von Übersetzung, die Mehrsprachigkeit realisiert und zugleich aufhebt. Der damit latent gegebene Widerspruch kann u. a. dadurch aufgefangen werden, dass eine Figur im Film die Funktion eines Übersetzers wahrnimmt. V. 7. Fernsehen 331 <?page no="332"?> Je nachdem wie latent oder manifest und v. a. in welcher Dichte solche Verfahren reali‐ siert werden, kann ein regelrechtes Stakkato des verständlichen Einbringens von Mehr‐ sprachigkeit in filmische Texturen entstehen. Im multikodalen Medium Film kann dies unterstützt werden durch mal parallele, mal aber auch durchaus gegenläufige Semantisie‐ rungen von Sprechern und Räumen (Beispiel: Simulation von Russisch in der Russendisko im erste