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Wortbildung im Deutschen

Aktuelle Perspektiven

1212
2016
978-3-8233-9019-0
978-3-8233-8019-1
Gunter Narr Verlag 
Elke Hentschel
10.2357/9783823390190
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Dieser Band gibt einen Überblick über den Stand der Forschung zur deutschen Wortbildung und damit über einen Aspekt der deutschen Grammatik, der in letzter Zeit eher wenig Beachtung gefunden hat. Der Blick auf den Gegenstand erfolgt dabei aus unterschiedlichen Perspektiven: Behandelt werden der aktuelle Sprachgebrauch, der historische wie der synchrone Sprachwandel, Sprachkontakt und Sprachvergleich mit indoeuropäischen wie nicht-indoeuropäischen Sprachen, und auch dialektologische Fragestellungen sowie die Rolle der Wortbildung im Bereich der Toponomastik. Die Berücksichtigung dieser höchst unterschiedlichen Gesichtspunkte führt insgesamt zu einem umfassenden Blick auf das Phänomen.

<?page no="0"?> Wortbildung im Deutschen Hentschel (Hrsg.) Wortbildung im Deutschen Elke Hentschel (Hrsg.) Dieser Sammelband gibt einen Überblick über den Stand der Forschung zur deutschen Wortbildung und damit über einen Aspekt der deutschen Grammatik, der in letzter Zeit eher wenig Beachtung gefunden hat. Der Blick auf den Gegenstand erfolgt dabei aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: So finden darin Beiträge zum aktuellen Sprachgebrauch, zum historischen wie zum synchronen Sprachwandel, zum Sprachkontakt und Sprachvergleich mit indoeuropäischen wie nichtindoeuropäischen Sprachen, und auch dialektologische Fragestellungen sowie Untersuchungen zur Rolle der Wortbildung im Bereich der Toponomastik ihren Platz. Die Berücksichtigung dieser höchst unterschiedlichen Gesichtspunkte führt insgesamt zu einem umfassenden Blick auf das Phänomen. ISBN 978-3-8233-8019-1 Aktuelle Perspektiven <?page no="1"?> Wortbildung im Deutschen <?page no="3"?> Elke Hentschel (Hrsg.) Wortbildung im Deutschen Aktuelle Perspektiven <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb. de abrufbar. Umschlagabbildung: © Enterline Design Services LLC Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISBN 978-3-8233-8019-1 <?page no="5"?> 5 Inhaltsverzeichnis Zu diesem Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 A Allgemeines Zwischen Verbalparadigma und Wortbildung Elke Hentschel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Der Einfluss von Sprachkontakt und Silbenstruktur auf die Wortbildung Roland Hofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 AQ + IS Jan-Henning Kromminga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Ist die Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen Argument für deren lexikalische Bildung? Peter Öhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 B Historisches Wissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster Nicolaus Janos Raag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller Rosemarie Lühr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 C Toponomastisches Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt: vom nichttoponymischen Sprachgebrauch abweichende Wortakzentverhältnisse This Fetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? David Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 <?page no="6"?> 6 D Dialektologisches Von Blätterchen und Bäumchen : Die Entwicklung der Plural-Diminutive und Diminutiv Plurale im Deutschen und Luxemburgischen Maike Edelhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel . Die Verwendung und Verbreitung des Fugens im Ostfränkischen Grit Nickel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 E Sprachvergleichendes Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen Korakoch Attaviriyanipap . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Konstruktionsmorphologie - echt top ? Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens . . . . . . . . . . . . . . . 280 Das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen mit trennbaren und untrennbaren Präfixen und die Äquivalente im Albanischen Vjosa Hamiti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Deutsche Substantivkomposita und ihre Entsprechungen im Albanischen Milote Sadiku & Sadije Rexhepi* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Stichwortverzeichnis <?page no="7"?> Zu diesem Band 7 Zu diesem Band Der vorliegende Sammelband möchte einen Überblick über den Stand der Forschung zur deutschen Wortbildung und damit in einem Bereich der deutschen Grammatik geben, der in den letzten Jahren eher wenig Beachtung gefunden hat. Dies erstaunt insofern, als es wohl kaum einen Aspekt der Morphologie des Deutschen gibt, der lebendiger ist und produktiver genutzt wird als die Wortbildung. Umso wichtiger scheint es, die aktuellen Ansätze in diesem Arbeitsgebiet in einem Sammelband zusammenzufassen. Der Blick auf den Gegenstand erfolgt dabei aus vier ganz unterschiedlichen Perspektiven, um so in der Summe ein möglichst umfassendes Bild zu ergeben. Vier Beiträge zu eher grundsätzlichen Fragestellungen bilden den unter „Allgemeines“ zusammengefassten ersten Teil des Bandes, in dem es um Grenzen zu Flexionsmorphologie und Syntax (Hentschel), um Sprachkontaktphänomene (Hofer), um Akronyme (Kromminga) und um die Deutung der Nominalisierungsprozesse bei Partikelverben geht (Öhl). Es folgen zwei Beiträge, die sich mit der Geschichte der Wortbildung befassen, indem sie Komposita in den Schriften Notkers III . von St. Gallen (Raag) sowie Abstrakta bei Schiller (Lühr) untersuchen. Auch toponomastischen sowie dialektologischen Aspekten sind je zwei Beiträge gewidmet: Zum einen geht es um spezifische Wortakzentverhältnisse bei Ortsnamen (Fetzer) und um neue Wörter als Grundlage für Flurnamen (Gerhardt), zum anderen um Diminutiva im luxemburgisch-moselfränkischen Übergangsgebiet (Edelhoff) und um das Fugens im Ostfränkischen (Nickel). Abgerundet wird die Behandlung des Themas durch vier Beiträge sprachvergleichender Art, in denen das Thailändische (Attaviriyanupap) und das Albanische (Hamiti und Sadiku/ Rexhepi), aber auch das Niederländische und Schwedische mit herangezogen werden (Battefeld/ Leuschner/ Rawoens). Auf diese Weise entsteht ein Panoramabild des Gegenstandes und zugleich ein Einblick in die aktuelle Forschung in diesem Bereich der Morphologie. Bern, im September 2016 Elke Hentschel <?page no="9"?> Zu diesem Band 9 A Allgemeines <?page no="11"?> Zwischen Verbalparadigma und Wortbildung 11 Zwischen Verbalparadigma und Wortbildung Elke Hentschel Abstract The following paper attempts a systematisation of the extended infinitive constructions in spoken as well as in written German. There seem to be almost no limits to their extension. And while structures like Abendessen or Gefühlslebe n can clearly be categorised as word formation, this is not the case with constructions like das Sich-nichts-anmerken-lassen, beim heimlich Pornos gucken or das „nichts gesehen haben wollen“. This type of construction can be found in abundance in internet communication (blogs, bulletins boards etc.), but also in written forms of communication like advice books, which are supposed to be more formal in style. I will propose the hypothesis that the constructions we are dealing with here fulfill the same function as converb constructions in languages like Turkish and can therefore be considered equivalent. 1 Fragestellung und Vorgehen Im folgenden Beitrag soll diskutiert werden, welchen Status Infinitive in Konstruktionen wie beim heimlich ( en ) Lauschen oder ( Anweisung ) zum richtig Sprechen haben. Handelt es sich dabei um ein Phänomen, das im weitesten Sinne der Wortbildung zuzuordnen ist, also substantivierte Infinitive mit verschiedenen Arten von Attributen, oder muss man die Formen dem Verbalparadigma zuordnen? In letzterem Fall wäre zusätzlich zu fragen, ob die Bildungen dann als gewöhnliche Infinitive zu betrachten wären oder ob man eine davon zu unterschiedene eigene Form ansetzen sollte (und wenn ja: welche). Zur Diskussion dieser Fragen werden verschiedene, insbesondere aus Internetquellen zusammengestellte Belege für den Konstruktionstyp vorgestellt und im Hinblick auf ihre syntaktische Umgebung analysiert. Ferner werden die Syntagmen vergleichbarer Konstruktionen aus einer agglutinierenden Sprache, hier: dem Türkischen, gegenübergestellt. <?page no="12"?> 12 Elke Hentschel 2 Infinitivkonversionen: Beobachtungen Jeder Infinitiv des Deutschen lässt sich substantivieren, ohne dabei seine Form zu verändern; er bekommt dann das Genus Neutrum zugewiesen und kann syntaktisch wie jedes andere Substantiv verwendet werden. Darüber, ob bzw. in welchem Ausmaß diese Infinitivkonversion der Wortbildung zuzurechnen ist, lässt sich allerdings diskutieren: „Die Zahl tatsächlich geläufiger Konversionsprodukte hält sich in Grenzen“, schreiben Fleischer/ Barz ( 2012 : 270 ) und fahren fort: „Die Infinitivkonversion ist weniger ein Mittel zur Bereicherung des Wortschatzes (obwohl auch diese Seite nicht fehlt) als vielmehr ein syntaktisch relevantes Nominalisierungsverfahren.“ (ibd.: 271 ). Zweifellos sind zahlreiche substantivierte Infinitive vollständig lexikalisiert. Sie bezeichnen oft Konkreta und unterscheiden sich dann deutlich von ad-hoc- Konversionen. Diese können aber unabhängig von der lexikalisierten Form stets ebenfalls nach wie vor gebildet werden; cf. etwa Das Essen steht auf dem Tisch vs. Das Essen fiel ihm schwer oder Das Schreiben ist in der Post vs. Das Schreiben ist ihre Berufung. Klar von Wortbildung kann man nach Fleischer/ Barz (ibd.) vor allem dann sprechen, wenn „der bereits substantivierte Infinitiv als Zweitglied auftritt […] ( Abend | essen , Gefühls | leben ).“ Allerdings sind die Grenzen auch hier nicht ganz so trennscharf, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn es finden sich mit Leichtigkeit Belege wie Lass uns abendessen oder Lass uns abendessen gehen, 1 in denen die Komposition klar als verbaler Infinitiv zu deuten ist. Die Definition von Fleischer/ Barz (ibd.) ist aber trotz solcher Überlegungen vom Grundsatz her durchaus überzeugend, und mit ihr lassen sich Fälle wie die folgenden somit klar als Wortbildung kategorisieren: 2 beim gemeinsamen Kuchenbacken die Sache mit dem Frühaufstehen Genderkritisches Kindererziehen Tipps fürs Kaffeekochen Auch wenn man darüber diskutieren könnte, ob hier bereits lexikalisierte Formen vorliegen, ist die Bedingung „bereits substantivierter Infinitiv als Zweitglied“ mit das Backen, das Aufstehen, das Erziehen, das Kochen im Grunde durchaus gegeben, und gegen die Interpretation der Formen als Substantive spricht auch im jeweiligen Kontext nichts. 1 Oft auch in Großschreibung, z. B.: Lass uns Abendessen gehen (Bennat 2009 : 23 ). 2 Wenn nicht anders vermerkt, handelt es sich bei allen zitierten Beispielen um Internet- Belege, die jeweils in der Originalschreibung präsentiert werden. Um die Lesbarkeit zu erhöhen, erfolgt der Nachweis dabei nicht jeweils sofort, sondern wird erst im Quellenverzeichnis am Ende dieses Artikels gegeben. <?page no="13"?> Zwischen Verbalparadigma und Wortbildung 13 Dass es dennoch nicht ganz so einfach sein kann, zeigt der Blick auf ein Beispiel wie dieses: beim Pornos gucken aufm Handy Unabhängig von der Schreibweise - man könnte natürlich auch Pornosgucken schreiben - sträubt man sich hier vermutlich intuitiv, Wortbildung anzunehmen, und würde in Pornos eher ein Objekt zum Infinitiv gucken sehen. Und in der Tat. Bei näherem Hinsehen würde sich auch bei den obigen Beispielen bei einer Getrenntschreibung der Bestandteile, wie sie sich durchaus gelegentlich findet (etwa in Belegen wie: Und das Beste am Kuchen backen ), eine solche Interpretation anbieten. Dass es in der Tat gute Gründe dafür gibt, keine Wortbildung anzusetzen, zeigen auch Beispiele wie beim heimlich Lauschen Anweisung zum richtig Sprechen 3 etc., bei denen - anders, als dies etwa bei einer Konstruktion wie beim heimlichen Lauschen der Fall wäre, - eindeutig ein Adverbial vorliegt. Dafür, dass beide Typen auch problemlos kombiniert werden können, lassen sich ebenfalls leicht Beispiele finden, so etwa dieses: stellt euch einfach schlauer an beim heimlich Pornos gucken Technik zum heimlich Filme aufnehmen Diese Art der Kombination von Infinitiven mit allen möglichen für ein Verb (nicht aber für ein Substantiv) typischen Zusätzen kommt, wie man schnell feststellen kann, außerordentlich häufig vor. Sie findet sich vor allem, aber keineswegs nur bei konzeptioneller Mündlichkeit. Aber eine Wendung wie zum Ausder-Haut-Fahren hat Eingang in den Rechtschreib- Duden gefunden, ohne als umgangssprachlich markiert zu werden, und auch sonst ist der Konstruktionstyp an vielen Stellen bereits in die konzeptionelle Schriftlichkeit eingedrungen, wie das folgende Beispiel exemplarisch belegen mag: Gemäß einer offiziellen als auch informellen Polizeikultur gelten die Härte-gegen-sichund-andere, das Zähne-zusammen-beißen, das Sich-nichts-anmerken-lassen als handlungsleitende Wertvorstellungen . (Schlee 2008: 165) Die Stilebene, die sich hier in der Wortwahl manifestiert, läuft jeglicher Annahme einer konzeptionellen Mündlichkeit deutlich zuwider. Dass die Form 3 Einen Hinweis darauf, dass dieser Typ von Infinitivkonstruktion keine ganz neue sprachliche Entwicklung darstellt, gibt die Tatsache, dass diese Formulierung sich wörtlich so auch schon bei Steinthal ( 1863 : 709 ), also vor mehr als 150 Jahren, findet. <?page no="14"?> 14 Elke Hentschel dennoch nicht als selbstverständlicher Bestandteil der Schriftsprache angesehen wird, lässt sich allerdings nicht zuletzt aus der Tatsache ableiten, dass die Wahl der korrekten Schreibweise in solchen Fällen Probleme macht. Außer zu Bindestrichen, wie sie auch der Rechtschreib-Duden verwendet, greifen die Schreibenden zu völlig unterschiedlichen Lösungen. Ganz ohne Markierung kommt etwa das folgende Beispiel aus: […] denn das tägliche Brote schmieren, Hausaufgaben kontrollieren und Vokabel abfragen wird uns für ein paar Wochen erlassen. Aber auch die Markierung der gesamten Form als eine Art Zitat findet sich: […] obwohl das „sich einfach nicht mehr melden“ nur von ihm ausging. Ebenso schwanken Groß- und Kleinschreibung in den gesammelten Belegen stark. In der Mehrzahl der Fälle werden die Infinitive jedoch auch beim Vorhandensein eines Artikels nicht groß geschrieben, was den vorsichtigen Schluss nahe legt, dass sie von den Schreibenden nicht als Substantivierungen, sondern als Verbformen wahrgenommen werden. Was den Umfang der Erweiterung der Infinitive betrifft, so scheint es hier keine Beschränkungen zu geben, wie die nachfolgende kleine Beispielsammlung illustriert: Dass einen in der ÖVP das „offen seine Meinung“ Sagen schon zur „Kapazität“ macht […] Und das sich ständig beklagen […], das kann ich nachvollziehen. […] für mich ist das ständige sich-Beklagen-über-alles DIE typisch deutsche Eigenschaft schlechthin. Viel Spass schon ma [sic! ] beim Geld für Laser sammeln, Herr […] […] Musik, die sich perfekt beim Für-die-Party-Zurechtmachen hören lässt, […] Habe mir heute beim fürs Mittagessen gemüseschneiden so stark in den Daumen geschnitten […] […] weil mein auf ihn einreden echt überhaupt nichts bringt. […] zunächst, um Jedem beim Sich-Einander-Vorstellen in spaßvoller und interaktiver Weise zu helfen […] sie macht es wieder, also das alles besser wissen und ständig fragen warum ich […] Das letzte Beispiel enthält sogar einen Nebensatz, der die Funktion des Objekts zum Infinitiv übernimmt. Daneben lassen sich auch substantivierte Modalverben beobachten, die Vollverben bei sich haben, von denen ihrerseits wieder weitere Elemente abhängig sind: <?page no="15"?> Zwischen Verbalparadigma und Wortbildung 15 […] dass Dir genau dieser Zustand und das Sich-ständig-beklagen-können besonders gefällt […] Das Sich-Verstecken-Wollen sei ein Merkmal seiner Kunst. […] das „nichts gesehen haben wollen“. […] eine Verleugnung und Abspaltung der Affekte sowie das ständige Kontrollieren- Müssen von Beziehungen […] (Hirsch 2004: 185) 3 Analyse der Belege Die beobachtbaren Konstruktionen weisen unterschiedliche Eigenschaften auf, die wiederum verschiedene Zuordnungen der jeweils vorliegenden Verbform als VP oder NP nahelegen. So zeigen sich neben dem Artikel oder Possessivum, deren Vorhandensein Bedingung war, damit das Beispiel in die Sammlung der zu untersuchenden Formen aufgenommen wurde, und die natürlich alleine schon ein deutlicher Hinweis auf Substantivierung sind, auch kongruierende Adjektivattribute (wie in das ständige sich-Beklagen, das tägliche Brote schmieren ). Solche Attribute können, ebenso wie Genitivattribute (wie in das Abwägen aller möglichen Probleme ) bei Verben nicht auftreten und verweisen ganz klar auf das Vorliegen einer NP und damit auf eine Konversion. Allerdings sind trotz des Artikelgebrauchs ebenso sehr häufig Eigenschaften zu finden, die als klar verbal einzustufen sind. Dazu gehört zum einen die Anbindungen von Objekten wie in beim Pornos gucken , zum anderen - und salienter - aber auch die Verwendung von links attribuierten Adverbialen wie in beim heimlich Pornos gucken . Eine solche Linksattribuierung von Adverbien oder von zu Attributen umgewandelten Adverbialen ist bei Substantiven nicht möglich, da nicht-kongruierende Attribute dieses Typs hier stets nachgestellt werden müssen, cf.: das Haus dort auf dem Hügel *das dort auf dem Hügel Haus Das Vorliegen von Linksattributen, die klar die Funktion von Adverbialen übernehmen, lässt nur den Schluss zu, dass die Konstruktion in dieser Verwendung verbal wahrgenommen wird. Linksattribuierungen dieser Art zeigen sich auch in den folgenden Belegen: beim fürs Mittagessen gemüseschneiden das sich-ständig-Beklagen beim Für-die-Party - Zurechtmachen Dabei scheint hier aber offensichtlich eine Wahlmöglichkeit zwischen NP und VP zu bestehen, denn sowohl kongruierende als auch nicht-kongruierende Konstruktionen (mit entsprechendem Wechsel der Wortstellung) lassen sich selbst bei identischer Wortwahl beobachten, cf.: <?page no="16"?> 16 Elke Hentschel das ständige sich-Beklagen-über-alles vs. das Sich-ständig-beklagen-können Während die Kombination von Kongruenz und Rechtsattribuierung im ersten Fall auf eine eindeutig nominale Konstruktion verweist, ist das zweite Syntagma nur möglich, wenn man den Infinitiv als verbal auffasst. Ebenso zeigt sich wahlweise Rechts- und Linksattribuierung bei Präpositionalphrasen, die abermals einmal auf eine Interpretation als NP , einmal auf VP schließen lassen: Beim Gemüseschneiden für das Abendessen vs. beim fürs Mittagessen gemüseschneiden Modalverben mit abhängigem Vollverb oder auch mit zusätzlichem Auxiliar und Partizip des Vollverbs (oder mit anderen Worten: mit einem Infinitiv Perfekt) zeigen die folgenden Beispiele: das Sich-ständig-beklagen-können Das ständig kontrollieren müssen das „nichts gesehen haben wollen“ Diese Konstruktionen kann man trotz des Artikels, der ihnen vorangeht, nur noch mit Schwierigkeit als nominal interpretieren. Wenn man den Horizont der Betrachtung etwas weiter ausdehnt, kommt man schnell zu der Überlegung, dass Verlaufskonstruktionen wie der Progressiv und möglichweise auch der sog. Absentiv (cf. Vogel 2009 ) hier mit betrachtet werden sollten. Insbesondere beim Progressiv zeigen sich abermals parallel sowohl substantivische als auch verbale Merkmale. So bemerkt etwa van Pottelberge ( 2009 : 369 ), dass neben den von ihm angeführten, seltenen Verwendungen eines Objektsgenitivs wie in Denn während eine Gruppe noch am Entladen des mit verschiedenen Utensilien beladenen Kleinlasters ist (Beispiel nach ibd.) sowohl in der geschriebenen als auch in der gesprochenen Sprache weit häufiger die von ihm als „substantivierte Infinitivphrasen“ (ibd.) bezeichneten Konstruktionen zu beobachten sind, die verschiedene Objekttypen sowie auch Adverbiale aufweisen: Am Arbeiten war er und am Olympische-Spiele-Schauen (Beispiel nach ibd.) Und vielleicht ist er genau nach diesem „guten alten Stück“ seit Jahren am Suchen. (Beispiel nach ibd.: 371) <?page no="17"?> Zwischen Verbalparadigma und Wortbildung 17 Tatsächlich zeigt sich hier kein struktureller Unterschied zu den im Vorigen angeführten Beispielen: „Die am- Phrase ist nicht fest mit dem Verb sein verbunden, sondern bildet eine eigenständige morphologische Einheit […]“ (ibd.: 367 ). Offensichtlich verhält sich der Progressiv incl. seiner Parallelkonstruktionen mit beim oder im (cf. ibd.: 364 - 366 ) völlig analog zu den anderen hier behandelten Infinitivkonstruktionen und kann hier mit subsumiert werden. Absentiv-Konstruktionen weisen im Gegensatz zum Progressiv zwar keinen Artikel auf und stehen in einer Position, die man entweder als prädikativ oder sonst als verbale Konstituente auffassen kann. Dennoch sind auch hier Ähnlichkeiten unverkennbar, cf. etwa die folgenden beiden Belege: Heute vormittag waren wir auch noch kurz Pilze fürs Mittagessen sammeln und es gab soooo viele : o vs. beim Pilzesammeln für den privaten Bedarf Schließlich könnte man im gegebenen Zusammenhang möglicherweise auch die sog. „Sternchen-Formen“ mit berücksichtigen, wie sie Pankow ( 2003 : 104 ) beschreibt und wie sie durch die folgenden Belege (Beispiele nach ibd.) illustriert werden: *mitdenfüßennachderfernbedienungfisch* *schweißvonderstirnwisch* Hier findet sich zwar weder ein Artikel noch eine Infinitivendung, aber es zeigen sich linksattribuierte Objekte und Adverbiale in einer trotz mangelnder Finitheit eindeutig verbalen Konstruktion. Aber abgesehen von solchen zusätzlichen Problemfällen: Was hat es mit den im Vorigen beschriebenen Konstruktionstypen auf sich? 4 Infinite Verbalformen im Deutschen Um eine fundiertere Hypothese darüber aufstellen zu können, ob Formen des bisher beschriebenen Konstruktionstyps als infinite Verbformen anzusehen sind oder der Wortbildung zugeordnet werden müssen, soll zunächst noch einmal kurz der Bestand der infiniten Verbformen im Deutschen betrachtet sowie die Definition dessen, was (In)Finitheit ausmacht, ins Gedächtnis gerufen werden. Grundsätzlich wird eine infinite Verbform normalerweise dadurch definiert, dass sie keine Personalendung aufweist. 4 Da nicht alle Sprachen über morpho- 4 In der deutschsprachigen Sprachwissenschaft finden sich gelegentlich auch anderslautende Definitionen für infinite Verbformen, so etwa: „Unkonjugierte Verbform, d. h. hinsichtlich Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus Verbi nicht gekennzeichnete Verbformen […]“ (Bußmann 2002 : 304 ) oder der Hinweis: „keine Kennzeichnung für <?page no="18"?> 18 Elke Hentschel logische Markierungen am Verb und damit über Personalendungen verfügen, ist dies natürlich keine völlig befriedigende Definition, denn für isolierenden Sprachen - die Bisang ( 2001 : 1408 ) eben wegen der fehlenden morphologischen Markierungen am Verb als „non-finite languages“ bezeichnet - ist es kaum möglich, diese Definition anzuwenden. Aber die Unterteilung in finite und infinite Verbformen ist auch bei „finiten“ Sprachen, also flektierenden und agglutinierenden, aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch (cf. hierzu ausführlicher Hentschel 2009 ). Daher greift man für die Definition meist auf syntaktische Kriterien zurück, wie sie im Grunde dann wiederum auch in isolierenden Sprachen anwendbar wären: Ein Verb wird als finit angesehen, wenn es das Prädikat eines nicht abhängigen Satzes bildet (cf. Koptjevskaja-Tamm 1994 : 1245 ). Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass Prädikate von Nebensätzen notwendig infinit sind. Ob sie das sind, muss jeweils im Einzelnen anhand von Eigenschaften überprüft werden, die für finite Verben konstituierend sind: dem Vorhandensein von Tempus-, Aspekt- und Modusmarkierungen ( TAM ), ferner einem Subjekt, das explizit geäußert werden kann, sowie der Kongruenz des Verbs mit diesem Subjekt (cf. z. B. Givón 2001 : 25 ). Verbformen, die wie beispielsweise schnurrt in Die Katze schnurrt all diese Eigenschaften aufweisen, können als prototypische Vertreter der Kategorie „finites Verb“ angesehen werden. Das Gegenstück dazu, die prototypische infinite Verbform, wäre hingegen ein Verb, das keine einzige dieser Eigenschaften mehr aufweist und daher zu einem Mitglied der Wortklasse Substantiv geworden ist. Typischerweise ist das der Fall bei Formen, die durch Wortbildung aus einem Verb hervorgegangen ist, und ein Beispiel hierfür läge etwa in Untersuchung vor. Das ursprünglich zugrundeliegende Verb untersuchen hat im Ergebnis der Wortbildung sämtliche Merkmale der Finitheit verloren, es ist im Hinblick auf TAM unbestimmt, kann kein Prädikat bilden und auch weder Subjekte noch Objekte an sich binden. Dafür weist die so entstandene neue Form nunmehr nominale Eigenschaften auf und kann z. B. mit Determinatoren wie dem Artikel verwendet werden (cf. hierzu Givon 2001 : 353 ). Formen wie schnurrt und Untersuchung sind prototypische Vertreter der jeweiligen Kategorie, aber sie bilden nur die beiden Endpunkte einer Skala, und das Spektrum der Möglichkeiten zwischen diesen beiden Extremen ist groß. Person, Numerus […], Tempus oder Modus“ (Lewandowksi 1994 : 442 ), und das Metzler Lexikon Sprache definiert sie als „Verbformen, die v. a. bezüglich der Kategorien von →Numerus und →Person unbestimmt sind“ (Glück 2005 : 276 ). Da aber Partizipien ebenso wie Infinitive eindeutig in Bezug auf Tempus und Genus Verbi markiert sind und Partizipien zudem auch Numerusmarkierungen annehmen können, scheinen solche Ansätze auch dann nicht unbedingt sinnvoll, wenn man sich strikt auf das Deutsche beschränken möchte. <?page no="19"?> Zwischen Verbalparadigma und Wortbildung 19 So ist der Konjunktiv der indirekten Rede zwar eine finite Form, die Subjektkongruenz und TAM aufweist, aber hier überlagert der Modus das Tempus so stark, dass diese ansonsten grundlegende Kategorie des Verbs partiell außer Kraft gesetzt wird und es keinen temporalen Bedeutungsunterschied zwischen Präsens- und Präteriumsformen mehr gibt (cf. Sie sagte, sie habe Hunger vs. Sie sagte, sie hätte Hunger ). Man kann darin durchaus so etwas wie einen ersten Schritt in Richtung Infinitheit sehen. Sehr viel näher an diesem Ziel sind aber natürlich Verbformen wie Infinitive, Partizipien oder der sog. Inflektiv (auch als Lexeminterjektion oder gelegentlich als „Erikativ“ 5 bezeichnet). Inflektive wie seufz oder grins stellen im Deutschen insofern eine Besonderheit dar, als sie keinerlei morphologische Markierungen tragen: Sie bestehen aus der nackten, endungslosen Verbwurzel. Sie lassen - ebenso wie alle anderen infiniten Verbformen auch - kein explizites Subjekt zu, wohl aber Objekte und Adverbiale, wie für bestimmte Formen von Chat typische sog. Sternchenformen wie *schweißvonderstirnwisch* (Pankow 2003 : 104 ) deutlich machen. Demgegenüber sind Infinitive und Partizipien, die man wohl als erste Beispiele für infinite Verbformen anführen würde, morphologisch stark markiert, da neben dem für alle diese Formen obligatorischen suffigalen auch einen präfigalen Bestandteil auftreten kann. Letzteres ist bei Partizipien der Fall (cf. z. B. gesprungen ), von denen das deutsche zwei Typen kennt, die meist entweder nummeriert oder mit Tempusbezeichnungen als „Partizip Präsens“ und „Partizip Perfekt“ bezeichnet werden. Partizipien können typischerweise keine absoluten, sondern nur relative Tempora ausdrücken, im vorliegenden Fall also einmal Gleichzeitigkeit (Partizip Präsens), einmal Vorzeitigkeit (Partizip Perfekt; cf. hierzu ausführlicher Velupillai/ Hentschel 2009 ). Obgleich sich die beiden Partizipien des Deutschen von Partizipien desselben Typs in anderen indogermanischen Sprachen nicht grundlegend unterscheiden, finden sich große Unterschiede in der Auffassung, wie diese Formen einzuordnen sind: In der deutschen Grammatikschreibung werden die Partizipien des Präsens teilweise nicht als Verbform, sondern als „durch Wortbildung als Verben entstandene Adjektive“ (Zifonun et al. 1997 : 2205 f.) aufgefasst. Allerdings ist die zur Begründung für diese Zuordnung angeführte Tatsache, dass Präsenspartizipien „nie als Teile periphrastischer Verbformen“ (ibd.) Verwendung finden, keine Besonderheit des Deutschen, denn auch das Englische, Französische, Russische oder das Lateinische - um nur einige Beispiele zu nennen - setzen ihre Präsenspartizipien nicht zur Bildung analytischer Verbformen ein. 6 Wenn man diese Einschränkung ernst nimmt, wäre 5 Als Referenz an die Donald-Duck-Übersetzerin Erika Fuchs ( 1906 - 2005 ), die in ihren Übersetzungen regen Gebrauch von dieser Form gemacht hat. 6 Dem progressive Aspekt des Englischen liegt kein Partizip, sondern ein Gerundium zugrunde: she is on working > she is a-working > she is working (cf. Lehmann 1995 : 30 , <?page no="20"?> 20 Elke Hentschel folglich zu überlegen, ob man die Grenze zwischen Verbform und Wortbildung nicht grundsätzlich neu ziehen müsste. Dies führt zu sehr weitreichenden Folgen, denn man müsste dann auch die Infinitive vieler Sprachen sowie auch die zahlreichen Konverben, die in agglutinierenden Sprachen zu beobachten sind, neu als Ergebnis von Wortbildungsverfahren ansehen. Da es Infinitive sind, die den in diesem Beitrag zu diskutierenden Phänomenen zugrunde liegen, ist die Frage nach ihrer Einordnung hier natürlich von besonderem Interesse. Infinitive werden gemeinhin als Verbalnomina definiert, die dem Substantiv syntaktisch sehr nahe stehen oder auch funktional identisch mit ihm sind - also Formen, die sich relativ nahe am nominalen Ende der Skala befinden. Wendet man die oben zitierte Definition für das Vorliegen einer Verbform an, so können Infinitive im modernen Deutschen aber problemlos als eine solche betrachtet werden, denn alle Infinitivvarianten, auch hochkomplexe analytische Formen wie betrogen worden sein, können zusammen mit werden eine analytische Verbform bilden ( er wird betrogen worden sein ). Aber das gilt natürlich keineswegs für alle indogermanischen Sprachen, und schon gar nicht über die Sprachfamilie hinaus; und auch für frühere Sprachstufen des Deutschen lässt es sich nicht ansetzen. Hat sich der Status der Form im Laufe der Sprachgeschichte geändert? In diesem Zusammenhang muss als weitere infinite Verbform auch das Gerundium betrachtet werden, denn auch dieses ist - zumindest in der hier verwendeten Lesart des Begriffs 7 - ein Verbalnomen, das syntaktisch einem Substantiv gleichgestellt ist. Die Grenze zwischen dem so verstandenen Gerundium und einem Infinitiv ist fließend, so dass die beiden Formen etwa im Englischen gelegentlich ohne Bedeutungsunterschied gegeneinander austauschbar sind 8 oder sich wie im Lateinischen innerhalb eines Paradigmas gegenseitig ergänzen (cf. Rubenbauer/ Hofmann 1995 : 202 ). Dennoch kann man auch Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien aufzeigen, so etwa, dass ein Infinitiv stets ein implizites Subjekt aufweisen muss, ein Gerundium hingegen nicht. Verdeutlichen lässt sich dieser Unterschied auch im Deutschen, wo in Abhängigkeit von der syntaktischen Umgebung in einem Fall ein implizites Subjekt gegeben ist, im anderen jedoch nicht: Während Infinitive in Infinitivsätzen regelmäßig ein mitverstandenes Subjekt aufweisen und damit noch etwas näher am Verb Baugh/ Cable 2002 : 290 f.). 7 Der Terminus wird hier so verwendet, wie er aus der traditionellen Grammatik des Lateinischen überliefert ist, und meint somit nicht die auch als Konverben oder Adverbialpartizipien bezeichneten infiniten Verbformen, die in der Typologie oft als Gerundien bezeichnet werden (cf. z. B. König/ Auwera 1990 ). 8 Cf. z. B. to intend to do something vs. to intent doing something (cf. Huddleston/ Pullum 2002 : 1241 ). <?page no="21"?> Zwischen Verbalparadigma und Wortbildung 21 sind, ist dies etwa bei einem als attributiver Genitiv eingesetzten Infinitiv eindeutig nicht der Fall. Letzterer ist damit bereits ein deutliches Stück näher am Substantiv und kann in diesem Sinne als Gerundium angesehen werden, cf.: Wir bitten Sie, hier nicht zu rauchen (‚wir bitten Sie, dass Sie hier nicht rauchen‘) vs. das Laster des Rauchens (*‚das Laster, dass jemand raucht‘) Dass es dieser Typ von substantiviertem Infinitiv sein könnte, der den hier zu untersuchenden Konstruktionen zugrunde liegt, wird durch die möglichen Erweiterungen mit einem Objekt als Determinans wie etwa das Laster des Zigarettenrauchens oder das Laster des Opiumrauchens nahegelegt, die auch im Register der konzeptionellen Schriftlichkeit möglich sind. Aber Konstruktionen wie beim fürs Mittagessen Gemüseschneiden oder das offen seine Meinung Sagen gehen hier offensichtlich noch einen beträchtlichen Schritt weiter und bewegen sich damit wieder in Richtung auf eine dem Verb näherstehende Form, wie sie etwa Konverben darstellen. 5 Sprachvergleich: Konverben Unter einem Konverb versteht man gemeinhin eine Verbform, die das infinite Prädikat eines adverbialen Nebensatzes bildet. Wenn man einen Infinitiv als Verbalsubstantiv und ein Partizip als Verbaladjektiv definiert, dann läge in einem Konverb somit so etwas wie ein Verbaladverb vor (cf. z. B. Haspelmath 1995 : 4 f.). Entsprechend werden Konverben gelegentlich auch als „Adverbialpartizipien“ bezeichnet, während sich in der Romania die Bezeichnung „Gerundiv“ (cf. z. B. Grevisse 2005 : 1340 ), in der Grammatikschreibung anderer Sprachen auch „Gerund“ (cf. z. B. Lewis 2000 : 175 ) findet. Diese beiden Termini haben jedoch in der traditionellen lateinischen wie auch in der auf das Deutsche bezogenen Grammatikschreibung eine andere Bedeutung, indem sie einmal ein Verbalsubstantiv, einmal ein Partizip Futur Passiv (cf. Feret 2005 : 35 - 27 , Hentschel/ Weydt 2013 : 132 ) beschreiben, und können daher zu Missverständnissen führen. Aus diesem Grund wird hier der Terminus „Konverb“ gewählt, auch wenn sich zeigen wird, dass er dem zu beschreibenden Gegenstand zumindest mit der hier zugrunde gelegten Definition als Adverbialpartizip (im Unterschied zu Verbalsubstantiv und Verbalnomen) nicht völlig gerecht wird. Zwar kann auch das Deutsche infinite Verbformen, nämlich Partizipien, in der Funktion von Adverbialsätzen verwenden, wie die folgenden Beispiele zeigen: Vorsichtig spähend schlich sie sich an. (‚indem/ während sie vorsichtig spähte‘) <?page no="22"?> 22 Elke Hentschel Über und über mit Schnee bedeckt knickte der Ast ab. (‚weil er über und über mit Schnee bedeckt war‘) Die Infinitivkonstruktionen, die im Vorigen angeführt wurden, unterscheiden sich jedoch deutlich von diesem Konstruktionstyp und können zudem unterschiedliche syntaktische Funktionen übernehmen. Sie kommen als Subjekt ( Das Sich-Verstecken-Wollen sei … ), als Objekt ( sie macht es wieder, also das alles besser wissen und ständig fragen ) oder als durch Präposition eingeleitetes Adverbial ( beim Für-die-Party-Zurechtmachen ) wie auch Attribut ( Anweisung zum richtig Sprechen ) vor. Damit sind sie deutlich flexibler als die Partizipialkonstruktionen - und weisen eine überraschende Ähnlichkeit mit den Konverben anderer Sprache, so etwa dem Türkischen, auf. Die folgenden vier Beispiele mögen dies illustrieren: Arkadaşım benim baklavayı çok sevdiğimi biliyor. Freundmein mein Baklava- AKK sehr lieb-[ DIK ] 9 mein- AKK weiß etwa: ‚Mein Freund kennt mein Baklava-sehr-Gernhaben‘ ‚Mein Freund weiß, dass ich sehr gerne Baklava mag.‘ Çocukların istasyona nasıl gideceklerini sanıyorsun? Kind- PL - GEN Bahnhof- DAT wie geh-[ ECEK ]ihr- AKK denkst etwa: ‚Wie denkst du dir das zum-Bahnhof-Gehen der Kinder? ‘ ‚Was denkst du, wie die Kinder zum Bahnhof gelangen? ‘ Sigarayı bıraktığımdan beri daha sağlıklıyım. Zigarette- AKK lass-[ DIK ]mein- ABL seit noch gesund-bin etwa: ‚Seit meinem Zigaretten-Seinlassen bin ich gesünder.‘ ‚Seitdem ich nicht mehr rauche, bin ich gesünder.‘ 9 DIK und ECEK stehen für die gleichlautenden türkischen Morpheme, die hier bei der Bildung der Verbform Verwendung finden. <?page no="23"?> Zwischen Verbalparadigma und Wortbildung 23 İlacı aldıktan sonra iyileşmeye başladı. Medizin- AKK nehm-[ DIK ]- ABL nach heilen- INF - DAT begann. etwa: ‚Nach dem Medizin-genommen-Haben begann es ihm/ ihr besser zu gehen.‘ ‚Nachdem er/ sie die Medizin genommen hatte, begann es ihm/ ihr besser zu gehen.‘ Auch Konverben erlauben, wie sich an den Beispielen zeigt, substantivtypische Markierungen wie Kasusendungen (hier: Ablativ, Dativ), Possessivendungen ( sevdiğimi , bıraktığımdan ), den Zusatz eines Possessivums ( benim ) oder eines attributiven Genitivs ( çocukların ), während sie zugleich typisch verbale Eigenschaften wie die Bindung eines direkten Objektes ( baklavayı, sigarayı, ilacı ) oder eines adverbialen Dativs zur Richtungsangabe ( istasyona ) aufweisen. Das sind dieselben Eigenschaften, die zuvor für die deutschen Infinitivkonstruktionen konstatiert werden konnten. Zudem zeigt sich auch, dass die Verbformen keineswegs darauf beschränkt sind, einen adverbialen Nebensatz zu ersetzen; sie übernehmen vielmehr in den ersten beiden Beispielen die Funktion des direkten Objekts und können auch in anderen syntaktischen Funktionen gebraucht werden, ganz wie dies auch auf die deutschen Infinitivkonstruktionen zutrifft. Frappierend ist zudem die Tatsache, dass sich die türkischen Konverben in den obigen Beispielen völlig problemlos mit Infinitivkonstruktionen ins Deutsche übersetzen lassen - zumindest wenn man in Kauf nimmt, dafür ein umgangssprachliches Register, also konzeptionelle Mündlichkeit, zu wählen. Dies ist natürlich nicht notwendig immer der Fall und soll keineswegs für alle Konverb-Konstruktionen des Türkischen postuliert werden; dennoch ist die Tatsache, dass es in vielen Fällen möglich ist, bemerkenswert. Damit gelangt man aber naturgemäß zu der Frage, was - außer der Morphologie - die türkischen Konverb-Konstruktionen von deutschen Infinitivkonstruktionen des hier besprochenen Typs eigentlich grundsätzlich unterscheidet. Auch an anderen Stellen verwendet das Deutsche schließlich den Infinitiv in Funktionen, die nicht einfach nur seiner Funktion als Verbalsubstantiv entsprechen. Brugmann ( 1904 : 605 ) beschreibt in seiner vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen den prädikativ gebrauchten Infinitiv, also Kombinationen von sein und Infinitiv wie in Diese Aufgabe ist nicht zu lösen , als eine in vielen Sprachen zu beobachtende Bildungsweise, durch die „eine Art von indeklinablen Adj. (Gerundivum) entstand […]. Solche Infinitive wurden dann zumteil in deklinable Adjektive verwandelt“. Letzteres wäre der Fall, wenn die Form attributiv gebraucht wird ( die leicht zu lösende Aufgabe ), während die „Art von indeklinablem Adjektiv“ in der prädikativen Funktion nach wie <?page no="24"?> 24 Elke Hentschel vor erhalten ist. Infinitive sind, so kann man hieraus schließen, polyfunktional einsetzbare Verbformen, die keineswegs darauf beschränkt sind, als einfache Verbalsubstantive zu dienen. Angesichts des unterschiedlichen syntaktischen Verhaltens der hier untersuchten Infinitive kann man insgesamt von einem Kontinuum mit fließenden Übergängen ausgehen, das von einer klaren Substantivierung wie in das Backen des Kuchens (Lehmann 2013 : 38 ) am einen Ende bis hin zu einer eindeutig verbalen Konstruktion in Progressiven wie vielleicht ist er genau nach diesem „guten alten Stück“ seit Jahren am Suchen am anderen Ende der Skala reichen. Zwischen diesen beiden Polen sind Übergänge möglich, die dann zum Nebeneinander von verbalen und nominalen syntaktischen Strukturen führen können. Ein solches Nebeneinander liegt etwa in das ständige sich-Beklagen-über-alles vor, wo die Kongruenz in ständige nur beim Vorliegen eines Substantivs möglich ist, während sich das Vorliegen eines Verbs voraussetzt. Während sich im Fall eines rein substantivischen Gebrauchs der traditionelle Terminus „substantivierter Infinitiv“ gut für die Beschreibung eignet, ist für den Fall einer Konstruktion am verbalen Ende der Skala bisher keine Bezeichnung vorgesehen. Auch wenn der Begriff nicht unproblematisch ist, wird hier in Anlehnung an die Befunde in Turksprachen, wo Konverben, wie die obigen Beispiele zeigen, auch nicht ausschließlich adverbiale Funktionen haben, vorgeschlagen, hier den Begriff „Konverb-Konstruktion“ oder zumindest „konverbähnliche Konstruktion“ anzuwenden. 6 Abschließende Bemerkungen Im Deutschen hat sich insbesondere im Register der konzeptionellen Mündlichkeit, aber keineswegs ausschließlich dort, eine Tendenz entwickelt, Infinitive in substantivierter Form - also beim Gebrauch mit einem determinierenden Element, meist einem Artikel - in einer Weise zu erweitern, wie dies sonst nur bei Verben möglich ist. Dazu gehört nicht nur die Ergänzung mit einem Objekt wie in beim Pornos gucken , die man möglicherweise noch als Determinans eines gedachten Kompositums Pornosgucken aus Porno und Gucken mit einem Fugenelement s deuten könnte, sondern vor allem die Linksattribuierung eines Adverbials wie in beim heimlich Pornos gucken oder beim fürs Mittagessen gemüseschneiden. Dieser Stellungstyp ist bei Substantiven grundsätzlich ausgeschlossen (cf. * das auf dem Hügel Haus ), die in solchen Fällen nur Rechtsattribuierungen zulassen ( das Haus auf dem Hügel ). Die Beobachtung des regelmäßigen Auftretens solcher Konstruktionen lässt sich nicht mit der Interpretation vereinbaren, dass es sich bei den betroffenen Infinitiven um Konversionen handelt. Dies gilt unabhängig davon, ob man einen Prozess auf lexikalischer Ebene ansetzt oder nur von einer ad-hoc-Konversion <?page no="25"?> Zwischen Verbalparadigma und Wortbildung 25 zur Anpassung an den syntaktischen Kontext ausgeht, wie dies etwa Fleischer/ Barz ( 2012 : 271 ) tun. Denn das Ergebnis erfüllt die syntaktischen Bedingungen nicht, die für ein Substantiv gelten. Er unterscheidet sich aber zugleich von einer normalen Verbform dadurch, dass es den Gebrauch des Artikels oder anderer Determinierer wie in mein auf ihn einreden zulässt. Die Konstruktion stellt so gesehen eine Art Hybrid zwischen den beiden Wortarten dar, zeigt aber insbesondere im Hinblick auf die umfangreichen Erweiterungsmöglichkeiten, die sie zulässt (cf. Beispiele wie das Sich-ständig-beklagen-können oder das „nichts gesehen haben wollen“) eine etwas größere Nähe zum Verb als zum Substantiv. Dieser hybride Befund lässt sich gut mit den Eigenschaften von Konverben in Sprachen wie dem Türkischen vergleichen, die ebenfalls Eigenschaften beider Wortarten aufweisen - und die genau wie die hier behandelten Infinitive des Deutschen die Funktion verschiedener Satzteile, also keineswegs nur die eines Adverbials, übernehmen können. Dass diese Formen nicht auf die syntaktische Funktion des Adverbials beschränkt ist, sondern auch andere Satzteilfunktionen übernehmen kann, widerspricht dabei der üblichen Definition eines Konverbs, wie man sie etwa bei Haspelmath ( 1995 : 4 f.) findet. Dies ist vermutlich der Grund, warum Lewis ( 2000 : 175 ) in seiner türkischen Grammatik den Begriff gerund wählt, dessen Anwendung auf das Deutsche aber wiederum insofern nicht sehr sinnvoll ist, als er in der traditionellen Grammatikschreibung bereits anders belegt ist. Aber wie immer man die Formen nennt: Funktional entsprechen die deutschen Infinitivkonstruktionen recht genau dem, was wir im Türkischen vorfinden, und sollten daher als eigenständige Verbfunktion behandelt werden. Insofern wird trotz der damit verbundenen Probleme vorgeschlagen, bei der Beschreibung des hier diskutierten Phänomens von Konverb- oder konverbähnlichen Konstruktionen des Deutschen zu sprechen. Abkürzungsverzeichnis ABL Ablativ AKK Akkusativ DAT Dativ [ DIK ] türkisches Morphem zur Bildung von Verbformen [ ECEK ] türkisches Morphem zur Bildung von Verbformen GEN Genitiv NEG Negation PL Plural <?page no="26"?> 26 Elke Hentschel Literatur Baugh, Albert C./ Cable, Thomas (2003): A history of the English language . 5. ed., reprinted. London u. a.: Routledge. Bisang, Walter (2001): „Finite vs. non finite languages“. 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April 2014, zitiert nach www.kleinsassen.de/ gal-2014/ frmey02.php […] das „nichts gesehen haben wollen“ : www.rennrad-news.de/ forum/ threads/ vorfallmit-polizeiruf.89562/ Heute vormittag waren wir auch noch kurz Pilze fürs Mittagessen sammeln und es gab soooo viele : o: www.erziehung-online.de/ forum/ monats-threads/ __-februar-mamis-2006-__/ 1825/ beim Pilzesammeln für den privaten Bedarf : www.italienforum.de/ cgi-bin/ yabb2/ Ya BB . pl? action=print; num=1227956508 <?page no="29"?> Der Einfluss von Sprachkontakt und Silbenstruktur auf die Wortbildung 29 Der Einfluss von Sprachkontakt und Silbenstruktur auf die Wortbildung Roland Hofer Abstract The following paper deals with the influence of language contact and syllable structure on word formation. It focuses on the different influences on word formation in language contact, as shown by suffix formation in Swiss German. The best known interference in language contact is that on the lexical level: Loanwords. Besides this, suffixes and word formation patterns can also be borrowed: For example the collective suffix ere in Swiss German, a loan suffix from the Latin suffix āria . Finally, borrowings are also possible on the phonetic-phonological level: Language contact can have effects on the syllable structure of languages: The large amount of different diminutive suffixes in Swiss German can be explained in this way. 1 Einleitung Thema des vorliegenden Aufsatzes sind die verschiedenen Einflüsse auf die Wortbildung in Sprachkontaktsituation, dargestellt anhand der Suffixbildung im Schweizerdeutschen. Treffen zwei verschiedene Sprachen aufeinander, werden diese gewissen Interferenzen ausgesetzt. Am bekanntesten sind solche gegenseitigen Einwirkungen wohl auf lexikaler Ebene (Stichwort Lehnwort), daneben sind aber auch solche auf morphologischer (Stichworte Lehnsuffix, Lehn-Wortbildungsmuster) und auf phonetisch-phonologischer Ebene zu verzeichnen: Treffen nämlich verschiedene Sprachtypen mit unterschiedlicher Silbenstruktur zusammen (z. B. eine Wortsprache auf eine Silbensprache oder die Silbensprache X auf die Silbensprache Y), so kann auch die Silbenstruktur (der einen Sprache) Einfluss auf die Wortbildung (der anderen Sprache) haben. Die Interferenzen auf den letzten zwei Ebenen sollen im Folgenden anhand von ein paar verschiedenen schweizerdeutschen Suffixen dargelegt werden. <?page no="30"?> 30 Roland Hofer 2 Neue Suffixe durch Entlehnung Exemplarisch soll hier das Lehnsuffix schwzd. ere < mhd. erra , er ( r ) e < ahd. arra < lat./ roman. āria vorstellt werden (vgl. Hofer 2012 : 92 ; Sonderegger 1958 : 471 f.; Szadrowsky 1938 : 31 ; Bach 1952 - 1956 , II/ 1 : 198 ). Das Suffix schwzd. ere hat, entsprechend seinem lateinisch/ romanischen Vorbild, kollektive Funktion und die Bildungen damit sind ausschliesslich desubstantiv, d. h. ihre Basis ist eine Sache. Das Suffix verbindet sich in der Regel mit Pflanzenbezeichnungen, Tierbezeichnungen, Bezeichnungen für Mineralien oder für sonstiges Erdmaterial (Hofer 2012 : 92 ; vgl. Beispiele unten). Das Suffix ere ist in der schweizerdeutschen, insbesondere in der westschweizerdeutschen Toponymie weit verbreitet: Damit gebildete Flurnamen sind vor allem sogenannte Standortkollektiva, d. h. sie zeigen den räumlichen Bereich an, wo die in der Derivationsbasis genannte Sache von Natur aus in großer Menge vorhanden ist, angepflanzt oder abgebaut wird (Hofer 2012 : 92 , 208 ; Sonderegger 1958 : 471 ; Bach II / 1 , 198 ). Beispiele dafür aus dem bernischen Namengut sind Nesslere ‚Stelle, wo viele Nesseln wachsen‘, Dinklere ‚Stelle, wo Dinkel angebaut wird‘, Fröschere ‚Ort, wo viele Frösche sind‘, Dräckere ‚Stelle, wo viel Dreck, Morast ist‘, Chalchere ‚Ort, wo viel Kalk vorhanden ist/ gebrannt wird‘, Leimere ‚Stelle, wo viel Lehm ist, Lehmgrube‘ (Hofer 2012 : 97 , 100 f., 103 , 105 - 108 ). Mit den lateinischen Suffixen ārius m., āria f. und ārium n. wurden ursprünglich Zugehörigkeitsadjektive von Sachbezeichnungen gebildet (z. B. ferrārius ‚zum Eisen gehörig‘). Schon im Lateinischen entstanden durch Ellipse von Bezugswörtern wie z. B. faber ‚Verfertiger‘ zahlreiche Substantivierungen: faber ferrārius ‚Schmied‘ > ferrārius ‚Schmied‘ (vgl. Lühr 2008 : 44 f., 120 ). Substantivierte Bildungen im Femininum und Neutrum dienten dann im späteren Lateinischen bzw. im Romanischen v. a. als Bezeichnungen für Örtlichkeiten, wo z. B. ein Gegenstand vorkommt, hergestellt, verkauft wird, Orte für Tieraufzucht usw., z. B. a rēnāria ‚Sandgrube‘, calcāria ‚Kalksteinbruch, Kalkofen‘, ficćria ‚Feigenpflanzung‘ oder oviāria ‚Schafzuchtbetrieb‘ (Lühr 2008 : 52 f.; Meyer-Lübke 1894 : 509 - 512 ). Überaus produktiv wird das Suffix āria im Romanischen, insbesondere in Verbindung mit Pflanzenbezeichnungen (Meyer- Lübke 1894 : 511 f.). Zum Entlehnungsprozess (Hubschmied 1940 : 29 f.; Szadrowsky 1938 : 37 - 41 ): Das lateinish-romanische Suffix āria wurde von den Alemannen nicht als isoliertes Suffix übernommen, sondern in Verbindung mit verschiedenen Wörtern. Vorbilder von auf ere ausgehenden schweizerdeutschen Flurnamen sind lateinische/ romanische Bildungen wie z. B. lat. calcāria ‚Kalksteinbruch, Kalkofen‘ bzw. darauf basierende romanische Flurnamen. Die Alemannen übernahmen so auch die Funktion des Suffixes und wandten es nach dem romanischen Muster auch an eigenem Wortgut an. Schweizerdeutsche Flurnamen wie Chalchere <?page no="31"?> Der Einfluss von Sprachkontakt und Silbenstruktur auf die Wortbildung 31 können also entweder direkt auf eine rein romanische Bildung calcāria zurückgehen (roman. calcāria > schwzd. Chalchere mit Reduktion von roman. āria zu schwzd. ere aufgrund des deutschen Initialakzents und durchgeführter zweiter Lautverschiebung von roman. c > schwzd. ch ), oder können, was in den meisten Fällen wahrscheinlicher ist, auch jüngere, rein schweizerdeutsche Bildungen sein: Calch + ere > Chalchere (Hofer 2012 : 94 ). 3 Entlehnung von Wortbildungsmustern Durch Sprachkontakt können wie eingangs angetönt neben Wörtern und Suffixen auch Wortbildungsmuster entlehnt werden. Konkret geht es hier um das in der schweizerdeutschen Toponymie weit verbreitete Wortbildungsmuster, mittels Movierung den Besitz oder Wohnsitz einer Person/ Familie (auch einer Gemeinschaft oder Institution) anzuzeigen, z. B. Müllere f. ‚Besitz (Wiese, Hof usw.) der Familie Müller‘. Die Basis bildet hierbei meist ein Familienname, der auf er ausgeht (Hofer 2012 : 119 ). Movierung mittels Suffixableitung wird im appellativen Bereich bekannterweise dafür verwendet, um aus persönlichen maskulinen Bildungen feminine Bildungen zu machen (Bußmann 2008 : 458 ). Im Schweizerdeutschen wird neben dem (mit nhd. in identischen) Suffix i ( n ), z. B. Lehreri ( n ) f., auch mit dem Suffix -( er ) e moviert, z. B. Lehrer m. - Lehrere f., FN Kopp m. - Koppere f. ‚Frau (des Herrn) Kopp‘ (Hofer 2012 : 119 ; SDS III , 159 f.). Es ist nun nichts Außergewöhnliches, dass Bildungen in der Toponymie neue oder andere Funktionen erhalten können, die sie im normalen Sprachgebrauch nicht haben. Beispielsweise werden Diminutivbildungen in der Schweizerdeutschen Toponymie oft nicht dafür benutzt, um die Kleinheit einer Flur hervorzuheben, sondern um damit die geographische Lage bzw. Zugehörigkeit zu einer anderen Flur anzuzeigen, z. B. in Langnau im Emmental Büelti neben Büel , in Brienzwiler Schlusselti neben Schlussel usw., wobei das Grundstück mit dem Diminutivsuffix im Namen flächenmäßig nicht unbedingt kleiner sein muss als das andere (Hofer 2012 : 31 , 55 ; cf. auch Odermatt 1903 : 59 ). Weiter können auch unveränderte und unflektierte Personennamen bzw. Familiennamen als besitzanzeigende oder wohnsitzanzeigende Flurnamen stehen, v. a. bekannt im Berner Oberland: Flurname Wäfler ( 4 Häuser in Frutigen; zum Familiennamen Wäfler ), Flurname Schuler (Heimwesen in Adelboden; zum Familiennamen Schuler ) oder Flurname Balsiger (Weide in Reichenbach; zum Familiennamen Balsiger ) (Hofer 2012 : 120 ; Hubschmied 1940 : 49 f.). Eine neue Funktion hat nun auch die Movierung in der schweizerdeutschen Toponymie angenommen, nämlich die Funktion der Besitzanzeige. Solche movierte feminine Bildungen sind v. a. im Westschweizerdeutschen, insbesondere in den Kantonen Bern und Freiburg, also in Sprachgrenzregionen, sehr häufig <?page no="32"?> 32 Roland Hofer (Szadrowsky 1938 : 35 ; Hofer 2012 : 119 - 167 ). Vorlage für solche schweizerdeutschen Flurnamen sind die im Romanischen, im Französischen und in der Romandie (der französischsprachigen Schweiz) häufigen besitzanzeigenden femininen Toponyme, gebildet mit unterschiedlichen Suffixen: Richardière ‚Besitz, Wohnsitz eines Richard m.‘, La Perretta f. ‚Gut, Alp eines Perret m.‘, La Philipona f. ‚Gut, Alp eines Philipon m.‘ (Hubschmied 1938 : 722 ; Hubschmied 1940 : 51 ; Vincent 1937 : 274 f.; Muret 1930 : 89 f.; Hofer 2012 : 209 f.). In diesem Fall wurde von den Alemannen also nicht ein Suffix entlehnt, sondern das Muster. D. h. die Motionsbildung wurde mit Mitteln aus der eigenen Sprache dem romanischen Muster lediglich nachempfunden (Hofer 2012 : 210 ); konkret mit eigenem Suffix schwzd. e < ahd. -( i ) a < germ. *-( j ) ōn (cf. Henzen 1965 : 134 , 163 ), das an mask. Bildungen mit er -Auslaut angehängt wurde. Dadurch, dass der Ausgang dieser movierten femininen Bildungen die gleiche Lautgestalt hat wie bei den Kollektivbildungen auf ere , entsteht die Schwierigkeit, die Bildungen auseinanderzuhalten: Der bernische Flurname Haslere kann demnach als ‚Stelle, wo viele Haselstauden wachsen‘ oder ‚Besitz der Familie Hasler‘ gedeutet werden (Hofer 2012 : 183 ). Abhilfe schaffen kann in solchen Fällen die Realprobe oder die Familiennamenforschung. 4 Neue Suffixe durch Einfluss auf der Ebene der Silbenstruktur Die Schweiz beherbergt wohl die größte Suffixvielfalt des ganzen deutschen Sprachraumes. Dies wird im Bereich der Diminution besonders deutlich. Während beispielsweise im Standarddeutschen Verkleinerungsformen mit chen und lein gebildet werden, verfügt das Schweizerdeutsche über eine ungleich größere Palette, Diminutiva abzuleiten (Hofer 2012 : 12 ). So gibt es neben dem üblichen und am weitesten verbreiteten Diminutivsuffix -( e ) li ( Mätteli ‚kleine Matte‘, Hüsli ‚Häuschen‘) auch noch die vor allem im Berner Oberland, im Wallis, in der Zentralschweiz und in Graubünden vorkommenden Verkleinerungssuffixe i ( Öpfi ‚Äpfelchen‘), ti ( Tälti ‚Tälchen‘), elti ( Brüggelti ‚Brücklein‘), etli ( Alpetli ‚kleine Alp‘) und die typisch walliserischen bzw. walserischen Suffixe ji ( Lammji ‚Lämmchen‘), si ( Mundsi ‚Küsschen‘), schi ( Hundschi ‚Hündchen‘), -tsi ( Manntsi ‚Männchen‘) und tschi ( Hüentschi ‚Hühnchen‘). Wie erklärt sich nun diese Suffixvielfalt? Voraussetzung dafür ist der Sprachkontakt von Alemannen und Romanen, genauer frankoprovenzalisch sprechenden Menschen. Schauen wir uns die Entstehung dieser Suffixe genauer an (cf. Abb. 1 ): Ausgangssuffix all dieser Diminutivsuffixe ist ahd. ī ( n ). Verbindet sich dieses mit einem Wort mit ahd. il -Auslaut, entsteht die Lautverbindung ahd. ilīn (z. B. ahd. leffil ‚Löffel‘ leffilīn ‚Löffelchen‘), die sich dann selbständig machen kann und als eigenständiges Suffix produktiv wird: Suffix ahd. ilīn (z. B. in ahd. kindilīn ). <?page no="33"?> Der Einfluss von Sprachkontakt und Silbenstruktur auf die Wortbildung 33 Ausgangssuffix Suffix ahd. -ī(n) Suffix li Suffix etli Suffix g(j)i Suffix schi Suffix tschi Suffix tsi Suffix si Suffix ti Suffix elti Folgesuffixe Legende: S Suffix V Verschmelzung WA Wortauslaut V mit -il- WA V mit et(e) -WA/ mit S etta Palatalisierung Palatalisierung Palatalisierung Affrizierung Affrizierung Assibilierung t -Epenthese V mit el -WA Velarisierung des d -WA Suffix ji Abb. 1 Suffixstammbaum (aus: Hofer 2012: 86) Folgendes (vereinfachtes) Szenario der Entwicklung der walserischen Diminutivsuffixe ist nun denkbar: Als die Alemannen vor dem Jahr 1000 , aus dem Berner Oberland kommend, ins das romanisch sprechende bzw. von Romanen besiedelte Wallis (heutiges Deutschwallis) vorstießen (cf. Abb. 2 ), brachten sie auch ihr Suffix ahd. ilīn dorthin. Das langjährige Neben- und Miteinander von Alemannen und Romanen im Wallis führte naturgemäss zu Interferenzen. Das Suffix ahd. ilīn wurde im romanischen Mund zu altwalliserdeutsch *-( i ) jī ( n ) und schließlich zu walliserdeutsch ji gewandelt (Hofer 2012 : 63 ): Der deutsch lernende Romane (wir befinden uns ja im späteren Deutschwallis) sprach das von den Alemannen mitgebrachte ahd. * huntilīn also als * hundijīn aus. Fällt das i später aus, ergibt sich heutiges walliserdeutsch Hundji ‚Hündchen‘. Diese sog. l -Palatalisierung betraf nun nicht nur das althochdeutsche Suffix. ilīn , sondern allgemein die althochdeutsche Phonemfolge il + Vokal (Haas 1983 : 1112 ). Somit waren auch andere Suffixe davon betroffen, z. B. ahd. ila , cf. ahd. distila f. ‚Distel‘ > walliserdeutsch Distja (cf. Moulton 1941 : 41 ). Wieso nun diese Palatalisierung? Sie ist ein Resultat des Einflusses der romanischen Substratsprache, genauer des Frankoprovenzalischen (Moulton 1941 : 32 f. u. 41 f.). Die Lautfolge ilīn scheint nicht in die romanische Silbenstruktur zu passen. D. h. der deutsch lernende Romane passte diese Lautverbindung ilīn der eigenen Silbenstruktur an, indem er das l vokalisierte. l -Vokalisierung ist <?page no="34"?> 34 Roland Hofer typisch für die romanischen Sprachen, man vgl. dazu postkonsonantisch in den Lautverbindungen cl , gl , pl , bl , fl , z. B. lat. flamma > ital. fiamma , und intervokalisch, z. B. lat. filia > frz. fille [fij] (cf. Meyer-Lübke 1890 : 345 - 351 , 435 - 439 ; Rheinfelder 1976 : 200 ). Abb. 2 Besiedlung der Schweiz (aus: Zinsli 1971: 49) Das neue durch l -Palatalisierung entstandene Suffix ji ist wiederum Grundlage der meisten anderen Suffixe (cf. Abb. 1 ). Je nach Lautumgebung entwickeln sich daraus die typisch walliserischen bzw. walserischen Suffixe si , schi oder ti (Letzteres nach l -Auslaut, Genaueres dazu und zu den Suffixen, die hier nicht behandelt werden, siehe Hofer 2012 : 45 - 82 ), je nach Region oder Intensität des Sprachkontaktes kann das Suffix ji aber auch unverändert bleiben (Hofer 2012 : 78 ). Daher finden sich auf engem Raum im Wallis mehrere Formen noch heute nebeneinander, z. B. Hundji neben Hundsi und Hundschi (cf. SDS III , 156 ). Tritt das Suffix ji an einen d -Auslaut an, ergibt sich die Lautfolge dji -. Diese ist im Romanischen phonotaktisch nicht zulässig und führt zudem zu einem <?page no="35"?> Der Einfluss von Sprachkontakt und Silbenstruktur auf die Wortbildung 35 „schlechten“ Silbenkontakt (s. dazu weiter unten) und damit zu einer „schlechten“ Silbenstruktur. Phonotaktik ist der Bereich der Phonologie, der sich mit möglichen und unmöglichen Kombinationen von Segmenten in einer Sprache befasst: / pft/ z. B. ist im Deutschen nur im Silbenauslaut ( er hüpft ), nicht aber im Silbenanlaut zulässig (Hall 2000 : 60 ; Bussmann 2008 : 528 ). Die Romanen passen nun auch diese Lautfolge an die romanische Silbenstruktur an, indem sie den „schlechten“ Silbenkontakt und die phonotaktische Hürde beseitigen, und zwar mittels Assibilierung (auch Assibilation, zu lat. ad ‚ hinzu‘ und sībilāre ‚ zischen‘), einer Zischlautentwicklung u. a. zwischen Dental und i / j (Bussmann 2008 : 64 f.; Knobloch 1986 : 182 f.; Abraham 1988 : 64 ). Dies führt dann nach Ausfall des j zu den neuen Suffixen schwzd. si und schi : Hund ji > Hund s ( j ) i > Hund si bzw. Hund ji > Hund sch ( j ) i > Hundschi (Hofer 2012 : 76 , 79 f.). Man vgl. dazu ähnliche Assibilierungsfälle: lat. generatio > nhd. Generation [-tsion] bzw. frz. génération [-siõ]; oder die bernischen Flurnamen Bütschel < altfrankoprovenzalisch * pudzyol , assibiliert aus lat./ roman. * podiolum ‚kleine Anhöhe‘, Diminutiv von lat. podium ‚Erhöhung‘ (cf. BENB I/ 4 , 767 f.). Die Suffixe si , schi und auch ji sind also als romanisch-alemannische Interferenzerscheinungen zu werten, sie sind lautbestimmte Suffixe, die aus der Anpassung von für den Romanen fremden Lautverbindungen an die romanische Silbenstruktur resultieren (Hofer 2012 : 79 f., 83 ). Solche eben beschriebenen Vorgänge (Verbesserung des Silbenkontakts, phonotaktische Vereinfachung) sind typisch für Silbensprachen. Sie tendieren dazu, die Silbe bzw. die Silbenstruktur zu optimieren. Als Silbensprachen gelten insbesondere die romanischen Sprachen, aber auch das Schweizerdeutsche (insbesondere das Walliserdeutsche) und das Althochdeutsche. Im Gegensatz dazu gilt das Neuhochdeutsche als Wortsprache (Nübling/ Schrambke 2004 : 281 - 286 , 293 - 299 ; Nübling 2008 : 17 , 22 - 24 ; Szczepaniak 2007 : 317 - 325 ). Es ist hier noch anzumerken, dass nicht jede Silbensprache alle möglichen Merkmale einer Silbensprache besitzen muss; auch kann eine bestimmte Silbensprache ein typisches silbensprachliches Merkmal aufweisen, welches aber andere Silbensprachen nicht notwendigerweise auch enthalten müssen (cf. Nübling/ Schrambke 2004 : 285 ). Zur Analyse des „schlechten“ Silbenkontakts / d.j/ werden hier zunächst ein paar silbenstrukturelle Ausführungen benötigt. Eine optimale Silbe besteht aus einem starken Konsonanten (C) im Silbenonset (cf. Abb. 3 ), einem Vokal (V) im Silbennukleus (Silbenkern) und einer leeren Silbenkoda (Silbenauslaut, Silbenendrand). Dies führt also zu sog. CV -Silben wie z. B. [ta], die am leichtesten aussprechbar sind (Vennemann 1986 : 33 ; Nübling 2008 : 17 ). <?page no="36"?> 36 Roland Hofer a e i j r l m v f pf b p o u n z s, ε ts d t ό x g k zunehmende Sonorität zunehmende konsonantische Stärke Abb. 3 Sonoritätsbzw. Stärkeskala (vereinfachte Abb. nach Nübling 2008: 15 u. Vennemann 1986: 36) Vokale haben naturgemäß die größte Sonorität (auch Schallfülle: relative Lautheit eines phonologischen Segments, cf. Restle/ Vennemann 2001 : 1310 ; Bussmann 2008 : 633 ). Je weniger sonor ein Konsonant ist, desto höher ist seine konsonantische Stärke. Wenn man die Stärkeskala mit numerischen Werten versieht, kann man den Silbenkontakt / k 1 .k 2 / berechnen (cf. Abb. 4 ). 1 2 3 4 5 6 v r l m d t j n b p g k f s Abb. 4 Stärkeskala mit numerischen Werten (nach Restle/ Vennemann 2001: 1318) Je größer die Differenz in der konsonantischen Stärke zwischen k 2 und k 1 ist, desto besser ist der Silbenkontakt (Vennemann 1986 : 39 - 42 ; Hall 2000 : 227 ; Restle/ Vennemann 2001 : 1317 ). Das heisst also, je grösser also k 2 - k 1 ist, desto besser ist der Silbenkontakt. Bspw. hat nhd. / hal.ten/ einen sehr guten Silbenkontakt: Das / t/ ist mit dem numerischen Wert 6 ist k 2 , das / l/ mit dem numerischen Wert 3 ist k 1 (k 2 - k 1 = 3 ). Aneinandergereihte CV . CV -Silben wie */ ta.ta/ haben den besten Silbenkontakt ( 6 - 0 = 6 ; unter Ergänzung des Werts Null für den Vokal / a/ in der Abb. 4 ). Schauen wir uns das jetzt exemplarisch am schweizerdeutschen Suffix schi an: / Hund.ji/ (- 4 = sehr schlechter Silbenkontakt) > / Hun.dschi/ ( 1 = guter Silbenkontakt) > / Hun.tschi/ ( 2 = guter Silbenkontakt). Durch Assibilierung hat sich also der Silbenkontakt enorm verbessert (Hofer 2012 : 80 ). Zudem wird da- <?page no="37"?> Der Einfluss von Sprachkontakt und Silbenstruktur auf die Wortbildung 37 durch die Silbengrenze zu Ungunsten der Morphemgrenze verschoben, was ein typisches Merkmal von Silbensprachen ist (Nübling/ Schrambke 2004 : 281 f.). Es ist hier die romanische Segmentierung angegeben, da es eine romanische Entwicklung ist und / tsch/ im Romanischen als Silbenonset phonotaktisch zulässig ist. Im Deutschen hingegen scheint dies nicht der Fall zu sein, cf. nhd. rutschen oder Bratsche , die als / rut.schen/ , / Brat.sche/ , nicht als / ru.tschen/ , / Bra.tsche/ silbifiziert werden; die Lautfolge / tsch/ ist im Deutschen sekundär entstanden, cf. nhd. rutschen < spätmhd. * ruckezen , Intensivbildung zu nhd. rucken (Lexer II , 559 ; DWB VIII , 1568 f.; Id. VI , 1856 - 1859 ), durch Vokalausfall, cf. ahd. diutisc > nhd. deutsch (Kluge 2002 : 193 f.; Starck/ Wells, 1971 - 1990 , 103 ), oder aus Fremdwörtern, cf. nhd. Bratsche < ital. viola da braccio , zu lat. brac ( c ) hium ‚Arm‘ (Kluge 2002 : 146 ). Durch die Verbesserung des Silbenkontakts und die Verschiebung der Silbengrenze sind die Voraussetzungen gegeben, erneut ein neues Suffix zu generieren, nämlich schwzd. tschi , und zwar durch Verschmelzung von d -/ t -Auslaut mit dem neuen Suffix schi und anschliessender morphologisch falscher Ablösung (Hofer 2012 : 75 , 80 ): Hund schi > Hun dschi bzw. fortisiert Hun tschi . Das Suffix kann sich dann verselbständigen und produktiv werden, z. B. Schaf - Schaf tschi ‚Schäfchen‘. Dieser eben beschriebene Vorgang (Verschmelzung und falsche Ablösung) ist in der Bildung von Diminutivsuffixen häufig (Hofer 2012 : 60 , 62 , 236 ), cf. die Entstehung der Suffixe schwzd. li (ahd. leffil īn > leff ilīn ; ahd. ilīn > schwzd. -( i ) li ; s. auch oben) oder schweizerdeutsch elti ( Stafel ti ‚kleine Alphütte‘ > Staf elti ; das abgelöste Suffix elti wird dann produktiv, z. B. in Brügg elti ‚kleine Brücke‘). Literatur Abraham, Werner (1988): Terminologie zur neueren Linguistik . 2 Bde. Zweite, völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: Niemeyer. Bach, Adolf (1952-1956): Deutsche Namenkunde . 3 Bde. Heidelberg: Winter. Bde. I/ 1 u. I/ 2: Die deutschen Personennamen. 2. Auflage 1952/ 53; Bde. II / 1 u. II / 2: Die deutschen Ortsnamen. 1953/ 54; Bd. III : Register. Bearb. von Dieter Berger 1956. BENB : Zinsli, Paul et al. 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Bußmann, Hadumod (2008): Lexikon der Sprachwissenschaft . Vierte, durchgesehene und bibliographisch ergänzte Auflage. Stuttgart: Kröner. DWB : Grimm, Jakob/ Grimm, Wilhelm (1854-1960) Deutsches Wörterbuch . 16. Bde. Leipzig: Hirzel. Haas, Walter (1983): „Vokalisierung in den deutschen Dialekten“. In: Besch, Werner et al. (eds.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung . 2. Halbband. Berlin/ New York: de Gruyter: 1111-1116. (= Handbücher zur Sprach und Kommunikationswissenschaft 1.2). Hall, Tracy Alan (2000): Phonologie . Eine Einführung. Berlin/ New York: Gruyter. Henzen, Walter (1965): Deutsche Wortbildung . 3. Auflage. Tübingen: Niemeyer. (= Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte , B. Ergänzungsreihe 5). Hofer, Roland (2012): Suffixbildung im bernischen Namengut . Die Diminutiva auf ti,-elti , etli und die Kollektiva auf ere . Ein Beitrag zur Namengrammatik. Basel: Schwabe. 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Paris: Librairie Ernest Leroux. (= Collection de documents linguistiques 3). Nübling, Damaris (2008): Historische Sprachwissenschaft des Deutschen . Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels. In Zusammenarbeit mit Antje Dammel, Janet Duke und Renata Szczepaniak. 2. Auflage. Tübingen: Narr. Nübling, Damaris/ Schrambke, Renate (2004): „Silbenversus Akzentsprachliche Züge in germanischen Sprachen und im Alemannischen“. In: Glaser, Elvira/ Ott, Peter/ Schwarzenbach, Rudolf (eds.) Alemannisch im Sprachvergleich. Beiträge zur 14. Arbeitstagung für alemannische Dialektologie in Männedorf ( Zürich ) vom 16.-18. 9. 2002 . Stuttgart, Steiner: 281-320. (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beihefte . Heft 129). Odermatt, Esther (1903): Die Deminution in der Nidwaldner Mundart . Zürich: Zürcher & Furrer. Restle, David/ Vennemann, Theo (2001): „Silbenstruktur“. In: Haspelmath, Martin/ König, Ekkehard/ Oesterreicher, Wulf et al. 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Acronyms are categorized as a subtype of short words and hence as products of word formation. They carry specific functional features such as economic, emblematic and creative labelling techniques as well as text structuring characterics. Furthermore, the following presents empirical findings on „ AQ **“ (with reference to suborganizations of Al-Qaida) and „ IS **“ (Islamic State with various alternative names). These organization acronyms form a very prolific type of discoursive and semiotic instruments. 1 Einleitung: Vorhaben und Vorgehen In diesem Aufsatz wird ein spezielles Wortbildungsphänomen in ganz bestimmten Verwendungskontexten behandelt, nämlich Akronyme, auch Initialkurzwörter genannt, die zur Benennung islamistisch-terroristischer Organisationen dienen. Bei der Kurzwortbildung geht es um ein Forschungsgebiet, das innerhalb der Disziplin der Wortbildung gelegentlich immer noch als randständig angesehen wird (cf. beispielsweise Naumann 2000 : 25 oder Bußmann 2008 : 796 ; zur Kritik an der marginalisierten Stellung der Kurzwortforschung innerhalb der Wortbildung siehe schon Kobler-Trill 1994 : 3 ) und relativ wenig Beachtung erfährt. Kürzungsverfahren zur Schaffung neuer lexikalischer Einheiten gelten zugleich als hochgradig produktiv. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Produkten und Prozessen sprachlicher Kürzungen ist insgesamt noch recht jung, hat sich aber in den letzten Jahren etabliert und ausdifferenziert. Nach den frühen, 1 Für die Organisation der Tagung zum Thema Wortbildung ebenso wie die Möglichkeit der Publikation in diesem Rahmen möchte ich mich hiermit herzlich bei Prof. Dr. Elke Hentschel bedanken! Ebenso danke ich den anonymen GutachterInnen für viele hilfreiche und konstruktive Kommentare! <?page no="41"?> AQ + IS 41 wegweisenden Aufsätzen von Bellmann ( 1980 ) und Schröder ( 1985 ) lieferte Kobler-Trill ( 1994 ) die erste umfassende und systematische Abhandlung zum Thema. Neben einigen Monographien - von Steinhauer ( 2000 ) zu Kurzwörtern in Fachsprachen, von Grebovic ( 2007 ) in elektronischer Form zu Kurzwörtern in Pressetexten und von Balnat ( 2011 ) zu Kurzwörtern in Chatkommunikation - finden sich Beschreibungen der Kurzwortbildung vor allem in Werken zur Wortbildung (hier vor allem Fleischer/ Barz ( 1995 / 2012 ) und Eichinger ( 2000 )) sowie im von Barz verfassten Kapitel „Wortbildung“ in der Duden-Grammatik ( 2005 ). Weitere wichtige Beiträge zur Kurzwortbildung bilden die Aufsätze von Michel ( 2006 ), in dem u. a. eine Prototypologie der Kurzwörter vorgeschlagen wird, und Michel ( 2011 ) zu System- und Gebrauchsaspekten von Kurzwörtern. Weitere, teilweise auch kontrastive Untersuchungen finden sich ferner im Sammelband von Bär/ Roelke/ Steinhauer ( 2007 ). In vielen Auseinandersetzungen mit der Kurzwortbildung gibt es einen klaren Fokus auf klassifikatorische und typologische Fragestellungen. Demgegenüber werden in der vorliegenden Arbeit funktionale und diskursive Perspektiven im Vordergrund stehen, indem konkrete Fälle thematisch eingrenzbarer Kurzwörter in medialen Kontexten untersucht werden. Dies kann als der Versuch einer pragmatisch ausgerichteten Kurzwortforschung angesehen werden, wie sie Michel ( 2006 : 80 ) angesichts der aktuellen Sprachentwicklung gefordert hat. Dabei soll gezeigt werden, dass man eine bestimmte, weit verbreitete Gebrauchsweise von Akronymen als eigenen Typ auffassen kann. Im Folgenden soll daher in diesem Zusammenhang von Organisationsakronymen die Rede sein. Ausgehend von einer terminologischen Klärung wird zunächst ein Überblick über die Charakteristika und Funktionalitätsbezüge der Kurzwörter innerhalb der Wortbildung gegeben. Im Anschluss daran werden ausgewählte Ergebnisse einer umfangreichen empirischen Untersuchung zum medialen Diskurs über islamistischen Terrorismus - nämlich das markante Auftreten von Kurzwörtern, die zur Benennung der terroristischen Akteure eingesetzt werden - präsentiert und diskutiert und um aktuelle Beobachtungen und tentative Analysen zur Berichterstattung um den „Islamischen Staat“ ergänzt. Nach einer Zusammenfassung der Ergebnisse werden schließlich einige Hypothesen zu Gebrauchsmerkmalen und -potentialen sowie zur Verbreitung von Organisationsakronymen formuliert. Insgesamt werden somit zwei unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgt: In erster Linie wird danach gefragt, welche Kurzwortbildungsprodukte sich im Korpusmaterial finden lassen und was ihre konkreten Verwendungskontexte sowie spezifischen diskursiven Funktionen sind. 2 Das zweite Ziel besteht da- 2 Die zu besprechenden Kurzwörter interessieren hier mithin eher als textuell eingebettete, diskursiv und funktional bedeutsame Phänomene. Ihre Form und die zugrundeliegen- <?page no="42"?> 42 Jan-Henning Kromminga rin, die Konzeptualisierung herauszuarbeiten, die der Benennung prominenter terroristischer Akteure zugrunde liegt und die als konkretes Beispiel für das Beziehungsverhältnis von sprachlicher Darstellung und gesellschaftlich etablierter Deutung des islamistischen Terrorismus angesehen werden kann. 2 Akronyme und Kurzwortforschung Eine brauchbare Definition von Kurzwörtern könnte diese als graphisch und phonisch realisierten, wortförmigen Output bestimmen, der durch einen näher zu spezifizierenden Kürzungsprozess aus einer ausdrucksseitig umfangreicheren Einheit gebildet wurde. Diese absichtlich weit gefasste Definition orientiert sich an Michel ( 2006 : 79 ), wobei an seinem Ansatz zu kritisieren wäre, dass er von einer wortförmigen Kürzungsgrundlage ausgeht (siehe hierzu auch Kromminga 2007 : 16 ). Dies entspricht nicht meiner Einschätzung: Vielmehr können ganz verschiedene sprachliche Einheiten auf wenige Elemente reduziert und univerbiert werden. Bei den Ausgangsformen der Akronyme handelt es sich oft um komplexe Nominalphrasen mit mehreren, teilweise tief eingebetteten Attributen und viel lexikalischem Material, das in der ausdrucksseitigen Reduktion entweder völlig verschwindet oder auf wenige Zeichen reduziert wird (bspw. ARD < Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland ). Anfangs war in der Kurzwortforschung die Annahme verbreitet, Kurzwörter und ihre Basislexeme müssten synonym zueinander sein (cf. Kobler-Trill 1994 : 13 - 15 ). Diese Forderung ist aber nicht mit der sprachlichen Realität vereinbar und folglich ad acta gelegt worden (cf. Michel 2011 : 143 - 161 ). Weber ( 2002 ) differenziert beispielsweise Kurzwörter, die sich u. a. hinsichtlich ihrer Referenz (z. B. BMW ‚Fahrzeug‘ vs. Bayrische Motorenwerke ‚Fabrik‘) oder ihrer Konnotationen (z. B. Prof vs. Professor ) gegenüber ihren jeweiligen Vollformen unterscheiden. Hinzu kommt, dass bei einigen hochfrequenten Kurzwörtern das Wissen um die dazugehörige Vollform kaum noch vorhanden ist; so war beispielsweise in einer Untersuchung von Weber ( 2002 ) die Wortfolge, die sich hinter der Abkürzung ARD verbirgt, nicht bekannt. Dies legt nahe, dass Akronyme als eigenständige Einheiten ins mentale Lexikon aufgenommen werden. Bei der Klassifikation von Kurzwörtern gibt es verschiedene Möglichkeiten. Häufig findet sich eine Einteilung in Abhängigkeit davon, wie viele Elemente im Kürzungsprozess übernommen werden, ob es sich also um unisegmentale ( Uni < Universität ) oder multisegmentale Kurzwörter ( WM < Weltmeisterschaft ) den Kürzungsoperationen stehen weniger im Vordergrund als ausgehend von anderen Herangehensweisen an Kurzwörter vielleicht erwartbar wäre. Die Relevanz dieser pragmalinguistisch ausgerichteten Frageperspektive sowohl für die Kurzwortforschung als auch für die Wortbildung im Allgemeinen wird hoffentlich im Folgenden deutlich. <?page no="43"?> AQ + IS 43 handelt. Als eine andere Subklasse können dann partielle Kurzwörter ( U-Bahn < Untergrundbahn , E-Mail < electronic mail ) angesehen werden, bei denen nur eine reduzierte Initiale mit dem stets gleichen Grundwort neu kombiniert wird. Ferner werden Kurzwörter danach eingeteilt, welchen Status die herausgekürzten Elemente in der Ausgangsform hatten, so dass Morphemkurzwörter ( Hoch < Hochdruckgebiet ), Silbenkurzwörter ( Kripo < Kriminalpolizei ) und Buchstaben- oder auch Initialkurzwörter ( SFV < Schweizer Fussballverband ) unterschieden werden können. Mit solchen Einteilungen werden jedoch im Grunde recht disparate Phänomene zusammengefasst. Die Kürzungen durch Entfernen von Wortbestandteilen bei unisegmentalen Wörtern und die Herauslösung und Neuzusammensetzung von einzelnen Graphemen oder Silben bei multisegmentalen Wörtern sind gänzlich unterschiedliche Verfahren, und auch die jeweiligen Kürzungsresultate haben verschiedene Eigenschaften, zu denen nicht zuletzt unterschiedliche Verbreitungsmuster in den Medialitätsdomänen der Sprache gehören. Während unisegmentale Kurzwörter primär im mündlichen Sprachgebrauch auftreten, sind multisegmentale Initial- und Silbenkurzwörter konzeptionell schriftlich. Aus diesen Gründen trifft Eichinger ( 2000 : 66 ) in seiner Typologie als erstes die Unterscheidung zwischen a) Kurzwörtern im eigentlichen Sinn (definiert als Kombinationen lesbarer Kurzeinheiten, cf. multisegmentale Initial- und Silbenkurzwörter) und b) gekürzten Wörtern (definiert als Reste von Langeinheiten, cf. unisegmentale Wörter). In der vorliegenden Untersuchung soll es um Kurzwörter im eigentlichen Sinn gehen, während unisegmental gekürzte Formen im Weiteren nicht thematisiert werden. Multisegmentale Initialkurzwörter werden oft noch weiter nach ihrer Aussprache unterschieden, indem sie entweder als Lautwert-orientiert (und neu silbifiziert) wie bei GAU (< Größter anzunehmender Unfall ) oder als Buchstabenorientiert wie bei SNF (< Schweizer Nationalfond ) klassifiziert werden. Da es in der vorliegenden Untersuchung um eine besonders hochfrequente Klasse innerhalb der Kurzwörter gehen soll, die eigene Charakteristika aufweisen, wird im Folgenden der Begriff „Akronym“ 3 für die zu beschreibenden Lexeme verwendet. Die Ausbreitung der Kurzwörter in zahlreichen gesellschaftlichen Sphären und eine ungemein starke Zunahme seit vielen Jahren (cf. Steinhauer 2000 : 1 ) wird gemeinhin darauf zurückgeführt, dass Kurzwörter zugleich mehrere 3 Der Terminus „Akronym“ (von griech. akros , Spitze, Rand) ist über das englische acronym in die deutsche Sprache gelangt und hat sich mittlerweile etabliert (siehe hierzu und zur etwas uneinheitlichen Terminologie Balnat 2011 : 20 - 26 ). Zudem ist dieser Begriff anschlussfähig für die wissenschaftsexterne Öffentlichkeit, in der die wachsende Verbreitung der Akronyme ebenfalls wahrgenommen und diskutiert wird, wie im sprachkritischen Einspruch gegen die sogenannte „Akronymitis“. <?page no="44"?> 44 Jan-Henning Kromminga kommunikative Zwecke erfüllen, indem sie vielen komplexen sprachlichen Bedürfnissen in hochtechnologisierten Informationsgesellschaften genuin entsprechen. Ein Überblick über die verschiedenen Funktionen, die Kurzwörtern zugeschrieben werden können, findet sich bei Michel ( 2006 : 72 - 76 ). Im Folgenden soll es jedoch weniger um eine Gesamtdarstellung aller Funktional- und Wirkungsspezifika gehen, sondern um die Analyse ausgewählter Charakteristika von Kurzwörtern. Ausschlaggebend für den Gebrauch von Akronymen ist sicherlich die ökonomische Komponente. Durch die Reduktion ausdrucksseitigen Zeichenmaterials sind Kurzwörter im Vergleich zu ihren Vollformen zeitbeziehungsweise platzsparend (cf. Kobler-Trill 1994 : 187 ). Dies wirkt umso effektiver, je größer die Differenz zwischen Akronym und Ausgangsbasis ist. Sprachökonomie sollte jedoch nicht als eindimensionales Interesse verstanden werden, das simplerweise durch eine gewisse Kürze im Ausdruck allein zu erreichen wäre. Vielmehr ergibt sie sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Performanzbedürfnisse, die jeweils als produzenten- und rezipientenseitige miteinander konkurrieren können. Ronneberger-Sibold ( 1997 : 251 - 256 ) erwähnt demgemäß neben dem ostentativen Bedürfnis nach Kürze auch das nach Deutlichkeit sowie phonologische Bedürfnisse, wie dies leichte Artikulierbarkeit und rhythmische Gliederung sind. Kurzwörter erfüllen diese im erweiterten Sinne sprachökonomischen Anforderungen in optimaler Weise, vor allem solche Bildungen, die aus zwei (oder auch drei) offenen Silben bestehen (schematisiert als „ KV . KV “, wie Limo aus Limonade oder TH aus Technische Hochschule ). Die Kondensierung ganzer Nominalphrasen auf wenige kurze Silben bedeutet eine eklatante Verdichtung. Die vorher umständlich zu gebrauchenden nominalen Wortgruppen können in gekürzter Form wiederum Wortbildungen eingehen und neue Bezeichnungen bilden. Dies führt folgerichtig zu einer großen Anzahl von Wortbildungskonstruktionen mit Kurzwörtern, wobei die Komposita mit Kurzwörtern als Erstglied deutlich überwiegen (Barz 2005 : 746 ). Aus der Dezimierung ganzer Attributketten auf wenige kurze Silben lässt sich außerdem ein weiterer Vorteil ziehen: Sie „erlaubt ein Referieren ohne mitschwingende ausdrückliche Prädikationen, diese womöglich in Gestalt unzutreffender, überholter oder bestrittener Prädikatoren. […] Kurzwortvarianten erlauben prädikationsfreie Referenz .“ (Bellmann 1980 : 377 , Hervorhebung im Original). Diese Eigenschaft passt in bestimmten Kontexten hervorragend zu onymischen Präferenzen, nämlich dann, wenn für bestimmte Namen möglichst arbiträre, nicht-prädizierende Ausdrücke bevorzugt werden. Hinzu kommt eine von Bellmann ( 1980 : 380 ) beschriebene Foregrounding-Wirkung durch den stilistischen Effekt der Hervorhebung. Kurzwörter, allen voran Initialkurzwörter, bilden als ausdrucksseitig prägnante, inhaltsseitig zunächst einmal „leere“ Wör- <?page no="45"?> AQ + IS 45 ter lexikalische Einheiten, die sich besonders gut zum unmittelbaren Labeling mit hohem Wiedererkennungswert eignen. Mit der formseitigen Kürze gehen in vielen Fällen inhaltsseitige Eigenschaften einher, zu denen die Demotivation gehört. Die reduzierten Formen sind morphosemantisch weniger durchschaubar als ihre Ausgangsbasen, welche wiederum häufig gerade wegen ihrer präzisen Benennungsstruktur besonders umfangreich und infolgedessen kürzungsfreudig sind. Die Demotiviertheit in Form von semantischer Intransparenz tritt vor allem bei multisegmentalen Kurzwörtern auf, bei denen nur Silben oder Grapheme übernommen wurden. Auf Seiten der Rezipienten rufen Akronyme allerdings oft Verständnisschwierigkeiten hervor. Diese treten vor allem dann auf, wenn Textproduzenten die Kenntnis eines Kurzwortes nicht voraussetzen können, obwohl sie zugleich grundsätzlich um Allgemeinverständlichkeit bemüht sein sollten. Dies ist insbesondere bei massenmedial vermittelter Kommunikation der Fall, wie sie etwa in Zeitungstexten vorliegt. Hinsichtlich des Gebrauchs im öffentlichen Diskurs ergibt sich daher ein Spannungsverhältnis, da demotivierte Kurzwörter einerseits besonders prägnant und prädikationsfrei wirken, zugleich aber auch undurchsichtig und unverständlich sein können. Für die entsprechenden Textsorten hat sich in den letzten Jahren eine Strategie entwickelt, mittels derer zwischen ökonomischer Kürze und Verständlichkeit vermittelt wird. So werden Akronyme häufig zunächst zu Beginn des Textes nach dem Muster „Vollform (Kurzwort)“ vorgestellt und anschließend ohne neuerliche Erklärung weiterverwendet. Diese Vollformangabe findet zumeist in den ersten Zeilen eines Textes, aber nicht in Überschriften statt, wo wiederum Akronyme häufig allein verwendet werden. Die gleichzeitige Verwendung von Kurzwort und Ausgangsbasis ist zwar aufgrund der formativen Redundanz unökonomisch, liefert aber einen informationellen Mehrwert, der die Verständlichkeit des Akronyms sicherstellt und seine kommunikative Akzeptabilität erhöht. Diese Variante hat sich gegenüber anderen Möglichkeiten, wie sie etwa bei Schröder ( 1985 : 203 ) beschrieben werden, weitgehend durchgesetzt und ist seit spätestens Ende der 2000 er Jahre die dominante Methode (cf. Kromminga 2007 : 62 - 67 , Fleischer/ Barz 2012 : 290 - 292 ). Ob eine solche Texteinführung notwendig erscheint, hängt naturgemäß in erster Linie davon ab, wie stark ein Kurzwort bereits konventionalisiert und lexikalisiert ist; so werden allbekannte Akronyme wie USA , EU , UNO regelmäßig ohne Erklärung verwendet. Das beschriebene Gebrauchsmuster - Einführung der Akronyme in Kontaktstellung zu ihrer Vollform, darauffolgende Alleinverwendung, häufig auch als Kompositumserstglieder gebraucht - trägt zusätzlich zur Herstellung einer Referenz- oder Isotopiekette bei. Die (partielle) Rekurrenz derselben Zeichen- <?page no="46"?> 46 Jan-Henning Kromminga ausdrücke trägt ebenso wie die textkonstante Etablierung von Referenten zu einer starken Textkohärenz bei. Kurzwörter haben somit als Kohäsions- und Kohärenzmittel auch eine textkonstitutive Potenz (cf. Fleischer/ Barz 2012 : 288 ). 3 Die Referenzialisierungen terroristischer Gruppen in deutschsprachigen Medien Im folgenden Abschnitt sollen relevante empirische Ergebnisse vorgestellt werden, die sozusagen als Nebenprodukt eines anderen Forschungsvorhabens angefallen sind. Im DFG -geförderten Projekt „Aktuelle Konzeptualisierungen von Terrorismus - expliziert am Metapherngebrauch im öffentlichen Diskurs nach dem 11 . September 2001 “ 4 wurde die Frage verfolgt, wie islamistisch motivierter Terrorismus von deutschsprachigen Printmedien dargestellt, also auch konzeptualisiert, perspektiviert und evaluiert wird. Zu diesem Zweck wurde ein umfangreiches Korpus aus Pressetexten erstellt: Mehr als 100 000 themenrelevante Artikel aus 11 deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften aus einem Zeitraum von 1993 bis 2011 wurden gesichert und mit quantitativen und qualitativen Methoden untersucht. 5 Bei der Arbeit im Projekt lag der Fokus in erster Linie auf Metaphern, denen eine äußerst wichtige Rolle bei der diskursiven Verständlichmachung komplexer und abstrakter oder auch brisanter und affektiv aufgeladener Sachverhalte zugesprochen wird (cf. Skirl/ Schwarz- Friesel 2007 ). 6 Aber auch andere sprachliche Mittel wurden im Hinblick darauf untersucht, wie sie zur Konzeptualisierung und Charakterisierung des Gesamtphänomens des islamistischen Terrorismus beitragen. Für eine umfassende Analyse war die Frage unabdingbar, welche konventionellen und innovativen Referenzausdrücke sich für terroristische Akteure finden, wie diese verteilt sind 4 Das Projekt lief von Oktober 2010 bis Juli 2013 am Fachgebiet der Allgemeinen Linguistik der TU Berlin. Projektleiterin war Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel, Mitarbeiter_innen waren Matthias Jakob Becker, Jan-Henning Kromminga, Sara Neugebauer und Helge Skirl. 5 Für eine Darstellung der theoretischen Ausrichtung und der Hauptergebnisse des Projekts siehe Schwarz-Friesel ( 2014 ) sowie für weitere Aspekte auch Schwarz-Friesel/ Kromminga ( 2013 ) und Kromminga/ Becker ( 2015 ). 6 Es soll hier nicht verschwiegen, aber auch nur in aller gebotenen Kürze dargestellt werden, welche metaphorischen Konzeptkombinationen sich als dominant herausgestellt haben: Terrorismus als Krankheit ( Virus , Krebs ), Terrorismus als Ungeheuer ( Terror-Bestie , Krake ), Terrorismus als das Böse/ das Böse nach christlicher Mythologie ( Terror-Teufel , diabolisch ), Terrorismus als (Natur-)Katastrophe ( Terror-Tsunami , Ausbrüche ), Terrorismus als Naturphänomen ( Sumpf des Terrors , Nebelwolke ), Terrorismus als Wirtschaftsunternehmen ( Terror-Franchise , die Marke „al Qaida“ ). Letzteres wird in den folgenden Ausführungen erneut aufgegriffen. Für differenzierte Analysen dieser Metaphern, auch zur konzeptuellen Einbettung, zu evaluierenden Dimension und quantitativen Verteilungen siehe Schwarz-Friesel ( 2014 : 52 - 71 ). <?page no="47"?> AQ + IS 47 und welche Perspektivierungen und Evaluierungen durch sie vermittelt werden. In diesem Zusammenhang fielen Akronyme auf, wie sie in den Beispiele ( 1 ) und ( 2 ) illustriert werden. Diese sollen nun im Folgenden bezüglich ihres Auftretens, ihrer spezifischen Funktion und ihrer Rolle im Terrorismusdiskurs beschrieben werden. (1) Vergangene Woche feuerte eine US -Drohne Raketen auf ein Fahrzeug, in dem wahrscheinlich Anwar al Awlaki saß, eine der gefährlichsten Figuren des islamistischen Terrors, nicht nur weil er zu Anführern der Vereinigung „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel ( AQAH )“ zählt. ( Der Tagesspiegel , 13. 05. 2011) (2) Al-Qaida im Maghreb ( AQIM ) gelang derweil in Marrakesch ein überraschend zielgenaues Attentat: eine ferngezündete Bombe im Zentrum der westlichsten Stadt Marokkos, mitten hinein in die zaghaft einsetzende Öffnung des Landes zu mehr Demokratie. ( Die Zeit , 05. 05. 2011) In diesen Textstellen finden sich die Akronyme AQAH und AQIM , die auf Al-Qaida respektive regionale Untergruppen von Al-Qaida referieren. Mit Hilfe von Antconc, einer Software zur Textanalyse und Konkordanzerstellung, konnte festgestellt werden, dass im gesamten Untersuchungskorpus acht unterschiedliche Kurzwörter als Referenzausdrücke für Al-Qaida-Divisionen (Type-Wert) genau 125 mal vorkommen (Token-Wert). Diese Werte erscheinen in Bezug auf das Gesamtkorpus (Word Types gesamt 414 604 , Word Tokens gesamt 17 625 840 ) als sehr gering (der Anteil dieser Al-Qaida-Akronyme am Korpus liegt type-basiert bei 0 , 00193 % und token-basiert bei 0 , 00071 %), was aber angesichts der möglichst weitgefassten, textsortenübergreifenden Zusammenstellung aller thematisch relevanten Presseartikel im Laufe von 18 Jahren nicht überraschend ist. 7 Die genaue Suchworteingabe lautete „ AQ *“ und brachte insgesamt 147 Treffer, von denen aber nach inhaltlicher Prüfung 22 ausgeschlossen wurden, da es sich entweder um rein technische Artefakte (als Zeichenfolgen in arbiträren Dokumentcodes) oder um Graphemfolgen in mehr oder weniger 7 Sinnvoller wäre natürlich eine quantitative Auswertung des Anteils von Kurzwörtern an der Menge der Referenzausdrücke für Al-Qaida und vergleichbare Terror-Organisationen. Dies kann allerdings aufgrund des enormen Arbeitsaufwands einer Auszählung aller Referenzausdrücke in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Für den Kontext dieses Aufsatzes wird folglich eine eher qualitativ ausgerichtete Korpusanalyse vorgezogen. Aussagekräftig sind die unten für die Akronymvarianten differenziert aufgeführten Belegzahlen also nur im Vergleich zwischen einander. Bei einer diachron differenzierten Analyse zeigt sich bereits ein signifikanter Anstieg der Akronyme von 0 (bis 2002 ) über 5 ( 2002 - 2008 ) auf 120 ( 2008 - 2011 ), obwohl die Subkorpora vor 2002 , v. a. die Berichterstattung zu 9 / 11 , am umfangreichsten sind. <?page no="48"?> 48 Jan-Henning Kromminga bedeutungsvoller Majuskelschreibung ohne Bezug auf Al-Qaida handelte (etwa: Job- AQTIV , AL - AQSA - BRIGADEN und KÖLNER AQUARIUM ). 8 Eine Sortierung der identifizierten Treffer nach Denotatsbereich lieferte folgende Einteilung, die jeweils durch Beispiele illustriert wird: a. 30 Treffer für den Type AQ mit Referenz auf Al-Qaida als Gesamtorganisation. (3) Stirbt nun auch der Binladinismus? […] Der ja, aber nicht der Al-Qaida-Terror. AQ ist keine leninistische Truppe, die nur enthauptet werden müsste, um sie unschädlich zu machen. ( Der Tagesspiegel , 09. 05. 2011) b. 51 Treffer für die zwei Types AQAH und AQAP mit Referenz auf eine Untereinheit von Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel. (4) Vergangene Woche feuerte eine US -Drohne Raketen auf ein Fahrzeug, in dem wahrscheinlich Anwar al Awlaki saß, eine der gefährlichsten Figuren des islamistischen Terrors, nicht nur weil er zu Anführern der Vereinigung „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel ( AQAH )“ zählt. ( Der Tagesspiegel , 13. 05. 2011) (5) Seit Bin Ladens Netzwerk im Januar 2009 seine Kämpfer in Saudi-Arabien und im Jemen zur „Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ ( AQAP ) zusammengeführt hat, gehen die perfidesten Aktionen vom Jemen aus. ( Der Spiegel , 08. 11. 2010) c. 39 Treffer für die drei Types AQIM , AQMI und AQM mit Referenz auf eine maghrebinische Untereinheit von Al-Qaida. (6) Al-Qaida im Maghreb ( AQIM ) gelang derweil in Marrakesch ein überraschend zielgenaues Attentat […] ( Die Zeit , 05. 05. 2011) (7) „Boko Haram“ soll mittlerweile Verbindungen zu der in Algerien, Mauretanien, Mali und Niger aktiven „al-Qaida im islamischen Maghreb“ ( AQMI ) unterhalten. ( taz , 01. 11. 2010) (8) Ableger gibt es außer im Irak inzwischen auch in Nordafrika, das ist „Al Qaida im islamischen Maghreb“ ( AQM ), in Saudi-Arabien und Jemen, „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel“ ( AQAH ) genannt, und in Somalia. Dort hat sich die Shabab-Miliz der Terrororganisation angeschlossen. ( Der Tagesspiegel , 03. 05. 2011) 8 Damit soll verdeutlicht werden, dass computerlinguistische Methodiken wie rein quantitativ orientierte Korpusabfragen doch immer noch der Forscher_innen als Kontroll- und Entscheidungsinstanzen bedürfen und nicht vollautomatisiert funktionieren. <?page no="49"?> AQ + IS 49 d. 3 Treffer für den Type AQI mit Referenz auf eine irakische Unterorganisation von Al-Qaida. (9) Was Wunder, dass den Sunnis im Überlebenskampf jeder Verbündete recht war, auch die Terror-Brigaden der „Al-Qaida im Irak“ ( AQI ). ( Die Zeit , 19. 06. 2008) e. 2 Treffer für den Type AQT mit Referenz auf eine gemeinsame Organisation von Al-Qaida und den Taliban. (10) Was offenbar nicht ganz deutlich wurde, ist erstens die Rolle, die Osama bin Laden bei der Detailplanung spielte, und zweitens sein Verbleib. Die Londoner Times will aus einem Versprecher herausgehört haben, dass er nicht mehr lebe. Das ist jedoch nicht sicher. Spezialeinheiten aus den USA und Großbritannien suchen jedenfalls noch immer nach ihm und nach „ AQT “ in bestimmten Regionen Afghanistans. Die Abkürzung bedeutet „Elemente der Al Qaeda und der früheren Taliban“. ( Frankfurter Rundschau , 11. 09. 2002) Die Konkurrenzformen unter b.) und c.) erklären sich daraus, dass fremdsprachliche, nämlich englische und französische Kurzwörter auf Basis exogener Bildungen ebenso vorkommen wie deutschsprachige Bildungen auf Basis von Übersetzungsparaphrasen. Im Fall von AQAP versus AQAH betrifft dies die letzte Initialenvariante (P/ H < peninsula/ Halbinsel). Im anderen Fall ist die Anzahl und Reihung der AQ nachfolgenden Initialen betroffen (Organisation al-Qaïda au Maghreb islamique versus Al-Qaida im (islamischen) Maghreb). Damit wird zugleich deutlich, dass Kurzwörter im Allgemeinen und insbesondere Akronyme für international beachtenswerte Organisationen einen global relevanten Phänomenkomplex ausmachen, der nicht auf eine einzelsprachliche Betrachtung beschränkt werden sollte. Von Bedeutung ist in den exemplarischen Textstellen der Vorkommensmodus der Akronyme, nämlich in ( 4 ) bis ( 9 ) in Gestalt der erwähnten dominanten Einführungsstrategie „Vollform (Kurzwort)“. Es handelt sich jeweils um die Erstnennungen der Akronyme, im Fortlauf der Texte werden sie dann ohne weitere Erläuterungen verwendet. In Gestalt eines ganzen Satzes und zusätzlich metasprachlich markiert erfolgt die Texteinführung hingegen in Beispiel ( 10 ). Die Erklärung des akronymischen Organisationsnamens erfolgt durch die Wiedergabe der Vollform, die im Grunde nur eine formseitige Erweiterung des Namenszeichens durch einen Rekurs auf den Kürzungsinput darstellt. Das Wissen über Al-Qaida und die Taliban wird dabei weiterhin vorausgesetzt, sonst ergäbe auch die Namensrückführung keinen Sinn. Auffällig ist auch, dass die zur Erklärung <?page no="50"?> 50 Jan-Henning Kromminga angeführten Vollformnennungen oft durch Anführungszeichen typographisch abgesetzt werden, so etwa in ( 4 ), ( 5 ), ( 7 ) bis ( 10 ), was wiederum den metasprachlichen Charakter dieser textuellen Prozesse verdeutlicht. Des Weiteren ergab sich aus der Korpusanalyse eine Bestätigung der im Vorigen angenommenen Wortbildungsaffinität, wie die folgende Kompilation von Determinativkomposita mit Akronymen in der Rolle des Determinans und verschiedenen Grundwörtern verdeutlicht: (11) AQ -Schule; AQAP -Krieger; AQAH -Propaganda; AQM -Kämpfern; in AQM - Camps; „ AQT “-Führern Verfahrensorientiert lassen sich die beschriebenen Kürzungen als Reihenbildung bestimmen. Der bekannte Reduktionsprozess liefert zunächst die generischen Default-Initialen AQ , die je nach Bezug um weitere Initialen wie AH / I/ MI ergänzt und sozusagen attributiv spezifiziert werden können. Die Kurzwortbildungen fungieren hier so als erweiterbares Label für eine Organisation mit einer tiefen Binnenstrukturierung und regionaler Differenzierung. Al-Qaida wird folglich als ein Netzwerk mit einer übergreifenden Ideologie konzeptionalisiert, das aus Untereinheiten mit großer Handlungsautonomie besteht. Hierzu passt auch die häufige Übersetzung des Namens al-qā’ida als „Basis“ (cf. Wichmann 2014 : 202 ). Entsprechend wird auch manchmal von Mutter- und Tochterorganisationen gesprochen (ebd.). Auch Metaphern können fruchtbar mit den Akronymen zusammenwirken. Eine analoge Konzeptualisierung, die nunmehr durch metaphorische Konstruktionen erfolgt, nämlich AL - QAIDA ALS ( FRANCHISE -) UNTERNEHMEN , findet sich etwa in folgendem Beispiel: (12) Al-Qaida hat sich in ein Franchise wie McDonald’s verwandelt. […] Wer die AQ -Schule durchlaufen hatte, konnte eine „Filiale“ aufmachen. ( Die Zeit , 05. 05. 2011) Mehrere solcher Franchise-Metaphern treten in der öffentlichen Berichterstattung über Al-Qaida auf (siehe hierzu v. a. Schwarz-Friesel ( 2014 : 66 - 68 ) und Kromminga/ Becker 2015 : 72 - 77 ). Fokussiert wird hierbei die Strukturkomplexität und Handlungseffizienz der Gesamtorganisation, die deshalb auch nur sehr schwer zu bekämpfen sei. Al-Qaida sei gerade wegen ihrer Untereinheiten strategisch sehr erfolgreich und gefährlich. Interessanterweise ergeben sich diese Lesarten erst aus der kontextuellen Konzeptkombination und Merkmalsexplikation. Metaphorisierungen als Franchise-Unternehmen haben, <?page no="51"?> AQ + IS 51 im Gegensatz zu beispielsweise mythischen Ungeheuern wie Hydra und tödlichen Erkrankungen wie Krebs , zunächst kein starkes Implikatur- und Emotionspotenzial, vermitteln im gegebenen Fall aber dennoch ein große Bedrohung und eine intensivierte Gefahrenlage durch die so perspektivierte Al-Qaida (cf. Kromminga/ Becker 2015 : 75 - 76 ). Innerhalb dieses Konzeptualisierungsmusters zeigen die metaphorischen Verbalisierungen und die AQ -Akronyme auch eine ähnliche Auftretensverteilung, sowohl in Bezug auf den diachronen Diskursverlauf als auch im Kontrast der analysierten Publikationsmedien. Die ersten Vorkommen der Akronyme wie auch der Franchise-Metaphern finden sich vereinzelt Anfang/ Mitte der 2000 er Jahre (die ersten Metaphern treten 2004 auf, AQT bereits 2002 ), dann vermehrt ab 2008 und schließlich mit einer signifikanten Häufung in den Jahren 2010 und 2011 (den letzten Jahren des Untersuchungszeitraums). Es ist zudem auffällig, dass sowohl die Akronyme als auch die genannten Metaphern überhaupt nicht in den ebenfalls untersuchten Boulevardzeitungen (Bild, B. Z., Kölner Express) vorkommen, sondern nur in umfangreicheren Presseartikeln, die sich um präzise Darstellungen terroristischer Gruppen bemühen und teilweise auch Hintergrundanalysen einbeziehen. Zwischen beiden sprachlichen Mitteln, den innovativen Metaphern mit dem Herkunftsbildbereich der Ökonomie und den zur Referenzialisierung komplexer Organisationen dienenden Akronymen, kann somit ein enger Konnex konstatiert werden. Sie tragen gemeinsam entscheidend zu einem elaborierten und aktuellen Deutungsmodell über islamistischen Terrorismus bei. 4 Kleiner Exkurs zum sogenannten Islamischen Staat (IS) Der öffentliche Diskurs zum islamistisch motivierten Terrorismus wird aktuell, im Herbst 2014 , sehr stark von der Berichterstattung über nur eine Organisation dominiert. Seit Juni 2014 erscheinen nahezu täglich Presseartikel über die Gruppierung, die sich selbst als „Islamischer Staat“ bezeichnet, vor allem über ihre militärischen Erfolge und über ins Internet gestellte brutale Videos, die Enthauptungen dokumentieren. In einigen Medienberichten werden auch immer wieder der aktuelle Name der Organisation, Alternativbenennungen, ältere Namensvarianten und die entsprechenden Akronyme, thematisiert. Das folgende Beispiel möge dies illustrieren: <?page no="52"?> 52 Jan-Henning Kromminga (13) Von jenem Tag an [15. 10. 2006, Anm. JHK ] nannte sich die Gruppe, die zuvor als „Al-Kaida im Irak“ ( AQI ) bekannt war, nur noch „Islamischer Staat Irak“. Terrorexperten benutzten fortan die Abkürzung ISI oder blieben bei AQI . […] [2013 änderte die Gruppe ihren Namen], um ihre Transnationalität herauszustellen. Sie taufte sich um in „Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien“. ISIS bot sich an, aber ebenso ISIL - denn „Al-Schaam“ wird oft mit dem Begriff „Levante“ wiedergegeben. Deutsche Sicherheitsbehörden wollten ganz korrekt sein und erfanden zusätzlich „ IS t IGS “. Araber wiederum ersannen ein eigenes Wort. Und zwar jenes, das sich ergibt, wenn man die arabischen Anfangsbuchstaben von „Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien“ als Wort ausspricht (so wie wir „Nato“ sagen). Auf diese Weise entstand der Begriff „Daisch“. Die Terroristen hassen diese Verballhornung und drohen damit, jeden zu bestrafen, der sie benutzt. Vier Namen also für dieselbe Gruppe. Das war schon mal verwirrend genug. Aber noch nicht das Ende. Denn was geschah im Juni 2014, nach der Einnahme der irakischen Stadt Mossul? Die Gruppe änderte ihren Namen ein weiteres Mal - in „Islamischer Staat“. Der Verzicht auf eine geografische Verankerung sollte nun den universalen Anspruch unterstreichen. ( Die Zeit , 30. 10. 2014) (14) Die verschiedenen Akronyme generieren eine mehrschichtige Benennungskonkurrenzsituation. Im Englischen wird diese Gemengelage zwischen ISIS , ISIL , ISI , IS bisweilen auch als „alphabet soup“ persifliert. ( New York Times , 02. 10. 2014) Wenn die Selbstbezeichnungen der Organisation sich ändern, indem je nach Vermarktungsstrategie regionale Spezifizierungen hinzukommen oder weggelassen werden, folgen die Kurzwortbildungen nach. Zugleich stehen sich aktuelle Selbstbezeichnungen, derzeit IS , und Fremdbezeichnungen wie Da’isch gegenüber. Durchsichtiger ist die Bezeichnung Un-Islamic State , die wiederum gleich zu UIS akronymisiert wurde, oder die von UN -Generalsekretär Ban Kimoon gebrauchte Doppelverneinung des IS-Namensclaims als „Un-Islamic Nonstate“ ( New York Times , 02 . 10 . 2014 ). Die Hinzufügung der Negationssuffixe dient hierbei sowohl zur Abwertung der Organisation als auch zur Abgrenzung zwischen der äußerst gewalttätigen Organisation und muslimischen Gemeinschaften, die sich mit der Organisation in keiner Weise verbunden fühlen. Die Akronyme UIS versus IS konstituieren hier zugleich einen semantischen Kampf in Form einer Bezeichnungskonkurrenz, also eines Widerstreits zwischen kontradiktorischen Positionen zur gegenstandsadäquaten Nomination. <?page no="53"?> AQ + IS 53 (15) Weitere Verwendungskonkurrenzen entstehen aufgrund der Tatsache, dass ISIS ein Homonym darstellt, und zwar nicht nur zum Namen einer ägyptischen Göttin, sondern auch zum Markennamen einer belgischen Schokolade (Süddeutsche Zeitung, 24. 10. 2014), einer britischen Dessous-Kollektion, eines Studentenmagazins und zum Titel eines Songs von Bob Dylan. ( Jungle World, 28. 08. 2014) Eine präzise Beschreibung des Verhältnisses von Al-Qaida und Islamischer Staat zueinander ist sicherlich eine Aufgabe für die Terrorismusforschung und weniger für diesen Aufsatz. Bislang kursieren in der medialen Berichterstattung mehrere konträre Darstellungen: Entweder dass Al-Qaida den Islamischen Staat eher als Konkurrenten versteht und sogar vor ihm warnt (bspw. Süddeutsche Zeitung, 04 . 09 . 2014 ) oder dass Al-Qaida-Tochterorganisationen ihre Unterstützung und Solidarität ausdrücken, was zu der folgenden Akronym-gesättigten Überschrift führt: (16) AQMI und AQAP für IS. ( Telepolis , 16. 09. 2014) In deutschsprachigen Medien ist die Übernahme der aktuellen Selbstbezeichnung und die Verwendung des dazugehörigen Akronyms nach den oben beschriebenen Gebrauchsmustern dominant. Eine kleine Analyse von neun zufällig kompilierten Artikeln verschiedener Zeitungen ( Der Spiegel , Süddeutsche Zeitung , taz , Die Welt , Frankfurter Allgemeine Zeitung , Berner Zeitung , Der Standard ) vom 16 . 11 . 2014 9 zeigt dies deutlich: IS tritt insgesamt 84 mal auf. In sieben der neun Überschriften wird ebenfalls das Akronym verwendet, dann aber in den ersten Zeilen der Artikel in Kontaktstellung zu der Vollform einge- 9 Diese Artikel erschienen allesamt anlässlich der Veröffentlichung weiterer Hinrichtungsvideos durch den IS, der durch die Enthauptungen von entführten Personen eine enorme Brutalität gegenüber als Feinde verstandenen Personen(gruppen) inszenieren und bei ihnen Angst und Schrecken produzieren will. Das wiederholt sehr starke Medienecho hierauf legt nahe, dass der IS mit seinen terroristischen Performances erfolgreich ist und diese Ereignisse im genau vom IS intendierten Sinne wirkmächtig werden. Bezogen auf die empirische Untersuchung in diesem Aufsatz wurde die Zusammenstellung dieser Zeitungsartikel nötig, da das oben beschriebene Gesamt-Korpus zeitlich begrenzt ist. Das DFG-Projekt lief im Juli 2013 aus und die Erstellung des Kernkorpus war im Wesentlichen im September 2012 (Anschläge auf das US-Generalkonsulat in Benghazi/ Libyen) abgeschlossen. Entsprechend taucht der IS nicht im Korpus des DFG-Projekts auf. Es wurden daher ausgehend von einer prä-analytischen Sichtung der Berichterstattung mehrere bundesdeutsche, österreichische und schweizerische Medien zufällig ausgewählt und von diesen jeweils die zuerst erschienen, online verfügbaren Artikel mit Themenbezug gesichert und analysiert. <?page no="54"?> 54 Jan-Henning Kromminga führt. Interessanterweise tritt hier oftmals eine kategorisierende Beschreibung der Organisation in Form einer übergeordneten Nominalphrase hinzu. Bei den Beispielen handelt es sich jeweils um die ersten Sätze der Artikel: (17) Die Extremistenmiliz Islamischer Staat ( IS ) hat nach eigenen Angaben eine weitere westliche Geisel enthauptet. ( Berner Zeitung ) (18) Die Dschihadistengruppe „Islamischer Staat“ ( IS ) hat nach eigenen Angaben den US -Bürger Peter Kassig enthauptet. ( Der Spiegel ) (19) Mehr als einen Monat nach der Ermordung einer britischen Geisel hat die Terrormiliz Islamischer Staat ( IS ) im Internet ein Video zur angeblichen Enthauptung des US -Bürgers Peter Kassig veröffentlicht. ( Der Standard ) (20) Die USA haben die Enthauptung der US -Geisel Peter Kassig durch die Dschihadistengruppe „Islamischer Staat“ ( IS ) bestätigt. ( Der Spiegel ) Erneut zeigt sich ferner die Wortbildungsaffinität der Akronyme mit einer klaren Präferenz dazu, das Erstglied in Determinativkomposita zu stellen, wie die folgende Beispiele verdeutlichen: IS -Terroristen, IS -Kämpfern, IS -Extremisten, IS -Schergen, IS -Kriegsminister, IS -Henker, IS -Geiseln, IS -Propaganda, IS -Video, IS -Propagandavideo, IS -Provinzen, IS -Zahlung Die Produktivität von Akronymen zur Organisationsbenennung wird umso deutlicher in der Berichterstattung zu den Ereignissen im Kurdengebiet an der Grenze zwischen Türkei und Syrien. Bei den Kämpfen um Kobanê/ Ain al-Arab werden als politische und militärische Konfliktparteien IS , PKK , PYD (beides kurdische Parteien), YPG , YPJ (beides kurdische Kampfverbände), FSA (Freie syrische Armee) und weitere genannt. 5 Einige Hypothesen zu Organisationsakronymen Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Bildung von Kurzwörter grundsätzlich hochproduktiv ist und die Wortbildungsresultate einen wichtigen Beitrag zur Lexikonerweiterung im Deutschen darstellen. Vor allem der Typus der multisegmentalen Initialkurzwärter, hier als Akronyme behandelt, erfüllt verschiedene Ausdrucksbedürfnisse und trägt zu einer ökonomischen, kohäsiven und informationell dichten Textgestalt bei. In den hier vorgestellten Fällen ging es um militante islamistische Organisationen, die Akronyme auch aus der Eigenbenennungsperspektive verwenden, um damit neben dem bloßen Nominationsakt verschiedene Effekte zu erzielen. So dient AQ** als Label, das eine ideologische Zugehörigkeit ausdrückt und zugleich eine lokalspezifizierende Reihenerweiterung erlaubt. Die akronymischen Refe- <?page no="55"?> AQ + IS 55 renzialisierungen treten im medial vermittelten Terrorismus-Diskurs erst relativ spät und nur in bestimmten Segmenten des Spektrums der Publikationsmedien auf. Sie lassen sich außerdem zu diskursprägenden Metaphorisierungen von Al- Qaida als Franchise-Unternehmen, als eine Art ideologisch vereinter GmbH mit autonom operierenden und deshalb schwer zu bekämpfenden Filialen, in Beziehung setzen. Diese Metaphern liefern zusammen mit den akronymischen Referenzausdrücken einen besonderen Beitrag zur Konzeptualisierung der terroristischen Akteure als strukturkomplexer, binnendifferenzierter Gesamtorganisation. Mit den multiplen IS -Akronymen werden in den verschiedenen Etappen der Namensgebung analoge, aber auch komplementäre Etikettierungen vollzogen; nach einer regionalen Erweiterung (von AQI zu ISIL / ISIS ) wird eine De- Regionalisierung und Universalisierung (von ISIL / ISIS zu IS ) angestrebt. Diese Selbstbenennungen treten auch im deutschsprachigen Mediendiskurs auf und wurden im Rahmen dieser Arbeit, in der arabisch-sprachige Texte nicht mit herangezogen werden konnten, allein aus der Fremdbenennungsperspektive behandelt. Zusätzlich zeigen sich auch semantische Kämpfe, die teilweise mittels pejorativen Alternativ-Akronymen ( UIS ) geführt werden. Im Hinblick auf die identifizierten Verwendungsweisen lässt sich zusammenfassen, dass diese Akronyme insofern einem mittlerweile relativ festen Textgebrauchsmuster unterliegen, als sie häufig in Überschriften auftauchen und je nach Konventionalitätsgrad dann zu Beginn des Fließtextes einmalig in Kontaktstellung zur Vollform eingeführt werden, um anschließend frei verwendet zu werden, wobei sie häufig auch zu Komposita zusammengesetzt werden. Dass Kurzwörter besonders als Namen für Institutionen und Organisationen Wortbildungsmöglichkeiten eröffnen, die die jeweiligen Vollformen nicht bieten, betont auch Steinhauer ( 2007 : 152 ). Gerade Akronyme werden in auffälliger Weise dazu genutzt, um Gruppierungen zu benennen. Hinweise auf die Vielzahl von Kurzwort-Eigennamen, besonders für Personengruppen, finden sich auch bei Starke ( 1997 : 93 ), Busse/ Schneider ( 2007 : 165 ), Grebovic ( 2007 : 56 - 61 ) und Fleischer/ Barz ( 2012 : 285 - 286 ). Deutlich wird dies etwas durch einen Blick auf gängige Benennungsstrategien politischer Parteien ( SP , SVP , FDP , CVP , etc.), Sportvereinen ( YB , FCSG , GC , SCB etc.) oder Institutionen ( SRF , SAC , FIFA , WHO , CERN etc.). Bei allen Unterschieden zwischen diesen Akronymen - etwa im Hinblick auf ihre Aussprache oder darauf, ob es sich um die gebräuchlicheren Bezeichnungen, wie bei Parteien, oder um Alternativbenennungen wie bei den Fußballclubs handelt - haben sie viele Gemeinsamkeiten. Ihre Denotate sind jeweils prototypisch kollektive oder auch korporative Akteure, also Gruppierungen von Personen, die sich ihrer Kollektivstrukturiertheit bewusst sind und die planmäßig und zielorientiert gemeinsam agieren. <?page no="56"?> 56 Jan-Henning Kromminga Es wird hier deshalb vorgeschlagen, diese Vorkommen als Organisationsakronyme begrifflich festzuhalten. Dieser hochproduktive Nominationstypus entspricht dann einer nicht-diskreten Teilmenge innerhalb der Kurzwörter einerseits und der Personengruppenbenennungen andererseits; d. h. die Organisationsakronyme unterscheiden sich nicht fundamental von anderen Kurzwörtern und Gruppennamen, zeigen aber viele auffällige Charakteristika bei der Benennung von kollektiven Akteuren aus Selbst- oder Fremdperspektive. Um die tatsächliche Eigenständigkeit in Form und Funktion dieses Typus eingehend bestimmen zu können, sind sicherlich noch weitere und weiterführende Untersuchungen notwendig. 10 Die Prävalenz der Organisationsakronyme erklärt sich aus verschiedenen kommunikativen Bedürfnissen. Aus der Perspektive der Fremdbenennung eignen sich Akronyme besonders gut zur Bezeichnung von Organisationen. Die ausdrucksseitig sehr kurzen Namensetiketten tragen zu einer ökonomischen, kohäsiven Textgestaltung, zu einer verdichteten Informationsstruktur und -vermittlung bei. Diese Charakteristika der Kurzwörter führen dazu, dass Textproduzenten sie häufig benutzen und sich so wiederum ihre Bekanntheit und die mediale Präsenz der so benannten Organisation verstärkt. In Selbstbenennungsakten ergeben Akronyme ein erwünscht prägnantes Label mit einer einfachen emblematischen Struktur, in der aber zugleich umfangreiche inhaltliche Angaben kondensiert sind. Mittels Akronymen lässt sich zwar prädikationsfrei referieren, zugleich können aber Bedeutungselemente der Vollformen entfaltet und sozusagen resignifiziert werden. Die oftmals syntaktisch komplexen, im Kurzwort univerbierten Ausgangsnamen sind ja nicht verloren. Vielmehr sind ihre Prädikationen und Attribuierungen sekundär präsent und können durch Rekurse hervorgehoben und neu aufgeladen werden. Beispielhaft findet dies statt, wenn in kritischen Diskursen danach gefragt wird, wofür das „S“ der SPD denn noch stehe, wenn diese keine sozialdemokratische, sondern nur noch neoliberale Politik betreibe, oder wenn christlich-konservative Kreise nicht mehr genug „C“ in der CDU sehen (cf. Der Spiegel , 27 . 02 . 2010 ). Die Mehrstufigkeit des Zeichens im Verhältnis von Vollformbedeutung und initialem Akronym-Bestandteil lässt sich auf verschiedene Arten diskursiv ausnutzen. Hier greift der u. a. von Steinhauer ( 2007 : 149 - 150 ) beschriebene Vorgang der Remotivierungen als „gezielte Umdeutungen der Vollformen im 10 An dieser Stelle sei allein die Prognose gewagt, dass Organisationsakronyme insgesamt weiter zunehmen und dabei viele der hier besprochenen Merkmale und Eigenschaften zeigen werden. Ebenso sind, vor allem bei Organisationen, die in Konflikte involviert sind oder aus welchen Gründen auch immer kontrovers betrachtet werden, metasprachliche Thematisierungen, Rekurse auf den Namen und somit eine vermehrte öffentliche Aufmerksamkeit auf das Phänomen der Organisationsakronyme zu erwarten. <?page no="57"?> AQ + IS 57 Nachhinein“. Klassische Beispiele hierfür betreffen Unternehmen, die obsolet gewordene Namensbestandteile ablegen oder in neue Werbeslogans umwandeln ( AEG < „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft“ wird zu „Aus Erfahrung gut“). Dies kann aber auch einer Umweg-Nomination dienen: Der DFB (Deutsche Fußball-Bund) untersagte einem bekannten Getränkehersteller, seinen neugegründeten Verein RedBull Leipzig zu nennen, da Firmennamen nicht in Vereinsnamen auftreten dürften. Daraufhin wurde der Verein als RasenBallsport Leipzig gegründet und kann so trotzdem unter dem intendierten Akronym RBL firmieren. 11 Akronyme sind somit semiotisch mehrdimensional einsetzbar und können auch in Konstellationen semantischer Kämpfe metasprachlich thematisiert und sozusagen rekodiert werden. 12 Die oben besprochenen Reihenbildungen durch Initial-Erweiterungen ( AQ zu AQAP ) stellen außerdem besondere Fälle von Akronymen für kollektive Akteure dar. Sie erlauben nämlich eine geschickte sprachliche Aktualisierung der Organisationsstruktur und eine nebenbei ablaufende Vermittlung von Informationen über intraorganisationale Beziehungen des Denotats. 13 Die Gründe für die Präferenz von Initialkurzwörtern bei Selbstbenennung durch die Organisationen und bei Referenzialisierungen aus Fremdperspektive 11 Interessanterweise wird dieses Umweg-Akronym sowohl von Fans als auch von Gegnern und (neutralen) Sportjournalisten oftmals eben doch als RedBull Leipzig aufgelöst. Dieser komplizierte Nominationsakt scheint also ganz im Sinne des Gründer-Unternehmens erfolgreich zu sein. 12 Auch in weniger ernsten, fiktiven Kontexten können Organisationsakronyme und ihre Rekodierungen strategisch eingesetzt werden: In einer Episode der Comedy-Serie „The Big Bang Theory“ (E 13 S 01 „The Bat Jar Conjecture“) treten zwei Teams bestehend aus den hochintelligenten, aber sozial oft inadäquaten Protagonisten der Serie in einem Physik-Quiz gegeneinander an. Sie nennen sich dabei selbst PMS und AA, was als nichtintendierte Anspielungen jeweils einen Witz fabriziert und von lautem Gelächter aus dem Publikum begleitet wird. PMS wird hier neugebildet/ rekodiert aus Perpetual Mobile Squad , ist aber bereits „besetzt“ durch das im englischen Sprachraum weithin bekannte, eben lexikalisierte Akronym für Premenstrual Syndrome ; AA soll analog dazu im Sinne des Quiz-Teams für Army Ants stehen, bedeutet aber normalerweise Alcoholics Anonymous . 13 Neben den in diesem Aufsatz besprochenen Beispielen können auch die Benennungen von Institutionen und Organen, die den Vereinten Nationen zugehörig sind, hierzu gezählt werden, vgl. UN* > UNESCO , UNEP , UNHCR u. v. m. Weitere Exempel für dieses Muster näherspezifizierter Organisationsakronyme wären die rechten, bzw. extrem rechten Veranstaltungen und Massenbewegungen, die im Spätherbst/ Winter 2014 ausgehend von Dresden in verschiedenen Orten Deutschlands stattfanden. Das Akronym Pegida (< Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes ) kopfseitig modifizierend werden organisationale Ableger in Südthüringen ( Sügida ), Bonn ( Bogida ), Leipzig ( Legida ) etc. benannt und zugleich als regional eigenständig, aber ideologisch Pegida zugehörig bestimmt. <?page no="58"?> 58 Jan-Henning Kromminga sind letztlich konvergent. Kollektive Akteure wünschen sich kompakte, gut zu merkende Namen und Journalist_innen wünschen sich ökonomische, musterhaft zu gebrauchende Benennungsmittel; und dass diese Interessen sich durch Akronyme gemeinsam erfüllen lassen, erklärt, warum es in den letzten Jahrzehnten zu einem Auftreten und starkem Anstieg dieser Wortbildungsprodukte kam. Organisationsakronyme sind emblematisch prägnante, multifunktionale, diskurssemiotisch komplexe Spracheinheiten. Literatur Balnat, Vincent (2011): Kurzwortbildung im Gegenwartsdeutschen . Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms. Bär, Jochen/ Roelke, Thorsten/ Steinhauer, Anja (eds.) 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Eine Diskussion unter besonderer Berücksichtigung von + komm - und + kunft Peter Öhl Abstract Due to their transparency to syntactic operations, particle verbs should be analysed as constituted by syntactic objects. On the other hand, since their meaning is often non-transparent to logical decomposition, they are often regarded as products of lexical word formation. This assumption seems to be supported by their lexical properties, among them the existence of nouns apparently resulting from their nominalisation according to lexical rules. This paper discusses these arguments and argues that the nouns in question can be formed independently by lexical composition. Thus, it does not seem necessary to assume the lixical formation of particle verbs. 1 Einführung Dieser Aufsatz soll im Hinblick auf die Grammatik des Deutschen zur Erklärung des vieldiskutierten und offenbar universellen Phänomens 1 der Bildung komplexer Prädikate vom Typ Verb+Partikel beitragen. Hierzu verwende ich zum einen grammatiktheoretische, zum anderen etymologische Methoden. Es ist zu beobachten, dass Partikelverben (fortan Ptk-Vn) in mehrfacher Hinsicht an der Schnittstelle zwischen Morphologie und Syntax zu stehen scheinen. Obgleich syntaktisch trennbar, haben sie eine mit lexikalisch-semantischen Mitteln beschreibbare komplexe Bedeutung, die in vielen Fällen nicht logisch dekomponierbar ist. Dies lässt sich anhand deutscher Beispiele leicht demonstrieren: 1 Die Bildung vergleichbarer komplexer Prädikate ist in zahlreichen Abhandlungen über agglutinierende Sprachen wie Ungarisch (vgl. z. B. Kiefer/ Honti 2003 ; Öhl 2011 ), isolierende Sprachen wie Mandarin (vgl. z. B. Liu 2004 ) und zahlreiche andere Sprachen aller morphologischer Typen (vgl. Snyder 2001 : 329 ) dargestellt. <?page no="61"?> Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 61 (1) a. Der Zug kam pünktlich in Bern an. b. Sie kamen in dieser Sache überein. (2) a. an.kommen: [+Bewegung, +telisch, …]; ≠ [[ an’]] + [[ komm’]] b. überein.kommen: [-Bewegung, +telisch …] 2 ; ≠ [[ über’]] + [[ ein’]] + [[ komm’]] Somit werden sie oft als lexikalische Einheiten analysiert, was sich durch ihre Transparenz für Wortbildungsprozesse zu bestätigen scheint. Die Nominalisierung ist augenscheinlich sogar bei syntaktisch transparenten Ptk-Vn möglich, deren Verbpartikel (fortan V-Ptk) für syntaktische Prozesse wie Vorfeldbesetzung, W-Skopus oder separate Modifizierung zugänglich ist. (3) a. ? Her wollten sie dann doch nicht kommen. 3 b. Woher/ Von dort her seid Ihr alle gekommen? c. Herkunft Gegen dieses Beispiel ist freilich sogleich einzuwenden, dass die Bedeutungsinterpretation des entsprechenden Substantivs durch Idiomatisierung stark eingeschränkt ist. (4) Woher kommst Du gerade? - #Meine Herkunft ist Wuppertal. Viele als Partikelverbnominalisierung zu erkennende Bildungen sind demotiviert: (5) a. Auskunft, Zukunft, %Hinkunft (% = auf Varietäten beschränkt; hier: ein Austriazismus, der Ähnliches wie ‚Zukunft‘ denotiert), b. nicht parallel zu auskommen, (hin)zukommen, hinkommen 2 Welche logisch-semantischen Merkmale im Detail für die Beschreibung der Verbbedeutung anzusetzen sind, soll im Rahmen dieser Arbeit zu Wortbildung nicht diskutiert werden, obgleich dies natürlich weiteren Ausführungen dienlich sein könnte. 3 Sätze dieser Art sind in meinen Augen markiert, werden jedoch in der Literatur als Evidenz verwendet; vgl. Abschnitt 2 . 2, S. 6 in diesem Aufsatz. <?page no="62"?> 62 Peter Öhl Zudem werden Ptk-Vn mit komm(en) eher als Infinitivbildungen nominalisiert, wenn sie dekomponierbar sind: (6) a. Viel weiter sind wir leider nicht gekommen. b. Ein Weiterkommen/ *eine Weiterkunft war schwer. Um in Fällen wie diesem eine Regelmäßigkeit zu erkennen, ist nicht nur der zunächst hypothetische (aber durch die Lemmata in etymologischen Lexika wie Kluge 2011 völlig bestätigte) Schluss naheliegend, dass die nicht mehr produktive Nominalbildung %+ kunft nur bei älteren und wohl daher oft nicht mehr logisch transparenten Ptk-Vn konserviert ist, sondern auch, dass die Nominalisierung mit syntaktisch eigenständigen „V-Ptkn“ vorzugsweise in Form von Zusammenrückung mit dem Infinitiv vor sich geht. Die typische Ptk-V-Konstruktion schlage ich als syntaktisch komplexes Prädikat zu beschreiben vor. Ihre Bedeutung ist nur aufgrund von Idiomatisierung intransparent. Ich werde zunächst einen kurzen Überblick über die Diskussion der Kategorie von V-Ptkn in der Forschung geben und für deren Status als selbständigen Kopf im Verbalkomplex argumentieren. Diese Annahme soll erklären, warum Ptk-Vn für manche syntaktische Operationen, jedoch nicht für alle zugänglich sind. Danach werde ich, ausgehend von Beobachtungen, die Stiebels/ Wunderlich ( 1994 ) bei ihrer Argumentation für den Wortgliedstatus der V-Ptkn anstellen, augenscheinliche Nominalisierungen von Ptk-Vn mit dem Basisverb kommdiskutieren und schließlich dafür argumentieren, dass komplexe Nomen mit Entsprechungen in Ptk-Vn keinen Nachweis für die lexikalische Partikelverbbildung darstellen, da sie generell unabhängig von einer verbalen Basis gebildet werden können. 2 Verbpartikeln im Deutschen 2.1 Das Problem der Kategorisierung Wer mit der einschlägigen Forschung vertraut ist, kennt natürlich die Besonderheit der Grammatik von Ptk-Vn, die zu Uneinigkeit darüber geführt hat, ob diese syntaktisch oder lexikalisch gebildet würden. Sind V-Ptkn Wortglieder, selbständige Köpfe im Verbalkomplex oder gar syntaktische Konstituenten/ Phrasen? Während ein verbales P räfix (fortan Pfx) stets unbetont und niemals abtrennbar ist, tragen V-P tkn einen Wortakzent und sind abtrennbar, was sich z. B. in Verbzweitsätzen zeigt, wo sie nicht beim Finitum nach der ersten Konstituente stehen, also der linken Klammer im Topologischen Feldermodell, oder auch C° im generativen Phrasenstrukturmodell. <?page no="63"?> (7) a. er’reichen (Der Apostroph markiert die darauf folgende betonte Silbe.) b. Der FC Bayern er’reichte am Ende fast alle seine Ziele. (8) a. ’durch.reichen 4 b. Den HSV reichte man in fast bis ans Tabellenende durch. Bei der Partizip-Perfekt-Bildung gehen V-Ptkn dem Pfx gevoran, mit dem andere Präverben in der Regel sogar inkompatibel sind (cf. 9 c). (9) a. Sie haben das Parkett blank. gebohnert. (Partikelverb) b. Sie hat ihn dadurch bloß.gestellt. (Partikelverb) c. Sie haben das Parkett zerbohnert/ *gezerbohnert/ *zergebohnert. (Präfixverb) Auch der Infinitivpartikel zu gehen V-Ptkn im Gegensatz zu sonstigen Präverben voran. (10) a. Sie wurden gebeten, das Parkett blank.zu.bohnern/ *zu blankbohnern. (Partikelverb) b. Sie wurde davor gewarnt, ihn bloß.zu.stellen/ *zu bloßstellen. (Partikelverb) c. Sie wurden gebeten, das Parkett zu zerbohnern/ *zerzubohnern. (Präfixverb) Weitere Argumente für die Selbständigkeit von V-Ptkn sind, dass man sie oft separat modifizieren kann - in Bsp. ( 11 ) ist es eindeutig kennen , auf das sich das Adverbial bezieht - und die Vorfeldbesetzung, die zumindest unter geeigneten Bedingungen augenscheinlich möglich ist. 4 Oft werden von ‚reinen‘ Präfixen wie ge -, be -, miss -, er -, ver noch die sog. ‚Partikelpräfixe‘ unterschieden, die als beides vorzukommen scheinen, z. B. durch’laufen vs. ’durch. laufen . Diese verhalten sich prosodisch und syntaktisch wie die übrigen Präfixe und werden hier deshalb nicht gesondert behandelt. Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 63 <?page no="64"?> 64 Peter Öhl (11) weil sie ihn dadurch etwas besser kennen.lernen konnten (12) a. Auf geht die Sonne im Osten, aber unter geht sie im Westen. (Lüdeling 2001: 53) b. Sehr nahe ging dem Prinzen der Verlust seines Kanarienvogels. (ibd. 54) Folgende Kriterien werden in der Forschung gewöhnlich für die Vorfeldfähigkeit angeführt: (13) Kriterien für die Vorfeldbesetzung durch Prädikatelemente a. diskurssemantische Markiertheit b. semantische Transparenz/ Dekomponierbarkeit des Prädikats c. Phrasenstatus Als diskurssemantische Faktoren werden in der Literatur vor allem Kontrast und Fokussierung genannt (cf. Müller 2002 : 276 f.; Zeller 2003 : 4 f.; Heine et al. 2010 : 46 - 49 ). (14) a. Die Tür ist erst auf- und dann wieder zu.gegangen. b. Auf ging die Tür, zu aber das Fenster. Dass diese allein jedoch für die Vorfeldbesetzung alleine nicht ausreichen, zeigt sich an folgenden Beispielen: (15) a. Sie haben ihm das Diplom erst an- und dann wieder ab.erkannt. b. *Abhaben sie ihm zwar das Diplom erkannt, anaber seine Mühen. (16) a. Sie haben alle Eier aus- und alle Luftballons auf.geblasen. b. *Aushaben sie alle Eier und aufalle Luftballons geblasen. Soll der Satz nicht zumindest markiert sein, müssen nach der Separierung beide Teile der Verbindung interpretierbar sein, weshalb bei Beispielen wie den folgenden keine Vorfeldbesetzung durch die Partikel möglich scheint. <?page no="65"?> (17) a. * An ist der Zug erst spät gekommen, obwohl er rechtzeitig weg.kam ( an ist desemantisiert) b. *Ganz zusammen hat sich die Menge im Hof gerottet. ( rottist synchron kein Verbum simPlex ) Was den Phrasenstatus betrifft, so wurde auf der Basis der Beobachtung, dass manche V-Ptkn zwar ins Vorfeld, aber nicht im Mittelfeld zu verschieben seien, oft dagegen argumentiert, dass diese Eigenschaft kriterial sei. (18) a. weil in dieses Land dieses Jahr noch niemand gereist ist (Zeller 2002: 243) b. *weil ein dieses Jahr noch niemand gereist ist (19) a. weil auf diesen Wagen nichts geladen wurde (ibd.) b. *weil auf noch nichts geladen wurde Dieses heterogene Verhalten führt z. B. Zeller ( 2002 ) dazu, V-Ptkn als hybride Kategorie zu identifizieren, die sich einmal wie Köpfe, ein anderes Mal wie Phrasen verhielten. Heine et al. ( 2010 : 57 - 59 ) tendieren dazu, einen Status zwischen Wort und Phrase anzusetzen, ähnlich auch Ackermann/ Webelhuth ( 1998 ). Stiebels/ Wunderlich ( 1994 : 929 ) schlagen dagegen in einem lexikalistischen Ansatz vor, dass Pfx-Vn und Ptk-Vn beide auf die gleiche Weise lexikalisch gebildet würden, doch hätten Pfxe und Ptkn unterschiedliche inhärente Merkmale, die V-Ptkn syntaktisch transparent machen könnten: (20) a. prefix verb: [ Y +min V ] (⇒ Y cannot constitute a possible word) b. particle verb: [ Y +max V ] (⇒ Y enters the syntax as Y°) Das Merkmal [+max] werde nicht lexikalisch zugewiesen, sondern dann, wenn die Struktur [Y +max V] syntaktisch gebildet würde. Eines der Hauptargumente für die lexikalische Bildung stellt die Annahme dar, dass von Ptk-Vn Substantive abgeleitet werden könnten. Mit Ansätzen dieser Art mag die Separierbarkeit wie in ( 8 ), ( 9 ) und ( 10 ) erklärt werden können, selbst wenn man Ptk-Vn als lexikalische Bildungen an- Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 65 <?page no="66"?> 66 Peter Öhl sehen möchte; das unterschiedliche Verhalten hinsichtlich der Verschiebung in Mittel- und Vorfeld sowie der Phrasenbildung bleibt jedoch ungeklärt. In verschiedenen Aufsätzen (z. B. Öhl 2013 ; Öhl/ Falk 2011 ) argumentierte ich deshalb dafür, dass echte V-Ptkn stets als Köpfe im V-Komplex generiert werden; augenscheinliche Bewegungsoperationen sind m. E. entweder dadurch zu erklären, dass mit V-Ptkn homophone Phrasenköpfe vorliegen, oder dass Sprecher zu Konstituentenbewegungsstrukturen analoge, jedoch nicht regelbasierte Abfolgen bilden, die bei der Beurteilung stets Markiertheitswerte aufweisen. Im Folgenden werde ich zunächst dieses Modell skizzieren und dafür plädieren. Des Weiteren werde ich dafür argumentieren, dass die Annahme der lexikalischen Bildung von Ptk-V aufgrund der existierenden nominalen Wortbildungsprodukte nicht zwingend und somit eine syntaktische Rekategorisierung mithilfe eines Merkmals [+max] nicht notwendig ist. 2.2 Kopfpositionen im Verbalkomplex Das hier verwendete Modell des V-Komplexes ist eng an solche wie z. B. von Haider ( 2010 : 272 f.) vorgeschlagen angelehnt: 5 Sämtliche Verbformen (einschließlich des Finitums, wenn dieses sich in Basisposition befindet) bilden einen komplexen Kopf V°. Ein solches komplexes Prädikat kann sowohl die Inifinitivpartikel als auch die hier zur Diskussion stehenden V-Ptkn enthalten. Hierdurch ergibt sich eine bekannte Asymmetrie zwischen der Deutschen und Englischen Partikelverbsyntax: Im Deutschen können nur ganze Verbalkomplexe inklusive Infinitivpartikel koordiniert werden, nicht, wie im Englischen, 2 Simplexverben, die durch eine adjungierte V-Ptk modifiziert werden, wo zudem die gesamte VP Komplement der Inifinitivpartikel in I° ist. (21) a. Sie begannen [ VP [ schön [ V° vor.zu.tanzen ] und [ V° *(vor.zu).singen] ] ]. b. They started [ IP [ I’ to I° [ VP [ V’ [ V’ dance and sing ] up ] in a beautiful way ] ] ]. Aus diesem Grund ist k oPfadjunktion der Partikel in einer höheren Position des komplexen Kopfes V° (bezeugt zumindest in manchen Mundarten) möglich, nicht jedoch in einer höheren Position der VP: Die Partikel ist eben keine Phrase und kann sich nicht in einer Phrasenposition im Mittelfeld befinden. 5 Die Möglichkeit einer Analyse mit Verbpartikeln als Köpfe sogenannter small clauses (vgl. Hoekstra 1988 ; den Dikken 1995 ) soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden; einige Argumente dagegegen wurden bereits in Öhl/ Falk ( 2013 : 172 f.) angeführt; vgl. auch Capelle ( 2004 ). <?page no="67"?> (22) a. %dass er das Licht schnell [ V° an hat schalten sollen] b. *dass er das Licht [ V’ an [ V’ schnell [ V° hat schalten sollen] ] ] Es ist also ein zumindest nicht abwegiger Schluss, dass V-Ptkn Einträge als lexikalische Köpfe haben, die jedoch keine eigene Phrase projizieren, sondern, spezifiziert für bestimmte Verben, mit diesen syntaktisch ein komplexes Prädikat formen können. Was ist aber mit jenen Ptkn, die augenscheinlich doch in Form von Phrasen vorkommen und an anderen Stellen im Satz auftreten? Aus meiner Sicht ist anzunehmen, dass es sich hier um lexikalische Prädikate handelt, die zwar parallel zu homophonen Ptkn existieren, jedoch Phrasen projizieren, die dann resultative Interpretation haben. Sie sind separat modifizierbar, vorfeldfähig und, mit gewissen informationsstrukturellen Restriktionen, auch im Mittelfeld verschiebbar - wie andere Adverbiale gleicher Funktion. (23) a. Ganz zu ist diese Tür noch nie gegangen. b. Die Tür ist schon immer ganz zu nur mit Gewalt gegangen. (24) a. weil in meinen Froschteich noch kein Stein gefallen ist b. dass nämlich heraus noch nie ein Stein gefallen ist, hinein aber schon Auf diese Weise lassen sich auch Korpusbelege wie die von Müller ( 2002 : 294 ) zitierten erklären, wo V-Ptkn augenscheinlich eine Phrase im Mittelfeld bilden. (25) Andrew Halsey ist auf dem Weg von Kalifornien nach Australien [ AdvP weit ab vom Kurs] gekommen. Dass die Wortstellung in dem Zeitungsbeleg (taz, 10 . 04 . 1999 , S. 20 ) wohl nicht allen Lesern völlig unmarkiert vorkommt, liegt sicherlich daran, dass ab als Adverb in diesem Kontext etwas ungewöhnlich erscheint. Doch scheinen Sprecher eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Bereitschaft zu zeigen, auch nicht regulär generierbare Konstruktionen zu tolerieren, wenn sie sie zu dekodieren in der Lage sind. Auch in den folgenden Satzpaaren scheint die Akzeptanz der Sätze in (a) mit V-Ptkn im Vorfeld dadurch begründbar, dass diesen eine zumindest intuitiv plausible Interpretation gegeben werden kann, was in (b) nicht gut möglich ist. Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 67 <?page no="68"?> 68 Peter Öhl (26) a. ? Vor haben sie es nicht gehabt. (vs. Vorgehabt haben sie es nicht. ≈ etwas vor sich haben) 6 b. *Auf ist ihm gar nichts gefallen. (vs. Aufgefallen ist ihm gar nichts. ≈ ? ) (27) a. ? Ein haben sie das Heu geladen, aus das Stroh. (≈ das Heu ist darin) b. *Ein haben sie die Banker geladen, aus die Linguisten. (≈ #die Banker sind darin) Zum Vergleich ein nicht grammatisch markierter Satz: (28) Auf ging die Tür (, worauf sie (ganz) auf war). Besonders naheliegend scheint mir diese Art der Erklärung in Fällen, für die Heine et al. ( 2010 : 41 - 46 ) eingeschränkte Vorfeldfähigkeit diagnostiziert haben. Folgende Korpusbelege zeigen V-Ptkn im Vorfeld von Sätzen mit dem Vollverb in der linken Klammer, die schlicht als ungrammatisch zu identifizieren sind, wenn sich dort stattdessen ein Auxiliar befindet. (29) a. An fing alles am 2. Januar 1889, als … (Heine et al. 2010: 41 f.) b. Kennen lernten sich die beiden Mitte der 80er Jahre (…) c. Richtig auf regt mich im Moment, wie der arme Gomez von den Medien fertig gemacht wird. (30) a. *An hatte alles am 2. Januar 1889 gefangen, als … b. *Kennen haben sich die beiden Mitte der 80er Jahre (…) gelernt. c. *Richtig auf hat mich geregt, wie der arme Gomez von den Medien fertig gemacht wird. Ich habe deshalb vorgeschlagen (z. B. in Öhl 2013 ; Öhl/ Falk 2011 ), dass Sprecher analog zu regelbasierten Strukturen lineare Abfolgen konstruieren können, die, obgleich sie markiert sind, doch akzeptiert werden, wenn Dekodierungskonflik- 6 Fanselow ( 2004 : 25 ) spricht in solchen Fällen von Pars - Pro toto -b ewegung . <?page no="69"?> te lokal, also dort, wo ein Regelverstoß vorliegt, ausgeglichen werden können. In den Beispielen in ( 29 ) ist dies die Abfolge Partikel>Vollverb, wo ja nur lineare Adjazenz vorliegt. (31) Lizenzierung sprachlicher Strukturen (vgl. Öhl 2013: 349) a. kompetenzbasiert, durch reguläre strukturbildende Operationen oder b. performanzbasiert, durch analogischen Abgleich mit regulär gebildeten Mustern, wenn Dekodierungskonflikte lokal ausgeglichen werden können. Was im Satz verschoben werden kann, ist eine Phrase. Echte V-Ptkn sind jedoch Köpfe in einem komplexen Prädikat, adjungiert an V°. Da nur das minimale finite Verb in die linke Satzklammer bewegt wird (C° im generativen Phrasenstrukturmodell), nicht aber die Partikel, bleibt diese in Sprachen wie Deutsch stets in situ . 7 Aus diesem Grund sind Satzpaare wie die folgenden auch nicht derivationell auf einander zu beziehen. In ( 32 a) ist die r ichtung des Laufens erfragt, in ( 32 b) das Z iel des Hinlaufens. Nur auf die Frage in ( 32 a) ist also ein Richtungsadverbial wie westwärts eine mögliche Antwort. Ähnliches ergibt sich aus dem Datum in ( 32 c): Hinlaufen erlaubt keine direktionale Interpretation. (32) a. [ CP Wohin i [ C’ laufen v [sie denn e i [ V° e v ] ] ] ] ? - Westwärts. (direktional) b. [ CP Wo i [ C’ laufen v [sie denn e i [ V° hin e v ] ] ] ] ? - *Westwärts/ ✔nach Westen. (resultativ) Sie sind *nach Westen/ ✔zum Berg hingelaufen. Nachdem nun dafür plädiert wurde, dass V-Ptkn keiner Hybridkategorie zwischen syntaktischen Phrasen und Köpfen zugeordnet werden müssen, wende ich mich der Frage der scheinbaren Unterspezifiziertheit hinsichtlich des Status als Kopf im V-Komplex oder als Wortglied einer lexikalischen Bildung zu. Zunächst wiederhole ich einige Argumente von Stiebels/ Wunderlich ( 1994 ). Im Anschluss daran diskutiere ich die Nominalisierung von Ptk-V mit komm- und gelange schließlich zu einer Erklärung, die ohne die lexikalische Bildung von Ptk-V auskommt. 7 Dies bedeutet natürlich nicht, das sich Verbpartikeln universell nicht bewegen. Eine Sprache mit merkmalsgesteuerter Partikelbewegung ist z. B. Ungarisch; vgl. Öhl ( 2011 ). Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 69 <?page no="70"?> 70 Peter Öhl 2.3 Verbpartikeln als Wortglieder? Stiebels/ Wunderlich ( 1994 ) argumentieren ausführlich dafür, dass Ptk-Vn wie Pfx-V lexikalisch gebildet würden. In der Tat scheinen sie mit diesen eine Reihe von Eigenschaften zu teilen (ibd. 927 ff.). Das stärkste Argument, das wir dann im nächsten Abschnitt ausführlich diskutieren werden, stellt aus unserer Sicht die Transparenz von Ptk-Vn für Wortbildungsoperationen dar: Genau wie Pfx- Vn, können sie augenscheinlich die Basis die deverbale Nominalisierung oder Adjektivierung bilden (ibd. 923 ): (33) a. Unter’nehmung, Um’gehung b. ’Aufklärung, ’Einarbeitung (34) a. Unter’nehmer, Be’werber b. ’Ausreißer, ’Angeber (35) a. über’setzbar, ent’zündbar b. ’einstellbar, ’annehmbar Des Weiteren sind V-Ptkn genau wie V-Pfxe oft sogar obligate Komponente von denominalen und deadjektivischen Verben (ibd. 924 ): (36) a. be’kleiden, *(über)’brücken b. ’ankleiden, *(’auf)tischen, (37) a. er’wärmen, *(er)’weichen b. ’aufwärmen, *(’auf)weichen Wie auch V-Pfxe, können abtrennbare V-Ptkn offenbar nicht iteriert werden (ibd. 925 f.): (38) a. *verüber’setzen, *entüber’brücken 8 b. *’radeinfahren, *’einklavierspielen 8 Stiebels/ Wunderlich ( 1994 ) geben hier keine solche negative Evidenz, sondern führen nur einige Ausnahmen an, die sie als Rückbildungen analysieren, wie z. B. ’ über.belichten . Mir ist es nicht ersichtlich, weshalb diese keine Ptk+Pfx-V-Kombination darstellen, wie sie auf der selben Seite weiter unten diskutiert werden. Die einzige mir in dieser Liste plausibel erscheinende Ausnahme erscheint mir ’missverstehen , wo ich mit Stiebels/ <?page no="71"?> Scheinbare Gegenbeispiele wie das folgende in (a) sind dadurch erklärbar, dass die vorangehende augenscheinliche Ptk in Wahrheit ein Adverbial ist, weshalb das Wort auch der VP vorangehen kann (b). *mitankommen ist also kein Ptk-V in unserem Sinne. (39) a. weil er in Bern mit ankam b. weil er mit [ VP in Bern ankam] Möglich dagegen sind die Kombinationen Pfx>Ptk sowie Ptk>Pfx, wobei vor allem erstere ein starkes Argument darstellen könnte, da lexikalische Präfigierung nach der Anwendung syntaktischer Operationen doch implausibel erscheint (ibd. 926 ): (40) a. be’auftragen, über’anstrengen (Pfx+Ptk+V) b. ’anvertrauen, ’auserwählen (Ptk+Pfx+V) Darüber hinaus argumentieren Stiebels/ Wunderlich ( 1994 : 927 ) noch mit Mundartdaten, da in Mundarten mit einer Verlaufsform am +Infinitiv die als Aspektmarker grammatikalisierte Präposition am offenbar nicht zwischen V- Ptk und Verbum simPlex intervenieren kann ( 41 b). Da sie auch nicht der VP vorangehen kann ( 41 c), scheint Evidenz dafür vorzuliegen, dass die Verbindung Ptk+V ein Wort darstellt. (41) a. %er ist sein Zimmer am aufräumen b. *er ist sein Zimmer auf am räumen c. *er ist am [ VP sein Zimmer auf räumen] Wie oben bereits skizziert, schlagen Stiebels und Wunderlich vor, dass Pfx-V und Ptk-V beide auf die gleiche Weise lexikalisch gebildet seien, jedoch hätten V-Pfxe und V-Ptk nunterschiedliche inhärente Eigenschaften (ibd. 929 ): Nur letzteren könne das Merkmal [+max] zugewiesen werden, um die Struktur [ Y +max V ] syntaktisch zu bilden. Wunderlich ( 1994 ) annehme, dass die Akzentuierung des Pfx die Bildung möglich zu machen scheint. Hier könnte m. E. jedoch Analogie an das Muster Ptk+Pfx-V vorliegen. Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 71 <?page no="72"?> 72 Peter Öhl (42) a. prefix verb: [ Y +min V ] (⇒ Y cannot constitute a possible word) b. particle verb: [ Y +max V ] (⇒ Y enters the syntax as Y°) Eine solche Annahme der Transzendenz von einer lexikalischen in eine syntaktische Kategorie ist freilich nur notwendig, wenn die Indizien für die lexikalische Bildung von Ptk-V eindeutig sind. Dies sind sie m. E. jedoch nicht. So zeigen die Mundartdaten in ( 41 ) hauptsächlich, dass die Aspekt-Ptk am nicht in gleicher Weise grammatikalisiert ist wie die Infinitiv-Ptk zu , die auch in den Mundarten, so vorhanden, wie im Standarddeutschen zwischen Partikel und Simplex interveniert, im Schwäbischen sogar in flektierter Form. In ebendieser Mundart kann am sowohl dem Objekt als auch dem Ptk-V vorangehen, nicht jedoch der Ptk folgen. (43) a. %er hat versprochen, sein Zimmer auf zum räumen (an Standardlautung angepasst) b. %er ist (am) die Küche (am) sauber (*am) machen Auch Müller ( 2002 : 304 ) diskutiert Evidenz mit intervenierenden nominalen Elementen in der Verlaufsform: (44) a. Wir sind die grade am komplett Durchbestellen. b. Er ist ständig am Werbung für sich machen. Signalisierte die Ptk am tatsächlich die Wortgrenze, müssten Einheiten wie ‚komplett-Durchbestellen‘ u. ä. eine Art Phrasenkompositum darstellen; tut sie es nicht, kann ihr ein syntaktisches Element folgen. In beiden Fällen könnten V-Ptkn wie durch ebenso syntaktische Elemente sein, wie die ihnen vorangehenden Nomina. Nicht zuletzt haben mir rheinische Sprecher bestätigt, dass für sie auch die Stellung von am nach der Ptk möglich ist, wenn es sich nämlich um ein dekomponierbares Ptk-V wie saubermachen handelt: (45) %er ist die Küche sauber am machen <?page no="73"?> Stiebels/ Wunderlichs ( 1994 : 926 ) Argument, dass die Kombination Pfx>Ptk möglich sei ( 40 a), spräche zwar stark für den lexikalischen Status des Ptk-V, doch scheinen zumindest die von ihnen hierzu angeführten Beispiele auch als die Präfigierung von Rückbildungen aus Nomen wie Auftrag oder Anstrengung (letztere mit Suffixtilgung, ähnlich wie bei uraufführen ) erklärbar. Die Präfigierung von Ptk-V ohne parallelem Nomen scheint dagegen gar nicht möglich: (46) *ent’festbinden; *über’einweichen Dies ist m. E. auch die einfachste Erklärung dafür, dass diese Art von Ptk-V- Bildung nicht transparent für syntaktische Regeln ist: Da diese Rückbildungen gar nicht auf das Simplex zurückgehen, bedarf es keiner zusätzlichen Erklärung der nicht-Abtrennbarkeit der Ptk. (47) a. *Er strengte sich überan. *Sie reichten es ihm verab. (⇒ Y enters the syntax as nonhead) V-Ptkn, die mit Pfx-Vn verbunden werden, verhalten sich dagegen nicht anders als sonst. (48) a. Sie bewahrten es auf. b. Er vertraute es ihr an. (⇒ Y enters the syntax as Y°) Dass V-Ptkn wie in ( 36 b) und ( 37 b) ähnlich den parallelen Pfx-Bildungen obligater Bestandteil von Verbalisierungen sein können, ist m. E. sowohl semantisch als auch pragmatisch erklärbar: Ohne entsprechende logische Ergänzung ergeben Verben wie *tischen oder *weichen (in der hier intendierten Bedeutung) bzw. deren Verwendung keinen Sinn. Ähnlich argumentiert Neef ( 1990 : 89 ) bei seiner Erklärung für sogenannte „Zusammenbildungen“, die ebenso nach Reduktion um eines ihrer Morpheme kein sinnvolles oder zumindest kein informatives Denotat ergeben. Somit steht als Letztes die augenscheinliche Transparenz von Ptk-V für Wortbildungsprozesse zur Diskussion. Diese ist wesentlich komplexer als die bisherigen und wird im folgenden Abschnitt zunächst anhand der Ptk-Vn mit dem Simplex kommveranschaulicht. Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 73 <?page no="74"?> 74 Peter Öhl 3 Nominalisierung als Beweis für die lexikalische Bildung von Partikelverben? 3.1 Nominalisierung von komm- und ihre Eigenschaften Prinzipiell existieren zu Ptk-Vn mit kommdrei Arten von Nominalbildungen: Substantive mit der unproduktiven Nominalbildung [ kunft ], suffigierte Adjektive (mitunter auch in der Form von Partizipien) und nominalisierte Infinitive: (49) a. Ankunft, Herkunft b. zukünftig, herkömmlich; zuvorkommend, heruntergekommen c. Weiterkommen, Durchkommen, Einkommen Diese Wortbildungsprodukte existieren offensichtlich unabhängig von der Separierbarkeit, selbst wenn es sich um V-Ptkn handelt, die augenscheinlich Phrasenköpfe sind (vgl. aber 32 a. oben). (50) a. Woher/ Von dort her seid Ihr alle gekommen? b. Herkunft Wie bereits eingangs bemerkt, ist die Bedeutung von Substantiven wie Herkunft stark idiomatisiert und muss nicht dem Denotat des Basisprädikats entsprechen. Viele dieser Bildungen sind demotiviert und semantisch intransparent. (51) Woher kommst Du gerade? - *Meine Herkunft ist Wuppertal. Was in der verbalen Verbindung abtrennbare Ptk ist, ist zudem in der Nominalisierung stets nicht-abtrennbar; dies trifft auch dann zu, wenn das Nomen ohne Ptk verwendbar ist ( 54 ). (52) a. Von Norden her sind sie alle gekommen. b. Der Zug kam in Bern an. (53) a. *Dorther/ hieran war ihre Kunft. b. *Ihre Kunft war her/ an. (54) a. *Dorther/ daran war ihre Leitung. b. *Ihre Leitung war her/ an. (vs. Sie leiteten es her/ an.) <?page no="75"?> Und, wie ebenfalls bereits eingangs bemerkt, werden die meisten dekomponierbaren Ptk-Vn, die mutmaßlich die jüngere Bildungen sind (weshalb sie kaum in den etymologischen Lexika gelistet werden), ausschließlich als Infinitive nominalisiert: (55) a. Viel weiter sind wir leider nicht gekommen. b. Ein Weiterkommen/ *eine Weiterkunft war unmöglich. In der folgenden Tabelle ist die Mehrzahl der noch gebräuchlichen oder zumindest geläufigen Ptk-Vn, z. T. in verschiedenen Lesarten, mit zugehörigen oder potentiellen, ggf. auch unmöglichen Nominalformen aufgelistet. Es scheint offensichtlich, dass auch die Nominalisierung mit dem nach wie vor produktiven Infinitiv wenig lexikalisch genutzt zu sein scheint. Die Verbindungen mit der Nominalbildung + kunft , die selbst nicht mehr als Substantiv verwendet wird, sind darüber allesamt nicht rezent, meist idiomatisiert und vor allem nicht produktiv. (56) Partikelverben (vgl. Augst 2009; Kluge 2011; Pfeifer 2000; DWB ) V N A Infinitivnominalisierung %abkommen 1 (17. Jh.) ‚herkommen‘ %Abkunft (17. Jh.) / Abkömmling %abkünftig *Abkommen %abkommen 2 (17. Jh.) ‚wegkommen‘ *Abkunft (un)abkömmlich Abkommen (id.) (17. Jh.) urspr. ‚von Schuld abkommen‘ ankommen 1 Ankunft/ %Ankömmling (arch.) ankommend/ *ankünftig #Ankommen ankommen 2 (gegen) (id.) *Ankunft #ankommend/ *ankünftig Ankommen % = archaisch oder auf regionale Varietäten beschränkt # = potentielle Bildung, nicht lexikalisiert id. = idiomatisiert, Bedeutung nicht systematisch * = nicht mögliche oder blockierte Bildung Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 75 <?page no="76"?> 76 Peter Öhl V N A Infinitivnominalisierung ankommen 3 (auf) *Ankunft #ankommend/ *ankünftig *Ankommen aufkommen *Aufkunft aufkommend/ aufgekommen #Aufkommen aufkommen (id.) ‚zusammenkommen‘ *Aufkunft *aufkommend/ *aufgekommen Aufkommen (id.) auskommen 1 (id.) (mit etw.) *Auskunft %auskömmlich (arch.) / *auskünftig / #auskommend Auskommen (id.) auskommen 2 (mit jdn.) (id.) *Auskunft *auskömmlich/ *auskünftig #auskommend %Auskommen (arch.) *auskommen 3 ‚herauskommen‘ Auskunft (id.) (15. Jh.) *auskömmlich/ *auskünftig *auskommend *Auskommen beikommen (id.) *Beikunft *beikömmlich #Beikommen durchkommen 1 *Durchkunft durchkommend Durchkommen durchkommen 2 (id.) ‚überleben‘ *Durchkunft durchgekommen #Durchkommen %einkommen (14. Jh.) Einkünfte/ ? Einkunft (14. Jh.)(id.) *auskünftig/ *einkömmlich/ *einkommend Einkommen (id.) (14. Jh.) fortkommen *Fortkunft *fortkünftig/ *fortkömmlich Fortkommen *fürkommen *Fürkunft *fürkommend *Fürkommen herkommen Herkunft (id.) (16. Jh.) herkömmlich (id.) / *herkünftig #Herkommen herunterkommen (id.) *Herunterkunft heruntergekommen/ *herunterkünftig #Herunterkommen % = archaisch oder auf regionale Varietäten beschränkt # = potentielle Bildung, nicht lexikalisiert id. = idiomatisiert, Bedeutung nicht systematisch * = nicht mögliche oder blockierte Bildung <?page no="77"?> V N A Infinitivnominalisierung hinkommen %Hinkunft (ö.; ‚Zukunft‘) hinkünftig (id.) #Hinkommen mitkommen *Mitkunft #mitkommend/ *mitkömmlich #Mitkommen nachkommen *Nachkunft/ Nachkomme/ Nachkömmling nachkommend #Nachkommen niederkommen (id.) (9. Jh.) Niederkunft #niedergekommen/ *niederkünftig #Niederkommen übereinkommen (id.) Übereinkunft *übereinkömmlich/ *übereinkünftig Übereinkommen umkommen (id.) *Umkunft umgekommen #Umkommen unterkommen (id.) Unterkunft untergekommen/ *unterkünftig #Unterkommen vorkommen *Vorkunft vorkommend Vorkommen (id.) weiterkommen *Weiterkunft *weiterkömmlich Weiterkommen wiederkommen ? Wiederkunft wiederkommend/ *wiederkünftig #Wiederkommen (hin)zukommen (*Hin)Zukunft (id.) (9. Jh.) *(hin)zukommend/ zukünftig *(Hin)zukommen *(zu)rückkommen (*Zu)rückkunft (*zu)*rückkünftig/ zurückkommend #Zurückkommen zusammenkommen Zusammenkunft #zusammenkommend #Zusammenkommen zuvorkommen *Zuvorkunft/ Zuvorkommenheit zuvorkommend (id.) Zuvorkommen (id.) % = archaisch oder auf regionale Varietäten beschränkt # = potentielle Bildung, nicht lexikalisiert id. = idiomatisiert, Bedeutung nicht systematisch * = nicht mögliche oder blockierte Bildung Tabelle 1 Partikelverben Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 77 <?page no="78"?> 78 Peter Öhl Ich will nur einige Beispiele exemplarisch besprechen, zunächst die 3 Lesarten von auskommen . Den zwei jüngeren, ( mit etw./ jdn. ) auskommen , entspricht das N Auskunft offensichtlich nicht; nur zur letzten Lesart, die synchron gar nicht mehr verwendet wird, existiert das demotivierte Nomen Auskunft . Nur zur ersten Lesart existiert ein nominalisierter Infinitiv, dieser idiomatisiert als ein nomen acti ( ein Auskommen haben ) bereits im Fnhd. (vgl. Pfeifer 2000 ). Auch Infinitivbildungen mit der Lesart eines nomen ( f ) acti , wie z. B. Aufkommen oder auch Übereinkommen , sind zunächst als syntaktische Konversionen zu betrachten, die mit einer idiomatisierten Bedeutung lexikalisiert wurden, letztere vielleicht in Analogie zum älteren Übereinkunft. 9 Adjektive werden zu keiner der drei Lesarten gebildet, jedoch sind für die ersten beiden Partizipien möglich, die prinzipiell lexikalisiert werden könnten; dies gilt natürlich nicht zum nicht mehr verwendeten auskommen 3 . Zu Adjektivbildungen wie % abkünftig oder zukünftig ist zu sagen, dass sie eher denominal als deverbal gebildet sein müssen, ähnlich wie abkömmlich ( 2 . H. 18 . Jh.; vgl. Pfeifer 2000 ) als Derivation von dem aufgrund der frühen Idiomatisierung schon vor dem 17 . Jh. anzusetzenden lexikalisierten Infinitiv gelten sollte. Die geringe Produktivität dieses Musters lässt zudem darauf schließen, dass solche Bildungen in jüngerer Zeit eher der Analogie als einer Wortbildungsregel zuzuschreiben sind. Ähnliches sollte auch für das Muster Abkömmling, Emporkömmling u. ä. gelten. Produktiv scheinen von diesen Mustern also nur die syntaktischen Bildungen zu sein, jedoch werden sie offenbar nicht sehr häufig lexikalisiert und in den Wortschatz übernommen. Dies wird noch deutlicher bei den Pfx-Vn, zu denen es keine + kunft -Bildungen gibt, allerdings ein einziges Derivat auf lich mit bekommen 2 ( etw. bekommt jdm. gut ). Außer Entkommen existiert keine Infinitivnominalisierung, während Willkommen die Konversion eines erstarrten Partizips II darstellt (vgl. DWB). Somit ist auch die Infinitivkonversion bei Pfx-V mit kommnicht sonderlich produktiv. (57) Präfixverben V N A Infinitivnominalisierung be’kommen 1 (8. Jh.) *Bekunft #bekommen #Bekommen 9 Als Analogiebildung könnte auch der Helvetismus Rückkommen (vielleicht sowohl zu Abkommen als auch zu Rückkunft ) zu betrachten sein, der m. W. auch im helvetischen Sprachraum keine verbale Basis hat. <?page no="79"?> V N A Infinitivnominalisierung be’kommen 2 *Bekunft bekömmlich #Bekommen ent’kommen *Entkunft *entkömmlich Entkommen %über’kommen *Überkunft überkommen (id.) #Überkommen ver’kommen *Verkunft verkommen #Verkommen *willkommen *Willkunft willkommen (Willkommen) Tabelle 2 Präfixverben + kunft -Bildungen sind weder regelbasiert, sodass sie bei Pfx-Vn vorkommen könnten, noch scheinen sie ein geeignetes Vorbild für Analogie, das zu Bildungen mit Ptk-Vn in jüngerer Zeit geführt hätte. Anders ist dies bspw. bei +gabe . Letzteres Morph wird in der Nominalisierung des Pfx-Vs verwendet ( 58 a), obgleich diese Art der Substantivbildung mit einer Ablautform wie auch die nach dem Muster von +kunft im Nhd. unproduktiv ist. 10 Ebenso wird es mit neueren, semantisch dekomponierbaren Ptk-Vn verwendet ( 58 b), obgleich Nominalisierungen mit -gabe ebenso wenig für die Dekomposition transparent sind ( 58 c) wie die mit +kunft : Das Substantiv Gabe korreliert zwar formal mit dem Simplex geb- , hat aber keineswegs das gleiche Ereignisdenotat; während sich Rückgaben, Weitergaben, Übergaben etc. ereignen , ist Gabe zumindest synchron betrachtetet ein nomen acti . (58) a. ein Preis wird vergeben - die Vergabe eines Preises b. Geben Sie das Buch bitte weiter, nicht zurück. c. #Diese Gabe ist eine Weitergabe, keine Rückgabe. 3.2 Nominalisierung vs. Nominalkomposition Wie könnte diese Asymmetrie erklärbar sein? Die entscheidende Idee für die Beantwortung dieser Frage wurde bereits von Stiebels/ Wunderlich ( 1994 : 923 f.; 939 f.) selbst vorgebracht, wenngleich sie dadurch nur das Auftreten von Wurzelnomina, die ebenfalls keine produktive Klasse mehr darstellen, bei Nominalformen von Ptk-Vn erklären wollten: Substantive, die eine Entsprechung in Ptk- 10 Leider sind die historischen Wortbildungslehren nicht sehr präzise über das Ende der Produktivität der jeweiligen Bildung, jedoch werden sie jeweils als alt und lange außer Gebrauch beschrieben (z. B. Henzen 1957 : 17 f.; 184 ). Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 79 <?page no="80"?> 80 Peter Öhl Vn haben, seien nicht zwangsläufig Ableitungen, sondern semantisch mehr oder weniger parallele Nominalkomposita von Präpositionen oder Adverbien mit einer im Lexikon verfügbaren Wurzel, die alternativ zum produktiven verbalen Lexem verwendet werden kann - also ein Allomorph. Natürlich kann diese Sicht auch auf andere Wortbildungsprodukte nach nicht mehr produktiven Regeln, wie die Bildungen Wurzel(allomorph) + e ( Gabe, Suche ) oder Wurzel(allomorph) + t ( Sicht, Kunft ) ausgeweitet werden. Für diese Analyse sprechen verschiedene Argumente: Da Nominalkomposita immer auf dem Erstglied betont werden ( 59 a), ist der Wortakzent kein Indiz für ein Ptk-V als Ableitungsbasis ( 59 b); nicht zuletzt existieren auch Nominalkomposita, die auf dem Erstglied betont sind und die eine Parallele in einem Pfx-V haben ( 59 c). (59) a. ’Umweg, ’Vorzimmer, ’Überbett (Stiebels/ Wunderlich 1994: 923) b. ’Umgang, ’Vorstand, ’Übergang c. über’nehmen vs. ’Übernahme Präfigierte deverbale Substantive sind dagegen nicht auf dem Erstglied betont: (60) Ver’gabe, Ent’nahme (ibd. 924) Die Existenz von Nominalkomposita, die parallel zu Ptk-Vn verwendet werden, scheint nicht nur plausibel, weil oft Substantive verwendet werden, deren Ableitung vom Basisverb intransparent ist - wie z. B. Sicht vs. seh- ( 61 a). Sie ist auch evident, wenn das Kompositum nicht mit dem Wurzelnomen sondern mit einem gepräfigierten deverbalen Nomen gebildet wird ( 61 b+c). (61) a. durchsehen vs. Durchsicht: [ N durch Adv + sicht N ] b anbieten vs. Angebot: [ N an P + gebot N ] (ibd. 939 f.) c. anquatschen vs. Angequatsche: [ N an P + gequatsche N ] Da Komposition rekursiv durchführbar ist, Iteration von V-Ptkn jedoch nicht möglich ist, existieren zu entsprechenden Substantiven keine parallelen Ptk-Vn (vgl. Stiebels/ Wunderlich 1994 : 940 ): <?page no="81"?> (62) a. Vorabdruck, Wiederanspiel, Überangebot, Oberaufsicht b. *vorabdrucken, *wiederanspielen, *überanbieten, *oberbeaufsichtigen/ *oberaufsehen Der Rückgriff auf alternative Morphe erklärt aus unserer Sicht nicht nur die Möglichkeit der Verwendung des Allomorphs [ gabe ] für deverbale Bildungen trotz der semantischen Einschränkung des Substantivs Gabe . Es eröffnet sich auch eine Erklärung für die nicht-produktivität von Bildungen mit +kunft . Das Substantiv Kunft ist als deverbales Nomen bezeugt seit dem 8 . Jh., ebenso wie das ahd. Adjektiv kumftīg (vgl. Kluge 2011 ). Ursprünglich hatte es ein Ereignisdenotat. (63) sine cunft was so wunderlich (Anf. 12. Jh.; MSD 101; vgl. DRW ) ≈ ‚Sein Kommen war wie ein Wunder.‘ Dass *kunft als selbständiges Substantiv nicht mehr vorhanden ist und zugleich Nominalbildungen mit +kunft unproduktiv sind, legt nahe, dass die Komposition mit einer/ m Wurzel(allomorph) zur Bildung einer dem Ptk-V parallelen Form von der Verfügbarkeit des Substantivs im Lexikon abhängt. Aus systematischer Sicht ist das nicht weiter verwunderlich, da diese Bildungen als Komposita selbständige Glieder voraussetzen, will man nicht die sog. Konfixe ins Spiel bringen, die hier ja aber ohnehin nicht vorliegen. Augenscheinliche Ptk- V-Nominalisierungen sind zwar nicht einfach Nominalkomposita - andernfalls wären ereignisdenotierende Substantive wie Weitergabe nicht möglich. Es liegt aber die Verwendung eines Allomorphs vor, das das Vorhandensein eines entsprechenden Nomens voraussetzt; aus diesem Grund sind Bildungen mit +kunft nicht mehr produktiv. Wenn nun, wie oben vorgeschlagen, syntaktisch völlig eigenständige V-Ptkn eigentlich resultative sekundäre Prädikate in Form lexikalischer Kategorien (Adv, Adj) sind ( 64 a+b), so sind die zum komplexen Prädikat parallel existierenden Substantive mit dem Infinitiv kommen folgendermaßen zu analysieren: Mangels zur Nominalisierung verwendbarem Allomorph steht als einzige Nominalform der Infinitiv zur Verfügung ( 64 c). (64) a. [ AdvP Wesentlich weiter als erhofft] sind wir wieder nicht gekommen. b. Wir sind heute [ AdvP wesentlich weiter als erhofft]. c. Wir hofften auf ein Weiterkommen/ *eine Weiterkunft. Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen 81 <?page no="82"?> 82 Peter Öhl Hierfür spricht meines Erachtens auch die prinzipielle Erweiterbarkeit durch zusätzliche Glieder, wie z. B. Adverbiale. (65) a. Schon wieder kamen die selben Fragen auf. b. Das Wiederaufkommen von Fragen ist für solche Arbeiten typisch. c. ? Das Schonwiederaufkommen der selben Fragen überrascht also nicht. Somit sind, systematisch betrachtet, augenscheinliche Nominalisierungen solcher „Partikelverben“ durch den Infinitiv eigentlich Zusammenrückungen bzw. Phrasenkomposita, also ebenfalls syntaktisch motivierte Bildungen. 4 Schluss: Wie werden also Partikelverben nominalisiert? Es war zu sehen, dass systematisch betrachtet zumindest bei Bildungen wie [P/ Adv+(Wurzel)nomen] nicht Nominalisierungen von Ptk-Vn vorliegen, sondern Nominalkomposita. Hiermit stehe ich im Einklang mit Stiebels/ Wunderlich ( 1994 ), deren Vorschlag ich noch um einige kleinere Aspekte erweitert habe. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wenn die Option der Komposition [P/ Adv+N] prinzipiell zur Verfügung steht, stellt dann die Existenz paralleler Nomina überhaupt ein Indiz für die lexikalische Bildung von Ptk-Vn dar? Es muss sich bei einem solchen Substantiv ja gar nicht um eine direkte Nominalisierung handeln. Natürlich ist ein Angeber wer, der angibt , und bei einer Eingebung wird einem etwas eingegeben . Ein ähnlicher Zusammenhang besteht aber bei Angabe und Eingabe ( 66 b), und diese wurden ja oben in ( 58 ) als deverbale Direktbildungen ausgeschlossen. Dass es sich auch bei ( 66 a) um Nominalkomposita handelt, ist also keineswegs abwegig. (66) a. Angeber; Eingebung b. Angabe; Eingabe Folgende Beispiele zeigen zudem, dass auch deverbale Ableitungen vom Simplex mit Affix als Nominalkomposita verwendet werden, denn diese haben kein paralleles Ptk-V. Sie sind offensichtlich unmittelbar als Kompositum gebildet und idiomatisiert worden. (67) a. Überflieger; Untersetzer b. *’überfliegen; *’untersetzen <?page no="83"?> Zuletzt will ich an dieser Stelle auf augenscheinliche Zusammenbildungen mit * Kommer zu sprechen kommen, das ja nur in dieser zusammengesetzten Form gebildet wird ( 68 a). Diese sind m. E. am elegantesten als Nominalisierungen von Zusammenrückungen/ Phrasenkomposita erklärbar ( 68 b), die z. B. in Analogie zu bereits vorhandenen -er- Nominalisierungen wie ( Zu ) rückkehrer gebildet sind. (68) a. Wiederkommer; zu-spät-Kommer b. Wiederkommen; zu-spät-Kommen Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Existenz von zu Ptk-Vn parallelen Nomina nicht zwingend auf deren lexikalische Bildung schließen lässt. Da ich zudem hoffentlich schlüssig dafür argumentiert habe, dass syntaktisch völlig eigenständige V-Ptkn als resultative sekundäre Prädikate in Form lexikalischer Kategorien (Adv, Adj) zu analysieren sind und somit augenscheinliche Nominalisierungen solcher „Partikelverben“ eigentlich Zusammenrückungen mit dem Infinitiv darstellen, kann m. E. die Analyse von Ptk-Vn als syntaktisch komplexe Köpfe und der V-Ptkn als Köpfe im Verbalkomplex aufrecht erhalten werden. Literatur Ackermann, Farrell/ Webelhuth, Gert (1998): A Theory of Predicates . Stanford: CSLI . Augst, Gerhard (2009): Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache . Berlin / New York: de Gruyter Capelle, Bert (2004): „The particularity of particles, or why they are not just ‘intransitive prepositions‘.“ In: Cuyckens, Hubert/ Mulder, Walter de/ Mortelmans, Tanka (eds.): Adpositions of movement . Amsterdam, Benjamins: 29-57. 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The purpose of this paper is to show how Notker makes use of nominal compounds when translating from Latin to German, especially where new words have to be found for ideas or concepts not previously expressed in German. First I will give a short introduction to the material and an overview of general properties of nominal compounds as the object of research. The following section presents the theoretical background of cultural analysis. It also provides a semiotic definition of culture, according to which culture is seen as the shared models for perceiving, relating and interpreting among members of a social group and knowledge transfer is described as a form of cultural transfer. Finally, I analyze four examples of the role of nominal compounds in passages that impart theological ideas and interpretations, or in which translations of technical terms are needed in order to comprehend what these terms denote. 1 Einleitung Mit dem Einsetzen der schriftlichen Überlieferung des Deutschen im frühen Mittelalter beginnt auch die Entwicklung einer deutschen Schriftsprache. Zwar bleibt noch für lange Zeit die Dominanz des seit der Antike im westlichen Europa als Schriftsprache vorherrschenden Lateinisch ungebrochen und so ist auch die Entwicklung der deutschen Schriftsprache nur in ihrer Abhängigkeit von und in ihren Wechselbeziehungen mit dem Lateinischen zu sehen, doch beginnt hier schon die Entwicklung des Deutschen hin zu einer Schrift- und Literatursprache, die in allen Bereichen der schriftlichen Kommunikation Anwendung finden und schließlich das Lateinische ablösen kann. <?page no="90"?> 90 Nicolaus Janos Raag Mit dieser Entwicklung ist eine Ausdifferenzierung der Sprache verbunden, die sich vor allem im Wortschatz zeigt, denn es müssen neue Bezeichnungen für Konzepte gefunden werden, die dem Deutschen bislang ‚fremd‘ waren, da für sie im Rahmen der mündlichen Alltagskommunikation keine Bezeichnungsnotwendigkeit bestand. Hierbei kommen neben Wortentlehnungen und Lehnbedeutungen vor allem Lehnbildungen, also die Verfahren der Wortbildung (Derivation und Komposition) zum Tragen (cf. Meineke 2007 : 232 ). Diese Ausdifferenzierung des Wortschatzes wird auch notwendig, da die situationsenthobene schriftliche Kommunikation größere Exaktheit verlangt als die im Alltagskontext situationsgebundene mündliche Kommunikation (Solms 1999 : 241 ). Dementsprechend nimmt auch der Anteil der Substantivkomposita, die als Determinativkomposita eine enger bestimmte, exaktere Referenz ermöglichen, am Gesamt des Substantivwortschatzes vom Mittelalter bis zur Gegenwartssprache deutlich zu (Solms 1999 : 234 ). Angesichts dieser Überlegungen mag es verwundern, dass es nach wie vor kaum umfassendere Untersuchungen gibt, die sich der Komposition im Althochdeutschen widmen (cf. Meineke 2007 : 233 ) und insbesondere solche Untersuchungen, die sich über die systemlinguistische Darstellung der Komposition als eines Wortbildungsverfahrens hinaus der Frage widmen, welche Rolle diese bei dem oben beschriebenen Prozess der Ausdifferenzierung der deutschen Sprache spielt. So zeigt etwa Erben ( 1987 ), wie Komposita in den althochdeutschen Texten „Christus und die Samariterin“ und Otfrids „Evangelienbuch“ verwendet werden, um etwas Neues (insbesondere die christliche Botschaft) auszudrücken. Mit dem Einfluss des Lateinischen auf das Althochdeutsche und hier insbesondere auf den neuen, christlichen Wortschatz, beschäftigt sich auch Betz ( 1936 ) für den Abrogans und Betz ( 1949 ) für die althochdeutsche Benediktinerregel. In seiner zusammenfassenden Übersicht zu Forschungen zu „Lehnwörter[n] und Lehnprägungen im Vor- und Frühdeutschen“ stellt Betz ( 1974 : 143 ) zwar fest, dass die neuen christlichen Begriffe im Abrogans und der Benediktinerregel ganz überwiegend durch Lehnbedeutungen wiedergegeben werden, gleichzeitig schätzt er den Anteil von Lehnbildungen am althochdeutschen Gesamtwortschatz aber auf immerhin 10 % (Betz 1974 : 145 ). In der Folge von Betz beschäftigen sich verschiedene Dissertationen mit dem Lehngut und insbesondere auch mit Lehnbildungen bei Notker: Schwarz ( 1957 ), Mehring ( 1958 ) sowie Coleman ( 1963 , Zusammenfassung: 1964 ). Für den religiösen Wortschatz der Psalter-Bearbeitung stellt Betz ( 1974 : 151 ) aufbauend auf Schwarz ( 1957 ) wieder eine deutliche Dominanz der Lehnbedeutungen mit fast 80 % fest, aber auch die Lehnbildungen spielen wieder eine gewisse Rolle ( 10 % des religiösen Wortschatzes sind Lehnübersetzungen, 7 % Lehnübertragungen). <?page no="91"?> Wissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster 91 Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man Notkers Bearbeitung des Martianus Capella betrachtet, wobei bei diesem nicht-christlichen Text die Lehnprägungen in allen Sachgruppen betrachtet werden. Hier stellt Betz ( 1974 : 152 ) ausgehend von Mehring ( 1958 ) eine Dominanz der Lehnbildungen fest: über die Hälfte der Lehnprägungen (also des Lehnguts ausgenommen der Lehnwörter) sind Lehnübersetzungen, fast ein Drittel sind Lehnübertragungen, immerhin 12 % Lehnschöpfungen und nur 6 , 6 % Lehnbedeutungen. Coleman ( 1963 ) untersucht die Lehnbildungen in Notkers Consolatio-Bearbeitung und gibt in der Zusammenfassung ihrer Dissertation (Coleman 1964 ) dann basierend auch auf den anderen o. g. Arbeiten einen Überblick über die Lehnbildungen bei Notker. Sie stellt fest, dass von den Lehnbildungen Notkers noch ca. 40 % im Mittelhochdeutschen weiterleben, wobei dies im Einzelnen für 48 % der Lehnübersetzungen, ein Drittel der Lehnübertragungen und 28 % der Lehnschöpfungen gilt. Es zeigt sich hier, dass ein großer Teil der von Notker neu gebildeten Lehnbildungen nicht im Wortschatz bleiben. Die größte „Überlebenschance“ haben noch Lehnübersetzungen, dies gilt auch generell für Lehnbildungen im Althochdeutschen (cf. Betz 1974 : 152 , passim). Dies könnte laut Betz ( 1974 : 152 ) daran liegen, dass die Autorität des Lateinischen bei der genaueren Nachbildung in der Lehnübersetzung stärker fortwirkt als etwa in der Lehnübertragung oder gar Lehnschöpfung. Als weiteren Grund kann man noch annehmen, dass die Lehnbildungen Notkers zu einem großen Teil ad hoc gebildet wurden und gar nicht in den Wortschatz aufgenommen wurden. Die Wahrscheinlichkeit, dass dann später das gleiche Wort als Übersetzung desselben lateinischen Lemmas noch einmal gebildet wird, ist bei der Lehnübersetzung natürlich größer als bei den anderen Lehnbildungen. Auch Betz ( 1974 ) weist darauf hin, dass es sich bei der entstehenden deutschen Literatursprache noch um ein „Schreibstubenerzeugnis“ handelt, und dass „das Meiste von dieser allerersten und oft noch sehr gewaltsamen Formung durch das Latein, […] nur ein einmaliges sprachliches Experiment“ war (Betz 1974 : 149 ) und „vielfach noch mehr aus augenblicklicher Übersetzungsnot für den Augenblick geschaffen“ wurde (Betz 1974 : 150 ). So sieht auch Glauch ( 1993 ) die Substantivkomposita in Notkers Texten als nichtlexikalisierte Gelegenheitsbildungen (Glauch 1993 : 134 ). Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Untersuchungen zum Lehnwortschatz bei Notker argumentiert Glauch ( 1993 : 127 ), dass ein großer Teil der Substantivkomposita in Notkers Texten zwar in Abhängigkeit von der lateinischen Vorlage gebildet wurde, aber nur mit Einschränkung zum Lehnwortschatz gezählt werden könne. Sie sieht die Substantivkomposita bei Notker nicht als Lexeme an sondern vielmehr als „akzidentiell zur Worteinheit geronnene Phrasen“ (Glauch 1993 : 132 ), die sich nicht von anderen, syntaktischen Ausdrucksmöglichkeiten un- <?page no="92"?> 92 Nicolaus Janos Raag terscheiden und sie erkennt in der Komposition ein produktives Mittel zum Ausdruck von Attributen, dem bei Notker oft der Vorzug gegenüber einer syntaktischen Übersetzung gegeben wird (Glauch 1993 : 133 ). In Bezug auf die Frage, welche kommunikative Funktion die Substantivkomposita im Kontext der Klosterkultur und Klosterschule spielen können, ist hier noch vor allem die Dissertation von Delphine Pasques ( 2003 b) zu nennen, die neben einer formalen (prosodischen und graphematischen) und semantischen Darstellung der Substantivkomposita in Notkers Psalter auch eine Darstellung unter pragmatischen Gesichtspunkten enthält, wo sie die Komposita unter dem Aspekt der argumentativen Strategien der mittelalterlichen Verfasser (Notker und Notkerglossator) darstellt. Diesen Ansatz verfolgt Pasques ( 2003 a) auch in einem Aufsatz, wo sie ausgehend von Karl Bühlers Organon-Modell die Substantivkomposita in Notkers Psalter in Bezug auf ihre kommunikative Funktion hin untersucht. Bei Pasques ( 2003 b, 2003 a) findet sich also schon ein interessanter Ansatz für eine Betrachtung der Substantivkomposita aus kulturanalytischer Perspektive, wenn sie nämlich nach der kommunikativen Funktion und nicht nach morphologischen Eigenschaften fragt. An dieser Stelle soll auch mein hier vorgestelltes Dissertationsprojekt ansetzen, wenn der Frage nachgegangen wird, wie Notker 1 bei seiner didaktischen Bearbeitung und Übersetzung 2 von Schultexten bestimmte Wortbildungsmuster operationalisiert, um bestimmte Inhalte zu vermitteln. Es soll also gezeigt werden, wie der Lehrer und Übersetzer Notker das diesen Wortbildungsmustern innewohnende Sinngebungspotential kreativ nutzt, wo er Begriffe aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, für die es bisher noch keine Bezeichnungen in dieser Sprache gab. Die Substantivkomposition soll hier also als eine mögliche sprachliche Strategie betrachtet werden, die dem frühmittelalterlichen Übersetzer zur Verfügung steht, wenn er sich vor die oben beschriebene Herausforderung gestellt sieht. 3 1 Bzw. für den Psalter auch der Notker-Glossator. 2 Notkers ‚Übersetzungen‘ sind nicht bloße Übersetzungen sondern eigentlich didaktische Bearbeitungen (s. u. Abschnitt 2 . 1 ). Schon die Anlage der Texte spiegelt so Notkers didaktische Intention und Grundausrichtung wider. 3 Natürlich ist die Komposition (oder auch die Wortbildung überhaupt) nicht das einzige sprachliche Mittel, das hier nutzbar gemacht werden kann. Andere Strategien, wie etwa Metaphern, klingen auch in den unten gegebenen Beispielen ( 1 ) und ( 2 ) mit an. <?page no="93"?> Wissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster 93 2 Materialgrundlage und Untersuchungsgegenstand 2.1 Das Korpus: Notkers althochdeutsches Übersetzungswerk Als Materialgrundlage der vorgestellten Untersuchung dient wie erwähnt das althochdeutsche ‚Übersetzungswerk‘ Notkers, wobei das Korpus sämtliche seiner überlieferten Schriften umfasst, die deutsches Sprachmaterial enthalten. Als Textgrundlage dient die Edition von King/ Tax (Notker der Deutsche 1972 - 2009 ). Notker dürfte um 950 im Thurgau geboren sein und er starb am 28 . Juni 1022 im Kloster St. Gallen. Dort war er Mönch und Schulvorsteher (caput scholae) und in späteren Jahren auch Leiter der Bibliothek. Als Lehrer übersetzte Notker eine Reihe von Schultexten aus dem Lateinischen ins Deutsche, um seinen Schülern das Verständnis dieser Texte zu erleichtern, denn wie er selbst in seinem Brief an Bischof Hugo II. von Sitten sagt, sei es viel leichter etwas in der eigenen Muttersprache, der „patria lingua“, zu verstehen als in einer Fremdsprache, einer „lingua non propria“: Ad quos dum accessvm habere nostros uellem scolasticos aus<us s>vm facere rem pene inusitatam . ut latine scripta in nostram linguam conatus sim uertere […] (NEP 348 , 9 F.) 4 (Da ich wünschte, dass unsere Schüler zu diesen [den Sieben Freien Künsten] Zugang haben, wagte ich es, eine beinahe unerhörte Sache zu tun, dass ich es nämlich unternahm lateinische Schriften in unsere Sprache zu übersetzen […]. [ÜS. NJR] ) […] quam [s]cito capiuntur per patriam linguam . quę aut uix aut non integre capienda forent in lingua non propria (NEP 349 , 24 F.) ([…], weil man in der Muttersprache schneller versteht, was man in einer fremden Sprache entweder kaum oder nicht vollständig verstehen würde. [ÜS. NJR] ) Seit der Spätantike und Cassiodor bestand der schulische Lehrinhalt aus den Sieben Freien Künsten und im frühmittelalterlichen Europa waren Klöster und Klosterschulen die Zentren von Bildung und Gelehrsamkeit. Spätestens seit dem 9 . Jahrhundert bildet sich ein Kanon von Schultexten heraus, die im Unterricht 4 Verweise auf Zitate und Textstellen bei Notker beziehen sich auf die Ausgabe King/ Tax und folgen der dort vorgeschlagenen Notation, für eine Liste aller Siglen siehe NL (Bd. 1 A, XIII). Der auf das jeweilige Werk Notkers verweisende Sigle folgt die Seiten- und Zeilenangabe des Belegs. Die Sigle Nep verweist auf Notkers Brief an Bischof Hugo II. von Sitten (Notker der Deutsche 1972 - 2009 : Bd. 7 , 347 - 349 ). Die Sigle Nb verweist auf Notkers Bearbeitung der Consolatio Philosophiae des Boethius (Notker der Deutsche 1972 - 2009 : Bd. 1 - 3 ), die Sigle Nc auf seine Bearbeitung von De nuptiis Philologiae et Mercurii des Martianus Capella (Notker der Deutsche 1972 - 2009 : Bd. 4 ) und Nk auf seine Bearbeitung der lateinischen Übersetzung der Kategorien des Aristoteles von Boethius (Notker der Deutsche 1972 - 2009 : Bd. 5 ). Die Sigle Np verweist auf Notkers Psalter (Notker der Deutsche 1972 - 2009 : Bd. 8 - 10 ), durch Npgl ist hier zusätzlich gekennzeichnet, dass es sich um einen Beleg des Notker-Glossators handelt. <?page no="94"?> 94 Nicolaus Janos Raag an den Klosterschulen verwendet wurden (cf. Glauche 1970 ). Die meisten von Notkers Übersetzungen sind solche kanonischen mittelalterlichen Schultexte aus allen Bereichen der Sieben Freien Künste und sie entstanden in engem Zusammenhang mit der Tätigkeit Notkers als Lehrer und also mit der Wissensvermittlung in der frühmittelalterlichen Klosterschule in St. Gallen. Über die Schultexte hinaus bearbeitete Notker aber auch theologische Texte wie etwa den Psalter, die nicht zum Schulkanon gehören sondern eher in den Bereich frühmittelalterlicher Wissenschaft (also der Theologie). Aber auch bei diesem Text, den Henkel ( 1988 : 75 - 76 ) als Erbauungsliteratur einordnet, lässt sich ein didaktischer Anspruch des Verfassers erkennen, der auch hier Erklärungen und Kommentare in seine Bearbeitung einarbeitet. Notkers Übersetzungen sind nämlich keine bloßen Übersetzungen sondern vielmehr didaktische Bearbeitungen für den Schulunterricht, die auf das Verständnis des Originaltextes ausgerichtet sind. In seinen Texten kombiniert er den Text des lateinischen Originals (in syntaktisch vereinfachter Form) mit seiner Übersetzung und Kommentaren, die er aus antiken und frühmittelalterlichen Autoritäten schöpft, wobei die für Notker typische sogenannte deutschlateinische Mischsprache entsteht (cf. Sonderegger 1970 : 87 - 90 ; Henkel 1988 : 77 - 86 ). 2.2 Untersuchungsgegenstand: Substantivkomposita Diese im Schulkontext entstandenen Texte dienen also als Korpusgrundlage für die vorgestellte Untersuchung, in der die Substantivkomposition als eine sprachliche Strategie betrachtet werden soll, die nutzbar gemacht werden kann, wo neue Wissensinhalte und somit neue Begriffe vermittelt werden sollen. Der konkrete sprachliche Untersuchungsgegenstand sind also die Substantivkomposita. Der Normaltyp der Substantivkomposita im Deutschen sind die Determinativkomposita (Ortner/ Ortner 1984 : 11 ) und im Notker-Korpus sind diese auch der einzige Typ, der begegnet. 5 Determinative Substantivkomposita werden durch die Kombination zweier existierender, frei vorkommender Lexeme gebildet, von denen das zweite ein Substantiv sein muss, so dass auch das Wortbildungsprodukt ein Substantiv ist. Das Zweitglied (B-Konstituente) ist der Kopf der Bildung und wird durch das Erstglied (A-Konstituente) näher bestimmt. Zur Abgrenzung von anderen komplexen Wörtern referieren Ortner/ Ortner ( 1984 : 11 - 39 ) insgesamt 16 Eigenschaften von Komposita, die in der Li- 5 Zu den beiden möglicherweise als Kopulativkomposita zu wertenden Bildungen chúnigh-ríhtâre st. M. (Npgl 228 , 26 ) und árzatgót st. M. (Nc 8 , 17 ) sowie ihrer Zuordnung zu den Determinativkomposita cf. Morciniec ( 1959 : 293 - 294 ). <?page no="95"?> Wissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster 95 teratur genannt werden. Neun dieser Eigenschaften betreffen das Kompositum als Ganzes (Ortner/ Ortner 1984 : 12 - 28 ), fünf sind Eigenschaften einzelner Konstituenten (Ortner/ Ortner 1984 : 28 - 38 ) und zwei Eigenschaften kommen dem Kompositum als Textelement zu (Ortner/ Ortner 1984 : 38 - 39 ). Meineke ( 1991 ) bespricht die Kriterien von Ortner/ Ortner ( 1984 ) und hierarchisiert sie. Zuoberst ordnet er die Eigenschaften an, die dem Kompositum als Ganzem zukommen. Lediglich vier der dort genannten neun Kriterien sieht er als uneingeschränkt gültig an (primäre Kriterien), alle anderen Kriterien sieht er als sekundäre oder tertiäre Kriterien oder verwirft sie ganz (Meineke 1991 : 73 - 76 , passim). Diese vier zentralen Eigenschaften von Komposita sind die Binarität, die Subordination der Konstituenten, die allgemeine Strukturbedeutung (in Verbindung mit der nichtexpliziten Konstruktionsbedeutung) und die Kompatibilität der Konstituenten in sachlogischer Hinsicht. Auf diese vier Kriterien soll im Folgenden kurz eingegangen werden, wobei zunächst die beiden für die vorgestellte Untersuchung wichtigsten Eigenschaften vorgestellt werden sollen (s. u. Abschnitt 3 . 1 ). Das Kriterium der Binarität besagt, dass jedes Substantivkompositum sowohl morphologisch als auch semantisch binär strukturiert ist (Ortner/ Ortner 1984 : 16 - 17 ; Meineke 1991 : 38 - 45 ). Die Zweigliedrigkeit von Komposita ist laut Meineke ( 1991 : 39 ) die Folge einer Determinans-Determinatum-Struktur, die wiederum die Widerspiegelung einer menschlichen Denkstruktur ist, die Meineke ( 1991 : 39 ) mit „[e]twas wird durch ein anderes näher bestimmt“ angibt. Der Ausgangspunkt eines jeden Kompositums sei demnach seine Funktion, ein binäres Konzept zu bezeichnen. Eine Funktion, für die einzelsprachlich verschiedene Mittel zur Verfügung stehen, neben der Komposition etwa Konstruktionen mit Genitiv- oder Adjektivattributen oder Präpositionalphrasen. Die zweite für diese Untersuchung zentrale primäre Eigenschaft von Komposita nach Meineke ( 1991 : 51 - 55 ) ist die nichtexplizite Konstruktionsbedeutung. 6 Das heißt, dass die semantische Relation zwischen den Konstituenten eines Kompositums auf morphologischer Ebene nicht ausgedrückt wird. Die Konstruktionsbedeutung eines Kompositums (also die jeweils im Einzelfall existierende semantische Relation zwischen den Konstituenten) 7 lässt sich zurückführen auf eine allgemeine Strukturbedeutung von Komposita: „B, das mit A zu tun hat“ (Meineke 1991 : 73 ). Die allgemeine Strukturbedeutung in Verbindung mit der Tatsache, dass die Konstruktionsbedeutung in Komposita nicht expli- 6 Ortner/ Ortner ( 1984 : 19 - 21 ) sprechen von „nichtexpliziter Strukturbedeutung“. 7 Unter Konstruktionsbedeutung ist also dasselbe zu verstehen, was in der Literatur häufig Wortbildungsbedeutung oder Motivationsbedeutung genannt wird (cf. etwa Fleischer/ Barz 2012 : 47 ). <?page no="96"?> 96 Nicolaus Janos Raag ziert wird, hat zur Folge, „daß das Kompositum als wortbildungstechnisches Universalwerkzeug einsetzbar ist“ (Meineke 1991 : 73 ). Die beiden verbleibenden primären Kriterien besagen, dass das, was im Kompositum zusammengebracht werden soll, außersprachlich kompatibel sein muss („sachlogische Kompatibilität der Konstituenten“, Meineke 1991 : 68 - 71 ), und dass die Reihenfolge der Konstituenten im Kompositum auf Determinans vor Determinatum festgelegt ist, was das semantische Funktionieren des Wortbildungsprodukts gewährleistet („Subordination und Unvertauschbarkeit der Konstituenten“, Meineke 1991 : 45 - 50 ). Nach diesen Ausführungen zu den strukturellen Eigenschaften von Komposita soll nun noch kurz auf die Funktion von Substantivkomposita eingegangen werden. Die beiden hauptsächlichen Funktionen von Substantivkomposita sind Nomination und Typisierung. Als Benennungs- oder Nominationseinheiten kommt ihnen primär eine Nominationsfunktion zu, weshalb sie sich eignen, wenn neue Bezeichnungen für Begriffe gefunden werden müssen (cf. Barz 1988 : 13 - 14 , 46 - 57 ; Klos 2011 : 28 , 235 - 236 ). Als komplexen Einheiten kommt ihnen aber gleichzeitig eine Typisierungsfunktion zu (Klos 2011 : 85 - 87 ). Durch die spezifizierende Bezeichnung von Unterbegriffen tragen Determinativkomposita zur Kategorienbildung bei und sie ermöglichen die Einordnung neuer Erfahrungstatbestände in den Kontext bekannter Erfahrungstatbestände als Spezifizierungen derselben, wobei gleichzeitig das den Erfahrungen gemeinsame als das Kategorielle abstrahiert wird (Solms 1999 : 240 ). Solms ( 1999 : 240 ) verdeutlicht dies anhand des Beispiels der Wortbildung Morgenland , die bei Luther anstelle von bisher verwendetem Osten bzw. auffgang der sunnen tritt: Luther bezeichnet in seiner Wortbildung einen in der Vorstellung lokalisiebaren Raum, sein Morgenland ist kein ‚Nicht-Ort‘, kein ‚ou tópos‘, kein ‚Nirgendwo‘; sein Morgenland ist ein konkretes und in der Vorstellung von Territorialität bestimmbares Land . Und dieses Land kann sich der zeitgenössische Rezipient als eine Wirklichkeit vorstellen, so wie er z. B. ein Schwabenland , ein Engelland , ein Niderland oder Oberland kennt […]. (Solms 1999 : 240 ) Unter diesem Aspekt der Nominations- und Typisierungsfunktion von Substantivkomposita ist die Frage nach ihrer Rolle bei der Wissensvermittlung neuer Inhalte interessant für eine kulturanalytische Betrachtung. Bevor dies aber vorgenommen werden kann, müssen zunächst noch einige theoretische Grundbegriffe geklärt werden. <?page no="97"?> Wissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster 97 3 Theoretischer Rahmen: Kulturanalyse Die Substantivkomposita sollen hier, wie erwähnt, daraufhin untersucht werden, inwiefern sie im Rahmen der klösterlichen Wissensvermittlung zur Sinngebung beitragen, das heißt, sie sollen auf ihre kommunikative Aussagekraft im damaligen klösterlichen Kontext hin überprüft werden. Dafür ist es notwendig, über den konkreten textlichen Kontext (den Kotext), in dem das einzelne Substantivkompositum überliefert ist, und über seine intratextuellen Beziehungen hinaus auch dessen intertextuelle Beziehungen und vor allem die außersprachliche Einbettung in den kulturellen Kontext mit in die Analyse einzubeziehen. Aus diesem Grund soll hier zunächst eine Bestimmung des der Untersuchung zugrunde liegenden Kulturbegriffs folgen. 3.1 Was ist Kultur? -- Begriffsbestimmung Der hier vorgestellten Untersuchung soll ein semiotischer Kulturbegriff zugrunde gelegt werden, der sich etwa so zusammenfassen lässt: Kultur ist unsere Wahrnehmung und Deutung von Welt. So definiert etwa Ward Goodenough ( 1964 ) Kultur als das geteilte Wissen, das die Mitglieder einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe dazu befähigt, in einer für eben diese soziale Gruppe akzeptablen Weise zu handeln. Kultur sind für ihn dementsprechend geteilte Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster: As I see it, a society’s culture consists of whatever it is one has to know or believe in order to operate in a manner acceptable to its members, and do so in any role that they accept for any one of themselves. Culture, being what people have to learn as distinct from their biological heritage, must consist of the end product of learning: knowledge, in a most general, if relative, sense of the term. By this definition, we should note that culture is not a material phenomenon; it does not consist of things, people, behavior, or emotions. It is rather an organization of these things. It is the forms of things that people have in mind, their models for perceiving, relating, and otherwise interpreting them. (Goodenough 1964 : 36 ) Ähnlich ist auch der Kulturbegriff von Clifford Geertz ( 1983 ) zu verstehen, für den die Zeichenhaftigkeit kultureller Phänomene im Mittelpunkt steht und der Kultur auf Max Weber rekurrierend als selbstgesponnene Bedeutungsgewebe bezeichnet, in denen der Mensch versponnen sei (Geertz 1983 : 9 ). Die Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Deutungsmuster in den Köpfen der Menschen, von denen Goodenough ( 1964 : 36 ) spricht, ihre Organisation und ihre Verknüpfung untereinander und Bezogenheit aufeinander, sind eben dieses Bedeutungsgewebe, in dem die Zeichenhaftigkeit und Aufeinander-Bezogenheit kultureller Phänomene zum Ausdruck kommt. <?page no="98"?> 98 Nicolaus Janos Raag Wenn man die oben genannte Typisierungsfunktion von Komposita in Betracht zieht, mag es also plausibel sein, dass Substantivkomposita das Potential zukommt, kulturellen Sinn zu geben, indem sie die Möglichkeit eröffnen, etwas neues in der bekannten Welt zu verorten, es innerhalb der bestehenden Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in Beziehung zu setzen. Aufgrund der Zweigliedrigkeit von Komposita (s. o. zur Binarität) und ihrer grundsätzlich offenen, allgemeinen Strukturbedeutung kann also etwas zu etwas anderem in Beziehung gesetzt werden und somit in der bekannten Welt rekontextualisiert werden, wobei der Art dieser Beziehung von formaler Seite keine Grenzen gesetzt sind. 3.2 Kulturtansfer und Rekontextualisierung Der Begriff der Rekontextualisierung wird zur Beschreibung des Prozesses des Kulturtransfers verwendet. Dieser Prozess vollzieht sich nach Peter Burke ( 2009 : 93 - 94 ) wie folgt: Etwas, ein kulturelles Artefakt, wird aus einem kulturellen Kontext, aus seiner ursprünglichen Umgebung, herausgenommen (dekontextualisiert) und bei der Einfügung in seine neue Umgebung so verändert, dass es in diese passt (rekontextualisiert). In anderen Worten kann man sagen: Wenn etwas neues im eigenen, bekannten kulturellen Kontext rekontextualisiert wird, muss es innerhalb der Ordnung und Organisation der Dinge in unseren Köpfen verortet und in Bezug gesetzt werden, es muss in die Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die oben als Kultur definiert wurden, integriert werden. So lässt sich auch die Wissensvermittlung in der frühmittelalterlichen Klosterschule als eine Art von Kulturtransfer beschreiben. Wenn den Schülern neue Konzepte und Ideen vermittelt werden sollen, bedeutet dies, dass diese neuen Konzepte in der ihnen bekannten Welt integriert werden müssen und zu den bekannten Dingen in Bezug gesetzt werden müssen. Wenn Notker aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, muss er neue Wörter für die neuen Konzepte finden, die er seinen Schülern vermitteln will. Ein sprachliches Mittel, das ihm hierbei zur Verfügung steht, sind wie erwähnt die Substantivkomposita. Sie ermöglichen es, diese neuen Konzepte der Sprachgemeinschaft im Einzelwort verfügbar zu machen und bergen somit die Möglichkeit zur Konventionalisierung und Sozialisierung (cf. Solms 1999 : 241 ). 8 Dies ist mit Bezug auf die Wissensvermittlung auch besonders hinsichtlich eines Aspekts interessant, den Klos ( 2011 : 161 - 162 , 235 , 249 - 251 ) in ihrer empirischen Untersuchung für Sprecher des Gegenwartsdeutschen bestätigen 8 Auch wenn man den Subtantivkomposita Notkers mit Glauch ( 1993 ) den Lexemstatus absprechen will und sie als akzidentielle, zur Worteinheit geronnene Phrasen sieht, so können sie hier doch durch die diesen Worteinheiten zukommende, höhere Prägnanz wirken (zur Prägnanz cf. auch Glauch 1993 : 132 ). <?page no="99"?> Wissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster 99 konnte: Unter dem Begriff der Existenzpräsupposition stellt sie fest, „dass Sprachbenutzer aufgrund ihres Bewusstseins über die Nominationsfunktion von Substantivkomposita bei der Dekodierung nach einem möglichen Referenten suchen, der durch das [Kompositum] benannt wird“ (Klos 2011 : 249 ). Die Sprachbenutzer gehen also davon aus, dass ein Kompositum, wenn es existiert, auch etwas bezeichnet, also auch ein Referent existieren muss. Auch wenn man keine radikale humboldtianische Haltung einnehmen will und davon ausgeht, dass die Welt, in der wir leben, von unserer Sprache geformt wird und somit auch durch die Schöpfung oder Bildung neuer Wörter formbar ist, dass also etwa die Annahme von der tatsächlichen Existenz einer Entität (oder eines Konzepts) dadurch etabliert wird, dass eine Bezeichnung zur Verfügung gestellt wird, die auf dieses Konzept referiert, so kann man doch zumindest davon ausgehen, dass die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Rezipienten dadurch beeinflusst werden, dass eine Bezeichnung für ein bestimmtes Konzept besteht. 4 Beispielanalysen Anhand von vier Beispielen aus zwei Bereichen soll im Folgenden gezeigt werden, wie man sich Substantivkomposita aus kulturanalytischer Blickrichtung nähern kann und welche Rolle diese bei der Wissensvermittlung im frühmittelalterlichen Kloster spielen können. Konkret bedeutet dies, dass die Komposita unter dem Aspekt ihrer intra- und intertextuellen sowie ihrer außersprachlichen, kulturellen Referenz betrachtet werden. 4.1 Metaphorische Substantivkomposita zur Bezeichnung theologischer Konzepte Zunächst sollen zwei Beispiele aus Notkers Psalter-Bearbeitung analysiert werden, die unter Rückgriff auf etablierte Metaphern der zeitgenössischen Bibelexegese bestimmte theologische Konzepte vermitteln sollen, wobei in der Übersetzung über die lateinische Vorlage hinausgegangen wird. (1) pérg fúgeli st. N. ‚Bergvöglein, metaphorisch für den Gläubigen (Christ)‘ 9 (Np 34,15 f.) 10 9 Die Bedeutungsangaben der analysierten Komposita beruhen auf einer Bestimmung der im jeweiligen Überlieferungskontext aktualisierten Bedeutung, wobei Sehrt ( 1962 ) sowie Schützeichel ( 2012 ) als Hilfsmittel herangezogen wurden. Bedeutungsangaben sonstiger ahd. Wörter (etwa der einzelnen Konstituenten der Komposita) nach Schützeichel ( 2012 ) und Sehrt ( 1962 ). 10 Zu den Verweisen auf Textstellen im Notker-Korpus siehe oben Fußnote 4 . <?page no="100"?> 100 Nicolaus Janos Raag Mit dem Substantivkompositum pérg fúgeli ‚Bergvöglein‘ übersetzt Notker in der folgenden Textstelle das lateinische passer , das zunächst einen Sperling oder auch allgemein einen kleinen Vogel bezeichnet. 11 An anderer Stelle übersetzt der Notker-Glossator das gleiche lateinische Lemma mit smalfogel st. M. ‚Kleinvogel: kleiner Vogel, Spatz‘ (Npgl 384 , 2 ), außerdem findet sich sowohl bei Notker (Np 383 , 20 ) als auch in anderen althochdeutschen Quellen noch das Nomen mit entsprechendem Adjektivattribut: smaliu gefugele st. N. Pl. ‚kleine Vögel, Spatzen‘. Zur Bildungsweise von pérg fúgeli ist hier außerdem noch anzumerken, dass es sich um eine doppelmotivierte Bildung handelt, das heißt als Bildungsweise kommt entweder eine Komposition aus pérg st. M. und fúgeli st. N. oder eine Derivation aus * berg-fugel st. M. mit dem Dimminutivsuffix li . Auch wenn eine eindeutige Entscheidung aufgrund der fehlenden sprachlichen Kompetenz heute nicht mehr getroffen werden kann, so spricht doch die Beleglage dafür, dass es sich eher um ein Kompositum handeln dürfte, denn während die Basis einer möglichen Ableitung *berg-fugel im Althochdeutschen nicht belegt ist, so ist dies für das Zweitglied fúgeli st. N. (Np 34 , 13 ; 14 ) sehr wohl der Fall, und zwar in der gleichen Textstelle wie auch das Kompositum pérg fúgeli selbst (s. u.). Dort gibt Notker das Wortbildungsmotiv quasi in Form einer Wortbildungsparaphrase selbst an: „Passeres hêizent alliû fugeliû . dero uuónent súmelichiû ín gebírge“ (Np 34 , 13 - 14 ). Das Substantivkompositum pérg fúgeli ist bei Notker in der folgenden Textstelle aus seiner Psalter-Bearbeitung in Psalm 11 ( 10 ) belegt: IN DOMINO CONFIDO . QVOMODO DICITIS animę mee . transmigra in montem sicut passer? Ih getrûen an gót . der mîn bérg ist . ze démo ih flúht hábo . uuîo chédent ir heretici ze mír . fliûg hára ûf in berg also fúgeli? Passeres hêizent alliû fugeliû . dero uuónent súmelichiû ín gebírge . fóne diû sprechent heretici samoso déro eînemo zuô . daz pérg fúgeli ist. CHRISTVS ist der berg . dén uuânent siê mit ín uuésen . bediû lúcchent siê catholicos dára . unde bediû uuírt in sús fóne in geántuúrtet […]. (NP 34 , 11 - 18 ) 12 ICH VERTRAUE AUF GOTT . WIE SAGT IHR zu meiner Seele, ziehe in die Berge wie ein Vogel? Ich vertraue auf Gott, der mein Berg ist, zu dem ich Zuflucht habe. Wie sagt ihr Häretiker zu mir, flieg herauf auf den Berg wie ein Vöglein? Passeres heißen alle Vöglein, von denen sämtliche im Gebirge wohnen. Daher sprechen die Häretiker so zu einem von denen, der ein Bergvöglein ist. Christus ist der Berg, von dem glauben sie, dass er mit 11 Bedeutungsangaben für lateinische Wörter nach Prinz u. a. ( 1967 -) (A-illibezzus) bzw. Blatt u. a. ( 1957 -) (L-Plaku) sowie Georges ( 1998 ). 12 Der Ausgabe King/ Tax folgend wird der lateinische Psalmen-Text, der in der Psalter- Handschrift (Cod. Sg. 21 ) rubriziert ist, kursiv gesetzt, der deutsche Übersetzungs- und Kommentartext dagegen recte. <?page no="101"?> Wissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster 101 ihnen sei, dadurch locken sie die Gläubigen dorthin und deshalb wird ihnen so von diesen geantwortet: […]. 13 Es wird deutlich, dass das Substantivkompositum pérg fúgeli in engem Zusammenhang mit dem direkten textlichen Kotext steht, in dem es belegt ist. Es kann nur richtig gedeutet und verstanden werden, wenn sowohl dieser Kotext als auch Informationen aus dem Kontext des theologischen Denkens in frühmittelalterlichen Klöstern berücksichtigt werden. Notker integriert nämlich in seine kommentierende Übersetzung von Psalm 11 ( 10 ) eine Deutung des Kirchenvaters Augustinus, dass der Berg für Christus stehe (cf. NL : Bd. 8 A, 32 ). Für das Verständnis des Kompositums sind also vor allem intertextuelle Referenzen zu Augustinus als auch intratextuelle Referenzen in der entsprechenden Textstelle relevant. Notker integriert nämlich zunächst die genannte Interpretation Augustinus’ in seinen Übersetzungstext: Ih getrûen an gót . der mîn bérg ist und CHRISTVS ist der berg . Diese Erklärungen stehen nicht im hier kursiv gesetzten Psalmen-Text sondern werden von Notker aus Augustinus schöpfend hinzugefügt. Aber Notker erklärt Augustinus’ Konzept nicht nur in seinem Text, er konzentriert diese theologische Interpretation von Psalm 11 ( 10 ) auch in einem Substantivkompositum, wenn er passer mit pérg fúgeli übersetzt. Das Kompositum ist also nicht einfach nur eine Übersetzung von passer in seiner wörtlichen Bedeutung, es ist vor allem auch eine Metapher für den Gläubigen. 14 Auf diese Weise wird die enge Beziehung zwischen Christus und dem Gläubigen zum Ausdruck gebracht und Augustinus’ Interpretation des Psalms wird der Sprachgemeinschaft des Klosters prägnant in einem Einzelwort verfügbar gemacht. Auf diese Weise kann dieses Deutungsmuster der Welt - oder eben von Psalm 11 ( 10 ) - der klösterlichen Sprachgemeinschaft verfügbar gemacht werden und in der Weltsicht und dem geteilten Wissen dieser Gemeinschaft integriert werden, das heißt in deren Wahrnehmungs- und Deutungsmustern und somit eben in der klösterlichen Kultur, wie sie oben definiert wurde. (2) fínstir land st. N. ‚Finsterland, finsteres Land, Land der Finsternis: Ägypten‘ (Npgl 299,3) Ähnlich wie bei Beispiel ( 1 ) so findet sich auch bei Beispiel ( 2 ) eine Metapher der Bibelexegese im Kompositum ausgedrückt, wenn der Notkerglossator das 13 Übersetzungen der Beispiele NJR. 14 Interessant, wenn auch für die Interpretation der gegebenen Textstelle nicht relevant, ist vielleicht auch, dass Blatt u. a. ( 1957 -: Bd. P-Pazzu, 561 ) unter „sens symboliques“ für passer die figürliche Bedeutung ‚Christus‘ anführt. <?page no="102"?> 102 Nicolaus Janos Raag lateinische Aegyptus mit dem Kompositum fínstir land übersetzt. In der folgenden Textstelle aus Psalm 81 ( 80 ) gibt der Glossator zunächst die Glosse finstri st. F. ‚Finsternis‘ für im Notker-Text lateinisch stehengebliebenes tenebrae und dann die Glosse fínstir land zu lat. ęgyptus . Qui eduxit te de terra egypti. Ih dir daz sceînda . unde dih lêita ûzer egypto . uzer tenebris (finstri). 15 Háre hôren alle zûo . únsih unde sie gruôzet Got . er hábet unsih alle geleîtet ûzzer ęgypto (fínstir lande). Vuir háben alle durhkangen den rôten mére . in sanguine CHRISTI consecrato baptismate (mit christis pluôte geuuiêhtero toûfi) bín uuir getúnchot . unde dâr sint ze lêibo uuorden únsere fíenda . die unsih iágeton. (NP 298 , 25 - 299 , 6 ) Der ich dich führte aus dem Land Ägyptens. Der ich das zeigte und dich führte aus Ägypten, aus der Finsternis (Finsternis). Alle hören uns zu und sie nähert sich Gott, er habe uns alle aus Ägypten (Finsterland) geleitet. Wir haben alle das Rote Meer durchschritten, wir sind eingetaucht in das Blut Christi die heilige Taufe (mit dem Blut Christi der heiligen Taufe), und dort sind zurückgeblieben unsere Feinde, die uns jagten. Wie bei Beispiel ( 1 ) müssen auch hier intra- und intertextuelle Referenzen für das Verständnis des Kompositums berücksichtigt werden. Schon Notker schafft intertextuelle Referenz, indem er seinem üblichen Verfahren der integrierenden Übersetzung und Kommentierung folgend Ägypten mit lat. tenebrae ‚Finsternis‘ erklärt, laut Tax ( NL : Bd. 9 A, 377 ) handelt es sich bei der Etymologie Ägypten = tenebrae um einen Gemeinplatz der patristischen Bibelexegese. Inhaltlich spielt dieser deutende Gemeinplatz von Ägypten als dem Land der Finsternis natürlich zum einen auf die neunte Landplage an, wie sie im 2 . Buch Mose ( 10 : 21 - 29 ) beschrieben wird, zum anderen aber auch allgemeiner auf Ägypten als den Ort der Gefangenschaft bzw. des Exils des Volkes Israel. Zusätzlich zu den von Notker im Text gegebenen Erklärungen und ausgehend von dieser von Notker aufgebauten intertextuellen Referenz übersetzt nun der Glossator Ägypten mit dem Kompositum fínstir land und macht auf diese Weise diesen exegetischen Gemeinplatz im Einzelwort greifbar, wodurch er erreicht, dass die entsprechende Deutung auch beim Rezipienten deutlich in den Vordergrund treten kann und in dessen Wahrnehmung und Deutung der Welt integriert werden kann. Wie schon bei Beispiel ( 1 ) pérg fúgeli können wir auch hier sehen, wie Substantivkomposita eine Rolle bei der Rekontextualisierung bestimmter theologischer Konzepte in der deutschen Sprache der Klostergemeinschaft spielen können. 15 Die in der Handschrift interlinear geschriebenen Glossen sind hier in runden Klammern angegeben. <?page no="103"?> Wissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster 103 4.2 Übersetzung lateinischer Fachbegriffe mit Substantivkomposita Während die Beispiele ( 1 ) und ( 2 ) in Abschnitt 4 . 1 aus dem Psalter stammen, sind die folgenden Beispiele aus kanonischen Schultexten entnommen und spiegeln das Bemühen des Lehrers und Übersetzers um die adäquate, erklärende Wiedergabe auch von Fachbegriffen im Deutschen wider. Bei Beispiel ( 3 ) handelt es sich hierbei um Notkers Übersetzung der Bezeichnung für den Inhalt des Schulunterrichts selbst, also für lat. septem artes liberales , für die Sieben Freien Künste. (3) síben bûohlíste st. M. Pl. ‚die sieben Buchkünste = die Sieben Freien Künste‘ (Nb 54,23) Das Kompositum bûohlíst st. M. findet sich im Althochdeutschen nur bei Notker und ist auch bei diesem nur an zwei Stellen belegt. Ein Beleg findet sich in Martianus Capella (Nc 124 , 17 ), wo es in einem von Notker eingefügten, erklärenden Kommentar steht, den dieser wohl aus Remigius schöpft (cf. NL : Bd. 4 A, 185 , 187 ), und bezieht sich auf die in Büchern festgehaltene schriftliche Gelehrsamkeit und Bildung, was im Kompositum durch das Erstglied bûoh st. N. ‚Buch‘ deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Der andere Beleg findet sich in Boethius’ Consolatio Philosophiae (Beispiel 3 ). Dieser zweite Beleg soll hier näher betrachtet werden. Er steht in der folgenden Textstelle und zwar in Form einer Kontextglosse eingeleitet mit dáz chît ‚das heißt‘, die von Notker als Erklärung für den lateinisch stehen gelassenen Terminus septem liberalium artium gegeben wird. QUID SIT RHETORICA . Rhetorica íst éin dero septem liberalium artium . dáz chît tero síben bûohlísto . dîe únmánige gelírnêt hábent . únde áber mánige genémmen chúnnen. (NB 54 , 21 - 24 ) WAS IST [ SEI ] DIE RHETORIK . Die Rhetorik ist eine der sieben freien Künste, das heißt der sieben Buchkünste, die nur wenige gelernt haben und doch viele aufnehmen können. Das Kompositum bûohlíste ist eine Lehnübertragung zum lateinischen artes liberales , bei der der Bestandteil lat. artes Pl. ‚Künste‘ der Vorlage wörtlich mit ahd. liste st. M. Pl. ‚Künste‘ wiedergegeben wird. Die artes liberales werden im Lateinischen so bezeichnet, um sie als die Künste der Freien gegenüber den praktischen Künsten als den Künsten der Sklaven und niedrigen Ständen, den artes sordidae ‚niedrigen Künsten‘ oder quaestus illiberales et sordidi ‚Gewerbe der Unfreien und Niedrigen‘, abzugrenzen und diesen als höherwertig gegenüber zu stellen. Diese sieben freien Künste, seit Cassiodor (ca. 485 - 580 ) aufgeteilt in Trivium und Quadrivium, sind in der klösterlichen Welt und vor allem <?page no="104"?> 104 Nicolaus Janos Raag in der Klosterschule die Künste, die mit Schriftlichkeit assoziiert werden und in und aus Büchern gelehrt werden. Wenn Notker sie also mit bûohlíste ‚Buchkünste‘ übersetzt, werden sie dadurch auch von den praktischen Künsten abgegrenzt, allerdings in einer weniger wertenden Weise als dies beim lateinischen Terminus artes liberales der Fall war. Vielmehr werden sie auf eine Weise abgegrenzt und bestimmt, die gut in die Umwelt und Kultur der klösterlichen Lebenswelt passt. Hier wird deutlich, wie Notker durch eine Referenz auf den außersprachlichen, kulturellen Kontext eine verständliche und adäquate Übersetzung anstrebt und der Prozess der Rekontextualisierung lässt sich an diesem Beispiel gut nachvollziehen. Die lateinische Bezeichnung, die besser in die sozialen Gegebenheiten der römischen Antike passt, wird aufgegeben und durch eine Bezeichnung ersetzt, die besser in die Welt der frühmittelalterlichen Klosterschule passt. Den Klosterschülern wird eindrücklich verständlich gemacht, um welche Künste es sich handelt, nämlich um diejenigen die mit schriftlicher Gelehrsamkeit und dem alltäglichen Leben des Klosterschülers in Verbindung gebracht werden können. Auf diese Weise wird aber gleichzeitig auch bei der Rekontextualisierung des Begriffs der freien Künste eben dieser Aspekt der schriftlichen Gelehrsamkeit betont und so vielleicht auch als zentraler Aspekt der Klosterschule in der Wahrnehmung der Klosterschüler etabliert. 16 Das letzte hier zu besprechende Beispiel ( 4 ) zeigt Notkers Versuch der erklärenden Übersetzung eines Fachbegriffs mithilfe zweier Substantivkomposita, wodurch dieser Fachbegriff durchsichtiger und verständlicher wird. (4) a. óbeslíhtî st. F. ‚Fläche‘ (Nk 41,5) b. féld slíhtî st. F. ‚Fläche‘ (Nk 43,10) Beide Komposita stehen in Notkers Bearbeitung der Kategorien des Aristoteles und zwar in einer Textstelle, in der es um diskrete und kontinuierliche Quantitative geht. Für letztere nennt Aristoteles die folgenden Beispiele: die Linie, die Fläche und den Körper. Notker übersetzt hier zunächst lat. superficies ‚(Ober-) Fläche‘ mit der Lehnübertragung óbeslíhtî . Das Erstglied dieses Kompositums, die Präposition obe ‚über, auf ‘ (bzw. als Adverb ‚oben‘) ist eine Übersetzung des 16 Die Ähnlichkeit von lat. liberalis ‚frei‘ und lat. liber ‚Buch‘ soll hier nicht unerwähnt bleiben. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Ähnlichkeit Notkers Übersetzung mit beeinflusst hat, von einer Fehlleistung Notkers kann aber wohl kaum ausgegangen werden, denn es ist angesichts seiner Lateinkenntnisse und der Frequenz und zentralen Bedeutung des Begriffs artes liberales sehr unwahrscheinlich, dass er diesen falsch als artes libri oder librorum gelesen und verstanden haben könnte. <?page no="105"?> Wissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster 105 ersten lateinischen Elements super ‚über; oben‘. Das Zweitglied slíhtî st. F. ist ein deadjektivisches Abstraktum zu sleht ‚glatt, eben, einfach‘ (cf. Splett 1993 : 3 , 873 ) zunächst mit einer Wortbildungsbedeutung wie ‚Ebenheit; Einfachheit, Schlichtheit‘ (zur Ableitung von Eigenschaftsbezeichnungen aus Adjektiven mittels ahd. -ī , cf. Wilmanns 1899 : 252 - 259 ; Henzen 1965 : 170 - 172 ). Dieses Zweitglied slíhtî wird im Althochdeutschen unter anderem auch bei Notker schon als Simplex in der Bedeutung ‚Fläche, Ebene‘ verwendet und zwar sechsmal im selben Textabschnitt der Kategorien-Bearbeitung im Anschluss an die beiden in Beispiel ( 4 ) genannten Komposita (Nk 43 , 25 ; 44 , 5 ; 8 ; 13 ; 46 , 6 ; 48 , 23 b), wobei der letzte Beleg (Nk 48 , 23 b) ein anderes lateinisches Lemma, nämlich das substantivierte Adjektiv planum ‚Ebene, Fläche‘, übersetzt, während die anderen Belege wie ( 4 a) und ( 4 b) für lat. superficies stehen (cf. NL : Bd. 5 , 166 - 167 ). 17 Est autem discreta quantitas ut numerus et oratio. Continuum uero . linea . superficies . corpus . […] Tíu únderskeidena quantitas . táz íst ter réiz . únde díu óbeslihti . únde diu héui. (NK 41 , 1 - 6 ) Es gibt aber das diskrete Quantitative, wie Zahl oder Rede. Und das kontinuierliche [Quantitative]: die Linie, die Fläche, der Körper. […] Das diskrete Quantitative, das ist die Linie und die Fläche und die Hebung (Körper). Interessant wird es aber vor allem, wenn Notker zwei Handschriften-Seiten weiter unten im Text eine andere Übersetzung für superficies wählt und zwar diesmal keine Lehnübertragung sondern eine Lehnbildung: uéld slíhtî (Beispiel 4 b). Im boethisch-aristotelischen Originaltext findet sich diese zweite Instanz von superficies sogar nur wenige Zeilen unter der oben besprochenen, der größere Abstand bei Notker erklärt sich durch die von ihm eingearbeiteten Kommentare und Erklärungen. Et superficies lineam . s. potest sumere communem terminum. Plani namque particulę ad quendam communem terminum copulantur. Tiu uéld slíhtî . mág únder márchôt uuérden mít temo réize . […]. (NK 43 , 7 - 11 ) Und die Fläche (ergänze in Gedanken: ) kann eine gemeinsame Grenze in der Linie finden. Denn die Teile der Fläche verbinden sich in einer gewissen gemeinsamen Grenze. Die Fläche kann durch die Linie unterteilt werden, […]. 17 Daneben ist ahd. slíhtî bei Notker noch in der abstrakten Bedeutung ‚Schlichtheit‘ im Sinne von ‚Vollendung‘ (Nb 95 , 14 ) und in der konkreteren Bedeutung ‚Gegend‘ (Nb 98 , 23 ) belegt, wobei letztere wohl auf die Bedeutung ‚Fläche, Ebene‘ zurückgehen dürfte. <?page no="106"?> 106 Nicolaus Janos Raag Das Zweitglied dieses Kompositums ist das gleiche wie bei ( 4 a). Das Erstglied uéld, féld st. N. ‚Feld‘ wird wie slíhtî auch als Simplex schon in der Bedeutung ‚Fläche‘ verwendet. Die zweite Übersetzungsvariante ( 4 b), die sich weiter von der Vorlage entfernt als ( 4 a), scheint stärker darauf zu zielen, zu erklären, was mit lat. superficies gemeint ist. Die zweidimensionale geometrische Fläche wird durch die beiden Glieder des Kompositums in verständlicher Weise veranschaulicht, die ebene, nicht-dreidimensionale slíhtî wird zusätzlich in ihrer zweidimensionalen Ausdehnung als féld markiert. Hier geht es weniger darum, den Rezipienten ein neues Konzept zu vermitteln, denn das Konzept der Fläche dürfte ihnen schon bekannt gewesen sein. Vielmehr zeigt sich in der Übersetzungsarbeit Notkers sein Bemühen um eine Kategorienbildung bei der Abgrenzung der geometrischen Form der Fläche von anderen geometrischen Formen wie Linie oder Körper. Hier zeigt sich, wie Komposita bei der Bildung eines geometrischen Fachbegriffs eine exaktere Ausdrucksweise ermöglichen und zur Kategorienbildung beitragen. 18 Dass Notker im Anschluss dann auf das Simplex slíhtî zur Bezeichnung der Fläche zurückgreift, lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass nach der Einführung des Begriffs und der erfolgten Kategorienbildung in Abgrenzung zu den anderen geometrischen Formen hier eine differenzierte Referenz nicht mehr für nötig erachtet wird. In den beiden Beispielen ( 4 a) und ( 4 b) zeigt sich das Bemühen des Lehrers um ein verständliches und erklärendes Übersetzen bei der Suche nach möglichen, passenden Bezeichnungen für bestimmte Fachbegriffe. Beide Komposita sind jeweils nur einmal im Althochdeutschen belegt, was ein weiterer Hinweis darauf ist, dass es sich um Adhoc-Bildungen handelt, die angesichts der Herausforderungen für den Übersetzer gebildet wurden. An der hohen Varianz der deutschen ‚Fachbegriffe‘ - Notker verwendet drei Wörter ( óbeslíhtî, féld slíhtî, slíhtî ) für den lateinischen Terminus superficies in ein und demselben textlichen Zusammenhang - zeigt sich auch, dass es ihm wohl nicht darum gegangen sein dürfte, in seiner Übersetzung eine deutsche Fachsprache mit eigener Terminologie zu entwickeln, sondern dass seine Übersetzungen und Bearbeitungen wohl vielmehr auf das Verständnis des Originals hin ausgerichtet sind; die Fachsprache und Fachbegriffe bleiben Latein. 18 Für das Frühneuhochdeutsche wird dieses Potenzial von Komposita von Solms ( 1999 : 240 - 241 ) beschrieben, s. o. Abschnitt 2 . 2 . <?page no="107"?> Wissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster 107 5 Zusammenfassung Die Analyse der vier Beispiele konnte zeigen, wie Substantivkomposita als produktives Wortbildungsmittel bei der Wissensvermittlung in der frühmittelalterlichen Klosterschule eingesetzt werden können, wo es beispielsweise gilt, Bezeichnungen für neue, zu vermittelnde Konzepte zu finden oder wo sie als didaktisches Mittel zur Kategorienbildung beitragen können. Die Rolle der Substantivkomposita im Rahmen der Wissensvermittlung und Übersetzung von Texten mit didaktischem Anspruch wurde hier exemplarisch für die beiden Bereiche theologischer Interpretationen (Beispiele 1 und 2 ) und Fachtermini der Sieben Freien Künste (Beispiele 3 und 4 ) gezeigt. Für erstere wurde dabei deutlich, wie Substantivkomposita bei der Vermittlung von neuen theologischen Deutungsmustern nutzbar gemacht werden können, für letztere wie sie bei der Suche nach adäquaten und verständlichen Übersetzungen für Fachtermini helfen können, indem sie diese zum Beispiel zum kulturellen Kontext und zur alltäglichen Lebenswelt der Rezipienten in Bezug setzen helfen (so bei Beispiel 3 ) oder wie sie als erklärende Übersetzungen zur Kategorienbildung beitragen können (Beispiel 4 ). Durch die kulturanalytische Betrachtung von Substantivkomposita auf ihre Rolle bei der Vermittlung neuer Wahrnehmungs- und Deutungsmuster hin, konnte eine Perspektive auf Komposita in ihrem pragmatischen und kommunikativen Verwendungszusammenhang eröffnet werden, die über eine bloße morphologische Betrachtung hinausgeht, dabei aber doch die besonderen morphologischen und morphosemantischen Eigenschaften von Komposita berücksichtigt. Literatur Primärliteratur Notker der Deutsche (1972-2009): Die Werke Notkers des Deutschen: Neue Ausgabe. Hrsg. v. James C. King/ Petrus W. Tax. 10+8 Bde. Tübingen: Niemeyer. (= Altdeutsche Textbibliothek 73-75, 80-81, 84, 87, 91, 93-94, 98, 100-101, 109, 117, 120-122). Sekundärliteratur Barz, Irmhild (1988): Nomination durch Wortbildung. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie. (= Linguistische Studien ). Betz, Werner (1936): Der Einfluss des Lateinischen auf den althochdeutschen Sprachschatz 1. Der Abrogans. Heidelberg: Winter. (= Germanische Bibliothek . 2. Abteilung 40). Betz, Werner (1949): Deutsch und Lateinisch: Die Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel. Bonn: Bouvier. <?page no="108"?> 108 Nicolaus Janos Raag Betz, Werner (1974): „Lehnwörter und Lehnprägungen im Vor- und Frühdeutschen“, in: Friedrich Maurer/ Heinz Rupp (eds.): Deutsche Wortgeschichte. Berlin/ New York: De Gruyter: 135-163. Blatt, Franz/ Lefèvre, Yves/ Monfrin, Jacques/ Dolbeau, François (eds.) 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But there is already a competition between the two kinds of abstracts concerning prepositional phrases and adjective compounds on - würdig and - wert . The noticed differences inform about the aktionsart categories of ung -abstracts and substantivized infinitives. Finally, the morphological change is described, whereby reasons for the decline of the ung -abstracts are discussed. 1 Einführung Das Schillerwörterbuch, das demnächst beim Verlag de Gruyter erscheint und von Susanne Zeilfelder und Rosemarie Lühr bearbeitet wird, behandelt den gesamten Wortschatz Friedrich Schillers. Neben Bedeutungsangaben, morphologischen und syntaktischen Analysen wird auch die Wortbildung dargestellt. Dabei fallen Übereinstimmungen wie auch Abweichungen vom Deutsch heute auf. Von besonderem Interesse sind hier die Abstrakta. So werden in bestimmten Kontexten ung -Abstrakta verwendet, die heute nicht mehr gebräuchlich sind: (1) (a) Dein Gedanke nach Durchlesung der Stanzen war ganz auch der meinige. (an Körner, 28. 1. 1971, NA 26/ 113) (1) (b) streifte er noch einen Ring vom Finger, den man nach seiner Verschwindung auf dem Fußboden liegend fand. (Geisters, 1. B., NA 16/ 85) Im gegenwärtigen Deutsch würde hier der substantivierte Infinitiv verwendet. Petra Maria Vogel ( 1966 : 250 ) führt diese Entwicklung auf „eine Tendenz zur generalisierten Imperfektivierung oder Neutralisierung [der Aspektoppositi- 1 Einem anonymen Rezensenten danke ich für wertvolle Hinweise. <?page no="112"?> 112 Rosemarie Lühr on]“ zurück. Es gebe eine Verbindung zu „dem massiven Abbau des deutschen Aspektsystems“, der „zeitlich mit der Zunahme des substantivierten Infinitivs zusammenfällt“. Vor 200 Jahren war die Opposition zwischen imperfektivem und perfektivem Aspekt beim ung -Abstraktum und substantivierten Infinitiv anscheinend noch intakt, wie Stichproben aus dem Älteren Neuhochdeutschen zeigen. Zum Beispiel erscheint in Kontexten, die den Ausdruck des perfektiven Aspekts fordern, das Verbalabstraktum auf ung und nicht der substantivierte Infinitiv; vgl. bei Heinrich von Kleist: (2) bei Verlassung des Schauspielhauses (Berliner Abendblätter) (vgl. Lühr 1991: 153) Die Aufnahme auch perfektiver Verben unter den substantivierten Infinitiv scheint also erst in den letzten zwei Jahrhunderten produktiv geworden zu sein. Bei ung -Abstrakta und substantivierten Infinitiven ist demzufolge ein Sprachwandelprozess eingetreten. Dieser Vorgang vollzieht sich nicht bei allen Gebrauchsweisen dieser beiden Typen von Abstrakta gleichmäßig. Einige zeigen sich progressiver als andere. Genau dies belegt die Sprache Schillers. Auf welcher Entwicklungsstufe dieses Prozesses sie sich befindet, ist somit die Frage, um die es im Folgenden geht. Nach einem statistischen Überblick ( 2 ) wird die Konkurrenz von ung -Abstraktum und substantiviertem Infinitiv in präpositionalen Fügungen beschrieben, da abhängig von der Präposition unterschiedliche Vorgänge, telische oder nicht-telische, ausgedrückt werden können. Je nach interner zeitlicher Struktur werden Zustände, Prozesse, Ereignisse (vgl. Ehrich/ Rapp 2000 : 251 ) bezeichnet ( 3 ). Dann werden adjektivische Komposita mit Abstraktum im Erstglied untersucht; adjektivische Komposita sind durch eine im Vergleich zu Substantivkomposita stärker ausgeprägte Reihenbildung gekennzeichnet 2 , wenn sie ein relationales Element im Zweitglied haben. Bei solchen Komposita herrscht also eine enge syntaktisch-semantische Beziehung zwischen den beiden Kompositionsgliedern. Diese erlaubt Aufschluss darüber, welchen Aktionsartkategorien die Abstrakta angehören ( 4 ). Schließlich wird der beobachtete morphologische Wandel dargestellt. Dabei werden Gründe für den Rückgang des ung -Abstraktums aufgezeigt ( 5 ). 2 Nach Wolfgang Fleischer und Irmhild Barz ( 1995 : 227 ) sind Adjektive allgemein stärker reihenbildend. <?page no="113"?> Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller 113 2 Statistische Angaben zu ung-Abstraktum vs. substantiviertem Infinitiv Der Vielzahl der ung- Abstrakta bei Schiller - insgesamt sind es rund 1500 - stehen nur wenige substantivierte Infinitive gegenüber. Bei dem Buchstaben A z. B. ist das Verhältnis 173 : 22 . Die 22 substantivierten Infinitive unter dem Buchstaben A sind: 3 (3) Absehen, Ahnden, Angaffen, Ansinnen, Arbeiten, Aufhören, Aufkündigen, Aufleben, Auflösen, Aufregen, Aufreißen, Aufschlagen, Aufschreiben, Aufwallen, Ausgehen, Auskramen, Auslaufen, Ausgehen, Ausschwitzen, Aussehen, Aussenden, Austreten. Wie nach den Belegen ( 1 ) und ( 2 ) zu erwarten, findet man bei Schiller unter den ung -Abstrakta insgesamt heute ungebräuchliche Bildungen. Es sind vor allem Ableitungen von präfigierten Verben: 3 Vgl. demgegenüber die ung -Abstrakta: Abänderung, Abbestellung, Abbildung, Abdankung, Abenddämmerung, Abfassung, Abfertigung, Abfeurung, Abfindung, Abforderung, Abhaltung, Abhandlung, Abhärtung, Abkühlung, Abkündigung, Abkürzung, Ablegung, Ablehnung, Ableitung, Ablieferung, Abneigung, Abrechnung, Absagung, Abschaffung, Abschließung, Abschneidung, Abschreckung, Abschweifung, Abschwörung, Absendung, Absonderung, Abspannung, Abstammung, Abstechung, Abstellung, Abstufung, Abstumpfung, Abteilung, Abtreibung, Abtretung, Abwägung, Abwartung, Abwechslung, Abwehrung, Abweichung, Abwendung, Abwerfung, Abzahlung, Abzehrung, Achtung, Ahndung, Ahnung, Almanachsrechnung, Amtsführung, Anbauung, Anbetung, Anbietung, Änderung, Andeutung, Androhung, Aneignung, Aneinanderreihung, Aneinanderstellung, Anempfehlung, Anerbietung, Anerkennung, Anfechtung, Anfindung, Anforderung, Anführung, Anfüllung, Angewöhnung, Anhäufung, Anhörung, Ankündigung, Anlegung, Anlockung, Anmaßung, Anmeldung, Anmerkung, Anmutung, Annäherung, Annehmung, Anordnung, Anpflanzung, Anpreisung, Anregung, Anreizung, Anrühmung, Anschaffung, Anschaulichmachung, Anschauung, Anschließung, Anschmiegung, Anschuldigung, Ansehung, Ansetzung, Ansiedelung, Anspannung, Anspielung, Ansteckung, Anstellung, Anstrengung, Anwandlung, Anweisung, Anwendung, Anwerbung, Anwünschung, Anziehung, Apothekerrechnung, Aufdeckung, Auferstehung, Auferziehung, Auffassung, Auffassung, Auffindung, Aufforderung, Aufführung, Aufhebung, Aufheiterung, Aufklärung, Aufkündigung, Auflösung, Aufmunterung, Aufrechthaltung, Aufregung, Aufstellung, Aufsuchung, Aufwallung, Aufwartung, Aufwendung, Aufzählung, Aufziehung, Ausarbeitung, Ausartung, Ausbesserung, Ausbietung, Ausbildung, Ausbreitung, Ausdehnung, Ausdünstung, Auseinandersetzung, Äußerung, Ausfertigung, Ausfoderung, Ausforderung, Ausführung, Ausfüllung, Auslassung, Ausleerung, Auslegung, Auslieferung, Ausplünderung, Ausrechnung, Ausrichtung, Ausrottung, Ausrufung, Ausrüstung, Ausschließung, Ausschmückung, Ausschußeinrichtung, Ausschußversammlung, Ausschweifung, Aussöhnung, Ausstattung, Austeilung, Ausübung, Auswanderung, Auswechslung, Ausweichung, Auszahlung, Auszehrung, Auszeichnung. <?page no="114"?> 114 Rosemarie Lühr (4) (a) Absagung, Abschilderung, Abstechung, Abstellung, Abbestellung, Rückgängigmachung, Abwartung, Abwehrung, Abwerfung, Aneinanderstellung, Anfüllung, Annehmung, Anrühmung, Anschmiegung, Anwünschung, Auferziehung, Aufsuchung, Aufziehung, Ausforderung, Ausweichung, Bedauerung, Begehrung, Bekriegung, Durcheinanderarbeitung, Durcheinandermengung, Durcheinanderwerfung, Durchlesung, Durchschauung, Durchschießung, Durchstechung, Einredung, Entleibung, Entschwäbung, Entspringung, Entwerfung, Erbietung, Erblickung, Ertappung, Ertötung, Ertragung, Erwachung, Gegeneinanderhaltung, Gegeneinanderstellung, Herabstürzung, Herannäherung, Hervorragung, Hinopferung, Hinschmelzung, Hinwegdenkung, Hinwegschmelzung, Hinwerfung, Losgebung, Losreißung, Nachlassung, Überdruckung, Übergebung, Übernehmung, Überschauung, Verscheindung, Vorhersagung, Vorhersehung, Vormalung, Wegdrängung, Wiederauflebung, Wiedergebung, Zerbrechung. Und Ableitungen von nicht-präfigierten Verben, die zum Teil heute nicht mehr gebraucht werden, sind: (4) (b) Equipierung , ‚Ausrüstung, Ausstattung‘, Heuchelung , Kampierung ‚Lagerung im Freien‘, Kochung , Küssung , Paketierung ‚das Verpacken von etwas zu versandfertigen Paketen‘, Parteiung ‚Aufspaltung, Zerrissenheit des Gemeinwesens in Parteien, Interessengruppen‘, Polierung , Proviantierung , Menagierung ‚Rücksichtnahme, Schonung‘, Mörderung 4 , Schickung ‚Schicksalsfügung‘, Skelettisierung , Witzigung ‚belehrende Erfahrung‘, Zierung ‚Verzierung, Schmuck‘. Des Weiteren gibt es bei Schiller mit Fugenelement -s gebildete substantivische Komposita mit folgender Besonderheit: Sie weisen im Vorderglied ein Abstraktum auf, das bei Schiller nicht als selbständiges Wort belegt ist: (4) (c) Denkungsart * Denkung Denkungsweise Verfahrungsart * Verfahrung Verhaltungsbefehl * Verhaltung , Verhalten 4 {Abf.d.Niederl., 3 .B., NA 17 / 178 } Auch war man in den Niederlanden von dieser Moderation, die im Grunde keinen einzigen wesentlichen Misbrauch abstellte, so wenig erbaut, daß das Volk sie in seinem Unwillen anstatt Moderation (Milderung) Moorderation d. i. Mörderung nannte. <?page no="115"?> Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller 115 Verhaltungsregel Widerstehungskraft * Widerstehung Widerstehungsmittel Widerstehungsvermögen Auch folgende Komposita, die auf Suffix ung auslauten, kommen heute nicht mehr vor. Es sind sogenannte Ableitungskomposita, da sie von verbalen Fügungen, die ein Adverb oder ein Präfixoid enthalten, abgeleitet sind: (4) (d) Genehmhaltung , Beiseitebringung , Teilnehmung , Bekanntwerdung , Zarwerdung [wohl eine Spontanbildung; heute unüblich, weil es keine Zaren mehr gibt], Fehlschlagung , Gefangennehmung (4) (e) Aufrechthaltung , heute Aufrechterhaltung , Farbengebung , heute Farbgebung ; Grenzenverletzung , heute Grenzverletzung (4) (f) Anschaulichmachung [trotz Google-Belegen heute eher Veranschaulichung ] Einmal ist bei diesem Kompositionstyp auch der substantivierte Infinitiv belegt: (5) {An Körner, 27. 12. 1796, NA 29/ 30} Ueber dem Anstaltmachen und Meditiren kam ich in die Ausführung selbst hinein, und finde, daß selbst der Plan, bis auf einen gewissen Punkt, nur durch die Ausführung selbst reif werden kann. Aus der Beleglage im Ganzen geht somit hervor, dass das ung -Abstraktum bei Schiller noch ein aktives Wortbildungsmuster war 5 . Dass dies aber auch bereits für den substantivierten Infinitiv gilt, zeigen nun Präpositionalphrasen mit diesen beiden Typen von Abstrakta. 3 Konkurrenz von ung-Abstraktum und substantiviertem Infinitiv In einer korpuslingustischen Studie zur Konkurrenz von ung -Abstraktum und substantiviertem Infinitiv bei Schiller hat Rosemarie Lühr ( 2002 ) bereits die Distribution dieser beiden Typen von Abstrakta untersucht und geprüft, ob diese Verteilung aspektbedingt ist. Dazu wurden sämtliche Abstrakta, die in zweifacher Vertretung, als ung -Abstraktum und als substantivierter Infinitiv, bei Schiller vorkommen, in präpositionalen Verbindungen herangezogen. Denn 5 Zu aktiven und inaktiven Wortbildungsmustern vgl. Wolfgang Motsch ( 1999 : 18 ). <?page no="116"?> 116 Rosemarie Lühr während etwa bei in Verbindung mit einem Verbalabstraktum eher Imperfektivität und eine Prozesslesart signalisiert, verleiht z. B. die Präposition zu der Fügung terminativen Charakter. Abstrakta, die von perfektiven Verben abgeleitet sind und die in doppelter Vertretung hinter Präpositionen bei Schiller bezeugt sind, sind: (6) Abrechnung/ Abrechnen, Erfindung/ Erfinden, Hervorbringung/ Hervorbringen, Nachforschung/ Nachforschen, Aufkündigung/ Aufkündigen, Zerstückelung/ Zerstückeln, Auffassung/ Auffassen, Verheerung/ Verheeren Ganz wie im heutigen Deutsch erscheint bei Schiller mit der Präposition bei der substantivierte Infinitiv: (7) {An Cotta, 25./ 26. 10. 1796, NA 28/ 318} Trotz meiner Aufmerksamkeit sind doch einige Irrungen vorgefallen, welche ich Ihnen anzeigen muß, daß Sie beym Abrechnen mit den Buchhändlern sich darnach richten können. (8) {An Goethe, 30. 8. 1797, NA 29/ 122 f.} Es ist mir bei dieser Gelegenheit wieder recht fühlbar, was eine lebendige Erkenntniß und Erfahrung doch beim Erfinden [-] / so viel thut. (9) {Notw.Gr., NA 21/ 21} Dem bloßen Liebhaber verleidet die Mühseligkeit des Mittels den Zweck, und er möchte es gern beym Hervorbringen so bequem haben, als bey der Betrachtung. Die substantivierten Infinitive sind hier von telischen Verben abgeleitet. Telische Verben bezeichnen unterschiedliche Teilereignisse, sowohl den Vorgang als auch den sich daraus ergebenden Zustand. Daher haben Nominalisierungen, die sich nur auf einen dieser Ereignisabschnitte beziehen, entweder eine Prozesslesart oder eine Resultatszustandlesart (vgl. Demske 2000 : 378 ; Ehrich/ Rapp 2000 : 252 ). Bei den angeführten substantivierten Infinitiven hinter der Präposition bei wird der Prozess fokussiert. Gleiches gilt für die Verbindung mit der Präposition durch bei substantivierten Infinitiven telischer Verben, wobei die Imperfektivität oder Prozesshaftigkeit durch Adjektive verstärkt sein kann: <?page no="117"?> Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller 117 (10) {An Ch. v. Schimmelmann, 23. 11. 1800, NA 30/ 213} Und außer diesem, was er von der Natur erhalten, hat er sich durch rastloses Nachforschen und Studium mehr gegeben als irgend ein anderer. (11) {An Goethe, 23. 11. 1795, NA 28/ 109} Was den Vorschuß für die Kn ebelschen Elegien betrifft, so glaube ich nur, wir werden Cottaen gerade jetzt, wo sein Muth in Ansehung der Horen durch das häuffige Aufkündigen der Subscription etwas Ebbe ist, nicht sehr damit erbauen. Auch in Verbindung mit der Präposition zu kommen, wie heute üblich, substantivierte Infinitive von telischen Verben vor. Es sind Nominalisierungen von Bezeichnungen für Prozesse, die in einen Zustand münden. (12) {An Goethe, 27. 2. 1798, NA 29/ 212} und solche Naturen, die sich zur allgemeinen Mittheilung ausbilden büssen gewöhnlich soviel von ihrer Individualität ein, und verlieren also sehr oft von jener sinnlichen Qualität zum Auffaßen der Erscheinungen. (13) {Künstler, 333-335, NA 1/ 210} der, wo er schreckt, noch durch Erhabenheit entzücket, und zum Verheeren selbst sich schmücket, Dem großen Künstler ahmt ihr nach. In allen diesen Fällen hätte Schiller also auch das ung -Abstraktum zur Verfügung gestanden. In der Tat ist in Schillers Sprache der substantivierte Infinitiv perfektiver Verben nur ein Konkurrent des ung -Abstraktums, wie folgende Belege mit beiden Typen von Abstrakta mit der Präposition bei und zu zeigen: (14) (a) {An Cotta, 20. 2. 1795, NA 27/ 147} Eben so leid wäre mirs, den 5ten Aufsatz abgebrochen zu sehen, da er sich nicht recht zum Zerstückeln qualifiziert. (14) (b) {Ästh. Erz., 6.Brief, NA 20/ 326} Gerne will ich Ihnen eingestehen, daß so wenig es auch den Individuen bey dieser Zerstückelung ihres Wesens wohl werden kann, doch die Gattung auf keine andere Art hätte Fortschritte machen können. (15) (a) {An Cotta, 10. 6. 1796, NA 28/ 224} Hält die Decke und das Kupfer uns nicht auf, so soll in der Mitte Septembers schon etwas zum Versenden fertig seyn. <?page no="118"?> 118 Rosemarie Lühr (15) (b) {An Körner, 17. 1. 1789, NA 25/ 186} Ich habe doch nun den sichtbaren Genuß von meinem Fleisse, denn ausser einem Paquet von 9 gedruckten Bogen, das neulich abgegangen ist, qualifiziert sich schon wieder ein neues von 12 zur Versendung. Anders verhält es sich bei der Präposition nach . Hinter dieser Präposition kommt von den beiden Typen von Abstrakta nie ein von einem perfektiven Verb abgeleiteter substantivierter Infinitiv vor; cf. ( 1 ), ( 2 ). Es entstehen Ereignisnominalisierungen. Sie beziehen sich auf ein bereits abgeschlossenes Ereignis, das dem durch das Prädikat ausgedrückten Zeitintervall vorausgeht (cf. Demske 2000 : 380 - 381 ). Cf. ferner: (16) {An Goethe, 10. 6. 1796, NA 28/ 223} Ich bin recht verlangend nach der Ausführung Ihrer vielfachen Ideen, und erwarte recht bald etwas davon. (17) {An Goethe, 15. 7. 99, NA 30/ 71} Es waltet ein unholder Geist über Ihren guten Vorsätzen und Hofnungen für diesen Sommer, der sich, besonders nach der glücklichen Entledigung vom Musen Almanach, so gut anließ. (18) {Demetr., Skizz., NA 11/ 157} Demetrius verändert nach geschehener Erkennung seine Kleider und ist eine ganz andre Person geworden, wenn er wieder auftritt. (19) {An Goethe, 11. 2. 1801, NA 31/ 9} Dieß würde uns viele Freude machen, und ich selbst wagte weniger, wenn ich nach der Erhitzung eines zweistündigen Lesens mich nicht der Luft auszusetzen brauchte. (20) {Vertrag/ Michaelis, 15. 8. 1795, NA 27/ 211} 6) kann dieser Contract von keinem der contrahierenden Theile anders als nach vorhergegangener förmlicher Aufkündigung, welche 3 Monate nach Erscheinung des letzten Jahrganges erscheinen muß, aufgehoben werden. (21) {An F. Chr. v. Augustenburg, 21. 11. 1793, NA 26/ 317} Nirgends aber offenbart sich die wohlthätige Veränderung der Empfindungsart deutlicher, als in der heitern und lachenden Gestalt, welche, nach Erwachung des Schönheitstriebes, Religionen und Sitten annehmen. vs. <?page no="119"?> Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller 119 (22) {An Huber, 13. 9. 1785, NA 24/ 21} Heute beim Erwachen hörte ich über mir auf dem Claviere spielen, Du glaubst nicht wie mich das belebte. (23) {Demetr., Szen., NA 11/ 180} Scenen aus dem Demetrius 3. Erkennung des Demetrius 4. Nach der Ermordung des Palat inus 5. Abschied von der Lodoiska. vs. (24) {Her.Prop., NA 22/ 298} Der Künstler konnte den Augenblick des wirklichen Ermordens, er konnte den Augenblick nach der Tat und unmittelbar vor dem Abzuge darstellen. Zu konstatieren bleibt somit: Im Gebrauch der beiden Typen von Abstrakta vertritt Schiller, wie auch nach den Belegen bei Kleist zu erwarten, noch einen älteren Sprachzustand als das Gegenwartsdeutsch; substantivierte Infinitive perfektiver oder telischer Verben sind noch nicht hinter allen Präpositionen verwendbar. Doch hinter der Präposition bei wie auch hinter der Präposition zu erscheinen bei Ableitung von telischen Verben beide Typen von Abstrakta, und zwar in activity - und accomplishment -Lesart. Auch hinter der Präposition durch ist der substantivierte Infinitiv zur Bezeichnung von activities belegt. Hinter der Präposition nach findet sich bei Ableitungen von perfektiven oder telischen Verben jedoch nur das ung -Abstraktum. Als Ereignisnominalisierung dient es der Bezeichnung des perfektiven Aspekts 6 . Für die Frage nach der Produktivität der beiden Typen von Abstrakta werden nun auch adjektivische Komposita, die ein Abstraktum fordern, herangezogen. 6 Man unterscheidet bei den ung -Abstrakta: (i) Ereignisnominalisierungen (nomina actionis): Einbettung , Einrichtung , Berufung (ii) Zustandsnominalisierungen (nomina acti): Bildung , Stimmung , Verwirrung , Verzweiflung , Lähmung (iii) Agensnominalisierungen (nomina agentis): Verwaltung , Leitung , Regierung , Bedienung (iv) Objekts- oder Resultatsnominalisierungen: Erfindung , Sammlung , Bedachung , Sendung , Lieferung (v) Instrumentnominalisierungen: Kocher , Rechner , Lüftung , Verkleidung (vi) Kollektiva: Leitung , Bestuhlung (cf. von Heusinger 1998 ; von Heusinger/ von Heusinger 1999 ; Ehrich/ Rapp 2000 : 250 ; Winhart 2005 : 143 ). <?page no="120"?> 120 Rosemarie Lühr 4 Komposita mit ung-Abstraktum und substantiviertem Infinitiv im Vorderglied Die Zweitglieder dieser Adjektivkomposita bestehen aus den Adjektiven voll , würdig , wert 7 . Sie sind relational und vergeben eine thematische Rolle. Diese thematische Rolle wird dem Argument sowohl in der syntaktischen Struktur als auch in der Wortstruktur zugewiesen (vgl. Olsen 1986 ), z. B.: (25) erwartungsvoll → voller Erwartung Von Schillers Komposita auf voll mit einem ung -Abstraktum im Erstglied gibt es heute zumeist Fortsetzungen. Doch erscheint das ung -Abstraktum auch in einer syntaktischen Fügung: (26) (a) Schiller Gegenwartssprache achtungsvoll voller Achtung ahndungsvoll ahnungsvoll voller Ahnungen erwartungsvoll voller Erwartung verachtungsvoll voller Verachtung verehrungsvoll voller Verehrung verwunderungsvoll voller Verwunderung verzweiflungsvoll voller Verzweiflung vorbedeutungsvoll voller Vorbedeutungen zersteuungsvoll voller Zerstreuung Ein Abstraktum in einem Adjektiv auf voll , das heute nicht mehr existiert, ist Erstaunung . (26) (b) Schiller Gegenwartssprache erstaunungsvoll voller Erstaunen * Erstaunung Keine Entsprechung, auch keine syntaktische Fügung, gibt es bei: 7 Nur zweimal sind Komposita auf reich belegt: Schiller Gegenwartssprache wirkungsreich wirkungsreich unterhaltungsreich - <?page no="121"?> Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller 121 (26) (c) Schiller Gegenwartssprache warnungsvoll - In der Gegenwartssprache werden solche adjektivschen Komposita zumeist adverbial verwendet. Als Prädikatsnomen mit Bezug auf ein Subjekt finden sich nur vereinzelt Belege: (27) Von Kind an würden sie [die Frauen] angehalten, sich anzupassen, hingebungsvoll zu sein und sich nützlich zu machen. (www.all-in.de [19. 12. 2010]) Was die Aktionsart der Abstrakta auf ung in adjektivischen Komposita mit Zweitglied voll betrifft, so bezeichnen diese bei Schiller wie in der Gegenwartssprache Resultatszustände. Im Neuhochdeutschen findet man: (28) (a) achtungsvoll, ahndungsvoll, ahnungsvoll, anbetungsvoll, andeutungsvoll , aufopferungsvoll, bedeutungsvoll, bewunderungsvoll, beziehungsvoll, empfindungsvoll, entbehrungsvoll [veraltet] , entsagungsvoll, erbarmungsvoll, ergebungsvoll, erinnerungsvoll, erwartungsvoll, hingebungsvoll, hochachtungsvoll, hoffnungsvoll, salbungsvoll, schonungsvoll [veraltet] , schreckensvoll, spannungsvoll, stimmungsvoll, verachtungsvoll, verantwortungsvoll, verehrungsvoll, verheißungsvoll, verzweiflungsvoll Ein möglicher substantivierter Infinitiv in solchen Komposita weist heute das Element ens auf, es findet sich aber nur bei bereits lexikalisierten substantivierten Infinitiven: (28) (b) entsetzensvoll , lebensvoll , leidensvoll , vertrauensvoll vs. glaubensvoll Während in fast allen dieser Komposita s formal dem Genitiv s entspricht, ist dieser Laut in glaubensvoll nicht aus dem Paradigma von Glaube ableitbar. Es könnte sich um den substantivierten Infinitiv Glauben handeln. Da jedoch sonst substantivierte Infinitive bei diesem Wortbildungstyp fehlen, dürfte glaubens analogisch nach den genannten Komposita mit maskulinem oder neutralem Abstraktum im Vorderglied gebildet sein. ens erscheint auch in schreckensvoll , segensvoll . Anders verhält es sich bei den Komposita auf würdig . Zunächst ist zu konstatieren, dass einige mit einem ung -Abstraktum im Erstglied gebildete Kom- <?page no="122"?> 122 Rosemarie Lühr posita Schillers in der Gegenwartssprache nicht mehr existieren. Bei einer ersten Gruppe kommt das entsprechende Simplex im heutigen Deutsch nicht vor: (29) (a) Schiller Gegenwartssprache beneidungswürdig - * Beneidung beweinungswürdig - * Beweinung erstaunungsvoll - * Erstaunung Bei einer zweiten Gruppe erscheint das Abstraktum als Simplex, dennoch sind nicht alle Komposita heute üblich: (29) (b) Schiller Gegenwartssprache achtungswürdig anbetungswürdig anbetungswürdig bewunderungswürdig bewunderungswürdig darstellungswürdig empfehlungswürdig erbarmungswürdig erbarmungswürdig hochachtungswürdig verabscheuungswürdig verabscheuungswürdig verehrungswürdig verehrungswürdig Doch gibt es bei Schiller auch Komposita mit einem substantivierten Infinitiv im Vorderglied, die heute nicht verwendet werden: (29) (c) Schiller Gegenwartssprache beweinenswürdig verfluchenswürdig bedauernswürdig beklagenswürdig verachtenswürdig vertrauenswürdig mit lexikalisiertem substantivierten Infinitiv <?page no="123"?> Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller 123 Die substantivierten Infinitive sind von durativen Verben abgeleitet, die Abstrakta bezeichnen Zustände. Als Paraphrase für beide Typen von Abstrakta im Vorderglied ergibt sich eine passivische Lesart. (30) Jemand ist würdig, bewundert zu werden . Jemand ist würdig, beweint zu werden . Eine ähnliche Bedeutung wie die Adjektivkomposita auf würdig haben die auf wert . Bei Schiller sind wiederum sowohl ung -Abstrakta als auch substantivierte Infinitive im Vorderglied belegt. Bei einigen Komposita mit ung -Abstraktum bei Schiller ist heute das Element ungs durch ens des substantivierten Infinitivs ersetzt 8 : (31) (a) Schiller Gegenwartssprache achtungswert achtenswert erhaltungswert erhaltenswert verabscheuungswert verabscheuungswert , verabscheuenswert verachtungswert verachtenswert verdammungswert verdammenswert verehrungswert - Doch hat auch Schiller das Element -ens 9 : (31) (b) Schiller Gegenwartssprache anbetenswert - beweinenswert beweinenswert 8 Cf. auch: Schiller Gegenwartssprache vergleichungsweisevergleichsweise verteidigungsweise - 9 „Das Fugensentfaltet an schließenden Suffixen im Deutschen … öffnende Wirkung. Die Kompositionsstammform wird mit dem Fugenelement für weitere Wortbildung geöffnet“ (vgl. Kürschner 2005 : 116 ; Kürschner 2010 ; Szepaniak 2007 : 264 ; Werner 2012 : 202 ; Gallmann 1998 ). <?page no="124"?> 124 Rosemarie Lühr Bemerkenswert ist, dass bei Schiller die Adjektive liebenswürdig und liebenswert noch nicht lexikalisiert sind. Sie bedeuten bei ihm ‚würdig‘ bzw. ‚wert, geliebt zu werden‘, in der Gegenwartssprache dagegen ‚freundlich, zuvorkommend‘. (32) (a) { DK 4, I/ 4 [566-567], NA 7/ 387} Noch hatte seine liebenswürd’ge Braut Fernando nur im Bildniß angebetet - (32) (b) { MS t., II / 8 [1800-1802], NA 9/ 68} Nicht ihre Hand allein, auch ihre Gunst Droht mir der neue Ankömmling zu rauben. Sie ist ein Weib, und er ist liebenswert. Somit ist nach der Betrachtung der Adjektivkomposita auf voll , würdig , wert festzuhalten: Adjektivabstrakta auf voll bleiben von dem Ersatz des ung -Abstraktums durch den substantivierten Infinitiv ausgeschlossen. Doch dringt der substantivierte Infinitiv bei adjektivischen Komposita auf würdig und wert bei Schiller bereits in die Wortbildungsdomäne des ung -Abstaktums ein, auch wenn das ung -Abstraktum im Vorderglied hier noch überwiegt. Der substantivierte Infinitiv hat in diesen Komposita eine passivische Lesart, wodurch sich die adjektivischen Komposita auf würdig und wert neben passivische modale Adjektivkomposita auf bar , lich , fähig , die im heutigen Deutsch überaus produktiv sind, stellen: (33) sein + Adjektiv auf -bar, lich , fähig , ferner abel , ibel (Fremdsuffixe). Modalität Umschreibung (Passiv) Das Auto ist reparierbar. können Das Auto kann repariert werden. Der Brief ist kaum leserlich. Der Brief kann kaum gelesen werden. Der Kranke ist transportfähig. Der Kranke kann transportiert werden. Diese Komposita sind deswegen so produktiv, weil sie in der Satzproduktion den Anschluss von Subjekten an der Satzspitze, die nicht der Agens, sondern der Patiens sind, gestatten (cf. Roelcke 2002 : 339 , 2012 : 339 ). Ausgehend von Adjektivkomposita auf würdig und wert könnte der substantivierte Infinitiv <?page no="125"?> Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller 125 dann nicht nur als Kompositionsglied, sondern auch im selbständigen Gebrauch eine passivische Lesart erhalten. Bislang ist eine solche Verwendung wohl noch nicht möglich; cf.: (34) (a) sie hätte ihn erhört, wenn er um Erhören gebeten hätte(? ) 10 gegenüber (34) (b) sie hätte ihn erhört, wenn er um Erhörung gebeten hätte (Böll, Gruppenbild mit Dame) (vgl. Pavlov 2002: 229) mit Erhörung in passivischer Interpretation als ‚das Erhörtwerden‘. 5 Der morphologische Wandel Die Gründe für die Zunahme des substantivierten Infinitivs im Deutschen sieht Martina Werner ( 2010 ) in einer Erweiterung der Grundfunktion, nämlich der Bezeichnung von Kontinuativität. Seit mittelhochdeutscher Zeit habe das Bildungsmuster zunehmend (potentielle) Argumentstellen inhärieren können. Es sei zur nominalen Quantifikation und damit zur Etablierung von verbaler Iterativität gekommen. Dadurch sei es möglich gewesen, mit dem substantivierten Infinitiv deverbale Abstrakta zu bilden. Diese Entwicklung mache aus synchroner Sicht die ung -Nominalisierung im Sprachsystem ‚überflüssig‘. Wie aber Ulrike Demske ( 2000 ) gezeigt hat, stimmen ung -Abstrakta und substantivierte Infinitive in ihrer Distribution im Frühneuhochdeutschen noch überein. Subjekte ebenso wie Objekte erscheinen als Genitivkomplemente, unabhängig von ihrer sortalen Interpretation; vgl. zum substantivierten Infinitiv: (35) (a) In Candia sitzt eine Person gefangen/ welche den Marquis de Villa auff des GroßVeziers anstifften hat ermorden wollen. (Mercurius 1667 148.2) (35) (b) Zu Wißmar soll den Reformirten das Auffbauen einer Kirchen seyn erlaubet worden. (Mercurius 1667 343.19) 10 Zu heutigen Funktionsverbgefügen wie zum Aufführen kommen , zum Verschwinden bringen vgl. Martina Werner ( 2013 ). <?page no="126"?> 126 Rosemarie Lühr Auch können beide Typen von Abstrakta mit einem explikativen dass -Satz verbunden werden: (36) (a) ist jhnen das predigen von jhrer May: wider erlaubt worden/ mit vermeltung/ dass sie […] (Die Relation des Jahres 1609 87.9) (36) (b) jhre May. aber solches passiren zulassen nicht bedacht/ mit vermelden das […] (Der Aviso des Jahres 1609 300.10) Des Weiteren erscheinen ung -Abstraktum und substantivierter Infinitiv in der Koordination: (37) in ansehen vnd betrachtung der obberürten stattlichen interceßion vnd Fürbitten (Der Aviso des Jahres 1609 26.21) Warum das ung -Abstraktum seit dem 18 . Jh. durch den substantivierten Infinitiv verdrängt wird, liegt nach Ulrike Demske ( 2000 : 403 ) daran, dass ung - Bildungen durch semantische Verschiebungen im Verlauf der Sprachgeschichte zunehmend nominaler wurden. Während im Frühneuhochdeutschen die Bedeutung von ung -Abstrakta aus der Bedeutung der verbalen Basis weitgehend vorhersagbar war und die temporale Interpretation durch den sprachlichen Kontext gesteuert werden wurde, sind heute ung -Derivate von atelischen Verben, also Prozesslesarten, markiert (vgl. demgegenüber mhd. swîgunge ‚Schweigen‘, frühnhd. murmelung(e) ‚Murmeln‘, mhd. hazzunge ‚Hass‘). Doch ist bei Schiller die noch sehr große Anzahl von ung -Abstrakta gegenüber den substantivierten Infinitiven auffallend. Folgende Entwicklung wurde von Rosemarie Lühr ( 2002 ) angenommen: Die Ursache für den Rückgang des ung -Abstraktums liegt darin, dass ung -Abstrakta vor allem die nominale Komponente des perfektiven Funktionsverbgefüges bilden. Ein solches Funktionsverbgefüge fungiert entweder als perfektiver Aspektpartner zu aktionsartneutralen Grundverben oder es stellt den perfektiv(er)en Partner zu noch schwach perfektiven Verben und hat damit eine die Terminativität des Grundverbs verstärkende Funktion (cf. Leiss 1992 : 257 ). Für die aspektuelle Geltung des ung -Abstraktums bedeutet dies, dass die weniger perfektiven Bedeutungskomponenten dieses Typs von Abstraktum zurücktreten. Bei Schiller ist diese Entwicklung schon in vollem Gange: Die stativische Bedeutungsvariante bei den Funktionsverbgefügen ist erst schwach ausgeprägt; z. B. finden sich bei dem Verb stehen nur die Fügungen in Verbindung stehen , in Berührung stehen , in Beziehung stehen : <?page no="127"?> Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller 127 (38) {30j.Kr., 2.B., NA 18/ 100} Dieser Schwedischpohlnische Krieg fällt in den Anfang des dreyßigjährigen in Deutschland, mit welchem er in Verbindung steht. (39) {An Goethe, 14./ 15. 9. 1797, NA 29/ 130 f.} Aber da auch schon die Poesie so sehr von ihrem Gattungsbegriff abgewichen ist / (durch den sie allein mit den nachahmenden Künsten in Berührung steht) so ist sie freilich keine gute Führerin zur Kunst (40) {An Körner, 19. 12. 1794, NA 27/ 106} Hier steht alles in Beziehung auf etwas Großes und Wichtiges, das den Geist immer angespannt erhält, und gerade dieser Punkt ist es, um den sich Deine Ideen am liebsten drehen. Demgegenüber verwendet Schiller eine Vielzahl perfektiver Funktionsverbgefüge; vgl. mit den Verben bringen und kommen aktivisch: (41) {Vers.Mensch.7, NA 5/ 150} Wohin nur dein Auge blickt, der einstimmige Fleiß aller Wesen, das Geheimnis der Kräfte zur Verkündigung zu bringen. (42) {Abf.d.Niederl., 2.B., NA 17/ 147 Anm. k} Aber ist es denn an dem, daß er die Nation durch Beförderung dieser Edikte aufopfert? oder, bestimmter zu reden, bringt er die Edikte zur Vollstreckung, wenn er auf ihre Bekanntmachung dringt? (43) {Abf.d.Niederl., 3.B., NA 17/ 200} Fanatismus giebt dem Greuel seine Entstehung, aber niedrige Leidenschaften, denen sich hier eine reiche Befriedigung aufthut, bringen ihn zur Vollendung. (44) {Gesetzgebung, NA 17/ 423 f.} Ueberhaupt können wir bei Beurtheilung politischer Anstalten als eine Regel festsetzen, daß sie nur gut und lobenswürdig sind, in so fern sie alle Kräfte, die im Menschen liegen, zur Ausbildung bringen, insofern sie Fortschreitung der Cultur befördern, oder wenigstens nicht hemmen. (45) {30j.Kr., 4.B., NA 18/ 319} War es schon bedenklich, einen solchen Auftrag auch nur zu verheimlichen, so war es noch weit mißlicher, ihn zur Vollziehung zu bringen. (46) {30j.Kr., 3.B., NA 18/ 197} <?page no="128"?> 128 Rosemarie Lühr Er folgte dem Lauf des Mainstroms; Seligenstadt, Aschaffenburg, Steinheim, alles Land an beyden Ufern des Flusses ward auf diesem Zuge zur Unterwerfung gebracht; selten erwarteten die kaiserlichen Besatzungen seine Ankunft, niemals behaupteten sie sich. (47) {Anm. u. Würde, NA 20/ 291} Weil von der ersten Ursache an, wodurch sie in Bewegung gebracht wird, bis zu dem Willen, wo ihre Gesetzgebung aufhört, alles in ihr streng nothwendig ist, so kann sie rückwärts nicht nachgeben, sondern muß vorwärts gegen den Willen drängen, bey dem die Befriedigung ihres Bedürfnisses steht. (48) {Gold.Mem., NA 22/ 239} und sein Vater trug das Seinige dazu bei, diese Vorbedeutung in Erfüllung zu bringen, da er ihm in seinen Erholungsstunden durch Marionetten Unterhaltung zu verschaffen suchte und dadurch dem jungen Geiste gleich in den ersten Jahren einen theatralischen Schwung gab. (49) {30j.Kr., 3.B., NA 18/ 237} Aber auf welchem Wege er auch seinen Zweck verfolgte, so konnte er denselben, ohne den Beystand einer ihm ganz ergebenen Armee, nicht zur Ausführung bringen. (50) {Ästh. Erz., 11.Brief, NA 20/ 344} Das erste dringt auf absolute Realität: er soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen bei Ableitung von einem intransitiven Verb und kommen : (51) {Gebr.d.Ch., NA 10/ 10} Unter der Decke der Erscheinungen liegt sie, aber sie selbst kommt niemals zur Erscheinung. dann passivisch, mit kommen : (52) {Abf.d.Niederl., 2.B., NA 17/ 128} Viele Dogmen, die in die päbstliche Hoheit eingriffen, durften gar nicht zur Untersuchung kommen (53) {Ästh. Erz., 19.Brief, NA 20/ 371} Jeder dieser beyden Grundtriebe strebt, sobald er zur Entwicklung gekommen, seiner Natur nach und nothwendig nach Befriedigung (54) {Ästh. Erz., 2.Brief, NA 20/ 312} <?page no="129"?> Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller 129 Es ist also nicht bloß seine eigene Sache, die in diesem großen Rechtshandel zur Entscheidung kommt und die aktivische und passivische Bedeutungskomponente bei demselben Abstraktum: (55) (a) {Gebr.d.Ch., NA 10/ 7} Man könnte es also gar wohl dem Chor überlassen, sein eigener Sprecher zu seyn, wenn er nur erst selbst auf die gehörige Art zur Darstellung gebracht wäre. (55) (b) {Pol., NA 12/ 97} Die äusersten Extreme von Zuständen und sittlichen Fällen (1) werden + (2) kommen zur Darstellung 11 (56) (a) {30j.Kr., 5.B., NA 18/ 342} Nur der Krieg machte ihn groß und bedeutend; nur der Krieg konnte die Entwürfe seines Ehrgeitzes zur Zeitigung bringen. (56) (b) {Anm. u. Würde, NA 20/ 270 Anm.} Er soll, ist meine Meinung, zuerst dafür sorgen, daß die Menschheit in ihm selbst zur Zeitigung komme Die paradigmatische Ausprägung des perfektiven Funktionsverbgefüge mit ung -Abstraktum macht somit deutlich, dass die perfektive Lesart dieser Abstraktbildung in der Sprache Schillers schon grammatikalisiert war. Da jedoch ein echtes Verbalabstraktum weiterhin benötigt wurde, d. h., ein Abstraktum, dessen aspektuelle Interpretationsmöglichkeiten gegenüber dem Kontext offen waren, verwendet Schiller als aspektuelles Oppositum auch den substantivierten Infinitiv (cf. Vogel 1996 : 250 ). Diese Aufgabenverteilung von ung -Abstraktum und substantiviertem Infinitiv hätte bis in die Gegenwartssprache fortbestehen können. Nun sind aber ung -Abstrakta als fester Bestandteil von Funktionsverbgefügen ein Mittel heutiger Fachsprachen, der Verwaltungssprache, der Presse und wissenschaftlicher Texte; man findet: 11 Schiller hat bei seiner Überarbeitung werden durch kommen ersetzt. <?page no="130"?> 130 Rosemarie Lühr (57) Verbindung aufnehmen, Anregung bekommen, in Ordnung bringen, Anregung geben, Einwilligung geben, Zusicherung geben, Vervollkommnung erfahren, Vereinfachung erfahren, Veränderung erfahren, Verbesserung erfahren, Beachtung finden, Berücksichtigung finden, Unterstützung finden, Erklärung finden, Beachtung finden, Anerkennung finden, Anwendung finden, Andeutung machen, Mitteilung machen, Zahlung leisten, Stellung nehmen, Entwicklung nehmen, in Verwunderung setzen, (sich) in Bewegung setzen, zu Verfügung stehen, in Verwahrung nehmen, in Verhandlung stehen, in Zusammenhang stehen, in Rechnung stellen, Forderung stellen, Vereinbarung treffen, Vorbereitung treffen, Verfügung treffen, Abmachung treffen, Anordnung treffen (cf. Busse 2008: 408-415; Hentschel/ Weydt 2003: 85-87, 236, 372; Bieck/ Vasel/ Schahinia 2009: 95; Roelcke 2011: 155). Funktionsverbgefüge gelten daher als Kennzeichen des Nominalstils, eine Schreibart, die in der Stilistik als negativ bewertet wird. Dass die verbale Ausdrucksweise als anschaulicher, lebendiger und auch leichter verständlich angesehen wird, kann man auch den Empfehlungen der Wochenzeitschrift Die Zeit für angehende Journalisten entnehmen (vgl. http: / / gymwil.files.wordpress. com/ 2007 / 10 / zeit-journalistentipps 5 .pdf [ 24 . 08 . 2015 ]): (58) Vermeiden Sie Funktionsverbgefüge! Ersetzen Sie sie durch Vollverben! In der Belletristik und Umgangssprache sind Funktionsverbgefüge so selten. Doch kommen in Schillers Briefen Funktionsverbgefüge vor: (59) {An C. v. Beulwitz / Ch. v. Lengefeld, 15. 11. 1789, NA 25/ 330} Würde wenigstens nur bald der Ort wo ich leben soll, entschieden, so könntest Du vielleicht auch Deine Angelegenheiten schneller zur Entscheidung bringen. (60) {An C. v. Beulwitz / Ch. v. Lengefeld, 23. 10. 1789, NA 25/ 306} Es war mir aber lustig, daß ich gleich den andern Tag nach unsrer Trennung einen Antrag erhielt, der mich fast ganz biss nach Mainz führte, wenn er zur Ausführung käme. (61) {An C. v. Wolzogen, 22 ? .6.1801, NA 31/ 44} Dieses Zeichen wäre das Bild und die Gräfin fände es, mit Emblemen des Lebens, in der Capelle, stürzte dann heraus und es käme zur Entdeckung ebenso in einem Dialog: <?page no="131"?> Wortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller 131 (62) {Warb., NA 12/ 225} Wie wurdet ihr so gebildet? Wodurch brachte euch der Himmel zur Entdeckung? Es scheint also, als ob zur Zeit Schillers Funktionsverbgefüge mit ung -Abstrakta noch in allen Textsorten möglich waren. Erst seit Ende des 19 . Jh. wurden sie Gegenstand von Sprachpflege und Sprachkritik (cf. Reiners 1943 : 140 ). Doch müssen Funktionsverbgefüge schon vor diesem Zeitpunkt in der Umgangssprache als komplex und schwerfällig betrachtet worden sein, weshalb sie dann auch in den Stilratgebern als „unschön“ bezeichnet wurden. Während die Sprachpfleger auf geschriebene Texte einen Einfluss ausübten, blieben aber Funktionsverbgefüge in Gebrauchstexten, d. h. im fachsprachlichen Gebrauch, erhalten. Auch außerhalb der Funktionsverbgefüge gingen ung -Abstrakta zurück. Ein Grund dafür dürfte sein, dass durch die Pluralisierung solcher Abstrakta Konkreta entstanden. Weil dadurch die nominale Komponente ausgebaut wurde, waren ung -Abstrakta immer weniger als Verbalabstrakta, die einen Genitivus obiectivus regieren, verwendbar. Der konzeptionelle Unterschied zwischen dem femininen Abstraktum auf ung und dem neutralen substantivierten Infinitiv besteht also darin, dass feminine Verbalabstrakta pluralisierbar sind, nicht aber die entsprechenden Abstrakta im Neutrum 12 . 6 Fazit Wie die korpuslinguistische Untersuchung der Sprache Schillers ergeben hat, verfügt Schiller über das ung -Abstraktum als aktives Wortbildungsmuster. Der substantivierte Infinitiv breitet sich bereits aus, auch wenn er noch nicht in allen Präpositionalphrasen bezeugt ist. So erscheint hinter der Präposition nach bei Ableitungen von telischen Verben nur das ung -Abstraktum. Doch kommt auch bei den Adjektivkomposita auf würdig und wert schon der substantivierte Infinitiv als Erstglied vor. Er hat hier eine passivische Lesart, die im freien Gebrauch aber noch fehlt (? um Erhören bitten ). Ein Grund für die Ver- 12 Zu einer ähnlichen Auffassung kommt Stefan Hartmann ( 2014 ) anhand von Basisprinzipien kognitiver Konstruktion und Konzeptualisierung (speziell von Kategorisierung und mental scanning ): Bei ung -Abstrakta sei eine semantische Verschiebung von der verbalen zur nominalen Domäne eingetreten. Infolge von Lexikalisierung seien diese Abstrakta so zu Konkreta, zählbaren Individuativa, die mit Artikel versehen und pluralisiert werden konnten, geworden, während die prozessuale Bedeutung zurückging. Die semantischen Beschränkungen hätten zu einer Abnahme der Produktivität geführt, wie auch der syntaktische Gebrauch eingeschränkt wurde, z. B. im Falle der präpositionalen Fügungen mit ung -Abstraktum. Das Korpus besteht aus mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Quellen. (vgl. Hartmann 2013 , 2014 a; Lingl 1934 : 75 ; Kolb 1969 ; Werner 2012 : 73 f.). <?page no="132"?> 132 Rosemarie Lühr drängung des ung -Abstraktums durch den substantivierten Infinitiv liegt wohl an der Verwendung in perfektiven Funktionsverbgefügen. Dadurch treten die weniger perfektiven Bedeutungskomponenten des ung -Abstraktums zurück. In der Umgangssprache wirken ung -Abstrakta als schwierig und schwerfällig, weshalb sie hier gemieden werden, wie auch die Sprachpfleger von ihrer Verwendung abraten. Im freien Gebrauch hatte das ung -Abstraktum zunehmend nominale Qualitäten entwickelt, es wurde syntaktisch eingeschränkt, weshalb der substantivierte Infinitiv auch im Falle von Ableitungen telischer Verben heute immer häufiger wird. Indiz für den Rückgang der ung -Abstrakta außerhalb von Funktionsverbgefügen ist die Pluralisierung dieser Abstrakta. Der das ung -Abstraktum betreffende Sprachwandel hat also nur scheinbar in sprachpflegerischen Bemühungen seine Ursache. 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This contrasts strikingly from the distribution in non-toponymic compounds in Swiss German dialects, in which the stress accent is typically placed on the first (left) element. Based on a collection of 7000 toponymic compounds taken from the Ortsnamenbuch des Kantons Bern , the paper discusses four different explanatory approaches to the phenomenon: 1. Compounds with a personal name as the first element, 2. compounds consisting of three or more elements that are derived from simpler two-elements compounds with regular stress distribution, 3. compounds with typical toponymic elements as second element, and 4. the generalisation of second-element stress accent in other cases, which could be seen as some kind of linguistic toponymicity marker. 1 Vorbemerkung Eine große Anzahl toponymischer Komposita im deutschsprachigen Teil des Kantons Bern trägt den Hauptakzent auf dem zweiten (rechten) Kompositionselement (das in der Toponomastik ohne Beachtung der semantischen Struktur allgemein „Grundwort“ genannt wird) statt wie zu erwarten auf dem ersten (linken) Element (dem Bestimmungswort). Dies, obwohl sich Deutschschweizer Dialekte in Bezug auf den Wortakzent allgemein konservativer als Standarddeutsch zeigen und auch bei Neologismen ebenso wie bei Komposita Initialakzent bevorzugen. Ausgehend von ungefähr 7000 aktuell belegten toponymischen Komposita aus dem Ortsnamenbuch des Kantons Bern werden verschiedene Erklärungsansätze für diese auffälligen Akzentverhältnisse diskutiert: <?page no="138"?> 138 This Fetzer 1. Eine Gruppe von Namen mit Betonung auf dem Endglied entspricht dem alten Namentyp Personenname im Genitiv mit typischem Siedlungsnamengrundwort (Beispiel Wil ), für das offenbar auch bei jüngeren analogischen Prägungen diese Betonung gültig blieb. 2. Ein hoher Anteil insbesondere der komplexen Komposita erweist sich als Rechtserweiterungen weniger komplexer Komposita um ein zusätzliches Appellativ. Diese zusätzlichen Wörter können unter Umständen als eigentliches Determinativelement des Kompositums gelten (d. h. es könnte sich um postdeterminierte Komposita mit Umkehrung der Position von Grund- und Bestimmungsteil handeln; Typ Tannschachebérg ‚Teil des Tannschache, der ein Berg ist‘ eher als ‚Berg, der beim Tannschache liegt‘). Die rechts erweiterten toponymischen Komposita gruppieren sich teilweise zu ganzen Clustern mit einem gemeinsamen Kernnamen, was als Phänomen im nichttoponymischen Bereich kaum vorstellbar ist. Im Gegensatz dazu gelten nichttoponymische deutsche Komposita je nach Autorin oder Autor als selten oder gar nie postdeterminiert. 3. Manche toponymischen Zweitglieder treten besonders häufig auf. Ausgehend von Fällen, in denen sie aus historischen Gründen (Fügung statt Reihung) vermutlich ursprünglich grundwortbetont waren, hat sich dieses Akzentmuster weitgehend verselbstständigt und wurde auch auf andere Bildungen mit entsprechendem Zweitglied (beispielsweise Komposita mit schweizerdeutsch Egg ) übertragen. 4. Die Überlagerung dieser drei Phänomene führt dazu, dass teilweise auch Toponyme Betonung auf dem rechten Element aufweisen, die in keine dieser Gruppen gehören (beispielsweise Ramsláuenen , eigentlich ‚Rutschgebiet mit Bärlauchbewuchs‘). Fraglich ist, ob darin eine Tendenz zur allgemeinen Markierung von Toponymizität mittels Betonung auf dem rechten Element gesehen werden kann. Wie eine regionale Auswertung zeigt, gibt es selbst im relativ kleinen Untersuchungsgebiet Regionen, in denen die Betonung des Zweitglieds sehr viel häufiger ist als in anderen. 2 Zur Fragestellung Die Gemeindebzw. Dorfnamen (1) Schafisheim (Kanton Aargau) und (2) Schafhausen (Dorf in der Gemeinde Hasle im Emmental) unterscheidet weniger, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Beide entsprechen dem Kompositum ahd. scāfhū s ‚Schafstall‘ im lokativischen Dativ Plural, <?page no="139"?> Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 139 also bei den ‚Schafställen‘ (Kristol 2005 : 804 ; Hentschel et al. unpubliziert). Die heutigen Lautungen (['ʃɔ: fis: ə] für ( 1 ) Schafisheim mit schriftlicher Volksetymologie für das Zweitglied, [ʃaf'husə] für ( 2 ) Schafhausen ) unterscheiden sich aber so stark, dass ein Zusammenhang zwischen den beiden Namen nur mit historisch-linguistischen Kenntnissen herzustellen ist. Wie erklärt sich die unterschiedliche lautliche Entwicklung dieser beiden ursprünglich identischen Namen? Entsprechend der ursprünglichen germanisch-althochdeutschen Erstsilbenbetonung werden deutsche Wörter im Allgemeinen auf dem ersten Element akzentuiert. Dies gilt auch für Nominalkomposita, bei denen ein unmarkiertes Grundwort im Zweitglied (rechts) durch ein Bestimmungswort (Determinativelement) im Erstglied (links) näher bestimmt und diese Zusatzinformation mittels Akzent verdeutlicht wird (Ortner/ Ortner 1984 : 13 ; Fleischer/ Barz 1992 : 88 ; Kohler 1995 : 114 - 115 ). Im Neuhochdeutschen gilt in Abweichung von diesem Muster für Wörter neuerer Prägung (insbesondere Lehnwörter) Finalakzent (Betonung der vorletzten bzw. bei Ableitungen der letzten Silbe). Dieses Akzentmuster wurde teilweise auch auf den ererbten Wortschatz übertragen ( Holúnder , Hornísse , Forélle ; Paul 2007 : 29 - 30 ). Im Schweizerdeutschen sind die ursprünglichen Akzentverhältnisse allerdings stärker erhalten: Hier heißt es Hólder , Hórnisse ; Forélle ersetzt als neuhochdeutsche Entlehnung älteres Fórene(n) (Idiotikon 1881 [Bd. 1 ]: 935 ). Tatsächlich ist es für Deutschschweizer Ohren auffällig, wie stark Deutsche z. B. bei französischen Lehnwörtern (und Namen wie jenem des französischen Fußballers Franck Ribéry ) die Endsilbe betonen. Die Zweitgliedbetonung betrifft im ererbten Wortschatz insbesondere Namen ( Westfálen , Paderbórn , Brunhílde , Alemánnen ; Paul 2007 : 30 ). Die genannten Toponyme können in der Schweiz, wo sie per se ja fremd sind, allerdings auch als Wéstfalen und Páderborn ausgesprochen werden. Brunhílde und Alemánnen sind als literarisch-gebildete Prägungen ohne eigentliche dialektale Entsprechung zu verstehen. Umso auffallender ist daher, dass bei einer großen Anzahl schweizerdeutscher toponymischer Komposita tatsächlich Zweitgliedakzent vorliegt. Dass es für dieses Phänomen keine singuläre, allgemeingültige Erklärung gibt, zeigen allerdings schon die erwähnten etymologisch identischen Siedlungsnamen ( 1 ) Schafisheim und ( 2 ) Schafhausen . 3 Komposita In nichtonymischen Sprechakten kann bei Komposita zur Kontrastbetonung jederzeit entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch Betonung des Zweitglieds eingesetzt werden (Ortner/ Ortner 1984 : 14 mit dem Beispiel Haushérr im Gegensatz zu Hausfráu ). Auch bei toponymischen Komposita kann eine solche <?page no="140"?> 140 This Fetzer Betonung im Einzelfall nur eine vom Namenstandard abweichende einmalige Realisierung des Namens sein. Die Tatsache, dass im Untersuchungsmaterial aber sehr viele Komposita mit Betonung des Endglieds vorkommen, spricht jedoch dafür, dass Betonung des rechten Kompositionselements toponymischer Komposita ein dauerhaftes Phänomen ist. Bei Komposita wird allgemein unterschieden zwischen Reihungen (Zusammensetzungen) mit unflektiertem Bestimmungswort und Fügungen mit flektiertem Bestimmungswort (Adjektiv, genitivischer Personenname). Letztere wurden durch langen sprachlichen Gebrauch aus freien Elementen zum Kompositum. Beispiele für Reihungen sind die sowohl appellativisch als auch onymisch gebräuchlichen schweizerdeutschen Héuberg ‚unterhalb der eigentlichen Alpenregion gelegene, eingehegte Bergwiese, die dem Vieh zur Weide dient‘ und Sándgruebe ‚Sandgrube‘ ebenso wie die nur onymisch gebräuchlichen Sunnmátt ‚sonnige Wiese‘, Bleueríed ‚Rodung oder Sumpfgelände bei der Stampfmühle, Hanfreibe‘ (Idiotikon 1901 [Bd. 4 ]: 1552 ; Idiotikon 1885 [Bd. 2 ]: 695 ; Idiotikon 1905 [Bd. 5 ]: 249 - 250 ; Idiotikon 1909 [Bd. 6 ]: 979 - 982 , 1729 - 1735 ). Nichtonymische Fügungen treten vermutlich wie das Wildschwein < (das) wild(e) Schwein fast ausschließlich mit unflektiertem Adjektiv auf. Dennoch zählen Bach ( 1953 II / 1 : 46 ) ebenso wie Tyroller ( 1996 : 1432 ) diese Fälle auch zu den Fügungen (wogegen Laur 1996 : 1373 - 1374 strikt unterscheidet). Die Behandlung dieser Bildungsweise als Fügung wird auch dadurch gestützt, dass etwa im älteren Schweizerdeutschen zumindest teilweise das schwach flektierte attributive Adjektiv im Nominativ und Akkusativ in allen drei Genera endungslos war (also di ganz Nacht ‚die ganze Nacht‘ [moderner oft di ganzi Nacht ], der guet Maa ‚der gute Mann‘ [moderner der gueti Maa ], ds leid Chind ‚das hässliche Kind‘ [moderner ds leide Chind ]; Handschuh/ Hotzenköcherle/ Trüb 1975 : 254 ). Nichtonymische Fügungen wie das genannte Wíldschwein < (das) wìld(e) Schwéin weisen wohl meistens Betonung auf dem Bestimmungswort auf. 1 Beispiele für toponymische Fügungen sind 1 Nach Bach ( 1953 II/ 1 : 46 ) ist nicht sicher, ob dies eine Angleichung an die Verhältnisse der Reihung darstellt (die nach Kaufmann 1977 : 29 ursprünglich ebenfalls auf dem Grundwort als dem Kern des Kompositums, dem Hauptträger der Idee betont war) oder ursprünglich ist und die Akzentverhältnisse in der freien Gruppierung jüngeren Datums sind. Michels ( 1925 : 46 - 50 ) hält die Akzentverhältnisse der freien Gruppierung für jünger. Für die - in dieser Hinsicht wohl vergleichbare - englische Sprache wurde auch schon die Regel aufgestellt, dass gerade der Wechsel der Akzentverhältnisse den Übergang von der Adjektivphrase zum Kompositum markiert, so dass black bóard ‚schwarzes Brett‘ bedeutet, bláckboard dagegen ‚Wandtafel‘ (Kunter 2011 : 1 ). <?page no="141"?> (3) Wáhlendorf ‚Dorf der Wahlen, d. h. Fremdsprachigen‘, (4) Hunzeríed ‚Rodung oder Sumpfgelände einer Person namens Hunzo o. ä.‘, (5) Schwárzebach ‚(beim) schwarze(n) Bach‘ und (6) Neueríed ‚(bei der) neue(n) Rodung‘. Die Bestimmungswörter von ( 1 ) und ( 2 ) stehen im Genitiv, ( 3 ) und ( 4 ) sind mit Adjektiven gebildet, und ( 5 ) und ( 6 ) stehen im lokativischen Dativ (Idiotikon 1901 [Bd. 4 ]: 882 , 947 - 954 ; Idiotikon 1929 [Bd. 9 ]: 2171 - 2204 ; Idiotikon 1973 [Bd. 13 ]: 1472 - 1498 ; Idiotikon 1999 [Bd. 15 ]: 1422 - 1427 ; Zinsli/ Glatthard 1987 : 321 - 322 ). Für diese - insgesamt sicher häufigeren - toponymischen Fügungen ist der Verbleib des Akzents auf dem Grundwort nicht überraschend, wenn nicht sogar zu erwarten, weil er den Verhältnissen in freier Gruppierung der Art ein gùtes Gewíssen , ein sànftes Rúhekissen entspräche (Michels 1925 : 47 - 48 ; Bach 1953 II / 1 : 45 - 46 ; Wiesinger 1994 : passim; Benware 2012 : 399 , 434 - 435 ). Wie die obigen Beispiele zeigen, gibt es unter den Toponymen Komposita mit Hauptakzent auf dem Erstglied ebenso wie solche mit Hauptakzent auf dem Zweitglied, und zwar unabhängig davon, ob das Erstglied ein Substantiv oder ein Adjektiv, flektiert oder unflektiert ist. Da die Akzentverhältnisse bei nichtonymischen Komposita recht eindeutig sind, werden sie in der linguistischen Forschung selten thematisiert. Michels ( 1925 : 40 ) stellt fest, dass einzig einige dreisilbige Wörter, insbesondere erkennbare Komposita, den Akzent nicht auf dem Erstglied tragen, und führt Beispiele wie Jahrhúndert , Palmsónntag , Hauptpóstamt an (letzteres Beispiel ist für Deutschschweizer Ohren allerdings seltsam). Es handelt sich vor allem um rechtsverzweigte komplexe Komposita ( Haupt-Postamt , nicht * Hauptpost-Amt , Palm-Sonntag , nicht * Palmsonn-Tag ). Diese sind nach Ortner et al. ( 1991 : 15 ; ohne Hinweis auf den Wortakzent bei Komposita) deutlich seltener als linksverzweigte (letztere Komposita werden kaum so betont: Es heißt nicht * Straßenbáhn-Fahrerin ). Klara ( 2009 : 176 - 178 ) stellt außerdem Betonung auf dem Grundwort sogenannter Steigerungskomposita fest, deren Erstglied ein Adjektiv ist und durch sehr ersetzt werden könnte (Beispiel steinreich ). In der Toponomastik, wo die Verhältnisse auffällig abweichen, sind die Betonungsverhältnisse ebenso selten ein Thema. Aus toponomastischer Sicht sind sie meistens nicht interessant: Sie haben selten einen Einfluss auf die (klassischerweise interessierende) Etymologie, aber ebenso kaum auf Fragestellungen der Namenverwendung. In der jüngeren Forschung widmen sich einzig Nübling ( 2005 : 29 - 30 ) und Benware ( 2012 : 398 , mit dem Hinweis auf das Fehlen einer breiten Forschung) dem Thema. Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 141 <?page no="142"?> 142 This Fetzer 4 Untersuchungsmaterial Das Korpus der folgenden Untersuchung entstammt dem Namenmaterial des Berner Ortsnamenbuchs (Zinsli 1976 ; Zinsli/ Glatthard 1987 ; Hentschel/ Schneider/ Blatter 2011 , 2008 ), das im Wesentlichen den deutschsprachigen Teil des Kantons Bern abdeckt. Berücksichtigt wurden Namen, die digital erfasst sind (Hentschel et al. unpubliziert). Das betrifft vor allem Namen, denen ein Lemma mit Anfangsbuchstaben Q -, R - und S zugeordnet wurde. Unter den im März 2014 digital erfassten Namen wurden jene ausgewählt, die aus mindestens zwei Elementen bestehen (also als Komposita gelten können) und für die Angaben zu den Akzentverhältnissen vorhanden sind (was aus dem erwähnten Mangel an toponomastischem Interesse für den Akzent nicht immer der Fall ist). Es kommen ausschließlich aktuell belegte Namen in Frage: Da der Akzent im Deutschen nicht systematisch Bedeutungsinformation trägt, 2 wird er schriftlich nicht markiert. Nur Tonaufnahmen und wissenschaftliche Transkriptionen der Gegenwart geben Auskunft über die Akzentverhältnisse. Hinweise auf historische Betonungsverhältnisse sind vereinzelt indirekt zu gewinnnen: (1) Schafissen 1594 steht für die Gemeinde Schafisheim und lässt darauf schließen, dass das Grundwort des Kompositums im späten 16 . Jahrhundert schon stark abgeschwächt war, also schon damals das Erstglied den Hauptakzent trug. Solche Erkenntnisse sind aber nicht systematisch zu gewinnen und daher für die Untersuchung nicht nutzbar. Für manche Namen wurden mehrere abweichende Betonungsvarianten angegeben. (7) Eine Aareinsel wird in Bannwil Vogelróupfi genannt, im benachbarten Graben aber Vógelroupfi . Selbst eine einzelne Gewährsperson gibt unter Umständen mehrere Akzentvarianten an. Die Angaben sind daher immer als Momentaufnahmen zu verstehen, die möglicherweise auch durch die Befragungssituation beeinflusst sind (Kontrastbetonung zur Verdeutlichung; Ortner/ Ortner 1984 : 14 ). 2 Ausnahmen sind Fälle mit Präfix wie übersetzen , das je nach Akzent eine andere Bedeutung annimmt. Grzega ( 2004 ) berichtet außerdem von der Bedeutungsdifferenzierung in Fällen wie Spítzenpolitiker , Spítzen-Polítiker , wo die Differenzierung durch die Unterscheidung von einfachem und doppeltem Akzent statt von Akzent auf dem Grund- und dem Bestimmungswort hergestellt wird. <?page no="143"?> Unter den Adjektivbildungen wurden nur jene berücksichtigt, die zumindest auch als fest zusammengewachsen belegt sind: (8) Der Schwarznollen , dessen Variante Bim schwarzen Nollen erraten lässt, dass die Fügung auch noch frei flektierbar ist, wurde berücksichtigt, (9) Der Schwarze Hubel , der nur mit freiem Adjektiv belegt ist, bleibt dagegen unberücksichtigt. 5 Erste Auswertung Im Folgenden ergeben sich Abweichungen von 100 % durch Namen, für die mehrere Betonungen angegeben wurden. Insgesamt ergibt sich die Anzahl von 7021 aktuellen Namennennungen mit Akzentangaben. Von diesen Namenkomposita sind 4787 oder 68 . 2 % auf dem Erstglied betont. Das umfasst auch drei- und mehrgliedrige linksverzweigte Komposita mit komplexem linkem Teil, der nicht auf dem inneren Erstglied betont ist wie (10) Fridliswárt-Site . 2304 Namen oder 32 . 8 % der Namen tragen den Hauptakzent auf dem zweiten Namenglied. Hier gibt es teilweise rechtsverzweigte mehrgliedrige Namen mit komplexem rechtem Teil, dessen inneres Element den Akzent auf dem ersten Teil trägt wie (11) Fisi-Stíereberg . Insgesamt herrscht auch bei den Namenkomposita die Betonung des Erstglieds mit zwei Dritteln deutlich vor. Immerhin ein Drittel der Komposita sind aber auf dem Zweitglied betont. Nichtonymische Vergleichszahlen sind aufgrund der unbegrenzten Anzahl möglicher Komposita nicht verfügbar; die Betonung auf dem Bestimmungswort gilt aber so sehr als Standard, dass in Texten meistens nur einzelne Beispiele abweichender Betonung angeführt werden. Deutlicher wird die Abweichung von den nichtonymischen Verhältnissen, wenn man die Namen weiter gliedert. Für Fügungen mit Adjektiv im Erstglied gilt Betonung auf dem Zweitglied nicht als auffällig. Allerdings ist die Unterscheidung von Adjektiv und Substantiv nicht immer einwandfrei möglich: Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 143 <?page no="144"?> 144 This Fetzer (12) Ist ein Spítzacher ein ‚Acker bei oder mit einer Spitze (schweizerdeutsch Spitz )‘ oder ist es ein ‚spitzer Acker‘ mit dem homophonen Adjektiv (Idiotikon 1939 [Bd. 10]: 672-691)? Tatsächlich zeigt sich bei den insgesamt 704 (mutmaßlichen) Bildungen mit Adjektiv ( 10 . 0 % aller Namen) ein anderes Bild. Von ihnen weisen 336 oder 47 . 7 % Betonung auf dem Erstglied auf, 390 oder 55 . 4 % dagegen auf dem Zweitglied, also deutlich mehr als über alle Namen. Nach Ausschluss dieser Komposita bleiben 6385 Namen, deren Erstglied ein Substantiv, eine Personenbezeichnen, ein Ortsname oder (vereinzelt) ein Verbstamm ist ( 91 . 0 % aller Namen). Von diesen zeigen 4490 oder 70 . 3 % Betonung auf dem Erstglied und 1942 oder 30 . 4 % Finalbetonung. Dieses knappe Drittel der Namenkomposita mit Finalbetonung ist in seiner Häufigkeit auffällig und erklärungsbedürftig. 5.1 Erster Erklärungsansatz: Personnennamen im Erstglied Sozusagen Standard ist die Endgliedbetonung bei vielen alten Siedlungsnamen auf wil . Ihr Bestimmungswort nennt einen Gründer oder einstigen Besitzer (im Untersuchungsgebiet nur ganz ausnahmsweise in weiblicher Form). (13) Madiswíl z. B. wird zurückgeführt auf althochdeutsch Madalwaltes-wîlâri ‚Hofsiedlung des Madalwalt‘ (Hentschel/ Schneider/ Blatter 2008: 209-210; Kristol 2005: 559-560). Diese Orte gelten als Gründungen ungefähr des 8 . Jahrhunderts, ihre verbreitete Überlieferung setzt im 11 . Jahrhundert ein (Glatthard 1977 : 315 - 316 ). Die zahlreichen wil -Siedlungsnamen im Kanton Bern haben fast ausschließlich Finalakzent (Idiotikon 1999 [Bd. 15 ]: 1258 - 1261 ; Hentschel/ Schneider/ Blatter 2011 : LIX ). Davon abweichende Betonung ist wohl anzunehmen bei einigen Komposita mit eingliedrigem Personennamen, deren Grundwort auf bel bzw. mit der für Bern typischen l -Vokalisierung bu abgeschwächt ist wie am östlichen Kantonsrand mit (14) Huttu < Huttwil und (15) Lotzbu < Lotzwil . Von 14 im Datenmaterial erfassten Wil -Namen haben einzig zwei den Akzent auf dem Erstglied: <?page no="145"?> (16) Rápperswil und (17) Ríetu (amtlich Riedtwil ). Der Namentyp entspricht der Fügung, d. h. der Personenname steht ursprünglich im Genitiv. Mit Bach ( 1953 II / 1 : 46 ) kann man sagen, dass die Grundwortbetonung nur logisch ist, da sie aus einer ursprünglich freien Gruppierung wie ( 13 ) * bî Madalwaltes wîlâre ‚bei Madalwalts Hof ‘ o. ä. entstanden ist, in der der Genitiv in etwa dem Adjektiv von Adjektivkonstruktionen entspricht. Erstaunlich an der Betonung der Wil -Namen ist höchstens, dass sie sich auch in einer Zeit erhalten hat, als die Komposition längst nicht mehr durchsichtig war, und sogar heute noch Kraft erlangt. Obwohl das Wort appellativisch nicht mehr produktiv ist, kann es in späterer Zeit in nicht-appellativischem Sinn als eigentlicher Toponymizitätsmarker in Neuprägungen verwendet werden. Literarisch wandte das z. B. Jeremias Gotthelf an (Schweingruber 1990 : 110 ): (18) Küchliwyl , (19) Kuhwyl und (20) Nixiswyl . Reale Beispiele, die den Hauptakzent auffälligerweise ebenfalls auf wil tragen, sind (21) Seewíl und (22) Schattewíl , zwei Häusergruppen am südlichen Ufer des Bielersees, die erst nach der Seespiegelabsenkung im 19 . Jahrhundert entstanden. Das Muster Personenname mit betontem Grundwort trifft aber ebenso auf Toponyme zu, die sekundär aus Flurnamen entstanden sind und kein typisches Siedlungsnamengrundwort haben. Zum Vergleich werden Namen mit zwei dieser Grundwörter herangezogen. 59 Namen im Korpus haben im Erstglied mit einiger Sicherheit einen Personennamen, im Zweitglied Ried ‚Rodung‘ oder (etymologisch unverwandt und toponymisch in Verbindung mit einem Personennamen zumindest in der früheren Zeit wenig wahrscheinlich) ‚mit Schilf und Sumpfgras bewachsenes Land; Moor‘ (Idiotikon 1909 [Bd. 6 ]: 1729 - 1735 ) Beispiele dafür sind Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 145 <?page no="146"?> 146 This Fetzer (23) Meienríed , (24) Buttenríed und (25) Wínzenried . Ihre Überlieferung setzt ähnlich früh ein wie jene der Wil -Namen. Ganze 43 oder 72 . 9 % dieser Namen sind auf dem Zweitglied betont, nur 16 ( 27 . 1 %) auf dem ersten. Dazu kommen 35 Namen mit einem Personennamen im Erstglied und dem Zweitglied Schwand ‚Kahlschlag im Wald (Rodung durch Schälen, wodurch die Bäume zum Schwinden gebracht werden)‘ (Idiotikon 1929 [Bd. 9 ]: 1928 - 1934 ). Auch sie sind ähnlich früh belegt wie die wil -Namen; dazu gehören (26) Ätzlischwánd , (27) Henzischwánd und (28) Hérrenschwanden . 24 oder 68 . 6 % von ihnen sind auf dem Zweitglied betont, 12 oder 34 . 3 % auf dem ersten. Es lässt sich also feststellen, dass die Bildungsweise Personenname (im Genitiv) mit Grundwort eine starke Tendenz zur Grundwortbetonung aufweist. Toponyme erfüllen im Gegensatz zum Allgemeinwortschatz eine viel absolutere (lokale) Individuierungsfunktion. Derartige Komposita kommen daher im Allgemeinwortschatz kaum vor; vergleichbar wären vielleicht Komposita mit Eigennamen als Bestimmungswort, etwa Shakespeare-Preis ‚Preis, der nach Shakespeare benannt ist‘ (Ortner et al. 1991 : 117 ). Die Betonung des appellativischen Grundworts in einer Genitivfügung ist nur darum überraschend, weil die Determinierung bzw. Individuierung ja genau über die Erweiterung des Grundworts um einen Personennamen geschieht: ( 27 ) Henzischwánd ist eben ein ganz bestimmter Schwand . Solche Namen - soweit sie nicht sozusagen „onymisiert“ und damit dem Angleich an die allgemeinen Akzentverhältnisse enthoben sind - scheinen noch stärker als halbfreie Fügungen empfunden zu werden, wobei die Akzentverhältnisse nicht vom Alter der Namenbildungen abhängen, sondern Grundwortbetonung auch bei nur jung belegten Namen vorkommt. Die Zweitgliedbetonung in toponymischen Komposita mit Besitzernamen tritt auch in Verbindung mit weniger verbreiteten Appellativen bis in die Gegenwart auf. Allerdings ist in neueren Bildung oft nicht ganz klar, ob das Erstglied wirklich eine Personenbezeichnung ist, weil in jüngerer Zeit häufig die Genitivmarkierung fehlt: <?page no="147"?> (29) Ist das Spächtelóch ein ‚Ort, wo sich Spechte aufhalten‘ oder eine ‚Stelle, die einer Familie Specht gehört‘ (Idiotikon 1895 [Bd. 3]: 1016-1021; Idiotikon 1939 [Bd. 10]: 46-47)? (30) Das Bachvorschess ist tatsächlich nicht etwa die ‚untere Alpstufe am Bach‘, sondern die ‚untere Alpstufe der Familie Bach‘ (Idiotikon 1913 [Bd. 7]: 1371-1372). Von 415 Namen, die mit einiger Sicherheit einen Personennamen im Erstglied tragen, sind 311 mit weniger verbreiteten Grundwörtern gebildet. Darunter sind alte Bildungen wie (3) Wáhlendorf (erstbelegt 1305), aber auch jüngere wie (31) Kienersrűti (1626 noch Khueners guot zuo Ryti , 1676 dann Kienersrütte ) und (32) das nur aktuell belegte Wildsgúet . Bei neuen Prägungen lässt sich genau bestimmen, wem ein Name zu verdanken ist (Hentschel et al. unpubliziert): (33) Die Chasper-Ribeweid gehört(e) einem Kaspar Rieben , (34) das Scheuchzerhorn wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zu Ehren des frühaufklärerischen Naturwissenschaftlers Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) benannt, (35) der Gertrudspitz nach Gertrude Bell , die diese Spitze 1901 als Erste bestieg. Von diesen 311 Namen weisen 188 oder 60 . 5 % Betonung auf dem Personennamen auf, 125 oder 40 . 2 % auf dem Grundwort. Die im nichtonymischen Bereich übliche Betonung auf dem Bestimmungsteil ist hier also verbreiteter als bei den Namen mit den typischen Grundwörtern Wil , Ried , Schwand . Im Vergleich mit allen Namenkomposita ist der Anteil Namen mit Finalakzent dennoch erhöht. Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 147 <?page no="148"?> 148 This Fetzer 5.2 Zweiter Erklärungsansatz: rechts erweiterte/ postdeterminierte Namen Viele Namenkomposita im Untersuchungsmaterial sind drei-, selten auch mehrgliedrig, d. h. eines ihrer Elemente ist in sich schon komplex. Dabei ist es im Einzelfall schwierig zu entscheiden, ob ein Element als nichtonymisches Kompositum schon so fest gefügt (lexikalisiert) ist, dass es in Namenkomposita gar nicht mehr als komplexer Bestandteil, sondern als Simplex wahrgenommen wird (Kohler 1995 : 115 ). Ein Beispiel dafür ist die (36) Schuelhus-Matte . Auf formaler Ebene lassen sich drei- und mehrgliedrige Zusammensetzungen unterscheiden in links- und rechtsverzweigte Komposita (Ortner et al. 1991 : 15 ): Linksverzweigt sind Komposita mit komplexem linkem Element, an das rechts ein zusätzliches Wort angehängt wird (z. B. Naturholz-Fenster ), rechtsverzweigt solche mit komplexem rechtem Teil, an den links ein zusätzliches Element tritt (z. B. Marmor-Waschtisch ). Insgesamt sind im Korpus von Ortner et al. ( 1991 : 13 ) 11 . 8 % aller Substantivkomposita mindestens dreigliedrig, also sehr viel mehr als in der gesprochenen Alltagssprache. Linksverzweigte Komposita kommen bei Ortner et al. ungefähr dreimal so häufig vor wie rechtsverzweigte. Im vorliegenden toponymischen Korpus sind mehrgliedrige Komposita mit 771 von 7021 Namen oder 11 . 0 % ähnlich häufig. Von diesen sind 738 oder 95 . 7 % linksverzweigt wie (37) Salzacher-Wald . Nur 46 oder 6 . 0 % sind rechtsverzweigt wie (38) Sattel-Honegg . (Abweichung von 100 % ergeben sich aufgrund von viergliedrigen Namen, für die eine Entscheidung nicht möglich ist). Auf semantischer Ebene unterscheiden sich Determinativkomposita, bei denen ein Element das andere bestimmt, und Kopulativkomposita, bei denen kein solches Verhältnis feststellbar ist. 7 / 8 der (mehrheitlich zweigliedrigen) Substantivzusammensetzungen von Ortner et al. ( 1991 : 112 ) folgen dem Typ des rechtsköpfigen Determinativkompositums, bei dem ein semantisch und syntaktisch untergeordnetes Bestimmungswort das Grundwort näher bestimmt bzw. modifiziert: Ein Waldtier ist natürlich kein ‚Wald‘, sondern ein ‚Tier‘, und <?page no="149"?> zwar ein ‚Tier, das im Wald lebt‘, wobei das Element Wald betont wird, weil es die Spezifizierung anzeigt. Die umgekehrte Möglichkeit der Linksköpfigkeit bzw. Postdetermination (Donalies 1999 : 323 ) ist mit 0 . 2 % sehr viel seltener (Beispiel Jahrzéhnt ‚zehn Jahre‘, bezeichnenderweise mit Akzent auf dem hier rechts gelegenen Determinativelement). Demgegenüber stellt Donalies ( 1999 ) die Möglichkeit postdeterminierter Komposita grundsätzlich in Frage und zweifelt die entsprechende Argumentation von Ortner et al. (mittels Weglassprobe, Paraphrasierung und kontextueller Einbettung, aber ohne Hinweis auf die Akzentverhältnisse) an. Von Interesse für die Akzentverhältnisse sind nun die linksverzweigten Toponyme. Ausgeschlossen werden Komposita, deren komplexes Element für sich allein nicht als Toponym stehen könnte. (39) Der alpinistisch bekannte Früestücksplatz am Wildstrubel fällt also außer Betracht. Dies ist allerdings schwer zu entscheiden; z. B. ist die metaphorische Übertragung von Körper- und Kleidungsstücken auf die Form von Landstücken geläufig. (40) Es ist toponymisch also denkbar, dass anstelle des Hosebändelrieds nur der Name Hosebändel stünde. Von der Betrachtung ebenfalls ausgeschlossen werden mehrgliedrige Komposita, wenn das komplexe Element nur eine mehrgliedrige Personenbezeichnung ist. Nicht mehr unterschieden wird hier nach der Bildungsweise des inneren Kompositums mit Adjektiv oder Substantiv/ Toponym/ Personenname: Soweit eine Fügung mit Adjektiv zum komplexeren Teil eines erweiterten Kompositums wird, handelt es sich ja ohnehin um ein Substantiv. (41) Der Breitstei-Acher mit dem inneren Kompositum Breitstei wird gleich behandelt wie die (42) Rinderboden-Egg mit dem inneren Kompositum Rinderbode . Ganze 621 oder 84 . 1 % der 738 entsprechenden Namen kommen auch in einer zweigliedrigen Form vor wie (43) Soleggwald und Solegg . Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 149 <?page no="150"?> 150 This Fetzer Die meisten dreigliedrigen Namen sind also als echte Erweiterungen weniger komplexer Namen durch Anfügen eines zusätzlichen Elements rechts anzusehen (dagegen sind nur wenige dreigliedrige Namen Erweiterung mittels Erhöhung der Komplexität auf der linken Seite wie (38) Honegg > Sattel-Honegg . Eine Schwierigkeit bei diesen Namen besteht darin, dass die so angefügten Wörter teilweise eher fakultativen Charakter haben: (44) Statt Schwarzwaldálp könnte man auch einfach Schwarzwald sagen; Schwarzwaldálp ist hier also weniger als Erweiterung denn als Verdeutlichung zu verstehen. Tatsächlich dürften auch die meisten Namen, für die das nicht belegt ist, ursprünglich auch in einfacherer Form vorgekommen sein. (45) Die Siechehusmátt bezieht sich mit Sicherheit auf ein einstiges Siechenhaus , auch wenn Belege für dieses fehlen. Von den 738 linksverzweigten komplexen Komposita sind 296 oder 40 . 1 % auf dem sekundären bzw. absoluten Endglied betont. Auch wenn das nur unwesentlich mehr sind als die oben angegebenen 32 . 8 % aller Namen im Korpus, sind diese Akzentverhälttnise auffällig: Möglicherweise handelt es sich bei den zusätzlichen rechten Elementen teilweise nicht um Grundwörter, sondern um untergeordnete Determinativelemente (Bestimmungswörter). (46) Damit wäre der Tannschachebérg eher als ‚Teil des Tannschache, der ein Berg ist‘ zu verstehen denn als der ‚Berg, der beim Tannschache liegt‘. Diese mögliche Postdetermination entspräche der aus dem nichtonymischen Bereich bekannten Determination (Bach 1953 II / 1 : 48 spricht von Differenzierung) mittels Anfügen eines Elements links. Diese ist in der Toponymie mittels Adjektiven ebenfalls verbreitet: (47) ’Ober - und Níderschönègg in Burgistein sind als Erweiterungen eines vorauszusetzenden Namens * Schönégg zu verstehen. <?page no="151"?> Ein genauerer Blick soll das Bild verfeinern. Dabei muss das Untersuchungsmaterial noch einmal eingeschränkt werden: Es werden vorderhand nur noch Namen aus den Gemeinden der ehemaligen Amtsbezirke Trachselwald und Signau betrachtet, also des Hügel- und Vorgebirgslands im oberen und mittleren Emmental. Insgesamt umfasst die Sammlung dieser Gegend 553 Namenkomposita, wobei jetzt zweiwie mehrgliedrige Toponyme einfließen. 229 der 553 Namen sind auf dem linken Glied der äußersten Komposition betont ( 41 . 4 %), 330 auf dem rechten ( 59 . 7 %). Es zeigt sich ein deutlicher regionaler Effekt: In dieser Gegend wird generell die Mehrheit der Komposita auf dem rechten Element betont! Von diesen 553 Namen haben 201 oder 36 . 3 % ein linkes Element, das für sich allein kein Toponym sein kann, also das Determinativelement sein muss: einen Personennamen, ein Adjektiv oder ein offensichtlich nichttoponymisches Substantiv wie etwa einen Tiernamen. Beispiele sind (48) Sunnsite und (49) Chalthüttli : Sunn(e) ‚Sonne‘ kann allein natürlich ebenso wenig Toponym sein wie chalt ‚kalt‘ (Idiotikon 1895 [Bd. 3 ]: 239 - 241 ; Idiotikon 1913 [Bd. 7 ]: 1091 - 1099 ; Ausnahmen bestehen bei Personennamen, die teilweise auch im Simplex als Toponyme verwendet werden, sowie Tiernamen, die als Namen von Berggipfeln vorkommen). Von diesen 201 Namen sind 123 oder 61 . 2 % auf dem linken Glied betont, 80 oder 39 . 8 % dagegen auf rechten. Die Mehrheit der Namen, deren Determinativelement eindeutig links liegt, hat also die vom nichtonymischen Wortschatz her bekannten Betonungsverhältnisse: Das determinierende Bestimmungswort wird betont. Das Grundwort, das allein ein Name sein könnte, scheint um dieses Bestimmungswort erweitert. 352 oder 63 . 7 % der 553 Namen haben dagegen ein linkes Element, das für sich allein stehen könnte wie (50) Hübelischache , der auch in der einfacheren Variante Hübeli vorkommt, und (5) Schwarzebachberg , der beim Schwarzebach liegt. 250 dieser Namen, das sind 71 . 0 %, sind auf dem rechten Element betont, 106 oder 30 . 1 % auf dem linken. Bei diesen Namen sind die Betonungsverhältnisse also weitgehend umgekehrt zu jenen der Namen, für die eine solche Kürzung nicht denkbar ist. Gliedert man diese 352 Namen nach zwei- und mehrgliedrigen Komposita auf, ergibt sich folgendes Bild: Von den 223 zweigliedrigen Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 151 <?page no="152"?> 152 This Fetzer Namen sind 35 . 0 % ( 78 Namen) auf dem ersten und 65 . 0 % ( 145 Namen) auf dem zweiten Element betont. Von den 129 drei- und mehrgliedrigen sind noch 22 . 5 % ( 29 Namen) auf dem ersten und 81 . 4 % ( 105 Namen) auf dem zweiten Element betont. Das heißt, je komplexer das Kompositum, dessen Erstglied allein als Toponym stehen könnte, desto wahrscheinlicher wird es auf dem rechten Teil des äußersten Kompositums betont. Noch deutlicher wird das Bild für jene Namen, die tatsächlich auch in der Variante ohne das rechte Element belegt sind. Räumliche Nähe der beiden Varianten stellt sicher, dass tatsächlich ein Zusammenhang zwischen ihnen besteht. Dieses Kriterium kann in einzelnen Fällen weniger wichtig sein, etwa bei der (51) Spittelmatte , die als Besitz eines Spittels natürlich auch entfernt von diesem einstigen Spital liegen kann. Beispiele solcher sicherer Namenpaare sind (52) der Rönnlewald bei der Rönnle und (53) der Sädelgrabe beim Sädel . Von 223 zweigliedrigen Toponymen sind 76 auch um das rechte Element gekürzt belegt. Das sind nur 34 . 1 % dieser 223 Namen. Nur in Ausnahmefällen tritt umgekehrt das Grundwort auch ohne Bestimmungwort auf: (54) Die Riedmatt stellt sich zur Matt . Anders dagegen bei den drei- und mehrgliedrigen Toponymen: Von den 129 linksverzweigten Namen ist die um das rechte Element gekürzte Variante nur für sechs nicht belegt. D. h. für 95 . 3 % der rechts erweiterten komplexen Komposita ist die kürzere Variante aktuell belegt. Über zwei- und mehrgliedrige Komposita zusammen bilden 199 von 353 Namen Paare mit Namen, die um das rechte Element gekürzt sind. Diese 56 . 4 % der Namen, die offensichtlich echte Erweiterungen sind, rechtfertigen die Annahme, Grundwörter würden zur spezifizierenden Erweiterung an bestehende Namen angehängt. Das Verhältnis zwischen der Erweiterung eines Simplexnamens um ein zusätzliches Element rechts und jener um ein Element links entspricht natürlich ganz und gar nicht dem nichtonymischen Verhältnis, das von Ortner et al. ( 1991 : 112 , s. o.) ja über alle (also Determinativwie Kopulativkomposita) mit 7 / 8 zu 0 . 2 % angegeben wird. Das ist aber auch nicht überraschend: Die meisten der <?page no="153"?> Grundwörter, die hier vorkommen, sind so simpel, dass sie als alleinstehender Name ganz ohne Aussagekraft wären. (55) Die Säfeneflue in Gsteig kann kaum eine Erweiterung eines Namens * Flue sein, weil dieses Appellativ mit der Bedeutung ‚Felswand‘ (Idiotikon 1881 [Bd. 1]: 1184-1186) in diesem alpinen Gebiet auf sehr viele Gebiete zuträfe und der Name damit seine Funktion der Individuierung verlöre; hingegen kann der Name eine Erweiterung des Namens Säfene sein. (56) In der Rebbaugemeinde Ligerz sind an die 30 Namen mit dem Zweitelement Rëbe ‚Rebe‘ (Id. 1909 [Bd. 6]: 37-42) belegt; keiner von ihnen erfüllte ohne ein Erstglied seinen Zweck der individuierenden Identifizierung. Auch wenn schon eingangs deutlich wurde, dass sich die Verhältnisse im Emmental vermutlich von jenen anderswo unterscheiden, machen die Zahlen deutlich: Rechts angefügte Elemente sind ein toponymisch verbreitetes Mittel, Namen zu erweitern und zu spezifizieren. Ebenso wie erweiternde Elemente zwecks Spezifizierung links eines Worts in nichtonymischen Komposita den Akzent anziehen (zum Bógenfenster gesellt sich das genauer bestimmte Spítzbogenfenster ), sind es in der Toponymie tendenziell die erweiternden Elemente rechts. Interessant sind nun die Akzentverhältnisse der Namen, die tatsächlich auch kürzer belegt sind. Von 76 zweigliedrigen Namen weisen 10 ( 13 . 2 %) den Akzent links auf, 66 ( 86 . 8 %) rechts. Von 149 zweigliedrigen Namen ist dagegen Kurzversion ohne rechtes Element belegt. Von diesen sind 70 ( 47 . 0 %) links betont, 79 ( 53 . 0 %) rechts. Von 123 dreigliedrigen Namen, die aktuell auch in kürzerer Variante belegt sind, weisen 25 ( 20 . 3 %) Akzent auf dem linken Element auf, 101 ( 82 . 1 %) auf dem rechten. Die Anzahl der Namen, die gekürzt nicht belegt sind, ist zu gering, um eine Aussage zu machen. Von allen 199 gekürzt belegten Namen tragen 35 ( 17 . 6 %) den Akzent auf dem linken Element, 167 ( 83 . 9 %) auf dem rechten. Wird ein Namenkern um ein Element auf rechter Seite erweitert, um ihn von anderen Namen im gleichen Bereich abzugrenzen und zu spezifizieren, ist es naheliegend, die Betonung auf dieses unterscheidende Element zu legen. Häufig bilden sich um einen Kern ganze Cluster von Namen, deren gemeinsamer Kern links liegt. In manchen dieser toponymischen Gruppen ist der vorauszusetzende Kernname gar nicht belegt: (57) Der Schlapbachwald und der daneben gelegene Ort Schlapbach setzen ein Simplextoponym * Schlatt voraus. (58) Seiliacher und Seilimatte lassen eigentlich ein * Seili erwarten. Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 153 <?page no="154"?> 154 This Fetzer Einzelne Fälle lassen außerdem vermuten, dass das angefügte Grundwort nicht stabil ist, sondern seinen appellativen Charakter halbwegs bewahrt. (59) So ist zu vermuten, dass Schneggenféld und Schneggenmátten in Utzenstorf denselben Bereich bezeichnen wie der nur historisch belegte Name Schneggenzelg . Diese linguistische wie geografische Gruppenbildung oder Clusterung um einen Kernnamen tritt im nichtonymischen Wortschatz naturgemäß nicht auf. In diesem Clustern könnte tatsächlich die Markierung oder Determinierung im rechten Element stattfinden, d. h. diese Namen wären linksköpfig, wobei die toponomastisch ohne Rücksicht auf die semantische Struktur bzw. die Determinationsverhältnisse gebräuchlichen Bezeichnungen Grund- und Bestimmungswort dann durch linkes und rechtes Kompositionselement ersetzt werden müssten. (60) Der Rindsbachgrábe wäre also tatsächlich zu verstehen als der ‚Teil des Rindsbachs, der ein Graben ist‘, nicht als der ‚Graben beim Rindsbach‘, und der Rindisbachwáld als der ‚Teil des Rindsbachs, der ein Wald ist‘, (45) Siechehusmátt als ‚Teil des Siechenhausguts, das eine Wiese ist‘, nicht als ‚Wiese beim Siechenhaus‘ (Idiotikon 1901 [Bd. 4]: 548-549). Durch die Interpretation der rechten Erweiterung als Determinativelement lässt sich der auffällige Unterschied zwischen toponymischem und nichtonymischem Sprachgebrauch verkleinern: Die beiden Bildungsweisen von Erweiterung unterscheiden wohl in der Position des untergeordneten Determinativelements (toponymisch Linksköpfigkeit, appellativisch Rechtsköpfigkeit), nicht aber darin, dass es den Hauptakzent trägt. Dieses Verständnis der Linksköpfigkeit beruht im Gegensatz zu jener etwa von Ortner et al. ( 1991 ) nicht primär auf einer inhaltlichen Interpretation der Komposita, sondern auf der Beobachtung der auffälligen Häufigkeit der Erweiterung bestehender Namen um ein rechtes Element und der Tatsache, dass diese zusätzlichen Wörter - wie für Determinationselemente üblich - den Hauptakzent tragen (was von Ortner et al. 1991 für ihr Korpus gar nicht thematisiert wird). Zumindest für den toponymischen Bereich ist also Donalies’ ( 1999 ) Ablehnung von postdeterminativen Komposita in Frage zu stellen. Lehnt man dagegen die Interpretation dieser Komposita mit betontem rechtem Element als grundwortdeterminierte Komposita ab, wären die Akzentverhältnisse allenfalls als konstante Kontrastbetonung (( 60 ) Rindisbachwáld ‚Wald <?page no="155"?> beim Rindsbach‘ im Gegensatz zum Ríndsbach selbst und zum Rindsbachgrábe ‚Graben beim Rindsbach‘), was aber doch fraglich scheint. Allerdings ist die Rechtserweiterung als Determinativelement natürlich kein zwingendes Argument: (61) Beispielsweise heißt eine Namengruppe Rindertal (ohne Angabe des Akzents), Rindertalgráetli , Ríndertalflöe , Rindertalchälen , also mit schwankendem Akzent, der nicht systematisch genutzt wird. (62) Ähnliches gilt für Wallig [ Wallegg , d. h. wohl Wállegg ] mit den zugehörigen Namen Walégggrabe , Wáleggmad . Noch anzumerken ist, dass toponymische Clusterung auch mittels Personenbezeichnungen stattfinden kann: (63) Die Toponyme Hünigerberg , Hünigerschűrli und Hünigersúnnberg bezeichnen alle einstigen Besitz einer Familie Hünig(er) . Geografische Nähe der Namen ist in diesem Fall natürlich keine Bedingung. 5.3 Dritter Erklärungsansatz: Übertragung der Finalbetonung auf typisch toponymische Appellative/ Topofixe Manche Appellative kommen in Toponymen besonders häufig vor: Sie eignen sich gut, um Struktur oder Nutzung von Landstücken zu beschreiben. Entsprechende Namen sind oft ohne dieses Element genauso gut identifizierbar. So wird nicht unterschieden zwischen (64) Schallersbaumacher und Schallersbaum , und (65) der Schmidseggwald beim Hof Schmidsegg wird auch wie dieser nur Schmidsegg genannt. Das Auftreten solch typisch toponymischer Appellative nimmt Benware ( 2012 : 400 - 401 ) zum Anlass, sie als eigene Gruppe anzusprechen und sie statt wie in der Toponomastik üblich Grundwörter „Topofixe“ zu nennen. Er weist anhand von Namen mit dem Zweitelement See in Brandenburg und solchen mit Berg in Oberösterreich nach, dass Topofixe regional standardmäßig den Akzent tragen können. Nübling ( 2005 : 30 ) und Mangold ( 1995 : 409 ) nennen daneben Siedlungsnamen auf hausen , die den Hauptakzent auf dem Grundwort tragen. Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 155 <?page no="156"?> 156 This Fetzer Auch im Berner Untersuchungsgebiet gibt es Zweitglieder, die den Akzent geradezu anzuziehen scheinen. Warum wird Egg ‚spitzig vorstehende Anhöhe, vorspringendes Hügelende; dachähnlicher Ausläufer eines Bergs und darunter liegende Halde; langgestreckte Hochebene‘ (Idiotikon 1881 [Bd. 1 ]: 155 - 157 ; Zinsli 1946 : 317 ) betont? 194 der Namen im Korpus weisen Egg als Letztelement eines zweigliedrigen oder eines linksverzweigten mehrgliedrigen Kompositums auf. Von diesen ist für 105 Namen eine Kürzung um das Element Egg denkbar und für 39 ( 37 . 1 %) tatsächlich belegt, nämlich für 22 von 86 zweigliedrigen Namen ( 25 . 5 %) und für 17 von 19 mehrgliedrige ( 89 . 5 %). Für die übrigen 89 Namen ( 45 . 9 %) ist eine um dieses Element gekürzte Variante ausgeschlossen, weil der Bestimmungsteil eine Personenbezeichnung, ein Tiername oder ein ganz untoponymisches Substantiv wie Sonne ist (vgl. oben): (66) Das Windéggli liegt sicher nicht bei einem Ort namens * Wind . Von den gesamthaft 194 Namen sind 91 ( 46 . 9 %) auf dem linken Element betont ( 80 oder 44 . 4 % der zweigliedrigen und 11 oder 8 . 8 % der mehrgliedrigen), 114 ( 58 . 8 %) auf dem rechten ( 100 oder 55 . 6 % der zweigliedrigen und 114 oder 91 . 2 % der mehrgliedrigen). Das sind deutlich mehr als die 40 . 1 % aller 738 linksverzweigten komplexen Komposita (s. oben; wobei natürlich zu beachten ist, dass in jene Zahl nur mindestens dreigliedrige Komposita einflossen, hier aber auch zweigliedrige). Ein Grund für diese von Namen mit anderen rechten Elementen abweichenden Akzentverhältnisse dürfte die schon im letzten Abschnitt behandelte Erweiterung auf der rechten Seite zwecks genauerer Bestimmung oder Spezifizierung sein. Egg eignet sich besonders, um bestehende Namen zu erweitern. Aber selbst von den 89 Namen, die ohne Egg nicht als Toponym stehen könnten (die also sicher keine Erweiterung sind), sind 55 ( 61 . 8 %) auf ebendiesem Wort betont, nur 39 ( 43 . 8 %) auf dem linken Element. Ein weiterer Grund für diese Akzentverhältnisse dürfte darin liegen, dass Egg häufig mit einem Adjektiv im Bestimmungswort in Form einer Fügung verbunden wird. 44 von 194 Egg - Namen sind mit Adjektiven gebildet ( 22 . 6 %), darunter die mehrfach belegten Namentypen (47) Schön(en)egg und (67) Rot(en)egg . Im Vergleich dazu kommen Adjektivbildungen über alle 7021 Namen 702 mal vor, also nur mit 10 . 0 % Häufigkeit. <?page no="157"?> Es bleibt aber eine schwer zu erklärende Häufigkeit der Betonung auf diesem Namenelement. Es scheint denkbar, dass so typisch toponymische Appellative wie Egg (die außerhalb toponymischer Themen auch wenig Gebrauchsmöglichkeiten zeigen) durch eine Verallgemeinerung der Tendenz, sie im Fall einer spezifizierenden Erweiterung auf rechter Seite ebenso wie in der Adjektivfügung betont auszusprechen, mit der Zeit unabhängig von der tatsächlichen Komposition den Akzent anzuziehen begonnen haben. Dies stellt Benware ( 2012 : 397 ) für seine Untersuchungsgebiete fest und erklärt es als Analogiebildung, die mit einer Desemantisierung des Elements in Verbindung steht, das letztlich nur noch als Toponymizitätsmarker diene ( 2012 : 426 ). (68) Nur so lässt sich z. B. der mehrfach belegte Name Sunnégg erklären. Ähnliche Ergebnisse könnten sich auch ergeben beim Vergleich weiterer typisch toponymischer Appellative wie schweizerdeutsch Matt(e) ‚Wiese‘, Grabe(n) , Bode(n) (Idiotikon 1885 [Bd. 2 ]: 678 - 680 ; Idiotikon 1901 [Bd. 4 ]: 548 - 549 , 1020 - 1029 ). Dagegen gibt es auch typische Appellative, auf die das eindeutig nicht zutrifft. Die von Benware ( 2012 : 426 ) konstatierte Grundwortbetonung von Berg trifft für Bern kaum zu. Dieses Grundwort weist hier häufig nur noch silbisches r statt voller Vokalisierung auf (Hentschel/ Schneider/ Blatter 2008 : 221 - 224 ), vergleichbar dem von Kaufmann ( 1977 : 67 ) konstatierten lautlichen Verfall typisch toponymischer Grundwörter, die nur noch die Funktion der Siedlungskennzeichnung haben (wie wie heim > om , um , em (Schwa), en , e ). 5.4 Vierter Erklärungsansatz: Finalbetonung als verallgemeinerter Marker der Toponymizität? Es bleiben Namenkomposita übrig, die weder Fügungen mit einer Personenbezeichnung oder einem Adjektiv im Bestimmungsteil noch Erweiterungen eines bestehenden Namens um ein zusätzliches rechtes Element sind, die auch kein typisches toponymisches Grundwort aufweisen und dennoch den Hauptakzent auf dem letzten Element tragen. (69) Zur Ramsláuenen gibt es kein Simplex mit dem Pflanzennamen Rams ‚Bärlauch‘ (Idiotikon 1909 [Bd. 6]: 955-956). (70) Bei der Rewág , einer Stelle, die ursprünglich ein Widerwasser beim Zusammenfluss von Aare und Saane bezeichnete ( Waag ‚Wasser in Bewegung‘; Idiotikon 1999 [Bd. 15] : 662-667), ist das Bestimmungswort ganz unklarer Herkunft (Hentschel et al. unpubliziert). Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 157 <?page no="158"?> 158 This Fetzer Die einzig mögliche Erklärung für die Akzentverhältnisse solcher Namen scheint zu sein, dass dieser Akzent sich ausgehend von den oben beschriebenen Fällen gewissermaßen verselbständigt hat und auf andere Arten mehrgliedriger Toponyme übertragen wurde, ganz unabhängig von ihrer Bildungsweise und den außersprachlichen Bedingungen wie Clusterbildung. Es würde vielleicht zu weit führen, von einem eigentlichen Marker für Toponymizität zu sprechen oder von einem Prozess der Onymisierung von Wörtern, die ursprünglich onymisch wie appellativisch interpretierbar waren. Immerhin stellt aber schon Kuryłowicz ( 1956 , zit. nach Benware 2012 : 401 ) fest, dass die Betonung ein Merkmal sei, mit dem sich je nach Sprache zwischen Appellativa und Propria unterscheiden lasse, und Nübling ( 2005 : 29 ) weist - insbesondere anhand von Personennamen wie schwedisch Mankéll und deutsch Áufderheide - nach, dass eine Akzentverschiebung geradezu onymische Markierung anzeigen könne. Nübling verweist außerdem auf die Akzentverhältnisse bei typisch toponymischen Elementen, die selbst bei Fantasienamen wie (71) Entenháusen angewendet werde. Benware ( 2012 : 400 ) weist schließlich darauf hin, dass Propria und Appellative im mentalen Lexikon unabhängig verarbeitet werden, was einem Toponymizitätsmarker zusätzliche Wahrscheinlichkeit verleiht. Dass es sich dabei jedoch nicht um ein allgemein gültiges Prinzip handelt, zeigt schon der Blick auf Namencluster: (72) Zum Schloss Rállige , auch Rálligschloss , stellen sich als erweiterten Namen Rallighólz , Rálligmatte und Rálligstöck , von denen nur einer abweichenden Akzent aufweist. (73) Und im Sinn der spezifizierenden Erweiterung würde es sich geradezu anbieten, dass der neben dem Séerain gelegene Séerainwald auf dem Grundwort betont wäre. (74) Dagegen weisen die beiden benachbarten Namen Díckried und Grossríed unerklärlicherweise abweichende Akzentverhältnisse auf. Dagegen sprechen auch zwei Varianten für einen einzigen Namen wie (75) Móusisried und Mousisríed oder (76) Schwaderéy und Schwáderey , <?page no="159"?> ebenso das Nebeneinander zweier (räumlich getrennter) Namen desselben Typs in einer Gemeinde mit unterschiedlichem Akzent wie (77) Róssbode und Rossbóde . Ganz zu schweigen davon, dass Initialwie Finalbetonung natürlich auch situativ im Sinn der Kontrastbetonung verwendet werden können: (78) Von zwei parallel dokumentierten Formen für einen Namen ist Seewségg wohl als ‚das Gelände beim Grimselsee, das Eggform hat‘ zu verstehen, während Séewsegg wohl ‚die Egg, die beim Grimselsee und nicht anderswo liegt‘ ist. Tendenziell keine Finalbetonung weisen auch Namen auf, deren rechtes Element zwar in anderen Namenkomposita betont ist, die im aktuellen Fall aber auch gesamthaft als nichtonymisches Kompositum aktualisierbar sind. Beispielsweise ist Scháttsite ‚Schattenseite‘ (Idiotikon 1920 [Bd. 8 ]: 1457 - 1458 ) auch außerhalb der Toponymie verwendbar und es fehlen daher Namenbelege der Art Schattsíte . Solche Namen wären von der Analyse als Komposita wohl eher auszuschließen, weil es sich vermutlich um lexikalisierte Elemente handelt. Die Schmálzgruebe ist eine metaphorische Benennung mit einem Wort aus der Lutherbibel, das hier ‚fettes, fruchtbares Land‘ bedeutet. Auch hier liegt ein lexikalisiertes Element vor, was den Namen unterscheidet vom (79) Schmalzbóde , in dessen Namen Schmalz ‚tierisches Fett‘ metaphorisch ebenfalls für ‚saftige Wiese, fetter Boden‘ steht, aber eben auch allein analysierbar ist (Idiotikon 1929 [Bd. 9 ]: 937 - 949 ). Insgesamt dürfte es aber nicht verfehlt sein, von einer Tendenz der Toponymizitätsmarkierung mittels Grundwortbetonung zu sprechen, wobei vielleicht weniger eine konstante Grundwortbetonung als eine gewisse Flexibilisierung der Akzentverhältnisse anzusetzen ist. 5.5 Zur regionalen Ausbreitung Allerdings gibt es dabei regionale Unterschiede, wie ein Vergleich der Namen aus den ehemaligen Ämtern Signau und Trachselwald mit einigen weiteren Gemeinden zeigt. Als erstes Vergleichsgebiet dient das ehemalige Amt Fraubrunnen westlich des nördlichen Emmentals in einem Gebiet, das weniger gebirgig ist als das obere und mittlere Emmental, aufgrund seiner Hügellage abseits der Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 159 <?page no="160"?> 160 This Fetzer Hauptverkehrswege aber dennoch vergleichbar. Das zweite Vergleichsgebiet besteht aus den beiden Gemeinden Kandersteg und Lenk im gebirgigen Berner Oberland. Das dritte Vergleichsgebiet liegt im Berner Seeland und umfasst das ehemalige Amt Erlach am Westufer des Bielersees sowie die Gemeinden Ligerz und Tüscherz-Twann am Nordufer des Sees direkt an der Sprachgrenze. Das vierte Vergleichsgebiet entspricht dem ehemaligen Amt Saanen in der Südwestecke des Kantons. Der Vergleich des Akzents über alle Namen dieser Regionen einerseits und über die tatsächlich um ein rechtes Element erweiterten Namen (gegliedert nach Komplexitätsgrad) andererseits ergibt folgendes Bild: Region Namen total tatsächlich rechts erweitert zweigliedrig mehrgliedrig total Akzent: BW Akzent: GW Akzent: BW Akzent: GW Akzent: BW Akzent: GW Akzent: BW Akzent: GW Emmental (Signau, Trachselwald) 554 76 von 223 = 34.1 % 123 von 129 = 95.3 % 199 von 353 = 56.4 % 41.4 % 59.7 % 13.2 % 86.8 20.3 % 82.1 % 17.6 % 83.9 % Fraubrunnen 168 30 von 109 = 27.5 % 7 von 16 = 43.8 % 37 von 125 = 29.6 % 68.5 % 34.5 % 60.0 % 40 % 85.7 % 14.3 % 64.9 % 35.1 % Kandersteg, Lenk 133 35 von 80 = 44.3 % 21 von 25 = 84.0 % 56 von 104 = 53.8 % 76.0 % 24.8 % 85.7 % 14.3 % 61.9 % 38.1 % 76.9 % 23.2 % Seeland 205 56 von 130 = 43.1 % 19 von 24 = 79.2 % 75 von 153 = 49.0 % 73.1 % 26.8 % 89.2 % 10.7 % 78.9 % 21.1 % 86.7 % 13.3 % Saanen 148 27 von 84 = 32.1 % 9 von 15 = 60.0 % 36 von 99 = 36.9 % 79.7 % 20.3 % 81.5 % 18.5 % 66.7 % 33.3 % 77.8 % 22.2 % <?page no="161"?> Ohne Unterscheidung der Namenzusammensetzung ist im Emmental die Mehrheit der Namenkomposita auf dem letzten Element betont. Keine andere Region erreicht auch nur annähernd hohe Zahlen, nirgends machen die entsprechend betonten Komposita mehr als ein Viertel bis ein Drittel aus. Der Unterschied lässt sich nicht dadurch erklären, dass im Emmental ein besonders großer Teil der Namen tatsächlich Erweiterungen weniger komplexer Namen sind: Kandersteg und Lenk haben praktisch den gleichen Anteil erweiterter Namen, und auch im Seeland ist er kaum geringer. Die nachweislich erweiterten Namen werden aber nur im Emmental zu vier Fünfteln auf der Erweiterung betont, während dieser Wert im Seeland bei nur ungefähr einem Achtel aller erweiterten Namen liegt. Über die Gründe dafür lässt sich nur spekulieren. Das ländliche Emmental gilt als Ursprung der sich bis heute ausbreitenden westschweizerdeutschen Eigenheit der l -Vokalisierung (Haas 1973 : 68 , Anm. 17 ; Christen 2001 ). Ob sich daraus aber ableiten lässt, das Emmental übernehme mit dem Finalakzent als Toponymizitätsmarkierung erneut eine Vorbildfunktion und diese werde sich in Zukunft weiter ausbreiten, ist fraglich. Ein Zusammenhang könnte eher bestehen zwischen dem Zeitpunkt des Sprachwechsels und der Finalbetonung: Während im Emmental voralemannische Besiedlungsspuren praktisch fehlen und entsprechende Substratnamen auch in Fraubrunnen sehr selten sind, nehmen sie in Kandersteg und an der Lenk zu und machen am Bielersee und in Saanen einen relativ großen Anteil aus. Für ein eng umgrenztes Gebiet im St. Galler und Liechtensteiner Rheintal weist Stricker ( 1976 ) nach, dass der Sprachwechsel in einem Zeitfenster ungefähr im 13 . Jahrhundert dazu führte, dass die dortigen auffälligen rätoromanischen Namen mit vom Alemannischen abweichenden Akzentverhältnissen sehr häufig eine agglutinierte alemannische Präposition aufweisen. Diese weist einen Nebenakzent auf und trägt so zu einem Ausgleich der Akzentverhältnisse bei. Dazu gehört z. B. der Name Isisíz < alemannisch in + rätoromanisch * Sisítz < lateinisch saxum ‚Fels‘ + îceu / îtiu / ittu + s oder + rätoromanisch * Sasétz < lateinisch super ‚über‘ + saxum ‚Fels‘ + s (Stricker 1974 : 162 - 165 ). In Gegenden mit späterem Sprachwechsel blieben dann die romanischen Akzentverhältnisse erhalten. Da im Berner Untersuchungsgebiet der Sprachwechsel jedoch fast überall vor dem 13 . Jahrhundert und in vordokumentarischer Zeit anzusetzen ist, dürften die alemannischen Akzentverhältnisse ohne Umweg über die Agglutination übernommen worden sein (vgl. Glatthard 1977 : 127 - 176 ). Tatsächlich weisen romanische Substratnamen hier fast durchgehend alemannische Erstsilbenbetonung auf, wie die folgenden Beispiele zeigen: Toponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt 161 <?page no="162"?> 162 This Fetzer (80) Sáanen für die Gemeinde und Landschaft direkt an der Sprachgrenze sowie für den gleichnamigen Fluss Saane , romanisch Sarine , der die Sprachgrenze mehrfach quert, < * Sanona ‚Sumpfbach‘ oder ‚tobender Bach‘ (Kristol 2005: 775-776; Hentschel et al. unpubliziert). (81) Die Gemeinde Műntschemier zwischen Bieler- und Neuenburgersee < romanisch * Monte Camérii o.Ä. ‚Berg des Camerius‘ (Kristol 2005: 630; Hentschel/ Schneider/ Blatter 2008: 379-380; Besse 1997: 210). (82) Die Gemeinde Sáfnern östlich des Bielersees < romanisch * Sabinária ‚Stinkwacholdergestrüpp‘ (Kristol 2005: 779; Hentschel et al. unpubliziert). (83) Die Schafweide Práttels in Kandersteg < romanisch * pradéllas o. ä. ‚Wiese(n)‘ (Hentschel/ Schneider/ Blatter 2011: 509-511; Glatthard 1977: 95, 276) (84) Die Gemeinde Wíchtrach im Aaretal zwischen Bern und Thun < romanisch * Victoriácum o. ä. ‚Landgut des Vitorius o. ä.‘ (Kristol 2005: 650, 672; Besse 1997: 734). (85) Die Gemeinde Rűtschelen im Schweizer Mittelland im östlichen Kanton Bern < romanisch * rivuscéllum ‚kleiner Bach‘ (Kristol 2005: 774; Hentschel et al. unpubliziert). Eine Aussage zum Einfluss des Sprachwechsels auf die hiesigen Akzentverhältnisse ist kaum möglich, auch wenn der Gedanke verlockend ist, die Sprecherinnen und Sprecher in Sprachwechselgebieten könnten die für sie auffällige Initialbetonung so generalisiert haben, dass sie kaum Abweichungen davon zuließen. Ein später Sprachwechsel könnte überdies bedeuten, dass die Bildung von Namenclustern mittels spezifizierender Rechtserweiterungen von Namen ausblieb, weil die Namenlandschaft über den Sprachwechsel hinaus relativ stabil blieb. Dagegen spricht allerdings, dass Namencluster in allen untersuchten Gegenden ungefähr gleich häufig waren, ausgenommen das ehemalige Amt Fraubrunnen, das sprachhistorisch am ehesten mit dem Emmental vergleichbar ist. 6 Fazit Finalbetonung toponymischer Komposita kann wohl regional als Toponymizitätsmarker angesehen werden. Diese eher sekundär zu nennende Funktion der Akzentverhältnisse tritt jedoch nicht überall auf. Dass sich solche Phänomene gerade kleinräumig-regional ausbreiten, hat schon Etz ( 1969 231 ) festgestellt. Im Gegensatz zum von Benware Festgestellten scheint Finalbetonung nicht nur auf ursprüngliche Fügungen (mit flektierter Personenbezeichnung oder Adjektiv) zurückzugehen, die später bei bestimmten Grundwörtern (Topofixen) verallgemeinert wurde. Vielmehr überlagern sich mehrere Prinzipien: <?page no="163"?> Fügungen mit ursprünglichem Finalakzent, Clusterbildungen mittels determinierender Rechtserweiterung (Linksköpfigkeit mit Betonung des rechts liegenden Bestimmungsteils) sowie Grundwortbetonung von Komposita mit typisch toponymischen Grundwörtern führen zu einer gewissen Verallgemeinerung des Finalakzents. Insgesamt führen diese Faktoren mehr zu einer allgemeinen „Ungeregeltheit“ des toponymischen Akzents. Literatur Bach, Albert (1953): Deutsche Namenkunde . Vol. II : Die deutschen Ortsnamen 1 . Heidelberg: C. Winter. Bach, Albert (1954): Deutsche Namenkunde . Vol. II : Die deutschen Ortsnamen 2 . Heidelberg: C. Winter. Benware, Wilbur A. (2012): „Prosodische Landschaften“. 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This is inter alia the result of a blanket mechanization that first started very slowly in the second half of the 19 th century and has accelerated since the 1950 s. During the last four years I have investigated how these developments have influenced the current set of used field names. This paper focuses on the appearance of new field name types in the last 200 years. The research question is if new German words (defined below) were used to create new field names. 1 Einleitung und Hintergrund der Abhandlung Der vorliegende Text entstand im Rahmen meines Promotionsvorhabens über aktuellen Flurnamengebrauch. In den sechs mittelhessischen Dörfern Damm, Mudersbach, Rollshausen, Roßbach, Seelbach und Wilsbach erhob ich - unabhängig von schriftlichen Quellen - mündliche Flurnamen mittels einer neuen Methode: Pro Dorf wanderten je sechs Gewährspersonen aus dem bäuerlichen Umfeld (Ø 53 Jahre alt) jeweils einzeln in Begleitung des Explorators durch die jeweilige Dorfflur, nannten die Flurnamen, die sie kannten und verwiesen auf die zugehörigen Flächen im Gelände. Die Gewährspersonen sprachen die Namen noch während der Wanderung in ein Tonaufnahmegerät ein, damit die Beleglautungen später transkribiert werden konnten. Zudem wurden die Verortungen aller 1431 mündlichen Flurnamenbelege während der Begehungen auf Karten verzeichnet und später miteinander verglichen. Das zu einem Dorf gehörige Umland wird u. a. im westmitteldeutschen Sprachraum gemeinhin als Gemarkung bezeichnet. Die erhobenen Flurnamen beziehen sich auf Landflächen innerhalb von Gemarkungen. Manchmal benennen die Namen auch Flächen, die in zwei oder drei Gemarkungen hineinreichen, weil die Flurorte in Grenzbereichen liegen. Die Gemarkungen der genannten Dörfer grenzen in Reihe aneinander und bilden so ein 31 km 2 großes, längliches, west- <?page no="167"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 167 östlich ausgerichtetes Gebiet. Es reicht vom Aartalsee im Lahn-Dill-Kreis bis fast an den Rand des Lahntales im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Die 36 Gewährspersonen wanderten also in sechs verschiedenen, nebeneinanderliegenden, doch kommunalpolitisch als solche nicht zusammengehörigen Bereichen. Die Distanz zwischen den am weitesten voneinander entfernten Wanderstrecken (jeweils ca. acht km) beträgt 14 km. Das hier behandelte Material basiert auf den Ergebnissen dieser 36 Wanderungen. Jeder einzelne mündlich erhobene Flurname hat somit eine Nennungsfrequenz zwischen eins und sechs; je nachdem, wie viele der sechs Personen eines Dorfes ihn während der Wanderungen, deren Wegstrecke pro Gemarkung immer nahezu gleich war, gebrauchten. Zusätzlich wurden die amtlich für das Gebiet geltenden Flurnamen des Amtes für Bodenmanagement Marburg (Katasteramt) aufgenommen und mit der mündlichen Situation verglichen. Im Rahmen der Verarbeitung des erhobenen Materials in einem Flurnamenlexikon mit 443 Namenartikeln erfuhren alle 885 Flurnamen 1 eine Lemmatisierung in Flurnamentypen. Ein Flurnamentyp, z. B. Holz n., ist im Verständnis der Untersuchung eine normalisierte Nameneinheit, die etymologisch und in den meisten Fällen auch morphologisch mit den darunter versammelten Flurnamen, z. B. Jungholz , in Zusammenhang steht. Dabei kann es sich auch um mehrteilige Gebilde, wie z. B. Obstbaum m., handeln, wenn diese schon vor der Namenwerdung als Komposita bestanden (vgl. dazu auch HFA , 2 21 - 22 ). Der Begriff bezieht sich somit kaum auf die eigentliche Funktion eines Flurnamens (dies nur insofern, als Gruppen einzelner Flurnamen die Grundlage der Kategorie bilden). Stattdessen stehen etymologische und morphologische - also trägerunabhängige (vgl. Brendler 2008 : 50 ; Debus 2002 : 23 ) - Aspekte im Vordergrund. Daher wäre die präzisierte Formulierung „Flurnamen(bildungs) typ[…]“ (Brendler 2008 : 224 ) statt Flurnamentyp noch treffender. Es soll im vorliegenden Aufsatz um die Frage gehen, ob in jüngerer Zeit neue Flurnamentypen entstanden sind. 2 Konzeptionelle außersprachliche und sprachliche Grundlagen Zunächst muss diesbezüglich geklärt werden, ob ein Flurnamentyp in dem Sinne als neu gelten soll, weil er bisher noch nicht beschrieben, also neu entdeckt wurde, oder ob er neu ist, weil ihm ein neues Wort zugrunde liegt. Es gilt hier die zweite Definition. Ein bestimmter Entstehungszeitraum für neue Wörter im Deutschen, die die Basis für neue Namentypen bilden, ist Grundlage der Materialsortierung. Dahinter steht die Annahme, dass vor allem die letzten drei 1 Hier gezählt inklusive der 130 präpositionalen Varianten, die mit einem Kernflurnamen gebildet sind. 2 Bei Zitationen von Texten, die im Literaturverzeichnis mit Kürzel eingeordnet sind, steht „,“ statt „: “. <?page no="168"?> 168 David Gerhardt bis vier Jahrzehnte eine produktive Phase für die Verwendung neuer Wörter zur Bildung von Flurnamen darstellten. Denn in diesem Zeitraum veränderten sich die landwirtschaftliche Produktion und das Selbstbild des Berufsstandes in einem bisher ungekannten Ausmaß. 3 Um Verwechslungsgefahr vorzubeugen, sei klargestellt, dass mit „Wort“ hier ein Appellativ gemeint ist und kein Flurname. Ich gehe grundsätzlich von der Möglichkeit einer vollständigen Wandlung des semantischen Status sprachlicher Äußerungen aus, so dass diese ihrer ursprünglichen Bedeutung entledigt sind und stattdessen bloß ein bestimmtes Referenzobjekt individualisieren (vgl. z. B. Ramge 1985 : 667 - 668 ). Darüber hinaus gehe ich von der Identifizierbarkeit des Onymischen aus und mache dies, wie im Folgenden ausgeführt, u. a. an der Nennungshäufigkeit, das heißt -frequenz eines Namens fest. Wird ein sprachliches Zeichen, z. B. Steinbruch , auf zwei Wanderungen von zwei verschiedenen Gewährspersonen intendiert als Name für ein und dieselbe Fläche genannt, ist ihm Proprialität nur noch schwer abzusprechen. Tut dies nur eine Person, ist die Beurteilung schwieriger. Zu beachten ist, dass in diesem Aufsatz unterschiedliche Aussprachevarianten eines Flurnamens, wie z. B. die Belege [’∫tɔ: bɹʊx] und [’∫tae̯nbrux] aus Roßbach, die sich auf ein und dieselbe Fläche beziehen (dies kommt im Material hundertfach vor), nicht thematisiert werden. Auf der Appellativebene - also der, die Namengenese betreffend, zeitlich vorgelagerten Ebene - ergibt sich hier aber zunächst ein anderes Problem. Eine Vielzahl von deutschen Wörtern war zu irgendeiner Zeit einmal neu. z. B. hatte das Substantiv nhd. Kartoffel f. im 18 . Jahrhundert mancherorts noch eine exotische Denotation bis es dann im größten Teil des deutschsprachigen Raumes allgemein geläufig wurde (vgl. DWB V, 244 - 245 ). Heute muss entweder etymologisch - Lehnwort aus italienisch tartuficolo m. (vgl. Kluge/ Seebold 2002 : 473 ) - oder zeitlich - erst bezeugt seit dem 17 . Jahrhundert (vgl. ebd.) - argumentiert werden, um das Wort allgemein als „neu“ zu klassifizieren. Wie lässt sich für die Kategorie neues Wort aber eine Definition finden, die hier allgemein nachvollziehbar als Arbeitsgrundlage taugt? In der vorliegenden Untersuchung sollen solche Wörter für die Jetztzeit als neu gelten, die nicht vor ca. 1800 im Deutschen bezeugt sind. Dies gilt unabhängig davon, ob sie allgemein als neu empfunden werden oder nicht und ob sie ursprünglich einer fremden Sprache entstammen oder nicht. Das 19 . Jahrhundert hier als frühestmögliche Entste- 3 Uekötter ( 2010 / 2011 : 12 - 13 , 329 - 330 ) weist darauf hin, dass sich im dritten Viertel des 20 . Jahrhunderts die wachsende Bedeutung von Wissenschaft und Technik für die Landwirtschaft zwar längst abgezeichnet hatte, viele Praktiker aber immer noch die Auffassung vertraten, sie seien im Grunde autonom. Der offene Umgang damit, dass sich die Landwirtschaft zu einer der kapitalintensivsten Branchen entwickelt, setzte erst später ein. <?page no="169"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 169 hungszeit für neue Wörter anzusetzen, hängt mit dem angedeuteten Fokus der Untersuchung auf die Zeit der verstärkten Maschinisierung und der darauffolgenden teilweisen Industrialisierung der hessischen Landwirtschaft zusammen: Zwischen 1800 und ca. 1900 vollzog sich im Bereich der heutigen Bundesrepublik Deutschland ein sozio-ökonomischer Strukturwandel, der als Industrialisierung und teilweise auch als Industrielle Revolution bezeichnet wird und in vielerlei Hinsicht die Grundlage für die industrielle Welt des 20 . Jahrhunderts bildet (vgl. Condrau 2005 : 7 ). Teil dieses Prozesses war eine in ihren Ursachen teilweise noch unbegriffene Mechanisierung und Technisierung von Arbeit (vgl. ebd.: 8 - 9 , 119 ). Die Landwirtschaft wurde von dieser Entwicklung zunächst wenig erfasst (vgl. z. B. Uekötter 2010 / 2011 : 12 ). Eine Darlegung, ab wann genau und wie unterschiedlich sich Besagtes im wirtschaftsgeschichtlich heterogen strukturierten Untersuchungsgebiet auswirkte, würde hier zu weit führen. Allgemein betrachtet war dieses ländliche Randgebiet zwischen Marburg, Gladenbach und Wetzlar offenbar kein besonderer Vorreiter in Bezug auf die Technisierung der landwirtschaftlichen Arbeitsabläufe. 4 Erste Voraussetzungen für die tiefgreifenden Veränderungen des Produktionssystems, die technischen Regimewechsel und damit einhergehende soziale Umbrüche auf den untersuchten Dörfern wurden aber schon zur Mitte des 19 . Jahrhunderts geschaffen. 5 Eine Begründung für diese Untersuchung in den 2010 er Jahren war, dass, nach der ersten Industrialisierungsphase der hessischen Landwirtschaft bis in die 1980 er Jahre, 6 gerade ein weiterer massiverer landwirtschaftlicher Industrialisierungsprozess stattgefunden hat. Dies gilt vor allem in Bezug auf die Größe der Traktoren, Ernte- und Bodenbearbeitungsmaschinen und auch der Betriebe. Die beiden genannten sicherlich maßgeblichen Technisierungsschübe können aber nicht isoliert behandelt werden. Als Ganzes betrachtet ist die Entwicklung vom Einsatz der ersten dampfbetriebenen Lokomobile (vgl. Becker 4 Friebertshäuser ( 1994 : 80 ) bringt für den Landkreis Marburg-Biedenkopf das Beispiel des Kartoffelanbaus. Die Maschinisierung des Erntevorgangs durch Roder war in der Region lange unüblich. Erst mit steigenden Betriebsgrößen in der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts begann sie sich flächendeckend zu lohnen. Es gab bezüglich Technisierung zwischen den einzelnen Dörfern und auch Höfen allerdings immense Unterschiede (vgl. Becker 2010 a: 134 - 135 ). 5 Ein Beispiel aus Niederwalgern (Dorf östlich des Untersuchungsgebietes) ist die Fertigstellung der Main-Weser-Bahn, in den 1850 er Jahren (vgl. Theis 2010 : 553 - 554 ). Die vom östlichen Untersuchungsgebiet weniger als vier km entfernten neuen Bahnhöfe Niederwalgern und Fronhausen wurden Verkehrsknotenpunkte für eine bisher ungeahnte Mobilität und neue Güterverfügbarkeit (vgl. Becker 2010 b: 567 - 568 ; Theis 2010 : 557 ). 6 Uekötter ( 2010 / 2011 : 391 - 394 ), der sich auf das Bundesgebiet bezieht, weist auf die dann gleichzeitig offen zu Tage tretende ökologische Krise der Landwirtschaft und das stärker Werden der Umweltbewegung hin. <?page no="170"?> 170 David Gerhardt 2010 : 134 - 135 ; Friebertshäuser 1994 : 108 - 109 , Abbildungen 25 und 28 ) in der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts bis zum heutigen Maschinisierungsgrad in der Landwirtschaft geprägt durch eine fortschreitende Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch maschinelle Fertigungsprozesse. Es handelt sich also um eine zusammenhängende Übergangsphase, in der sich, zunächst kaum merklich und dann immer schneller, überdurchschnittlich viele Arbeitsabläufe und -methoden veränderten, die in den Jahrhunderten davor selbstverständlich waren. Der allmähliche Wandel des Produktionssystems und der Produktionsmethoden ist begleitet von gesetzlichen Rahmenbedingungen: darunter die Aufhebung des Mühlenbannes und später des Flurzwanges in Kurhessen 1837 und ab ca. 1850 (vgl. Becker 2010 a: 129 ; Burk-Wagner 1985 : 12 - 13 ), der Wegfall der nördlichsten Staatengrenze zwischen dem Großherzogtum Hessen und Kurhessen nach dem Sieg Preußens über Österreich 1866 (vgl. Rudolph 2013 : 69 ; Schwind 1984 : 74 ), die Ermöglichung von Flurumlegungen/ Flurbereinigungen ab dem 20 . Jahrhundert (vgl. Uekötter 2010 / 2011 : 336 - 337 und z. B. Historisches Ortslexikon, s.v. Damm ) oder das Förderprogramm Grüner Plan in den 1950 ern und 1960 ern, das u. a. den Bau von Höfen außerhalb der Ortschaften ermöglichte (vgl. Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 1962 : 174 - 177 ). Dies sind nur wenige Punkte, die beispielhaft die Entwicklung umreißen sollen. Der Entstehungszeitraum für neue Wörter wird hier also außersprachlich, aufgrund der spezifischen Konzeption der Untersuchung, die den jüngsten Strukturwandel im ländlichen Raum zum Forschungsanlass nimmt, begründet. Technisierung als solche ist dabei kein Phänomen ab dem 19 . Jahrhundert. Beispielsweise sind die im Untersuchungsgebiet bis ins 20 . Jahrhundert üblichen Wassermühlen zum Mahlen von Mehl und weiterer Fertigungsprozesse komplexe Maschinen vorneuzeitlicher Entwicklung (vgl. Paulinyi/ Troitzsch 1991 : 33 , 354 - 355 ). Nach 1850 stieg - kurz vor dem ersten Aufkommen kohle- und später auch diesel- und strombetriebener Maschinen auf den Betrieben - der Einfluss wissenschaftlicher Forschung auf die Landwirtschaft (vgl. Uekötter 2010 / 2011 : 435 ). Ebenso spielte Kapital eine zunehmende Rolle und die alte Subsistenzwirtschaft wich ganz allmählich der Lohnarbeit (vgl. Becker 2010 a: 135 ). 7 Dass sich diese Entwicklung von vorherigen Verhältnissen abhebt, ist offensichtlich. Nach der Begründung des Entstehungszeitraums muss nun auch definiert werden, was die linguistischen Kriterien für ein neues Wort sind, die es von 7 Woher die in diesem Zuge wachsende Technik eigentlich kommt, ist nicht wirklich klar (vgl. Condrau 2005 : 17 , 74 ). Schumpeter ( 1952 : 16 - 18 ) erkannte, dass technische Entwicklung und wirtschaftliche Logik im Kapitalismus keine sich entsprechenden Prozesse sind. Die Produktionsmethode ist vielmehr von ökonomischen Entscheidungen abhängig. Vorhandene Technik wird dann aufgegriffen, wenn sie gewinnbringend erscheint. <?page no="171"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 171 schon vorher im Deutschen existierenden Wörtern abgrenzt. Am einfachsten ist dies bei primären Lehnwörtern des angegebenen Zeitraumes zu entscheiden. Sie kommen aus einer fremden Sprache (vgl. DFWB I, 14 *) und sind (nach einer Etablierungsphase) somit neu im Deutschen. Als Beispiel sei hier nhd. Ranch f. angeführt, das im 20 . Jahrhundert aus englisch ranch (dieses aus mexikanisch-spanisch rancho m.) entlehnt wurde (vgl. Kluge/ Seebold 2002 : 742 ). Findet sich also ein Flurnamentyp, der auf ein solches Wort zurückgeht, gehört er sicher zu den neuen Namentypen. Problematisch würde es, wenn der Entlehnungszeitraum unbekannt ist, was im untersuchten Material aber nicht vorkam. Weniger eindeutig ist es bei Komposita, die aus Wörtern bestehen, welche schon vor 1800 im Deutschen existierten. Der überwiegende Teil des hier behandelten Flurnamenmaterials ist mehrteilig und es gilt bei jedem einzelnen Flurnamen zu entscheiden, ob ein Kompositum zugrunde liegt und wenn ja welches. Ist dies geleistet, und es ist hier sicherlich nicht immer absolut zufriedenstellend geleistet, muss - im Interesse der Fragestellung - ergründet werden, ob das Kompositum neu ist. Dies ist schwieriger als die Suche nach neuen Lehnwörtern. Die deutsche Sprachentwicklung ist gekennzeichnet durch einen zunehmenden Abbau morphologischer Beschränkungen für die Bildung von Komposita (vgl. Gaeta/ Schlückler 2012 : 3 ). Nominale und adjektivische Komposita können entstehen und wieder verschwinden, ohne dass sie je beschrieben wurden. Der DUDEN (I, 23 ) spricht im Zusammenhang mit der Begründung der Wortauswahl allgemein von ad-hoc-Bildungen, die nicht in das Wörterbuch aufgenommen werden, und bringt als Beispiel Fußballhimmel . Fußballhimmel kommt beispielsweise im Korpus DIE ZEIT des DWDS (s.v. Fußballhimmel 04 . 11 . 2014 ) mit 26 Einträgen weitaus öfter vor als z. B. Obstbaumwiese mit fünf Einträgen ( 04 . 11 . 2014 ). Im ZUL ( III , 753 ; XXV , 300 - 304 ) aus dem 18 . Jahrhundert gibt es Einträge zu Obstbäumen , sowie zum Baumgarten bzw. Obstgarten . Letzterer entspricht der Beschreibung von 1733 nach nicht deckungsgleich dem, was heute unter einer Obstbaumwiese verstanden wird: „[…] er wird vor dem Anlauffe des Viehes und derer wilden Thiere mit einer Mauer, Plancke oder einem Zaun umfangen“. Zu Obstbaumwiese finden sich keine historischen Einträge. Selbst wenn ausgeschlossen werden könnte, dass das Wort vor 1800 existiert hat, bleibt die Frage, ob es überhaupt einen vollwertigen Flurnamentyp bildet und nicht in Obstbaum m. und Wiese f. typisiert werden muss. Die Entscheidung, ob ja oder nein ist hier vage. Es gibt weder ein gültiges Referenzwerk, nach dem verfahren werden könnte, noch definitive Regeln. Brandweiher m. beispielsweise - dessen Alter ebenfalls unbekannt ist - wird hier im Gegensatz zu Obstbaumwiese als möglicher neuer Flurnamentyp gelistet, obwohl das Kompositum nur leicht besser belegt ist. Diese Beispiele <?page no="172"?> 172 David Gerhardt sollen demonstrieren, wie die hier angefertigte Liste der neuen Flurnamentypen in Bezug auf Komposita zu bewerten ist. Es wurde versucht, wenig eindeutige Fälle von dauerhaften, etablierteren Formen zu trennen. Die Recherche nach Wortalter und -herkunft und etablierten Komposita wurde im Wesentlichen mit der Datenbank Hessische Flurnamen , dem DFWB , dem DWDS , dem DUDEN , dem Frnhd. Wb., dem DWB , dem Hess.-Nass. Wb., Jungs Flurnamen an der mittleren Lahn , Kluge/ Seebolds Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache , dem Lexer, dem MHFB , dem EWBD , dem Schwäb. Wb., dem Id., dem SHFB , dem Südhess. Wb., Vielsmeiers Flurnamen der südlichen Wetterau , Vilmars Idiotikon von Kurhessen und dem ZUL bewerkstelligt (siehe im Literaturverzeichnis bei den Kürzeln bzw. Autorennachnamen). Für Sonderfälle, wie z. B. Streuobst bzw. Streuobstwiese f. (die aktuelle Wortbedeutung lautet ‚mit Obstbäumen bestandene Wiese‘ - vgl. DUDEN IIX , 3782 ), wurde auch auf besondere Literatur - hier z. B. Rinaldini ( 1924 : 258 ), die das volle Kompositum noch nicht verwendet, und Breunig/ König/ Stähr ( 1985 ) - zurückgegriffen. Dass sich das spätestens in den 1980 er Jahren etablierte Wort, z. B. analog zu Bahnhof (vgl. Kluge/ Seebold 2002 : 83 ), aus zwei gekürzten, ehemals zweigliedrigen nominalen Komposita (+ Wiese f.) entwickelte (vgl. Wikipedia, s.v. Streuobstwiese ), ist m. E. nicht sicher. Eine weitere Art der Wortneubildung, die für Namentypen im Material eine Rolle gespielt hat, ist die Substantivierung von Verben durch Suffixableitungen. Allerdings gibt es unter den neuen Namentypen nur zwei Beispiele: Lichtung f. < nhd. lichten ‚(den Wald) lichten‘ + ung -Suffix (vgl. Eisenberg 2006 : 277 ; Kluge/ Seebold 2002 : 574 ); und Deponie f. < nhd. deponieren , wobei das Fremdsuffix französisch ie hier untypischerweise in deverbialem Zusammenhang fungiert (vgl. Fleischer/ Barz 1995 : 185 - 186 ). Alle übrigen Bildungen im Material sind älter; das heißt, sie fallen außer Betracht. Sonstige präfix- oder suffixabgeleitete neue Wörter, auch solche, die außerhalb des Substantivierungskontextes stehen, waren im Material nicht auffindbar. Zwar gibt es z. B. im Untersuchungsort Seelbach einen Flurnamen Die Gestrout oder Die Gestrut , der womöglich auf eine Kollektivierung von nhd. Strut f. zurückgeht; es könnte sich, auch aufgrund des Genus, aber ursprünglich ebenfalls um ein Kompositum Ger-Strut gehandelt haben. Nhd. Strut f. ‚Sumpf, Gebüsch, Buschwald, Dickicht‘ ist als Appellativ im Laufe der Neuzeit ausgestorben (cf. DWB X, 147 ). Eine Kollektivierung desselben ist weder vor noch nach 1800 belegt. Unbelegt heißt nicht ‚nie dagewesen‘, aber es ist abwegig, dass sich im 19 . Jahrhundert oder gar später ein Wort kollektiviert, das bereits abgegangen ist oder im Begriff ist abzugehen. Es bleibt somit festzuhalten, dass es unklare Streitfälle im Material gibt, die zwar rein theoretisch neu sein könnten, praktisch aber nicht ansatzweise im Verdacht stehen. <?page no="173"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 173 Eine wortbildnerische Sonderform im Material stellt der nur schwach belegte Flurnamentyp Oma f. dar. Das Ausgangswort entwickelte sich im 19 . Jahrhundert in der Kindersprache aus nhd. Großmama f. (vgl. Kluge/ Seebold 2002 : 667 ). Nicht alle den Namen zugrundeliegenden Wörter basieren auf einem einzigen der vorgestellten Wortneubildungsmuster. In Fällen wie Grillhütte f. bzw. Grillplatz m. handelt es sich um neue nominale Komposita, die gleichzeitig auch mit einem neuen Lehnwort gebildet sind. Nhd. Grill m. ‚Gerät zum Rösten von Fleisch (u. a.); Bratrost‘ wurde im 20 . Jahrhundert aus gleichbedeutendem englisch grill entlehnt (vgl. DUDEN IV , 1585 ; Kluge/ Seebold 2002 : 373 ). 3 Ergebnis 8 Werden nun alle genannten Formen der Wortneubildung berücksichtigt und das Material nach darauf basierenden neuen Namentypen durchsucht, bleiben von insgesamt 355 Namentypen appellativischen Ursprungs ganze 25 , die sicher neu sind oder zumindest im Verdacht stehen, neu zu sein. Ziemlich sicher oder sicher neu sind 18 Namentypen. Absolut sicher kann die Neuheit für 13 Namentypen bestätigt werden. Die Unsicherheiten rühren sämtlich von der Schwierigkeit her, das genaue Alter der zugrundeliegenden Wörter zu bestimmen: Unklar ist dieses bei (Rund)Ballenlager n.: Als dreigliedriges Kompositum wäre es zwar neu, tritt im Material aber gekürzt als Ballenlager (< nhd. Rundballen m. ‚maschinell in Zylinderform gepresster Heu-/ Strohballen‘ + Lager n.) auf und könnte in dieser Form im 18 . Jahrhundert theoretisch schon existiert haben. Ebenfalls als besonders unklar hervorzuheben ist das Alter von Brandweiher m., 9 zentralhessisch Kriem m. [(Wortbedeutung laut Gewährsperson etwa: ) ‚unnützer Unsinn, Sonderheit‘], Schutzhütte f., Staatswald m., Waldrand m. und Zeltplatz m. Wie bei den vorher genannten, wurden auch für Neubaugebiet n., Pumpstation f., Schwimmbad n., S-Kurve f. und zentralhessisch Wasserbasseng m. (n.) in den konsultierten Lexika weder alte Belege noch sonstige klärende Einträge gefunden. Im Unterschied zu Brandweiher m. usw. besteht aber hier die starke Vermutung, dass es sich bei den zugrundeliegenden Ausgangswörtern um neue handelt. Sicher als neu konnten schließlich Aussiedlerhof m., Bahnhof m., Deponie f., Dschungel m., Grillhütte f./ Grillplatz m., Klärwerk n., Lichtung f., Naturschutzgebiet n., Oma f., Ranch f., Sportplatz m., Streuobstwiese f. und Wasserhochbehälter m. identifiziert werden. 8 Eine auswertende Zusammenfassung (Kapitel 4 ) und eine Materialübersicht (Anhang) folgt im Anschluss. 9 Bereits im Schwäb. Wb. (I, 1347 ) als Toponym belegt. <?page no="174"?> 174 David Gerhardt Sicher bis wahrscheinlich neu: 18 vielleicht neu: 7 sicher neu: 13 vermutlich/ wohl neu: 5 Begründung Durch Wörterbücher und andere Quellen abgesichert Aufgrund eigener sach- und sprachhistorischer Annahmen sind die Ausgangswörter neu Aufgrund eigener Vermutungen ist eine Existenz der Ausgangswörter vor 1800 denkbar Beispiel eines zugeordneten Flurnamentyps Bahnhof m.: Das Aus-gangswort ist erst seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen nachgewiesen (vgl. Kluge/ See-bold 2002: 83). S-Kurve f.: Kurve f. ist als Wort im Deutschen seit dem 18. Jahrhundert belegt (vgl. Kluge/ Seebold 2002: 549). Komposita mit Kurve konnten sich erst ab dann festigen. Zeltplatz m.: Beiden Kompositions-bestandteilen liegen seit langem im Deutschen existente Wörter zu Grunde und auch die Sache, den Zeltplatz als einen ‚Platz mit Zelten‘, gab es schon lange vor 1800. Recherche Abgesichert Vermutungen (Es wären hier Detailstudien nötig) Abb. 1 Übersicht über die hier getroffenen Kategorisierungen „sicher neu“, „wohl neu“ und „vielleicht neu“ mit Angabe der Anzahl der zugeordneten Namen. Gemessen an den insgesamt 355 ermittelten Flurnamentypen des Materials, die (zumeist sicher) auf Appellative, und nicht auf diverse Eigennamenklassen zurückgehen, sind 18 - 25 neue Namentypen ein erstaunlich geringer Wert. Zumal zwölf der oben genannten Typen lediglich durch jeweils einen Namen mit der Frequenz 1 (von 6 ) belegt sind. Sie gehören also zu den im Untersuchungsgebiet mündlich nur schwach belegten Namentypen. Noch extremer ist es im Fall von Aussiedlerhof m., der als einziger aller hier Genannten über einen rezenten amtlichen Beleg verfügt, dafür allerdings über gar keine mündlichen Nennungen. An Namentypen, die durch Mehrfachfrequenz bzw. Mehrfachnennung verschiedener Namen besser abgesichert sind, bleiben also noch elf bis zwölf - was nicht heißt, dass die schwachfrequenten Typen nicht eigentlich ebenfalls stabile Flurnamen aufweisen. Es ist mit dem vorliegenden Material lediglich nicht zu beweisen. Dies gilt auch für Grillhütte f./ Grillplatz m., Neubaugebiet n. und Wasserhochbehälter m. Die zugehörigen Flurnamen tauchen zwar jeweils in mehreren Orten auf, haben aber keine Mehrfachfrequenzen. Somit gibt es auf <?page no="175"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 175 Basis der Untersuchung lediglich acht neue Flurnamentypen, die sich in einer oder mehreren Kommunikationsgemeinschaften des Untersuchungsgebietes bisher nachweislich durchgesetzt haben: Der stabilste unter ihnen ist Sportplatz m., der in fünf Orten belegt ist und dessen Vertreter in Damm sogar die Höchstfrequenz 6 erreicht. 10 Fußballplätze waren im zweiten Drittel des 20 . Jahrhunderts in der Gegend sehr verbreitet. In drei der fünf Gemarkungen ist das namengebende Motiv bereits vollständig verschwunden. Es verwundert nicht, dass dieser Flurnamentyp für Hessen bereits gut beschrieben ist (vgl. MHFB, s.v. Sportplatz ; Vielsmeier 1995 : 458 ). Ähnliches gilt für Bahnhof m. (vgl. ebd., s.v. Bahnhof ; 53 ); hier für Damm (mit Frequenz 5 ) und schwach in Roßbach (mit unklarer Herkunft) belegt. Aufgrund seiner allgemeinen Bekanntheit im deutschsprachigen Raum (vgl. z. B. auch TGNB II / 2 , 48 ), kann dieser Flurnamentyp als ein Klassiker unter den neuen Flurnamentypen bezeichnet werden. Ebenfalls hervorzuheben ist der Flurnamentyp Wasserbasseng m., der hier nicht in die französische Schreibung normalisiert wurde, weil das zugrunde liegende Appellativ im Untersuchungsgebiet semantisch nicht mit nhd. Wasserbassin n. ‚Wasserbecken‘ (vgl. DUDEN X, 4436 ) gleichzusetzen ist. In den Orten Damm, Rollshausen und Seelbach wurde Wasserbasseng m. als Wort sowie als Name und in Roßbach zumindest als Wort nachgewiesen. Das Appellativ bezeichnet einen ‚Wasserhochbehälter für die Trinkwasserversorgung‘ oder zumindest einen ‚eingefassten Quellbrunnen in erhöhter Lage‘. Beide Anlagen haben zum Zweck, im tiefer gelegenen Dorf, einen gleichmäßigen Wasserdruck in den Leitungen zu ermöglichen. Seit wann das Wort in der Region genutzt wird, ist nicht bekannt. Zu vermuten wäre aber, dass es mit dem Bau der ersten Trinkwasserleitungssysteme zu Beginn des 20 . Jahrhunderts 11 gebräuchlich wurde. Das Appellativ ist in dieser Prägung (siehe vor allem die Wortbedeutung und das grammatische Geschlecht) meines Wissens unbeschrieben. Als Flurnamentyp scheint Wasserbasseng m. mit Belegen aus drei Orten auf den ersten Blick stark verbreitet - wenn auch nur im Ostteil des Untersuchungsgebietes. Auf Mehrfachfrequenz basiert der Namentyp lediglich in Damm, wo ein Alternativname Klee Wällje (vielleicht durch Zufall) 12 nur eine Nennung aufweist. In Rollshausen und Seelbach ist Wasserbasseng m. schwach belegt. Hier ereignete sich nun das, was die behandelte Nameneinheit verdächtig macht, 10 Dies kommt im Material insgesamt nur 15 Mal vor. Die durchschnittliche Frequenz beträgt knapp 1 , 9 . 11 In Roßbach z. B. seit 1923 (vgl. Rudolph 2013 : 86 ). 12 Im Gespräch mit einer siebten Person (unter 60 Jahre), die nicht mehr ins Informantensample aufgenommen werden konnte, da die Erhebung in Damm schon abgeschlossen war, tauchte der Alternativname ebenfalls auf. <?page no="176"?> 176 David Gerhardt eben doch ein instabiler neuer Flurnamentyp zu sein. In Seelbach nannte eine Gewährsperson für die entsprechende Fläche einen Flurnamen Am Wasserhäuschen und in Rollshausen tauchte der Alternativname Wasserleidungsstick auf. Der Grund dieses Befundes ist leicht rekonstruierbar: Die namengebenden Motive für den Typ Wasserbasseng m., die Hochbehälter oder gefassten Quellbrunnen, gibt es in jedem Dorf - oft sogar mehrfach (entweder intakt und in Nutzung, verfallen oder intakt aber ungenutzt). In Seelbach kann der Alternativname nur von demselben Hochbehälter herrühren, der auch für Beim Wasserbasseng namengebend war. Wasserhaus ist als Wort für ‚gemauerte Wassersammler‘ in Hessen seit langem gebräuchlich (vgl. Hessische Flurnamen, s.v. das Wasserhaus ; Vielsmeier 1995 : 509 - 510 ). Im Westteil des Untersuchungsgebietes bezeichnet es heute (diminuiert) allerdings vor allem die Pumpwerke bei den Tiefbrunnen. In Rollshausen ist es mit Wasserleidungsstick nicht ganz so eindeutig, aber ähnlich: Die ehemalige Wasserleitung kommt vom längst verfallenen Wasserbasseng her. Es handelt sich hier also um Flurnamen, die allem Anschein nach noch stark an das namengebende Motiv und somit auch an die zugehörigen Appellative gebunden sind. Denn das sprachliche Zeichen variiert unter Anschauung des namengebenden Motivs. Dieser Untersuchung liegt die Annahme zu Grunde, dass dieses bei einem vollwertigen Flurnamen für die Referenz keine Rolle mehr spielt; unabhängig davon, ob es sich noch am benannten Ort befindet oder nicht (vgl. Ramge 1985 : 667 ). Marit Alas ( 2009 : 78 ) bringt die Konsequenz dessen in dem Satz „The function of a place name is to identify, not to describe an object“, treffend auf den Punkt. Umso auffälliger ist es, dass die mittelhessischen Anlagen noch einen weiteren Namentypen bewirken. In Wilsbach und Roßbach taucht das nhd. Wasserhochbehälter m. in Flurnamen auf - bei gleichzeitigem Nachweis der Bekanntheit des Wortes Wasserbasseng m., zumindest in Roßbach. Ich vermute, dass die Namennutzer und Namennutzerinnen hier eher den gedanklichen Schritt über das namengebende Motiv machen (sei es nun intakt oder nicht) als z. B. bei Sportplatz m. Bezeichnend dafür ist die Nachfrage einer Gewährsperson nach der Nennung des Flurnamens Sportplatz : „War da mal ein Sportplatz? “ Bei Sportplatz -Flurnamen wird die appellativische Bezeichnungsvielfalt für das namengebende Motiv, die ähnlich hoch ist wie bei Wasserbasseng (z. B. Fußballplatz , Rasenplatz , Sportfeld , Spielfeld, (Bolzplatz) usw.) nicht übernommen. Es gibt keinen Alternativflurnamen * Fußballblatz . 13 13 Eine Ausnahme bildet Wilsbach. Hier sagte eine Gewährsperson: „Dos eas de Bolzplatz.“, meinte damit aber die Sache an sich - den Bolzplatz. Denn dort befindet sich ein klassischer Bolzplatz für Kinder. Die Äußerung wurde nicht als Name aufgenommen. <?page no="177"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 177 Die Gründe hierfür sind m. E. unklar. Es bleibt lediglich festzuhalten, dass die Vertreter bestimmter neuer Flurnamentypen über das namengebende Motiv und somit offenbar halbdeskriptiv funktionieren und andere nicht. Es ist nicht abzusehen, was passiert, wenn die ersten namengebenden Motive vollständig verschwunden sind. Eventuell könnte aber eine Entwicklung wie beim Flurnamentyp Eiche f. eintreten. Hier ist in sieben untersuchten aktuellen Fällen eine dauerhafte Bindung an das jeweilige namengebende Motiv der Flurnamen zu erkennen. Flurnamen vom Typ Eiche f. im Untersuchungsgebiet halten sich nur dort, wo auch Eichen (meist große Einzelbäume) stehen. Deren Nennungsfrequenz nimmt dort merklich ab, wo der Baum verschwunden ist (ein untersuchter Fall in Mudersbach: Bei de dick Aaich - Frequenz 1 ). Die Flurnamen verklingen offenbar im mündlichen Gebrauch, wenn die Erinnerung an den Baum verblasst ist (mutmaßlich eingetreten bei dem aktuell nur noch amtlich belegten Flurnamen Eichborn - 1782 EICH = BORN - 14 in Damm). Es muss demnach abgewartet werden, bis der erste Wasserbasseng vollständig verschwindet und wohl auch die Erinnerung daran, um zu ergründen, ob es sich bei dem Flurnamentyp Wasserbasseng m. ebenso verhält. Namentheoretisch ist hiermit eine einigermaßen provokante Position bezogen worden. Windberger-Heidenkummers ( 2001 : 205 , 314 - 320 ) aus umfangreichem steirischem Erhebungsmaterial gewonnene Erkenntnis, dass mit vielen Mikrotoponymen 15 nicht nur benannt, sondern auch gleichzeitig klassifiziert werde, ist anzuzweifeln. Dies entspräche grundsätzlich nicht dem Sinn des Entstehens von Flurnamen als Sprachzeichen, die referenziell auf die Individualisierung von Einermengen gerichtet sind. Es nützt diesbezüglich m. E. auch nichts, Sekundärinformationen über die Namen seitens der Gewährspersonen als Argument dafür anzuführen, dass Prädikationen jederzeit möglich sind, wie Windberger-Heidenkummer (ebd.: 320 ) dies tut. Denn intendierte Namenerhebungssituationen sind keine habituellen Flurnamennutzungen. Es gibt aber offenbar bestimmte Flurnamentypen deren Vertreter von der grundsätzlichen Bewegung der Namenwerdung vom Beschreibungsakt hin zu vollwertigen Flurnamen tendenziell abweichen und auf einem Zwischenstatus verharren. Neu ist daran, dass dies typabhängig zu sein scheint. Im Zentrum der Argumentation stehen hier die namengebenden Motive. Es bleibt zu vermuten, dass Eichen und Wasserhochbehälter nicht die einzigen sind, die solches bewirken können. Zur besseren Verifizierung dieses Phänomens müssten allerdings noch weitere 14 Der Beleg ist in einer Karte verzeichnet; eingesehen im Hessischen Staatsarchiv Marburg: Signatur PII 12 . 420 . 15 Die Autorin meint damit u. a. (teilweise peripher-propriale) Sprachzeichen für Geländeteile, also auch Flurnamen (vgl. Windberger-Heidenkummer 2001 : 111 , 320 ). <?page no="178"?> 178 David Gerhardt solcher Flurnamentypen und auch mehr Beweise für die Genannten gefunden werden. Neben den schon erwähnten neuen Flurnamentypen Sportplatz m., Bahnhof m. und Wasserbasseng m. gibt es im Untersuchungsgebiet noch die Flurnamentypen Ranch f. - von Vielsmeier ( 1995 : 386 ) für Hessen schon beschrieben - und Schutzhütte f., die an zwei verschiedenen Orten vorkommen und mehrfachfrequent sind. Schutzhütte f. weist in Roßbach sogar eine Frequenz von 4 auf. Die Zweifel, dass es sich um ein junges Wort handelt, sind hier allerdings erheblich. Zwar wurde erkannt, dass ein vermeintlich zugehöriger hessischer Namenbeleg by der schutzin hutten von 1486 (vgl. Hessische Flurnamen, s.v. by der schutzin hutten ) wohl ein mit einem Personennamen gebildeter Flurname ist; ein Beweis für geringes Wortalter ist dies jedoch nicht. Für Hessen war der Flurnamentyp bisher nicht beschrieben. Rezent ist er jedoch z. B. für die Innerschweiz gelistet (vgl. SZNB III , 168 ). Mehrfachfrequenz von zugehörigen Flurnamen und das Vorkommen an mehreren Orten sind hier die Hauptargumente für die hinreichende Erfassung neuer Flurnamentypen (als übergeordnete, trägerunabhängige Beschreibungskategorien für Flurnamen, die auf neue Ausgangswörter zurückgehen). Im Folgenden sind drei für Hessen bisher unbeschriebene neue Flurnamentypen mit Mehrfachfrequenz im Untersuchungsgebiet aufgeführt, die nur an einem Ort vorkommen: Dschungel m. basiert auf dem Flurnamen De Dschungel in der Gemarkung Roßbach. Dieser bezeichnet hauptsächlich ein ausgedehntes Gestrüpp nahe der Gemarkungsgrenze zu Mudersbach. In das kaum zugängliche Gebiet ziehen sich mit Vorliebe Wildschweine zurück. Namengebendes Motiv ist also der dichte Bewuchs der Fläche; angelehnt an die Bedeutung ‚Dickicht‘, die nhd. Dschungel m. (< englisch jungle < hindi jangal ) neben ‚tropischer Sumpfwald; Urwald‘ u. a. haben kann (vgl. DUDEN II , 875 ; Kluge/ Seebold 2002 : 218 ). Bisher ebenfalls unbeschrieben ist Klärwerk n., dessen Beleglage jener von Dschungel m. gleicht. Auch unweit der Oom Klärwerk genannten Wiese nahe Damm-Etzelmühle ist das namengebende Motiv, eine Kläranlage, noch vorhanden. Nichts weist hier auf eine starke Bindung daran hin. Keine Gewährsperson produzierte beispielsweise Äußerungen wie * Bei de Kläranlahe oder * Klärwiss (in Analogie zu Wasserbasseng und Wasserhäusche ). Auch der Flurnamentyp S-Kurve f. zählt zur erwähnten Dreiergruppe, wobei hier etwas unsicher anmutet, ob das zugrundeliegende Wort neu ist. Solche S-förmigen Straßenverläufe existierten auch schon vor 1800 . Das Grundwort Kurve f. (entlehnt aus lateinisch curva ) ist allerdings erst seit dem 18 . Jahrhundert im Deutschen bezeugt (vgl. Kluge/ Seebold 2002 : 549 ). Das Kompositum hätte somit sehr rasch entstehen müssen, um „noch alt“ zu sein. <?page no="179"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 179 Bei Staatswald m. - im Untersuchungsgebiet ebenfalls einmal mit Frequenz 2 belegt - gilt dies hingegen nicht. Im Deutschen Textarchiv ist das Wort schon ab 1834 belegt (vgl. DWDS, s.v. Staatswald 21 . 04 . 2015 ). Vielsmeier ( 1995 : 458 ), der den Namentyp nicht als Kompositum ansetzt, belegt einen Flurnamen Der Staatswald für die Wetterau schon für etwa 1860 . Daher gilt Staatswald m. lediglich als „vielleicht neu“. Zwölf der erhobenen neuen Flurnamentypen sind wie erwähnt schwachbzw. einfachfrequent belegt und kommen im Untersuchungsgebiet zudem nur einmal vor. Darunter sind die angesprochenen Problemfälle Ballenlager n., Brandweiher m., Kriem m., Waldrand m. und Zeltplatz m., deren Wortgrundlage mutmaßlich alt ist, und auch Pumpstation f. und Schwimmbad n., deren Neuheit sich schwer beweisen lässt. Des Weiteren finden sich hierunter die meisten wortbildnerisch besonders interessanten Fälle, wie Deponie f., Lichtung f., Naturschutzgebiet n., Oma f. und Streuobstwiese f. Sie alle eint, dass sie - ausgenommen Brandweiher m. (vgl. Jung 1985 : 29 ) - für Hessen bisher nicht beschrieben wurden. 4 Auswertende Zusammenfassung Es gibt im Untersuchungsgebiet weit über hundert neue Flurnamen, die neu sind in dem Sinne, dass sie innerhalb der letzten 200 Jahre entstanden (bei 110 von 755 Kernflurnamen ist es sicher - meist geprüft anhand der namengebenden Motive). Die wenigsten basieren allerdings auf neuen Wörtern im hier definierten Verständnis. Selbst viele Flurnamen mit neu anmutenden Bestandteilen, wie Hinner de Schossee oder Trapez , gehen auf Wörter zurück, die schon früher als 1800 im Deutschen belegt sind. Insgesamt 88 der 442 untersuchten Flurnamentypen liegen ohnehin Namen anderer Namenklassen zu Grunde. Sie wurden also von vornherein nicht berücksichtigt, weil es sich um propriales Ausgangsmaterial handelt. Sicher bzw. wahrscheinlich sicher festgestellt wurden 13 - 18 neue Namentypen. Darunter ist nur ein knappes Dutzend durch Mehrfachnennung oder Mehrfachfrequenz von Namen gut belegt. Es handelt sich hierbei um die Flurnamentypen Bahnhof m., Dschungel m., Grillhütte f./ Grillplatz m., Klärwerk n., Neubaugebiet n., Ranch f., S-Kurve f., Sportplatz m., Wasserbasseng m. und Wasserhochbehälter m. In den im Literaturverzeichnis genannten hessischen Flurnamenlexika, -atlanten und -datenbanken sind von diesen bisher sechs unbeschrieben. Mit vier neuen Namentypen im Untersuchungsgebiet fußt ein gutes Drittel der sicher erhobenen Neuerungen auf Lehnwörtern aus dem Englischen. Außersprachliche Innovationen der Moderne hatten am Entstehen dieses kleinen Bestandes neuer Namentypen großen Anteil. Die Namenbelege von sieben der zuletzt genannten Typen sind unmittelbar durch technische oder administrative Neuerungen der letzten 150 Jahre motiviert. <?page no="180"?> 180 David Gerhardt Die aktuelle Flurnamengenese im Untersuchungsgebiet bedient sich, gemessen an ihrer Produktivität und Vielfalt (allein 355 Namentypen gehen auf Appellative zurück), nur spärlich an neuem Wortschatz. Dass im Zuge des agrarischen Wandels der letzten Jahrzehnte eine besonders große Zahl neuer Wörter zur Bildung von Flurnamen verwendet wurde, ist nach Auswertung des hier vorliegenden Materials zu verneinen. Die jüngeren massiven landwirtschaftsstrukturellen Umbrüche auf dem mittelhessischen Land haben die Verständigung mittels Flurnamen in vielerlei Hinsicht stark verändert. 16 Jedoch nicht so sehr auf der Ebene des den Flurnamen zugrundeliegenden Wortschatzes. Die bereits vorneuzeitlich gebrauchten Flurnamenbestandteile Acker , alt , Berg , Bette , Born , Burg , Driesch , Ecke , Feld , Garten , Graben , groß , Hart , Hecke , Hof , Hute , Kopf , Köppel , Loh (‚Hain‘), Mühle , Rod , Seite , Strut , Tal , Wald , Weg , Weide und Wiese überwiegen weiterhin. 5 Abschließende Kritik In dieser Untersuchung ist mit der Beschränkung, dass ein neues Wort vor 1800 im Deutschen nicht schriftlich erwähnt sein darf, der Materialrahmen eng bemessen worden. Wenn irgendwo im deutschsprachigen Raum ein Wort vor 1800 schriftlich erscheint und dies bis heute festgehalten ist, heißt das noch lange nicht, dass es im mittleren Hessen zu dieser Zeit schon allgemein geläufig war und für die Flurnamenbildung taugte. Es geht im oben Ausgeführten nicht zuerst darum, wann der eigentliche Flurnamentyp entstand, sondern welches Alter das zugrundeliegende Wort hat. Dies sei in Anbetracht des hier eingeführten Begriffs neuer Flurnamentyp stets ins Bewusstsein gerufen. So hat es beispielsweise vor dem Bau der ersten längeren Eisenbahnstrecken im 19 . Jahrhundert sehr wahrscheinlich keine Flurnamen vom Typ Eisenbahn f. in Mittelhessen gegeben. Der im Untersuchungsgebiet für Damm durch zwei Flurnamen mit Frequenz 3 belegte Flurnamentyp fällt hier dennoch heraus. Das Wort Eisenbahn f. tritt nämlich schon im 18 . Jahrhundert im Zusammenhang mit Förderbahnen im Bergbau auf (vgl. Kluge/ Seebold 2002 : 236 ). Auf der hessischen Verbreitungskarte des Flurnamentyps, die die hier angeführten Belege nicht zeigt, sind in den mittelhessischen Hauptbergbaugebieten keine der 30 dort erfassten Flurnamen kartiert (vgl. Hessische Flurnamen, Verbreitungskarte Eisenbahn ). Das konzeptionelle Hauptproblem der Untersuchung ist allerdings nicht die (keineswegs willkürlich gewählte) Namentypauswahlbeschränkung, sondern die geringe Größe des Untersuchungsgebietes von knapp 31 km 2 . Die sechs un- 16 Genaue Ausführungen darüber, inwiefern, würden hier definitiv zu weit führen. Es sei hierfür auf mein voraussichtlich bald erscheinendes Dissertationsvorhaben (bisheriger Titel: Gegenwärtige Flurnamen in Entwicklung und Gebrauch ) verwiesen. <?page no="181"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 181 tersuchten Dörfer stehen zwar nicht nur für sich selbst, allerdings auch nicht für das kommunalpolitisch und (sprach)historisch vielseitige Gladenbacher Bergland . Wahrscheinlich gibt es einige neue Flurnamentypen, die in ganz Mittelhessen nur wenige Male vorkommen; so wie auch bestimmte alte Namentypen dort vergleichsweise selten sind (vgl. z. B. Bracht f. im HFA , 139 ). Vieles ist hier sicher durch Zufall angetroffen worden. Aber dieses ist eben auch gerade aufgrund der extrem aufwendigen Erhebungsmethode jetzt sichtbar, die die Erhebung neuerer Erscheinungen beförderte. Ihrerseits hat sie jedoch zu der Beschränkung auf den kleinen Untersuchungsraum geführt. Großflächiger angelegte Untersuchungen könnten vielleicht sogar Aufschluss über mögliche räumliche Verbreitungsschwerpunkte neuer Flurnamentypen geben. So wäre es z. B. interessant, ob der für die nordwestliche Bundesrepublik ab und an beschriebene neue Flurnamentyp Transformator m. (vgl. Scheuermann 1987 : 213 ; Vogelfänger 2010 : 21 ) im mittleren und südlichen Hessen vielleicht nachweislich weniger stark verbreitet ist. Literatur Alas, Marit (2009): „Change of cultural and natural names in Pöide Parish (Saaremaa, Estonia).“ In: Ahrens, Wolfgang/ Embleton, Sheila/ Lapierre, André (eds.): Proceedings of the 23 rd International Congress of Onomastic Sciences. York, Yorkspace: 76-85. [http: / / yorkspace.library.yorku.ca/ xmlui/ handle/ 10315/ 2925.] Becker, Siegfried (2010a): „Landwirtschaftliche Neuerungen im 19. Jahrhundert.“ In: Gemeinde Weimar/ Lahn (ed.): Niederwalgern 1235-2010. 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[Rezipiert als Faksimile der Akademischen Druck- und Verlagsanstalt Graz von 1995.] Anhang: hier behandelte Flurnamen, deren Dorfzugehörigkeiten, Typisierungen, mündliche Nennungsfrequenzen und Sachbezeichnungen Flurname Ort Namentyp/ en (neu oder alt? ) Frequ. Sachbezeichnung (Was für eine Art von Fläche bezeichnet der Name? ) alten Deponie, zur SE alt/ Deponie f. (alt/ neu) 1/ 6 mit Bäumen bestandene Wiese alte Ranch, die Wi alt/ Ranch f. (alt/ neu) 2/ 6 Wiese, Weide in leichter Hanglage Aussiedlerhof Wi Aussiedlerhof m. (neu) 0/ 6 Acker, Wiese, Hoffläche Ballenlager SE (Rund-)Ballenlager n. (vielleicht neu) 1/ 6 Wiese, Lagerplatz für Strohballen Bahnhoop DA Bahnhof m. (neu) 5/ 6 Acker, Wiese, verbuschtes Gelände Boanhoop RO (hierher? ) Bahnhof m. (neu) 1/ 6 Wald Broodweiher MU Brandweiher m. (vielleicht neu) 1/ 6 Wiese, besiedelte Fläche <?page no="185"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 185 Flurname Ort Namentyp/ en (neu oder alt? ) Frequ. Sachbezeichnung (Was für eine Art von Fläche bezeichnet der Name? ) dick Aich, bei de MU dick/ Eiche f. (alt/ alt) 1/ 6 Wiese dicke Eiche, die SE dick/ Eiche f. (alt/ alt) 4/ 6 Wiese (mit alter Eiche) dicke Eich, vor de Wi dick/ Eiche f. (alt/ alt) 2/ 6 vor allem Wiese, Wald (große Eiche) Dschungel, de RO Dschungel m. (neu) 2/ 6 mit Gestrüpp bewachsenes Gebiet Eichborn DA Eiche f./ Born m. (alt/ alt) 0/ 6 (selbe Fläche wie S- Kurve ) Eiche, oh de RO Eiche f. (alt) 2/ 6 Acker, Wiese (bei einigen Eichen) Eichen Strut RL Eiche f./ Strut f. (alt/ alt) 0/ 6 Wald Eiseboo, inner de DA Eisenbahn f. (alt) 3/ 6 Acker Eiseboo, iwwer de DA Eisenbahn f. (alt) 3/ 6 Acker Gestrout SE (hierher? ) Ger m./ Strut f. (alt/ alt) 6/ 6 unbesiedeltes Bachtal, meist Wiese, aber auch Äcker und etwas Wald Gestrout, die SE (hierher ? ) Ger m./ Strut f. (alt/ alt) 1/ 6 Acker im oben genannten Tal Gestrut, zur SE (hierher? ) Ger m./ Strut f. (alt/ alt) 1/ 6 Wiese Grillhütt, bei de MU Grillhütte f. (neu) 1/ 6 Wald (bei einer Grillhütte) Grillplatz, de Wi Grillplatz m. (neu) 1/ 6 Wiese (bei einer Grillhütte) Hochbehälter, am RO Wasserhochbehälter m. (neu) 1/ 6 Wald um einen Wasserhochbehälter Jungholz DA jung/ Holz n. (alt/ alt) 5/ 6 Obstbaumwiese, Acker, Wald Jägerkriem RO Jäger m./ Kriem m. (alt/ viell. neu) 1/ 6 Acker, Wiese <?page no="186"?> 186 David Gerhardt Flurname Ort Namentyp/ en (neu oder alt? ) Frequ. Sachbezeichnung (Was für eine Art von Fläche bezeichnet der Name? ) Klärwerk, am DA Klärwerk n. (neu) 2/ 6 Acker, Wiese (nördlich der Kläranlage) Klee Wällje DA klein/ (hierher? ) Walger m. (alt/ alt) 1/ 6 Wald im Bereich des Wasserhoch-behälters Klee Wällje, vierem DA klein/ (hierher? ) Walger m. (alt/ alt) 1/ 6 mit Gestrüpp bewachsene Fläche Krumbachs Oma Wi Krumbach SN / Oma f. (alt/ neu) 1/ 6 Wiese Naturschutzgebiet MU Naturschutzgebiet n. (neu) 1/ 6 extensive Weide mit Gebüsch, Seeufer Neubaugebiet MU Neubaugebiet n. (wohl neu) 1/ 6 Wiese (innerhalb des Neubaugebiets) Neubaugebiet, im SE Neubaugebiet n. (wohl neu) 1/ 6 Wiese (nahe einiger Neubauten) neue Ranch, die Wi neu/ Ranch f. (alt/ neu) 2/ 6 Wiese (um Stallungen) obere Lichtung, die SE Lichtung f. (neu) 1/ 6 Wiese, Acker Obstbaumwiese Wi Obstbaum m./ Wiese f. (alt/ alt) 1/ 6 Wiese mit Obstbäumen Pumpstation MU Pumpstation f. (wohl neu) 1/ 6 Wald unweit des Wasserhochbehälters (siehe auch Grillhütt, bei de ) Schutzhütt, die RO Schutzhütte f. (vielleicht neu) 4/ 6 Wiese (um eine Schutzhütte) Schutzhütte, die RL Schutzhütte f. (vielleicht neu) 1/ 6 Acker, Wiese (in der Nähe einer Sch.) schutzin hutten, by der - (hierher? ) Schutz FN / Hütte f. (alt/ alt) 0/ 6 ? (Fläche liegt weit außerhalb des Untersuchungsgebietes) Schossee, hinner de Wi Chaussee f. (alt) 1/ 6 Wald (an einer Landstraße gelegen) Schwimmboed, des RL Schwimmbad n. (wohl neu) 1/ 6 Wiese <?page no="187"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 187 Flurname Ort Namentyp/ en (neu oder alt? ) Frequ. Sachbezeichnung (Was für eine Art von Fläche bezeichnet der Name? ) S-Kurve DA S-Kurve f. (wohl neu) 3/ 6 Wiese (bei einer S-Kurve) Sportplatz DA Sportplatz m. (neu) 6/ 6 Acker, Wiese Sportplatz RL Sportplatz m. (neu) 4/ 6 Wald, Wiese, Tennisplätze (verfallen) Sportplatz SE Sportplatz m. (neu) 1/ 6 (heißt auch Ballenlager - s. o.) Sportplatz Wi Sportplatz m. (neu) 1/ 6 Wiese (u. a. Bolzplatz für Kinder) Sportplatz, zum MU Sportplatz m. (neu) 1/ 6 Rangierfläche vor einem Autohaus Staatswald DA Staatswald m. (vielleicht neu) 2/ 6 Wald (im Besitz des Landes Hessen) Steinbruch RO Steinbruch m. (alt) 2/ 6 Ausbuchtung an Hangfuß mit S., Wald Streuobstwiesen DA Streuobst-(wiese) f. (neu-(alt)) 1/ 6 Wiese mit Obst- und Beerenkulturen - - Transformator m. (neu) 0/ 6 (keine zugehörigen Fluren im Gebiet) Trapez DA Trapez n. (alt) 1/ 6 Acker Waldrand, owe am RO Waldrand m. (vielleicht neu) 1/ 6 Wiese vor dem Wald Wasserbasseng DA Wasserbasseng m. (wohl neu) 3/ 6 Wald und Wasserhochbehälter Wasserbasseng RL Wasserbasseng m. (wohl neu) 1/ 6 Wald Wasserbasseng, beim SE Wasserbasseng m. (wohl neu) 1/ 6 Aufforstung, Wald, Wiese (um einen Wasserhochbehälter) Wasserhäusche RO Wasserhaus n. (alt) 1/ 6 Wiese (um einen Tiefbrunnen) Wasserhäusche, am MU Wasserhaus n. (alt) 3/ 6 Wiese (um ein altes Pumpwerk) <?page no="188"?> 188 David Gerhardt Flurname Ort Namentyp/ en (neu oder alt? ) Frequ. Sachbezeichnung (Was für eine Art von Fläche bezeichnet der Name? ) Wasserhäuschen, am SE Wasserhaus n. (alt) 1/ 6 (siehe Sachbezeichnung von Wasserbasseng , beim im gleichen Ort) Wasserhäuschen, beim Wi Wasserhaus n. (alt) 1/ 6 Wäldchen, Wiese (im Bereich eines Wasserhochbehälters) Wasserhäuschen, überm MU Wasserhaus n. (alt) 2/ 6 Wiese (im Bereich eines Tiefbrunnens; nicht identisch mit Wasserhäusche, am ) Wasserhochbehälter, beim Wi Wasserhochbehälter m. (neu) 1/ 6 (siehe Sachbezeichnung von Wasserhäuschen, beim im selben Ort) Wasserleidungsstick, des RL Wasserleitung f./ Stück n. (alt/ alt) 1/ 6 (siehe Sachbezeichnung von Wasserbasseng ) Zeltplatz SE Zeltplatz m. (vielleicht neu) 1/ 6 Wiese (heißt auch Ballenlager - s. o. ) Zigeunereich, vier de Wi Zigeuner m./ Eiche f. (alt/ alt) 3/ 6 (Selbe Fläche wie dicke Eich , vor de ) Es sind hier alle Flurnamen gelistet, auf die im Text unmittelbar Bezug genommen wird. Einige von ihnen kommen im Text nicht explizit vor, sondern nur die Flurnamentypen unter denen die Namen eingeordnet wurden. Die präsentierten 63 Namen sind nur ein kleiner Teil der den ausgewerteten Gesamtbestand bildenden 755 Kernflurnamen (mit präpositionalen Varianten: 885 ). Wie erwähnt sind die einfachfrequenten Flurnamen ( 1 / 6 *) in ihrer Proprialität unsicher und hier unter Vorbehalt behandelt worden. Bedeutung der Ortskürzel in der Spalte „Ort“: DA =Damm, MU =Mudersbach, RL =Rollshausen, RO =Roßbach, SE =Seelbach und Wi=Wilsbach. Kürzel FN =Familienname; SN =Siedlungsname. [*: X/ 6 bedeutet ‚X von sechs befragten Gewährspersonen des jeweiligen Dorfes nannten den Namen‘.] <?page no="189"?> Neue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen? 189 D Dialektologisches <?page no="191"?> Von Blätterchen und Bäumchen 191 Von Blätterchen und Bäumchen: Die Entwicklung der Plural-Diminutive und Diminutiv Plurale im Deutschen und Luxemburgischen 1 Maike Edelhoff Abstract This paper focuses on the appearance and (almost complete) disappearance of the complex plural diminutive suffix -erchen in Standard German and its status in related varieties, namely the Middle German Moselle Franconian dialect area and the Luxembourgish language. Research in this area of diminution has been rather scarce and mainly descriptive without focus on reasons for the (dis)appearance of this morphological phenomenon. This article aims to amend this oversight on the basis of examples in several (historical) corpora. The argumentation follows the historical development of the suffix in German corpora until today and contrasts it with the respective status quo in the other varieties. The plural diminutive suffix is first documented for nouns belonging to the class of er -plurals in the Early Modern High German era and happens to thrive parallel to the er -plural marker, reaching its climax in the 18 th and 19 th centuries before disappearing almost completely. While the Moselle Franconian dialects show the same development, the Luxembourgish language has functionalised the complex suffix and made it mandatory. These contrary developments are explicable with regard to the phonological, prosodic and morphological patterns of the varieties as well as their influence on each other. From an areal perspective it becomes clear that the case of plural diminutives constitutes a clear linguistic boundary which coincides with the political borders between the Luxembourgish language on the one side and both, the Moselle Franconian dialects and Standard German on the other side. 1 Ich bedanke mich herzlich bei Britta Weimann für die inhaltlichen Hinweise und Anregungen, sowie bei Caroline Döhmer, Judith Manzoni und Peter Gilles für die redaktionelle Unterstützung. <?page no="192"?> 192 Maike Edelhoff 1 Einleitung und Zielsetzung Geht es in Grammatiken und Wortbildungslehren zum Deutschen um die Diminutivbildung, wird immer wieder die Ausnahmeform Kinderchen bemüht. Sie steht im Gegensatz zu den regelmäßigen Nullpluralen (z. B. das Bäumchen - die Bäumchen ) und wird aufgrund ihrer außergewöhnlichen Suffixreihenfolge mit Flexionsvor Derivationssuffix thematisiert (vgl. u. a. Fleischer/ Barz 2012 : 234 ; Naumann 1986 : 8 ). Typologisch betrachtet rückt sie damit in die Nähe der portugiesischen, bretonischen und walisischen „Doppelplurale“ (u. a. Stump 1993 ) und erweist sich augenscheinlich als Verletzung von Greenbergs ( 1966 : 93 ) Universalie 28 : „If both the derivation and inflection follow the root, or they both precede the root, the derivation is always between the root and the inflection.“. Bisher wurden die Gründe für die Existenz dieser Ausnahmeform, ihre Entstehung, ihre Geschichte und ihr Rückgang wenig, und wenn nur am Rande, thematisiert. Areallinguistisch ist die Form aus einigen wenigen Dialekträumen bekannt z. B. in Hessen, sogar mit doppelter Pluralmarkierung ercher (vgl. Deutscher Sprachatlas, Karten „Apfelbäumchen“ und „Schäfchen“). Doch auch die luxemburgische Sprache hat die Plurale mit eingeschobenem er etabliert; in den benachbarten moselfränkischen Dialekten auf deutscher Grenzseite findet sich die Form dagegen deutlich seltener. Dieser Beitrag widmet sich deshalb den Fragen, wie sich das komplexe Suffix entwickelte, aus welchem Grund sich die overte Pluralmarkierung für Diminutive im Deutschen 2 nicht durchgesetzt hat und warum das komplexe Plural-Diminutiv-Suffix (im Folgenden PL - DIM -Suffix), mit Ausnahme einiger Reliktformen, wieder verschwand. Das Luxemburgische soll als Kontrastsprache dienen, da es eng mit dem Deutschen verwandt ist und das Suffix, im Gegensatz zum Deutschen, funktionalisiert und obligatorisiert hat (vgl. Bruch 1949 ; Gilles 2013 ). Der Blick in die moselfränkischen Dialekte 3 auf deutscher Grenzseite dient als Zwischenglied, da sie dem Luxemburgischen sprachlich nahestehen, aber von der deutschen Standardsprache überdacht sind und das komplexe Suffix ebenso wenig wie das Deutsche etabliert haben. In einem ersten Schritt (Kapitel 2 ) stehen die Entstehung, die Ausbreitung und der Rückgang bzw. Verbleib, die Funktionalisierung und Obligatorisierung der Plural-Diminutive in den Varietäten im Mittelpunkt. In Kapitel 3 möchte ich über die Kontrastierung Schlüsse für den (Miss-)Erfolg des Suffixes in der jeweiligen Varietät ziehen und auf Auswirkungen eingehen. Kapitel 4 bietet Vorschläge einer synchronen Interpretation der Plural-Diminutive. Im Fazit (Ka- 2 Der Begriff Deutsch bezieht sich auf die überregionale Standardsprache. Wenn es um einzelne Dialekte geht, werden diese explizit genannt. 3 Mit der Bezeichnung moselfränkische Dialekte sind im Kontext dieses Beitrags die modernen moselfränkischen Dialekte auf deutschem Staatsgebiet gemeint. <?page no="193"?> pitel 5 ) werde ich abschließend auf offene Fragen und Forschungsdesiderate eingehen. 2 Der Plural-Diminutiv in den Varietäten Im Folgenden sollen jeweils die Entwicklung und der Verbleib oder Rückgang der overten Plural-Diminutive im Deutschen im Kontrast zu den moselfränkischen Dialekten und der luxemburgischen Sprache thematisiert werden. Die Wahl fiel neben dem Deutschen auf das Luxemburgische, da in den beiden Sprachen trotz naher genetischer Verwandtschaft und struktureller Gemeinsamkeiten zwei vollkommen unterschiedliche Entwicklungen der Plural-Diminutive stattfanden. Die moselfränkischen Dialekte bilden das Bindeglied zwischen den beiden Sprachen: sie gehören zu den westmitteldeutschen Dialekten und gelten als Ursprung des Luxemburgischen. Aus struktureller Sicht haben sie noch immer viele Gemeinsamkeiten mit dem Luxemburgischen, das sich jedoch immer stärker von ihnen entfernt. Die Wenkerbögen beider Grenzseiten ( 1879 für den moselfränkischen Teil und 1888 in Luxemburg) zeigen, dass diese Entwicklung bereits im 19 . Jahrhundert an der Staatsgrenze deutlich fortgeschritten ist. Die Datenbasis für die drei Varietäten fällt stark heterogen aus. Diese Heterogenität ist unvermeidlich, da sich die Varietäten in unterschiedlichen Ausbaustadien befinden und die Dokumentationssituation divergiert. Für das Deutsche wurden vier Korpora hinzugezogen: das HIST -Archiv in Cosmas II des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim, das Deutsche Textarchiv von 1650 - 1900 , das Kernkorpus des 20. Jahrhunderts des DWDS und das ZEIT -Korpus (abrufbar über die Webseite des DWDS ). Für das Luxemburgische stand das aktuelle Online- Wörterbuch Lëtzebuerger Online Dictionnaire ( LOD ) sowie das Luxemburger Wörterbuch ( LWB ) von 1950 - 1970 zur Verfügung und für das Moselfränkische verschiedene Ortsgrammatiken (Steitz 1981 für Saarbrücken; Groß 1989 für Großrosseln und Reuter 1989 für Horath). Für alle drei Varietäten wurden Sprachatlanten (abrufbar über regionalsprache.de) zurate gezogen. 2.1 Deutsch Unsere heutige Schriftsprache bevorzugt im allgemeinen (sic) die diminuierten Singularformen; Pluralformen sind relativ viel seltener. Werden letztere gebildet, so geschieht dies (…) nur gelegentlich durch Anfügen des [Diminutiv-]Suffixes an Plurale mit epenthetischem -er (…). Anders die Sprache des 16. und 17. Jahrh. Hier sind solche Pluralbildungen minder selten, häufiger -erlein ( -erleins ), gelegentlich -erchen (-erchenes, -ercher , -erchens ) (…). 4 (Gürtler 1910 : 135 ) 4 Kursiv-gesetzte Hervorhebungen in Gürtler 1910 in Antiqua. Von Blätterchen und Bäumchen 193 <?page no="194"?> 194 Maike Edelhoff Gürtlers ( 1910 : 135 ) Beschreibung der Diminutive im Deutschen und ihre Entwicklung im Frühneuhochdeutschen ist ein geeigneter Ausgangspunkt für die Geschichte der komplexen Suffixe. Zunächst soll der Fokus auf der Entstehung, Verbreitung und dem Rückgang der komplexen Plural-Suffixe liegen ( 2 . 1 . 1 ) und anschließend der aktuelle Status der Diminutiv-Plurale näher betrachtet werden ( 2 . 1 . 2 ). 2.1.1 Entstehung, Ausbreitung und Rückgang der Plural-Diminutive Die erste Frage, die sich Gürtlers ( 1910 ) Beobachtung anschließt, betrifft die einzelnen Bestandteile des komplexen Suffixes: Er bemerkt, dass Diminutive, wenn sie ihren Plural überhaupt overt am Substantiv markieren, entweder einen er -haltigen Einschub zwischen Stamm und Suffix oder eine Markierung am äußersten rechten Wortrand oder beides aufweisen (vgl. Gürtler 1910 : 135 - 138 ). Auch die Formen, die Ettinger ( 1980 : 60 ) für den Zeitraum zwischen dem 16 . und 20 . Jahrhundert zusammenstellt, bestätigen Gürtlers Annahme: Findet eine Pluralmarkierung statt, dann entweder durch einen er -Einschub zwischen Suffix und Stamm und/ oder am äußersten Rand des Suffixes. Nun ist eine flexivische Markierung am äußersten rechten Rand des Wortbildungssuffixes wenig überraschend (vgl. u. a. Greenberg 1966 : 93 ), vor allem, wenn es sich bei den aufgezählten Pluralmarkierungen sämtlich um reguläre Pluralmarkierungen des Deutschen handelt (z. B. -( er ) chen e , -( er ) lein s oder -( er ) chen s in Ettinger 1980 : 60 ). Bemerkenswerter ist der er -Einschub und die Frage, weshalb gerade er einen solchen Erfolg mit sich bringt und andere Plural-Allomorphe, wie e , en oder s wie in „* Tierechen, * Nasenchen , * Parkschen “ (Donalies 2006 : 42 ) ausgeschlossen sind. In der Literatur werden vor allem zwei Argumente für den Erfolg des eingeschobenen er hervorgebracht. Einerseits wird die strukturelle Ähnlichkeit zu den zweisilbigen Basen mit Pseudo-Suffix er als Grund angegeben: „Nachhaltigeren Erfolg hatten in der Literatur die (…) Pluralbildungen auf erchen : Kinderchen , Dingerchen , Gläserchen , Räderchen usw., begünstigt durch die Brüderchen , Äderchen , Fensterchen “ (Henzen 1965 : 147 ; auch Fleischer/ Barz 2012 : 234 ). Andererseits ist eine Anlehnung der DIM - PL an die Diminutive mit Bindevokalen, die zu Anfang der neuhochdeutschen Periode keine Seltenheit waren (hauptsächlich e wie in stubechîn oder i wie in husichîn nach Gürtler 1909 : 5 ) ebenso plausibel: Erst im frühen 17 . Jahrhundert wurden Bindevokale zwischen Stamm und Suffix in Singular- und Plural-Diminutiven von der Synkope erfasst und verschwanden. Diese beiden Analogie-Vorbilder, sowie das noch geringe Alter der er -Pluralisierung im Gegensatz zu den anderen Pluralisierungsmustern (vgl. Naumann 1986 : 8 ) kommen als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Plural-Diminutive in Frage. <?page no="195"?> Aus arealer Perspektive lässt sich der westmitteldeutsche Raum als Quelle für die Plural-Diminutive zurückverfolgen. Die ersten Belege stammen aus dem 14 . Jahrhundert und gehören ausnahmslos zur Klasse der Substantive mit er - Plural (z. B. kleiderchîn , welferchen in Gürtler 1909 ). Diese sog. Hühnerhofklasse (Nübling i. V., Dammel i. V.). nahm zur Zeit des Mittelhochdeutschen und frühen Frühneuhochdeutschen eine große Anzahl einsilbiger Neutra mit ursprünglichem Nullplural (z. B. Kind - Kinder ), einsilbige Maskulina ( Mann - Männer ) und später zu frühneuhochdeutscher Zeit auch zweisilbige jambische Neutra ( Gebet - Gebeter ) auf (Gürtler 1912 / 1913 , Nübling demn.). Vollkommen parallel dazu breiteten sich die Plural-Diminutive auf diese Stämme aus (z. B. kinderchynne ( 15 . Jh.), ( Erd -) männerchen ( 1528 ), gebederchyn ( 1499 )), wenn auch die Nullplurale weiterhin überwogen 5 . Diese parallele Ausbreitung unterstützt zunächst die These, dass die Entwicklung des sprachgeschichtlich jungen er - Plurals einen bedeutenden Einfluss auf die Plural-Diminutive hatte. Das 18 . Jahrhundert bedeutete für die Plural-Diminutive einen Wendepunkt. Ettinger ( 1980 ) und Schebben-Schmidt ( 1990 : 318 ) vermerken eine deutliche Reduzierung der bei Gürtler ( 1910 : 135 ) aufgezählten dialektalen Suffix-Varianten zugunsten der mitteldeutschen Suffixkombinationen erchen (v. a. im Ostmitteldeutschen und Ripuarischen) und ercher (v. a. im Rheinfränkischen). Diese beiden Varianten breiteten sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auf den gesamten deutschsprachigen Raum aus (Schebben-Schmidt 1990 : 318 ) und waren stellenweise sogar in Dialektgebieten zu finden, in denen eigentlich l - Diminutive (des Typs el oder lein ) vorherrschten (vgl. Gürtler 1910 : 136 - 137 ). Zieht man eine Stichprobe aus den Korpora (Tabelle 1 ) erkennt man trotz heterogener Datenlage erste Tendenzen. DTS Cosmas II HIST DWDS-Kernkorpus ZEIT-Korpus 17. Jh. 0 % (10) 18. Jh. 6 % (32) 5 % (19) 19. Jh. 15 % (33) 25 % (36) 20. Jh. 15 % (27) 21. Jh. 0 % (23) 5 75 % der pluralisch genutzten Diminutive im Bonner-Frühneuhochdeutsch-Corpus sind Nullplurale. Von Blätterchen und Bäumchen 195 <?page no="196"?> 196 Maike Edelhoff Tabelle 1 Anteil der Stämme ohne regulären er -Plural an den Plural-Diminutiven mit komplexem Suffix -erchen in % in den vier Korpora; rechts: Anzahl verschiedener Stämme mit -erchen ; links: Anteil der Stämme ohne regulären er -Plural Im 17 . Jahrhundert finden sich nur zehn unterschiedliche Plural-Diminutive, wobei sich alle Belege zu den Basen mit regulärem er -Plural rechnen lassen. Zum 18 . und 19 . Jahrhundert hin steigt sowohl die Zahl der verwendeten Basen allgemein als auch die derjenigen Basen ohne regulären er -Plural an. Die Mehrheit der Lexeme gehört zwar noch immer zu den erwartbaren Stämmen mit er -Plural (z. B. Bänderchen , Blätterchen ), die Anzahl der Stämme mit abweichenden Pluralformen erhöht sich aber über die Jahrhunderte. Zu diesen neuen Basen mit abweichenden Pluralformen gehören unter anderem solche, die während der stärksten Ausbreitungsphase der er -Plurale zwischenzeitlich einen er -Plural annahmen, aber wieder abbauten (z. B. Grashälmer , Beiner vgl. Gürtler 1913 ; Reichmann/ Wegera 1993 ; Nübling demn.). Diese Schwankungsfälle bilden den Brückenkontext für die Ausbreitung auf diejenigen weiteren Stämme, die nicht als Schwankungsfälle dokumentiert sind 6 und sogar solche, die historisch niemals über ein er -Flexiv verfügen konnten. Zu letzteren zählen die zwei Belege mit femininen Stämmen Täuberchen und Geißerchen (in Grimm, J + W 1812 ). Diese beiden Belege sind insofern auffällig, da die Zuweisung des er -Plurals auf Neutra und Maskulina beschränkt war und auch weiterhin ist, die Pluralisierung im Diminutiv aber trotzdem über ein er -haltiges Suffix geschieht. Das Auftreten des er -haltigen PL - DIM -Suffixes bei diesen Lexemen bestätigt also eine Loslösung der Plural-Diminutive von den er -Pluralen, da die Grundvoraussetzungen für den er -Plural nicht mehr gegeben waren. Auffallend ist, dass der Höhepunkt der er -haltigen PL - DIM -Formen nicht in das 18 . Jahrhundert fiel, obwohl die zugrundeliegende er -Pluralklasse in dieser Zeit vor ihrem Rückgang ihre größte Verwendung fand (vgl. Nübling demn.). Eine mögliche Erklärung kann ein Blick in die Kontexte der Plural-Diminutive liefern: Sie treten besonders in Textgattungen mit archaisierenden Tendenzen wie dem Märchen und dem Volkslied auf, die sowieso diminutivreich sind und im 19 Jh. ihre größte Beliebtheit erfuhren (Burdorf et al. 2007 ‚Märchen‘; ‚Volkslied‘). Vor allem die unerwarteten Pluralformen bei Stämmen ohne er -Pluralzugehörigkeit wirken wie Imitationen bzw. Übertreibungen eines vermeintlich älteren Stils, wobei auch die daktylische Form aus metrischen Gründen bevorzugt worden sein könnte. Außerhalb der genannten Gattungen sind die Plural- Diminutive deutlich seltener. 6 Nämlich: Laiberchen , Chineserchen , Büberchen , Füchserchen , Mäderchen , Stöckerchen , Stühlerchen . <?page no="197"?> Weder die steigende Anzahl der möglichen Basen für die Plural-Diminutive im 18 ./ 19 . Jahrhundert noch die genannten Ausnahmen mit reanalysiertem Diminutiv-Plural-Suffix sollen über die Tatsache hinwegtäuschen, dass auch in der produktivsten Zeit die Nullplurale bei der Mehrheit der Diminutive überwogen. Die Stichproben für die Diminutive Kindchen (N= 47 ), Bildchen (N= 84 ), Männchen (N= 194 ) und Blättchen (N= 158 ) aus Cosmas II sollen die Verteilung (vgl. Abb. 1 ) kurz illustrieren. Die Auswahl in Abb. 1 entspricht den Diminutiven, die im Korpus für das 18 . und 19 . Jahrhundert am häufigsten mit erchen -Plural vorkommen. Es lässt sich also selbst für die Top 4 der Plural-Diminutive festhalten, dass die Plurale mit komplexem Suffix nur in Ausnahmefällen überwogen und der Nullplural im Regelfall die vorherrschende Markierung war, wenn auch je nach Lexem in unterschiedlichem Maße. Das Lexem Kindchen ist die einzige Ausnahme mit stabilem er -haltigen Suffix; die Lexeme Bildchen , Männchen und Blättchen dagegen zeigen die erwartbare Bevorzugung des Nullplurals. Abb. 1 Verteilung komplexe Plural-Suffixe ( -erchen ) vs. Nullplurale ( -Øchen ) im Deutschen des 18./ 19. Jahrhunderts Nach dem 19 . Jahrhundert ist eine Abnahme der Diminutiv-Plural-Verwendung zu verzeichnen. In den Korpora für das 20 . und 21 . Jahrhundert hat die Basis- Vielfalt für die Plural-Diminutive abgenommen. In den Belegen für das 20 . Jahrhundert sind nur noch vier Beispiele ( Mäderchen , Amazönerchen , Gedichterchen und Späßerchen ) mit Stämmen ohne er -Plural zu finden. Zwei der vier Beispiele lassen sich Kontexten zuordnen, die nahelegen, dass sich die Schreiber der Markiertheit der Formen bewusst waren. Einer der Belege ist in einen absichtlich ungrammatisch formulierten Satz eingebettet („anstatt Amazönerchen, was ihnen viel besser stehen tun tätete“) und ein anderer im Satz in Anführungszeichen gesetzt („Gedichterchen“). Diese Formen sprechen für ein bewusstes Spiel mit der Sprache. Von Blätterchen und Bäumchen 197 <?page no="198"?> 198 Maike Edelhoff Im ZEIT-Korpus, in dem Zeitungssprache aus dem 20 . und 21 . Jahrhundert zu finden ist, ist die Anzahl sämtlicher Diminutivformen - wenig überraschend - gering. Trotzdem haben sich noch einige der alten Plural-Diminutive gehalten, wobei ausschließlich der er -Plural-Klasse zugehörige Stämme (z. B. Kinderchen , Blätterchen ) vertreten sind. Darüber hinaus sind die meisten der gefundenen Lexeme Einzelbelege, wobei die vier häufigsten Lexeme ( Kinderchen , Bilderchen , Dingerchen und Häuserchen ) 70 % aller Funde ausmachen. 2.1.2 Der heutige Stand Fasst man den Status der Diminutiv-Pluralisierung im heutigen Deutsch zusammen, spielen die Plurale mit dem komplexen Suffix eine deutlich untergeordnete Rolle (vgl. Tab. 2 ). Basis SG-DIM-Suffix PL-DIM-Suffix Beispiel Auslaut / ʃ, x/ lein lein Büch-lein - Büch lein andere Auslaute chen chen Bäum chen - Bäum chen Blätt chen - Blätt chen Pluralklasse -er (fakultativ) erchen Blätt chen - Blätt erchen Tabelle 2 Pluralzuweisung bei Diminutiven im Deutschen Nur bei wenigen frequenten Ableitungs-Basen mit er -Plural bietet sich noch die Möglichkeit, das komplexe PL - DIM -Suffix zu verwenden. Gerade aus diesem Grund stellt sich die Frage, weshalb diese wenigen Reliktformen weiter bestehen blieben. Eine denkbare Erklärung für das Verbleiben der Reliktformen ist die Möglichkeit einer semantischen Aufteilung zwischen Reliktform und Nullplural. Für einige Belege ist dieser Erklärungsversuch durchaus plausibel (z. B. die Kleidchen ‚einteilige Kleidungsstücke mit Rock‘ vs. die Kleiderchen ‚Kleidungsstücke‘), für andere wiederum nicht motivierbar ( die Bildchen vs. die Bilderchen (? )). Auch die Assoziierung dieser Formen im Zusammenhang mit bestimmten literarischen Genres und pragmatischen Funktionen könnte einen nachvollziehbaren Ansatz liefern. Gerade archaisierende Texte, wie die bereits erwähnten Märchen oder Volkslieder, haben diese Diminutive bewahrt und sorgen aufgrund ihres hohen Bekanntheitsgrades für eine anhaltende Präsenz dieser Formen. Zudem beschränkt sich der pragmatische Rahmen der Plural-Diminutive auf Verwendungen im Zusammenhang mit Kindersprache oder Spott, was mit <?page no="199"?> Hinblick auf den semantisch/ pragmatischen Wandel der Diminutive nicht verwunderlich ist (vgl. Dressler/ Barbaresi 1994 ). 2.2 Moselfränkische Dialekte Im Großteil der moselfränkischen Dialekte trifft man weder auf den Nullplural bei Diminutiven noch auf das er -haltige komplexe Suffix. Hier hat sich stattdessen die Pluralmarkierung mit dem Suffix cher etabliert (vgl. MR h SA Band 5 , Karten 643 - 649 ). Diese vom Standarddeutschen abweichende Form des Suffixes entstand laut Wrede ( 1908 : 105 , vgl. auch Gürtler 1910 : 137 ) im südlichen Teil des westmitteldeutschen Gebiets, das im Singular durchgehend n -Ausfall und damit das Diminutivsuffix che (wie Blimmche ‚Blümchen‘) aufwies. Im Plural wurde das Suffix dann durch den er -Plural zu cher erweitert und setzte sich als Pluralmarkierung im gesamten moselfränkischen und ripuarischen Dialektgebiet durch. Selbst in Regionen ohne n -Ausfall (v. a. im nördlichen Moselfränkischen) konnte sich die durch den er -Plural erweiterte Form ausbreiten, sodass dort chen im Singular auf cher im Plural trifft (z. B. Sg. Blimmchen - Pl. Blimmcher ) (Seebold 1983 : 1253 ). Folgt man also Wrede und Gürtler, muss der n -Ausfall deutlich vor dem 15 . Jahrhundert stattgefunden haben. Gürtler ( 1909 : 6 ) datiert die ersten Belege mit cher -Suffix auf den Zeitraum um 1480 (z. B. bilcher , kistcher , taffelcher ) und zitiert auch für den Verlauf des 16 . Jahrhunderts Belege aus dem ripuarischen Raum (z. B. leutger , kittelger im Buch Weinsberg). Eine Durchsetzung in der überregionalen Schriftsprache gab es allerdings nicht: Mit Ausnahme einzelner Belege verschwand das Suffix durch die endgültige Ablösung der ripuarischen Schreibsprache im 18 . Jahrhundert vollständig (vgl. Schebben-Schmidt 1990 : 318 ). Die Pluralmarkierung in den moselfränkischen und ripuarischen Dialekten geschieht dennoch bis heute weiter mit dem Suffix cher als Allomorph neben dem komplexen Suffix elcher , das auf velare und palatale Basis-Auslaute folgt (vgl. Tab 3 ): Von Blätterchen und Bäumchen 199 <?page no="200"?> 200 Maike Edelhoff Basis SG-DIM-Suffix PL-DIM-Suffix Beispiel Auslaut / ʃ, x / häufig auch / k, ŋ, ts, ks/ elchen elcher 7 Bich-elchen - Bich elcher ‚Büchlein‘ Stéck-elchen - Stéck elcher ‚Stückchen‘ andere Auslaute -chen cher Bam cher ‚Bäumchen‘ Bläät cher ‚Blättchen‘ Pluralklasse -er (fakultativ, selten) ercher 8 Känn ercher ‚Kinderchen‘ Tabelle 3 Pluralzuweisung bei Diminutiven im Moselfränkischen (nach Steitz 1981; Groß 1990; Reuter 1990) Das komplexe Suffix ercher findet zwar in einigen Ortsgrammatiken der moselfränkischen Dialekte Erwähnung, hat sich aber offenbar nicht durchgesetzt (vgl. Kirchberg 1906 : 44 mit Hinweis auf die „Kindersprache“; Groß 1990 : 122 ). Ähnlich wie in den Untersuchungen zum heutigen Deutschen werden nur vereinzelte Formen genannt, die wie der Großteil der deutschen Reliktformen zu den Stämmen mit er -Plural gehören. Ein Blick in die Sprachatlanten bestätigt das Bild: Der Deutsche Sprachatlas vermerkt beim Lexem Apfelbäumchen (PL; N= 517 ) zwei Orte am westlichen Rand des moselfränkischen Dialektgebietes direkt an der luxemburgischen Grenze mit komplexem er -haltigen Suffix, während die Mehrzahl der anderen Orte den cher -- Plural vorweisen ( 99 %). Auch im Mittelrheinischen Sprachatlas sind drei Lexeme im Diminutiv Plural kartiert. Für das auch im Standarddeutschen gängige Kleiderchen wählen auch die Gewährspersonen in 23 Orten die Form mit komplexem Suffix, bei dem weniger frequent mit komplexem PL - DIM -Suffix vorkommenden Gläschen verringert sich die Zahl wiederum auf zwei Orte in luxemburgischer Grenznähe und beim Lexem Stühlchen , bei dem im Standard das erchen -Suffix blockiert ist, wählen drei Orte in Grenznähe das komplexe Suffix. Das komplexe er -haltige Suffix hat sich folglich im moselfränkischen Raum nicht durchsetzen können. Die wenigen Orte, die sich anders als das restliche moselfränkische Gebiet verhalten, sind ehemals zu Luxemburg gehörige Orte in der Eifel. 7 Das komplexe Suffix entstand durch Kombination des l -Diminutivs und des k -Diminutivs, was dadurch zu erklären ist, dass die Grenze der l -Diminutive südlicher gewandert ist und das Mitteldeutsche somit im Übergangsgebiet liegt (vgl. Nübling/ Fahlbusch/ Heuser 2012 : 158 ). 8 -ercher entspricht dem bereits untersuchten erchen im Deutschen. Dieses Suffix entstand parallel zum Suffix cher im o. g. Prozess. <?page no="201"?> 2.3 Luxemburgisch Das Luxemburgische ist im Ursprung ein westmoselfränkischer Dialekt, der seit der Staatsgründung Luxemburgs 1839 zu einer eigenständigen Sprache ausgebaut wurde. Seit 1984 ist das Luxemburgische eine der drei Amtssprachen Luxemburgs (vgl. Gilles 1998 ) sowie Nationalsprache und wird in der Forschung als Ausbau-, jedoch nicht als Abstandsprache bezeichnet (Kloss 1978 ). Der Blick auf die PL - DIM im Luxemburgischen zeigt allerdings, dass die morphologische Entwicklung einen eigenen Weg geht und weder eine Anlehnung an das Deutsche noch an die restlichen moselfränkischen Dialekte zu beobachten ist. Auch wenn eine profunde historische Analyse dieses Prozesses aufgrund der dünnen Quellenlage im Luxemburgischen nicht möglich ist, lässt sich der Weg zumindest aus theoretischer Perspektive rekonstruieren. Das moderne Luxemburgisch verfügt über drei Diminutiv-Plural-Suffixe, die auf Grundlage phonologischer und prosodischer Besonderheiten der Basis zugewiesen werden (vgl. Tabelle 4 ): Basis SG-DIM-Suffix PL-DIM-Suffix Beispiel ein- oder mehrsilbig Auslaut / ʃ, x/ häufig auch / k, ŋ, ts, ks/ elchen elcher Bich elchen - Bich elcher ‚Büchlein‘ Stéck elchen - Stéck elcher ‚Stückchen‘ Mitz elchen - Mitz elcher ‚Mützchen‘ zweisilbig, trochäisch andere Auslaute -chen cher Äppel chen - Äppel cher ‚Äpfelchen‘ Auto chen - Auto cher ‚Autochen‘ einsilbig oder zweisilbig + jambisch andere Auslaute ercher/ erchen 9 Beem ercher ‚Bäumchen‘ Blied ercher ‚Blätt(er)chen‘ Blimm-ercher ‚Blümchen‘ Geschicht ercher ‚Geschichtchen‘ Stéck-chen - Stéck-ercher ‚Stückchen‘ Tabelle 4 Pluralzuweisung bei Diminutiven im Luxemburgischen (nach Bruch 1949, 1973; Braun et al. 2005; Schanen/ Zimmer 2005) 9 Areal distribuierte Allomorphe: erchen vor allem im Westen und Norden Luxemburgs und ercher im Rest des Landes (vgl. Bruch 1949 ). Von Blätterchen und Bäumchen 201 <?page no="202"?> 202 Maike Edelhoff Die Allomorphe in Tabelle 4 gehen auf verschiedene Quellen zurück: Zum einen findet sich, wie in den moselfränkischen Dialekten auf deutscher Seite, das komplexe el -haltige Suffix mit identischer formaler Zuweisung (wie in Bichelchen u. a.). Daneben existiert das im Moselfränkischen geläufige einsilbige Suffix cher für zweisilbige trochäische Lexeme (z. B. Äppelcher ) und das komplexe Suffix ercher / erchen für einsilbige (z. B. Beemercher ) oder jambische Lexeme (z. B. Geschichtercher ). Die Zuweisung der Suffixe hat demnach zum Ziel, im Diminutiv Plural Daktylen zu erreichen. Nimmt man also den Status der komplexen Plural-Diminutive im Deutschen des 18 . und 19 . Jahrhunderts als Ausgangssituation, ist festzuhalten, dass das Luxemburgische die dort begonnene Entwicklung konsequent weiterführte. Anders als das Deutsche hat es das Suffix in sein System integriert, funktionalisiert und obligatorisiert, anstatt es wieder abzubauen. Dafür trennte sich das Suffix fast vollständig von den Zuweisungsprinzipien des er -Plurals (einsilbige oder jambische Maskulina und Neutra) und ließ sich so auf neue Basen übertragen. Die einzigen ererbten Gemeinsamkeiten mit dem er -Plural belaufen sich auf die prosodischen Beschränkungen für neue Basen: nur einsilbige oder zweisilbige jambische Basen sind mögliche Kandidaten (vgl. Tabelle 4 ). Die Genus-Beschränkungen des er -Plurals auf Neutra und Maskulina hat das komplexe Suffix dagegen komplett abgebaut: das Suffix ist auf jeden Stamm anwendbar, der den prosodischen Merkmalen entspricht. Damit hat das Luxemburgische im Gegensatz zum Deutschen mit den PL - DIM die Genusschranke zum Femininum hin überwunden. Während die Suffix-Zuweisung im Deutschen stilistisch markiert ist, hat das Luxemburgische nach dem Übertritt der Genusschranke klare phonologische und prosodische Zuweisungsprinzipien geschaffen. Die Belege aus den auf den Wenkersätzen aufgebauten Fragebögen zum luxemburgischen Sprachatlas bestätigen tendenziell schon für das 19 . Jahrhundert die erläuterte Allomorph-Verteilung. Beim Lexem Apfelbäumchen (N= 232 ) muss der Regel entsprechend das zweisilbige er -haltige Suffix zugewiesen werden, da es sich beim Zweitglied des Kompositums um einen einsilbigen Stamm handelt (wie in Äppelbeemercher ). Tatsächlich überwiegen die zweisilbigen Suffixe deutlich ( 92 %) und nur wenige Belege im Norden des Landes weisen das einsilbige moselfränkische Suffix cher zu (wie in Äppelbeemcher ; 8 %). Die gleiche Tendenz lässt sich auch beim Belegwort Schäfchen (N= 267 ) beobachten. Das zweisilbige Suffix findet sich in 96 % der Fälle (wie in Scheewercher ), während sich die Fälle mit einsilbigem Suffix auf die Orte in direkter Grenznähe zu Deutschland beschränken. Das Lexem Äpfelchen (N= 284 ), bei dem aufgrund des zweisilbigen Stammes ein einsilbiges Suffix zu erwarten ist, entspricht mehrheitlich dieser Erwartung (wie in Äppelcher ; 76 %). Die übrigen Lexeme mit überraschendem <?page no="203"?> zweisilbigem Suffix ( 24 %) zeigen teilweise Synkopen in der Basis (wie in Äpplercher ), womit wieder ein Daktylus erreicht wäre. Die luxemburgische Pluralzuweisung bei Diminutiven hat sich also vollkommen von den Strategien der Nachbarvarietäten entfernt und vergrößert somit den sprachlichen Abstand zwischen dem Luxemburgischen einerseits und dem Moselfränkischen und Deutschen andererseits. Die politische Grenze zwischen den beiden Ländern scheint sich also sukzessiv als Sprachgrenze zu etablieren. 3 Rückgang im Deutschen und Moselfränkischen-- Erfolgsmodell im Luxemburgischen Erklärungen für den jeweiligen Misserfolg der Plural-Diminutive im Deutschen und Moselfränkischen und ihren Erfolg im Luxemburgischen ergeben sich aus dem jeweiligen Sprachsystem. Obwohl alle drei Varietäten eine overte Pluralmarkierung bei Substantiven vorzuziehen scheinen, überwiegen je nach Sprache jedoch andere Prinzipien im Zusammenhang mit der idealen Pluralmarkierung. Die Gründe für den jeweiligen (Miss-)Erfolg können vielfältige Ursprünge haben, weshalb alle Möglichkeiten angesprochen werden sollen. Am wahrscheinlichsten ist es, den jeweiligen (Miss-)Erfolg als Zusammenspiel aller Argumente zu deuten. Ein Hauptargument für das Verschwinden des PL-DIM-Suffixes im Deutschen ist die Trochäus-Präferenz bei Pluralen (vgl. u. a. Dammel/ Kürschner/ Nübling 2010 : 601 ). Die ideale Plural-Form im Deutschen ist demnach zweisilbig und endet möglichst auf einer Reduktionssilbe. Diesem trochäischen Output im Plural stünden die PL - DIM entgegen, da sie für einen daktylischen Output sorgen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass das Deutsche einen daktylischen Plural vermeidet und stattdessen zum trochäischen Nullplural zurückkehrt. Im Luxemburgischen ist der daktylische Output dagegen unproblematisch, da bei der Pluralisierung „im Luxemburgischen (…) keine prosodische Konditionierung zu erkennen [ist]“ (Dammel/ Kürschner/ Nübling 2010 : 630 ). Diese Aussage muss für die PL - DIM leicht relativiert werden: Für sie scheint sich der Daktylus sogar als präferierter Rhythmus durchgesetzt zu haben, da alle Allomorphe im Normalfall einen Daktylus oder zumindest daktylusähnliche Strukturen (wie in Geschichtercher ) hervorrufen. Als weiterer Erklärungsansatz für den Rückgang im Deutschen und Moselfränkischen und den Anstieg im Luxemburgischen eignet sich auch ein Blick in die phonologisch-typologische Gestalt der Varietäten. Während das Deutsche im Laufe seiner Geschichte den Weg von einer Silbenzu einer Wortsprache begangen hat und heute stark wortsprachlich geprägt ist, hat sich das Luxem- Von Blätterchen und Bäumchen 203 <?page no="204"?> 204 Maike Edelhoff burgische als Mischsprache eingependelt. 10 Auch die moselfränkischen Dialekte haben, ähnlich wie das Luxemburgische, sowohl Merkmale einer Silbenals auch einer Wortsprache. Die Plural-Diminutive weisen eine deutlich bessere Silbenstruktur mit klarer CV -Struktur auf als die Diminutiv Plurale mit den einsilbigen Suffixen, da durch den vokalischen Anlaut Resilbifizierungen stattfinden können. Dagegen ist bei den Nullpluralen und dem einsilbigen Suffix cher die jeweilige Silbengrenze auch eine klare Morphemgrenze. (2) lux. {bee.m} {er.cher} vs. msfrk. {beem.} {cher} vs. dt. {Bäum.} {chen} CV .C V. CV CVC . CV CVC . CVC Das Deutsche als Wortsprache markiert Wort- und Morphemgrenzen stark, entweder durch Reduktionssilben oder Konsonantencluster. Aus diesem Grund ist ein Nullplural mit klar segmentierbarem Stamm und Derivationssuffix für das Deutsche typologisch erwartbar. Als Mischsprache sind dem Luxemburgischen auch silbenoptimierende Prozesse nicht fremd, weshalb gerade die gute Silbenstruktur der PL - DIM dem luxemburgischen Muster zuträglich ist. Das Moselfränkische, das ähnlich silbensprachlich ist wie das Luxemburgische, verzichtet dagegen auf das komplexe Suffix und damit auf die Resilbifizierung. Als mögliche Erklärung für diese auffällige Abweichung vom nah verwandten Luxemburgischen ist die Beeinflussung der Dialekte durch den überdachenden deutschen Standard zu berücksichtigen. Dieser Einfluss scheint schwerer zu wiegen als die strukturellen Kriterien. Auch die Unterschiede in der Gebrauchsfrequenz des er -Plurals können einen Einfluss auf die Ausbreitung und Etablierung der Plural-Diminutive gehabt haben. Im Deutschen zeigte der er -Plural nach dem 18 . Jahrhundert rückläufige Tendenzen und blieb nur in einer Klasse mit ca. 100 Lexemen stabil (vgl. Nübling demn.). Die Plural-Diminutive schwanden etwas zeitversetzt, aber deutlich gründlicher, sodass heute nur ein Lexem seinen Plural regelmäßig mit komplexem Suffix bildet (nämlich Kinderchen ), während für alle anderen Lexeme 10 Zwei Beispiele, die die phonologisch-typologischen Unterschiede zwischen den Varietäten deutlicher machen, sind die Komplexität der prototypischen Silbe in der jeweiligen Varietät und damit zusammenhängend der Hang zu Resilbifizierungen. Für das wortsprachliche Deutsche sind komplexe Silbenstrukturen mit Konsonantenclustern in Silbenonset und -coda nicht untypisch (z. B. / ʃtʀaɪkst/ ). Das Luxemburgische, wie das Moselfränkische, entzerren solche komplexen Silben häufiger durch Sprossvokale (z. B. / mələɕ/ ‚Milch‘). Resilbifizierungen geschehen im Deutschen selten über Morphem-, geschweige denn Wortgrenzen hinweg (z. B. {ta.schen.}{(uhr} statt {ta.sche.n}{uhr}), während im Luxemburgischen sogar Resilbifizierungen über Wortgrenzen hinweg vorkommen (sog. n - Regel) (vgl. Gilles 2006 ; Szczepaniak 2010 ). <?page no="205"?> mit er -Plural die Markierung im Diminutiv fakultativ ist. Im Luxemburgischen blieb der er -Plural stabil und breitete sich sogar auf weitere Lexeme aus (vgl. Dammel demn.). Dadurch war das Muster der er -Plurale deutlich präsenter und die Plural-Diminutive konnten sich etablieren und analogisch ausbreiten. Für die moselfränkischen Dialekte ist der Status der er -Plurale bisher nicht explizit thematisiert worden, tendenziell lässt sich anhand der Ortsgrammatiken und Sprachatlanten aber ebenfalls eine stärkere Durchsetzung des er -Plurals als im Standarddeutschen vermuten (vgl. Groß 1989 ; Reuter 1989 ). Die trotzdem fehlende Durchsetzung der Plural-Diminutive lässt sich auch in diesem Fall möglicherweise durch die Anlehnung an den Standard erklären. Das Zusammenwirken der genannten Gründe sorgte von Beginn an dafür, dass das Luxemburgische die Plural-Diminutive funktionalisierte und eine klare Suffix-Zuordnung schaffte, während sie im Deutschen anscheinend nur eine stilistische Variante neben dem Nullplural darstellten. Die moselfränkischen Dialekte nehmen eine Zwischenstellung ein, denn auch wenn sie dem Luxemburgischen strukturell näher sind, orientieren sie sich am Standarddeutschen. Das Kriterium der Überdachung durch die Standardsprache scheint für sie entscheidend. Das Luxemburgische entwickelte sich unter ähnlichen Voraussetzungen, aber mit der Herauslösung aus dem deutschen Dialektgefüge und damit aus der Überdachung des Standarddeutschen, so verlief die Entwicklung genau entgegengesetzt zu den moselfränkischen Dialekten. Bereits im 19 . Jahrhundert ist diese Entwicklung nachvollziehbar: Aus den Ergebnissen der Wenkerbögen (Luxemburg 1888 und moselfränkischer Raum 1879 ) lässt sich für die Plural- Diminutive eine deutliche Isoglosse ablesen, die genau entlang der damals ca. 50 Jahre alten politischen Grenze verlief 11 . 4 Synchrone Interpretation der Plural-Diminutive Synchron besteht bisher kein Konsens über den Status der Plural-Diminutive. In der Literatur sind vor allem vier (a), b) I+II und c)) synchrone Erklärungsmodelle zu finden, die eine verschieden hohe Plausibilität haben. a) b) c) {blätt}{er}{chen} {{blätt}er}{chen} {blätt}{er{chen}} „Infix“ I. Fuge(n-ähnlich) reanalysiertes Suffix II . DIM von PL -Form Tabelle 5 Zusammenfassung der Segmentierungsmöglichkeiten 11 Zur Geschichte der luxemburgischen Sprache s. auch Gilles 1998 , 2000 . Von Blätterchen und Bäumchen 205 <?page no="206"?> 206 Maike Edelhoff In einigen Forschungsarbeiten (u. a. Bruch 1949 ; Chapman 1997 ) wird der äußerst problematische Terminus Infix für das eingeschobene er verwendet (vgl. Tabelle 5 ). Dieser ist insofern problematisch, da tatsächlich kein Morphem in den Stamm, sondern ausschließlich zwischen Stamm und Suffix eingefügt wird. Auf den ersten Blick plausibler erscheint die Interpretation als Fugenelement (u. a. Naumann 1986 ) oder „Einheit (…) in einer der Fuge ähnlichen Funktion“ (Eisenberg 2006 : 273 ) (vgl. Tabelle 5 ). Für das Deutsche ist diese Interpretation dennoch höchst fragwürdig. Zum einen ist für eine Interpretation als Fuge ungünstig, dass er in diesem Fall die morphologische Funktion der Pluralmarkierung übernimmt, während Fugen eigentlich „synchronisch nur noch als funktionslose, ‚erstgliedstammbildende‘ Elemente gelten können“ (Bußmann 2002 ‚Fugenelement‘; vgl. Nübling/ Sczcepaniak 2011 ). Zum anderen ist die den Fugen eigentlich immanente Funktion der phonologischen Optimierung des komplexen Wortes im Fall der Plural-Diminutive nicht nachzuvollziehen. Die wenigen Stämme mit dieser Suffix-Kombination sind im Plural daktylisch, was für das Deutsche ein untypischer und standardmäßig gemiedener Rhythmus ist. Für das Luxemburgische ist die Interpretation als Fuge dagegen plausibler. Da es deutlich silbensprachlichere Züge hat als das Deutsche, optimiert der er -Einschub das komplexe Wort, da sich dadurch eine bessere CV -Struktur eröffnet und der Daktylus im Plural auch weniger problematisch ist als im Deutschen. Gegen die Fuge spricht hier allerdings, dass er nicht, wie für Fugen allgemein üblich, zum Erstglied des komplexen Wortes, sondern zum Suffix gehört. Seebold ( 1983 ) und Ettinger ( 1974 ) interpretieren die ungewöhnliche Suffixreihenfolge als Diminution einer Pluralform auf er (auch Donalies 2006 : 42 ) (vgl. Tab. 5 , II ). Diese Interpretation eignete sich für die PL - DIM in den früheren Stufen des Deutschen, in denen tatsächlich nur solche Diminutive das komplexe Suffix annahmen, deren Stämme zur er -Pluralklasse gehörten. Spätestens mit dem Aufschwung der komplexen PL - DIM im Deutschen des 18 . und 19 . Jahrhunderts und dem kurzzeitigen Überschreiten der Genusschranke wird diese Interpretation problematisch. Auch für das Luxemburgische ist die Erklärung hinfällig: Hier sind die Pluralmarkierungen der Diminutive vollständig unabhängig von den Pluralklassen der Diminutiv-Basen. Dementsprechend lässt sich festhalten, dass die Diminuierung der er -Plurale ein erster Schritt auf dem Weg zu einem als Einheit reanalysierten Suffix erchen gewesen sein kann (vgl. Tab. 5 ), aber synchron anders zu interpretieren ist. Die vierte synchrone Betrachtungsweise der Plural-Diminutive verläuft in bereits erwähnter Richtung hin zu einem reanalysierten Suffix, das über einen Prozess entstanden ist, den Haspelmath ( 1995 ) als affix telescoping 12 bezeichnet: 12 Vgl. auch den Terminus Affix-Erweiterung in Plank 1981 : 74 f. <?page no="207"?> Affix telescoping is a case where a secondary derivate is related by speakers not to its immediate base (the primary derivate), but to the base of the primary derivate. As a result, the two affixes are reanalyzed as one single affix. Haspelmath ( 1995 : 18 ) Die PL - DIM weichen von dieser Definition insofern ab, als es sich nicht um zwei Derivationssuffixe, sondern um ein Flexions- und ein Derivationssuffix handelt. Haspelmath ( 1995 : 18 ) zufolge ist diese Abweichung jedoch nicht sehr problematisch, da er in Bezug auf Reanalyse-Prozesse keine nennenswerten Unterschieden zwischen Flexions- und Derivationsaffixen feststellen kann (ebd.). Mit dieser Einschränkung wird die Definition auf die Plural-Diminutive anwendbar: Die Diminuierung findet nicht ausschließlich an pluralischen Stämmen statt. Stattdessen liegt dem Plural-Diminutiv ein er -loser Diminutiv im Singular zugrunde. Das Wortbildungssuffix ist also eigentlich primär, nicht die Pluralisierung. (1) Plural-Diminutive im Deutschen des 18./ 19. Jahrhunderts Blatt Blätt er Blätt er chen Reanalyse: Blätt erchen Blatt. P l Blatt. P l .d im ▶ neues Suffix erchen , z. B. Stühl erchen , Geiß erchen ▶ Ausbreitung im Luxemburgischen ercher , z. B. Blimm ercher , Blied ercher , Beem ercher Berücksichtigt man die Geschichte der Plural-Diminutive im Deutschen und ihre synchrone Verbreitung im Luxemburgischen, ist diese Interpretation die schlüssigste der vier vorgestellten Möglichkeiten. Sowohl die Analyse als Infix als auch als Fugenelement müssen aufgrund o. g. Argumente relativiert werden. Stattdessen ist anzunehmen, dass die Plural-Diminutive in tatsächlichen Diminuierungen von Pluralformen ihren Anfang fanden, mit der Zeit aber eine Reanalyse des Suffixes stattfand, das sich in der Folge auf neue Stämme ausbreitete. 5 Fazit Das Phänomen der Plural-Diminutive zeigt einmal mehr, dass das Luxemburgische und Standarddeutsche sich weiterhin stark auseinanderentwickeln und eine Überdachung durch das Deutsche im Luxemburgischen nicht mehr gegeben sein kann - im Gegensatz zu den moselfränkischen Dialekten. Das Luxemburgische hat die er -haltige Diminutiv-Plural-Markierung, die im späten Mittelhochdeutschen entstand und bis zum 19 . Jahrhundert im deutsch- Von Blätterchen und Bäumchen 207 <?page no="208"?> 208 Maike Edelhoff sprachigen Raum Verwendung fand, vollständig funktionalisiert und analogisch ausgebreitet, während sie im restlichen deutschsprachigen Gebiet zurückging. Das Deutsche bevorzugt seitdem aus phonologischen und prosodischen Gründen den Nullplural. Die moselfränkischen Dialekte haben trotz ihrer großen verwandtschaftlichen Nähe zum Luxemburgischen die Plural-Diminutive nicht weiter funktionalisiert, sondern wie ihre standarddeutsche Dachsprache ausschließlich Reliktformen mit er -haltigen Diminutiv-Plural-Suffixen zurückbehalten. Statt eines Nullplurals findet sich hier seit dem Frühneuhochdeutschen ein durch den er -Plural angereichertes komplexes Suffix cher . Die Gründe für die jeweilige Präferenz der Pluralmarkierung bei Diminutiven sind phonologisch-prosodischer und struktureller Natur: Das Deutsche als Wortsprache hat keinen Vorteil darin die Silbenstruktur zu verbessern, während im Luxemburgischen insgesamt bessere Silben bevorzugt werden. Das Moselfränkische hält sich trotz silbensprachlicherer Strukturen nicht an das strukturell ähnliche Luxemburgische, sondern an das überdachende Deutsche. Die unterschiedliche Handhabung der Plural-Diminutive hat zur Folge, dass sich die Sprachgrenze zwischen dem Deutschen und dem Luxemburgischen verfestigt. <?page no="209"?> Legende Lexem ‚Apfelbäumchen‘ er -haltig nicht er -haltig kein Diminutiv Abb. 2 Die Verteilung der Suffix-Varianten im Raum (nach „Apfelbäumchen“ in den Wenkerbögen von 1879 (moselfränkisch) und 1888 (luxemburgisch) Schon im 19 . Jahrhundert war die Bedeutung der Landesgrenze zwischen den beiden Ländern auch in sprachlicher Hinsicht erkennbar und das obwohl die Landesgrenze damals noch relativ jung war. Mit einigen wenigen Ausnahmen sind die jeweiligen Varianten, das einsilbige Suffix cher und die zweisilbigen Suffixvarianten ercher / erchen , auf dem zu erwartenden Gebiet zu finden. Die Staatsgrenze ist also aus morphologischer Sicht zur Sprachgrenze geworden (cf. Abb. 2 ). Auf einer theoretischen Ebene konnten die Plural-Diminutive und ihr synchroner Status oberflächlich näher beleuchtet werden. Mit dem luxemburgischen Vergleich ließ sich zeigen, dass eine Interpretation der Formen als Diminuierung eines Plurals unzureichend ist, da sich das Suffix im Luxemburgischen Von Blätterchen und Bäumchen 209 <?page no="210"?> 210 Maike Edelhoff von der Pluralklasse entfernt hat. Auch die Begriffe Infix und Fuge sind in diesem Zusammenhang zweifelhaft. Lediglich die Interpretation als ein durch affix telescoping reanalysiertes Suffix lässt sich in keinem Punkt direkt widerlegen. Dennoch besteht hier ein dringendes Desiderat, die Form näher zu betrachten, auch aus der Perspektive, wie es überhaupt zu einer Diminuierung von Pluralformen kommen konnte. Zukünftig bleibt auch die Frage interessant, wie sich die Varietäten weiterentwickelt haben und ob die Sprachgrenze sich auf der Landesgrenze verfestigt hat. zweisilbige Basen auf er nicht-synkopierte Diminutive { tochter } { chîn } { meister } { chîn } Überschreitung Genusschranke analogische Ausbreitung, Obligatorisierung { blied } { ercher } { beem } { ercher { blimm } { ercher } Rückkehr Nullplural, wenige Relikte { blätt } { erchen } * { bäum } { erchen } (= {bäum} {chen} ) * { blüm } { erchen } (= {blüm} {chen} ) Deutsch Luxemburgisch Stapelsuffix { blätt } { erchen } { büb } { erchen } Diminierung er -Plurale { { welf } er } { chen } (1343) Analogie Analogie Reanalyse Rückgang Funktionalisierung Fnhd. 18. Jh. heute Abb. 3 Zusammenfassung der Geschichte der Plural-Diminutive Literatur Bellmann, Günter/ Herrgen, Joachim/ Schmidt, Jürgen Erich (eds.) (2002): Mittelrheinischer Sprachatlas ( MR h SA ). Bd. 5: Morphologie (Forschungsstand. Strukturgrenzen. 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By means of an empirical study of lexicalized nominal compounds, this paper then examines the variation of the linking element - s and zero linking element as well as other types of compositional stem forms ( Gäul s bauer , Vögel s beere , April a narr ) in the East Franconian dialect. We show that the distribution of linking elements in our study area is not only based on functional aspects, such as morphological complexity ( Getreid s gabel vs. Treid -øgabel ), but on diatopical preference as well. Language maps illustrate that the linkings is more frequent in the northern part of our study area. 1 Einführendes Fugenelemente stellen einen Grenzfall der Morphologie dar, da sie zwar segmentierbare, morphologische Einheiten sind, ihnen jedoch kein semantischer Inhalt zugewiesen werden kann (cf. Kürschner 2005 : 101 ; Fuhrhop 1998 ). Sie gleichen formal Flexionssuffixen, haben sich in ihrer Verteilung und ihrer Funktionalität aber vom Flexionssystem gelöst. Besonders das Fugens hat als produktivstes der Fugenelemente eigene Distributionsmuster entwickelt (cf. Kürschner 2010 : 845 ). Während die Forschung zu den Fugenelementen in der deutschen Standardsprache insbesondere in den vergangenen 15 Jahren weitreichende Erkenntnisse gewonnen hat, sind Form, Distribution und Funktionalität der Fugenelemente in den deutschen Dialekten bisher nicht systematisch 1 Ich danke Sebastian Kürschner und Alfred Klepsch für ihre Unterstützung bei diesem Forschungsprojekt. Vor allem ohne die Einblicke in die reichen Bestände des Fränkischen Wörterbuchs, die mir Alfred Klepsch gewährt hat, wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen. <?page no="215"?> Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 215 erfasst. Die Varianz der Verfugungsmöglichkeiten, deren sprachgeographische Verortung sowie - ausgehend vom Forschungsstand zur Standardsprache - funktionale Aspekte stehen daher im Zentrum der Untersuchung zum Fugens im ostfränkischen Dialekt. In älteren Dialektgrammatiken wird vor allem die Verwendung des Fugens als von der Schriftsprache abweichend beschrieben und in der Folge als erhaltener Genitiv analysiert (cf. Schiepek 1899 / 1908 : 341 ; Gebhard 1907 : 247 f.): Stālstiə (‚Stall-s-tür‘), Strāusholm (‚Stroh-s-halm‘) neben Strāuholm (‚Stroh-øhalm‘), Tāichsdāmm (‚Teich-s-damm‘) (cf. Schiepek 1899 / 1908 : 341 ). Ein erster Blick in die Archive des Ostfränkischen (ofr.) Wörterbuchs zeigt, dass es im Untersuchungsgebiet ( UG ) nicht nur eine Varianz der Verfugung im Vergleich zur Standardsprache gibt (ofr. April-s-narr neben standarddeutsch April-ø-narr , Getreid-s-gabel neben Getreide -øgabel , Stöckele-s-schuh neben Stöckel-ø-schuh ). Im Dialekt stehen außerdem weitere formale Mittel zur Verfügung (cf. Rowley 1997 : 107 - 109 ): Gäul-s/ ø-bauer neben Gaul-s/ ø-bauer , Vögel-s/ ø-kirsche neben Vogel-s/ ø-kirsche , April-a-narr neben April-s/ ø-narr ). Auch in der jüngeren Literatur zur Standardsprache werden Schwankungsfälle der Verfugung beschrieben. Manche der Schwankungsfälle sind diaphasisch bedingt, da insbesondere die juristische Fachsprache unverfugte Komposita zu bevorzugen scheint, obwohl diese außerhalb des fachsprachlichen Kontexts regelmäßig verfugt werden ( Schaden-? s-ersatz , Sorgerecht-? s-prozess ; Schwankungsfälle in linguistischer Fachliteratur sind Namen-? s-kunde und Präteritum-? s-schwund (cf. Nübling/ Szczepaniak 2010 : 211 ; Nübling / Szczepaniak 2011 : 49 ; Michel 2009 : 339 f.). Andere Schwankungsfälle werden zum Teil durch die diatopische Gliederung des Deutschen begründet. So vermerkt der Duden-Band Richtiges und gutes Deutsch über die mit -sverfugte Variante Kinds-taufe , dass diese Bildung vor allem im Süddeutschen, im Österreichischen und im Schweizerdeutsch anstelle des unverfugten Kompositums Kind-ø-taufe gebräuchlich ist (cf. Duden 2009 : 501 s. v. Kind / Kinder- / Kind[e]s ). Auch die Schwankung zwischen den Komposita Schwein-e-braten vs. Schwein-s-braten oder Schwein-e-ohr vs. Schwein-s-ohr führen die Autoren darauf zurück, „dass im Süddeutschen die Formen mit s- ( Schweinsbraten ), im Norddeutschen die mit e- ( Schweinebraten ) vorgezogen werden“ (cf. ebd.: 809 , s. v. Schweine -/ Schweins -). Obwohl eine diatopisch begründete Präferenz für die verfugte bzw. die nicht verfugte Variante eines Kompositums immer wieder anhand einzelner Belege beschrieben wird und auch Reihenbildungen nachgewiesen wurden (cf. Ortner et al. 1991 : 76 ), ist die regionale Distribution der Fugenelemente bisher nicht umfassend systematisch erfasst. Grundsätzlich erscheint die Morphologie innerhalb dialektologischer Forschung eher in „einem toten Winkel“ (cf. Nübling 2005 : 45 ; Rowley 1997 : 1 f.). <?page no="216"?> 216 Grit Nickel Jüngere Veröffentlichungen und auch die großen Sprachatlasprojekte widmeten sich zwar der Flexionsmorphologie (mit Schwerpunkt auf der verbalen Flexionsmorphologie), doch lag der Fokus eher auf der Dokumentation der Varianten als auf der Erschließung des Systems (cf. Nübling 2005 : 45 ). Der lexikalische Teilbereich der Morphologie hingegen wurde bisher nicht systematisch erfasst. Die Anwendung dialektaler Daten auf die aktuelle morphologische Theoriebildung ergänzt diese jedoch um eine wichtige empirische Basis: Die dialektale Varianz in einzelnen Sprachräumen und unter verschiedenen Bedingungen und Voraussetzungen abseits der Normierungen der Standardsprache ermöglicht die Ausarbeitung der einzelnen Konditionierungsprinzipien des Sprachwandels und die Validierung der bisherigen Theoriebildung, weshalb Gunther de Vogelaer/ Guido Seiler ( 2012 : 2 ) nicht nur das Potential, das der Untersuchung dialektaler Daten innewohnt, beschreiben, sondern gar die Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung begründen. Im Folgenden wird zunächst die aktuelle Theoriebildung zum Fugensystem, darunter das Konzept der Kompositionsstammform, systematische Aspekte zum Inventar der Fugenelemente sowie zu ihrer Funktionalität, zusammengefasst. Ausgehend von diesen Erkenntnissen zur Standardsprache werden in Abschnitt 4 das methodische Vorgehen und die Ergebnisse der korpusanalytischen Untersuchung des Fugensystems im ofr. Sprachraum unter besonderer Berücksichtigung des Fugen -s anhand von drei Untersuchungsschwerpunkten vorgestellt. 2 Die Kompositionsstammform Die Diskussion zu den Fugenelementen wurde in den vergangenen Jahren insbesondere durch Nanna Fuhrhops ( 1998 ) Konzept der Kompositionsstammform bestimmt. 2 Ein Stamm besteht danach aus einer semantischen Komponente, der Stammbedeutung, und einer sog. Formkomponente, dem Stammparadigma (cf. Fuhrhop 1998 : 23 ). Dieses Stammparadigma setzt sich aus verschiedenen Stammformen zusammen, die die Grundlage für alle morphologischen Prozesse bilden: (1) Flexionsstammform freiheit die Freiheiten Derivationsstammform freiheit freiheitlich Kompositionsstammform freiheits Freiheitsdrang 2 Bereits Rowley ( 1997 : 106 - 108 ) hebt das „erste Kompositionsglied“ als Sonderform innerhalb der dialektalen Nominalmorphologie hervor. <?page no="217"?> Ein Kompositum setzt sich aus einer Kompositionsstammform, dem Erstglied ( Freiheits -) und einer Flexionsstammform, dem Zweitglied (drang ), zusammen; aus der Flexionsstammform des Zweitglieds wird wiederum das Stammparadigma des Kompositums ( Freiheitsdrang- ) abgeleitet (cf. Fuhrhop 1998 : 27 ). Auf diese Definition der Komposition wird die Arbeit im Folgenden zurückgreifen. Für manche Stämme sind bis zu vier Kompositionsstammformen anzusetzen, wobei nicht alle dieser Kompositionsstammformen produktiv, sondern zum Teil lexikalisiert sind, zum Beispiel im Stammparadigma Mann : Mannweib , Mannsbild , Manneskraft , Männerbekanntschaft (cf. ebd.: 26 ). Kompositionsstammformen, die nicht formgleich zu den Flexionsstammformen sind, unterscheiden sich von jenen durch „ein zusätzliches Element“ (cf. Fuhrhop 1998 : 189 ), das Fugenelement. Das Fugenelement ist dem Erstglied eines Kompositums zugehörig, da es vom Erstglied bestimmt wird (cf. ebd.: 187 ; Nübling/ Szczepaniak 2009 : 195 ; Ramers 1997 : 34 f.). Als Argument für die Zugehörigkeit der Fugenelemente zum Erstglied führt Nanna Fuhrhop ( 1998 : 187 ) den engen Zusammenhang zwischen der Form des Fugenelements und dem Flexionssystem des Erstglieds an. Aufgrund des Flexionsparadigmas sowie der Flexionsklassenzugehörigkeit des Erstglieds bestehen Restriktionen bezüglich der Wahl des jeweiligen Fugenelements (cf. ebd.: 190 ). Sind mehrere Kompositionsstammformen für ein Stammparadigma definiert, so ist es das Zweitglied, das die entsprechende Kompositionsstammform wählt; „Die Auswahl entsteht aber aufgrund des Erstgliedes“ (Fuhrhop 1998 : 187 ). Da das Fugenelement bei der Koordination von zwei Komposita beim Erstglied des Kompositums haften bleibt, spricht dies außerdem für die Zugehörigkeit des Fugenelements zum Erstglied (cf. ebd.: 187 ; Nübling/ Szczepaniak 2009 : 195 ; Kürschner 2005 : 105 ): Frühlings- und Herbsttage , Regionalitäts- und Nationalitätsprinzip . 3 Systematik der Fugenelemente des Deutschen Als Fugenelemente werden in der vorliegenden Arbeit sämtliche Formen der Besetzung der Wortfuge zwischen zwei Kompositionsgliedern verstanden. 3 Zu den Fugenelementen zählen nach dieser Definition neben den Elementen, die die Wortfuge additiv in Form lautlichen Materials besetzen, auch Nullfugen, subtraktive Fugen sowie jene Realisationen, die durch „modulatorische Prozesse in Verbindung mit oder ohne zusätzliche additive Realisierungen“ entstanden sind (cf. Kürschner 2005 : 104 ; Anthony Rowley 1997 : 107 - 109 bietet 3 Fugenelemente können nicht nur die Wortfuge eines Kompositums besetzen, sondern sind auch in der Derivationsmorphologie in der Fuge zwischen lexikalischem und grammatischem Morphem zu finden: frühling-s-haft , ahnung-s-los , lieben-s-wert , Volk-s-tum (cf. Fuhrhop 1998 : 199 ; Kürschner 2003 : 8 ; Ramers 1997 : 34 ). Der Untersuchungsbereich der vorliegenden Arbeit ist jedoch auf Nominalkomposita begrenzt. Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 217 <?page no="218"?> 218 Grit Nickel einen Überblick über die formalen Mittel zur Bildung der Stammform „Erstes Kompositionsglied“ im Dialekt). Auch Null- und subtraktive Fugen werden als Fugenelemente behandelt, da Kompositionsstammformen mit Nullfuge komplementär zu Kompositionsstammformen mit Fugenelement verteilt sein können, zum Beispiel Kind-ø-bett , Kind-s-kopf , Kind-es-wohl , Kinderwagen (cf. ebd.: 199 ). Synchron kann für das Deutsche bei einer Minimalzählung ein Inventar von bis zu acht, bei einer Maximalzählung bis zu zehn Fugenelementen nachgewiesen werden (cf. Nübling/ Szczepaniak 2009 : 198 ). Da sie sich in ihrer Distribution, in ihrer Produktivität sowie in ihrer Funktionalität unterscheiden, werden -s- und -essowie -n- und -ennicht als allomorphe Fugenelemente behandelt. (2) -s- Anfahrt-s-weg , Liebe-s-beweis , Freiheit-s-liebe -es- Kind-es-wohl, Land-es-vater -er- Kind-er-wagen , Rind-er-wahn -e- Mäus-e-falle , Wert-e-vermittlung , Hund-e-leine -n- Blume-n-strauß, Brille-n-etui -en- Fahrt-en-buch , Schwan-en-hals , Frau-en-schuh -ens- Schmerz-ens-geld , Herz-ens-angelegenheit -ns- Name-ns-schild -ø- Bein-ø-kleid , Apfel-ø-kuchen subtraktiv Woll-\ø-kleid , Schul-\ø-buch Obgleich Karl Heinz Ramers ( 1997 : 33 ) die Beschreibung der Verteilung der einzelnen Fugenelemente als „eine Art von Kunstfertigkeit“ bezeichnet, ist es möglich, sich einer Systematik der Fugenelemente des Deutschen durch methodische Differenzierung zu nähern. Die Unterscheidung zwischen paradigmatischen und unparadigmatischen Fugenelementen bzw. paradigmatischen und unparadigmatischen Kompositionsstammformen ist ein grundlegender methodischer Schritt im Rahmen solch einer Systematisierung. Paradigmatische Kompositionsstammformen sind homonym mit einer oder mehreren Flexionsformen eines Stammparadigmas (cf. Fuhrhop 1998 : 195 ; Nübling/ Szczepaniak 2009 : 189 ). Eine unparadigmatische Kompositionsform entspricht hingegen keiner Wortform ( Regierung-s-erklärung , aber * Regierungs ). Auch die unparadigmatischen Fugenelemente entsprechen Flexionsendungen (cf. Fuhrhop 1998 : 189 ) oder sind zum Teil diachron durch einen Flexionsklassenwechsel von der schwachen zur starken Deklinationsklasse entstanden, z. B. Hahn-en-kamm (* Hahnen ), Storch-en-schnabel (* Storchen ) (cf. Nübling/ Szczepaniak 2009 : 198 ). <?page no="219"?> Ein weiterer wichtiger methodischer Schritt zur Systematisierung der Fugenelemente besteht in der Abgrenzung produktiver Fugenelemente und Kompositionsstammformen von nur schwach oder gänzlich unproduktiven. Produktive Einheiten bilden systematisch neue Stämme bzw. Stammformen, während hingegen bei aktiven Einheiten „systematisch erwartbare Bildungen ausbleiben“ (cf. Fuhrhop 2000 ; 204 ; Fuhrhop 1998 : 6 ), oder mit anderen Worten: „[…] alle produktiven Einheiten sind aktiv, aber nicht alle aktiven Einheiten sind produktiv“ (cf. Fuhrhop 1998 : 6 ). Die Komposition ist im Deutschen nicht auf bestimmte semantische Muster reduziert, weshalb es keine unproduktiven Muster gibt (cf. Fuhrhop 2000 : 205 ). Zwar gibt es Reihenbildungen, die eine bestimmte Interpretation nahelegen ( Apfelkuchen , Kirschkuchen , Pflaumenkuchen ), doch ist diese Interpretation nicht zwingend die zutreffende ( Hundekuchen ≠ *Kuchen mit Hunden) (cf. ibd.). Aus diesem Grund sind nicht die Stämme unter dem Kriterium der Produktivität zu beschreiben, sondern die Kompositionsstammformen und die Fugenelemente. Produktiv sind aus dem Inventar der additiven Fugenelemente des Deutschen synchron nur -s- , -nsowie -en- , wobei -sdas einzige aus dem Inventar der produktiven Fugenelemente ist, das unparadigmatisch auftreten kann. Neben der Produktivität ist die Frequenz ein Indiz für die Prototypizität von Fugenelementen. Null- und s -Fuge wären damit als produktivste und frequenteste auch die prototypischen Fugenelemente des Deutschen (cf. Michel 2009 : 343 ). Verschiedene Untersuchungen haben einen Anteil der Nullfuge in deutschen Komposita von circa sechzig bis siebzig Prozent in verschiedenen Textsorten nachgewiesen (cf. Baayen/ Dressler et al. 2007 ; Kürschner 2003 ; Nübling/ Szczepaniak 2009 ; Ortner et al. 1991 ); die Nullfuge wird daher als unmarkierter Normalfall beschrieben (cf. Nübling/ Szczepaniak 2010 : 211 ; Nübling/ Szczepaniak 2011 : 53 ). 4 Zur Funktionalität der Fugenelemente-- Überblick über den aktuellen Forschungsstand Fugenelemente verfügen nach Damaris Nübling und Renata Szczepaniak ( 2009 : 201 ) über eine eigene „Fugengrammatik“, die sowohl die Distribution der Fugenelemente sowie ihre funktionalen Spezifika umfasst. Neuere Forschungsarbeiten knüpfen die Distribution und Funktionalität der Fugenelemente vor allem an die den Erstgliedern des Kompositums inhärenten Eigenschaften. Durch das Verfahren der Reihenbildung können strukturelle Eigenschaften, die den Stämmen der Kompositionsstammformen eigen sind, beschrieben werden; anschließend ist es möglich, Konditionierungsprinzipien zur Distribution der produktiven Fugenelemente aufzustellen und so Rückschlüsse auf die Funktionalität der Fugenelemente zu ziehen. Im folgenden Abschnitt wird der aktuelle Kenntnisstand Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 219 <?page no="220"?> 220 Grit Nickel zu den Konditionierungsfaktoren zur Distribution der Fugenelemente des Deutschen mit besonderer Berücksichtigung des Fugens im Überblick dargestellt. 4.1 Fugenelemente als Kasus- und Numerusmarker Der Fall der Fugenelemente ist „ein Paradebeispiel dafür, dass man manchmal ohne historisches Wissen, ohne Kenntnis früherer Sprachstufen, nicht auskommt und zu hoffnungslosen Fehldeutungen verleitet wird“ (cf. Wegener 2005 : 175 ; Nübling/ Szczepaniak 2010 ). Ulrike Demske ( 2001 ) beschreibt in ihrer diachronen Untersuchung zur Nominalphrase des Deutschen drei Stadien in der Herausbildung des Wortbildungsmusters der Genitivkomposita. Im Ahd. sind syntaktische Konstruktionen aus Nominalphrasen mit vorangestelltem Genitivattribut sehr produktiv. Im Laufe der Sprachgeschichte werden einige dieser Bildungen lexikalisiert, wobei die syntaktische Struktur dieser komplexen Phrasen dennoch transparent bleibt. Im Frnhd. erfolgt schließlich die Reanalyse der syntaktischen als morphologische Struktur, was die Herausbildung eines neuen Wortbildungstypus, der Spezialfall der Genitivkomposita, zur Folge hat. Zu den Auswirkungen dieses Reanalyseprozesses und des daraus resultierenden Sprachwandels gehört die Herausbildung unparadigmatischer Fugenelemente. Im Fall der Genitivkomposita werden die Flexionssuffixe des Erstglieds als Fugenelement reanalysiert (Demske 2001 : 183 f.); es erfolgt eine „Entsyntaktisierung“ des Verhältnisses zwischen Erst- und Zweitglied (cf. Fuhrhop 2000 : 204 ). Peter Gallmann ( 1999 : 184 ) bezeichnet die reanalysierten Fugenelemente in seiner Untersuchung als „Nicht-Kasus-Suffixe“, da sie hinsichtlich des Kasus „gänzlich unterspezifiziert“ sind, auch wenn einzelne Belege ( Amt-s-diener ) und ihre Paraphrase ( Diener des/ eines Amts ) auf den ersten Blick und ohne Berücksichtigung der diachronen Reanalyse der Fugenelemente eine genitivische Interpretation plausibel erscheinen lassen. Doch bei zahlreichen semantisch transparenten Komposita ist die Genitivlesart irreführend, wie das Beispiel Liebling-s-getränk (* Getränk des Lieblings ) zeigt, oder die genitivische Interpretation durch fehlende Numeruskongruenz ist fragwürdig und unplausibel: Bischofs-konferenz , Anwalt-s-kammer (cf. Nübling/ Szczepaniak 2009 : 201 ; Nübling/ Szczepaniak 2011 : 54 ). Aus der formalen Äquivalenz ist daher kein funktionale zu schlussfolgern. 4.2 Phonetisch-phonologische Funktionsweisen der Fugenelemente Alle Fugenelemente außer -s- und -nsind silbisch; sie bilden ausnahmslos Schwa-Silben und damit unbetonte Silben (cf. Fuhrhop 1998 : 188 ). Da -ngrundsätzlich nur an Stämme tritt, die auf Schwa auslauten (cf. ebd., Wegener 2005 : 179 ), ist das Fugens das einzige Fugenelement, das das Aufeinandertreffen zweier betonter Silben nicht verhindert (cf. Fuhrhop 1998 : 188 ). <?page no="221"?> Silbische Fugenelemente verbessern die Prosodie eines Kompositums, indem sie Trochäen erzeugen (’ Frau-en- ’ schuh , ’ Herz-ens- ’ wunsch ); sie dienen damit vor allem der „rhythmischen Optimierung des Erstglieds“ (cf. Nübling/ Szczepaniak 2009 : 203 ; Wegener 2005 : 178 ), da der Trochäus dem prosodischen Muster der Substantive des Deutschen entspricht (cf. Nübling/ Szczepaniak 2008 : 17 ). Unsilbische Fugenelemente hingegen erhalten bereits bestehende Trochäen (’ Blume-n- ’ vase ) (cf. Nübling/ Szczepaniak 2009 : 203 ). Die Konkurrenz unter den Fugenelementen (einschließlich Nullfuge und subtraktiver Fuge) wird somit durch die optimale prosodische Struktur eines Kompositums entschieden (cf. Wegener 2005 : 179 ). Als einziges produktives unparadigmatisches Fugenelement nimmt das Fugens hinsichtlich der phonologischen Optimierung eines Kompositums eine Sonderstellung ein. Damaris Nübling/ Renata Szczepaniak ( 2009 : 207 ) beschreiben einen Zusammenhang zwischen der Setzung des Fugens und der phonologischen Qualität des Erstglieds: „Je stärker das Erstglied das phonologische Wortideal eines einfüßigen Trochäus mit Reduktionssilbe (Typ Wasser ) verletzt, desto eher steht das Fugenelement s- “ (ebd.). Anders als die übrigen Fugenelemente orientiert sich das Fugens nicht an den „trochäischen Outputstrukturen“ des Erstglieds (cf. Nübling/ Szczepaniak 2011 : 62 ; Nübling/ Szczepaniak 2008 ), entspricht aber dennoch in seiner Wirkung den „Reparaturstrategien der Sprecher“ (cf. Wegener 2005 : 184 ). Als unsilbisches Fugenelement verstärkt das Fugens den rechten äußeren Silbenrand eines Stammes und verschlechtert die Silbenstruktur (cf. Wegener 2005 : 179 f.; Nübling/ Szczepaniak 2010 : 218 ). Folgt es Nasalen oder Liquiden, wird der rechte Silbenrand des Erstglieds durch das Fugens komplexer ( Zwang-s-jacke ); „konterkariert“ es außerdem den abnehmenden Sonoritätsverlauf der Silbenkoda, wie es nach Plosiven der Fall ist, erhält das Fugens sogar einen extrasilbischen Status ( Blut-s-tropfen , Ort-s-termin ) (cf. Nübling/ Szczepaniak 2008 : 17 ; Nübling/ Szczepaniak 2009 : 215 ). Indem es die Silbenkoda des Erstglieds durch phonologische Komplexität exponiert und, bedingt durch die phonologische Umgebung, eventuell Extrasilbizität hervorruft, kommt dem Fugens eine gliedernde und grenzmarkierende Funktion zu. 4.3 Morphologisch-funktionale Aspekte des Fugens Neben dem phonetisch-phonologischen Aspekt lässt sich die Funktionalität des Fugens auf der morphologischen Ebene verorten und unter folgenden Punkten zusammenfassen: - Öffnung morphologisch geschlossener Stämme: Mark Aronoff und Nanna Fuhrhop ( 2002 ) stellen die Fähigkeit des Fugens heraus, morphologisch geschlossene Stämme wieder zu öffnen. Aus diesem Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 221 <?page no="222"?> 222 Grit Nickel Grund sind sie nach den Derivationssuffixen -ung , -heit und -keit regelmäßig verteilt, da diese weitere Suffigierung verhindern: * erfahrunglich , * Schönheitchen (cf. Kürschner 2005 : 114 ). Ein Suffix ist dann schließend, wenn „keine weitere Derivation an einer bereits suffigierten Basis möglich ist, obwohl Suffixe existieren, die weitere Derivation erwartbar machen“ (cf. Kürschner 2005 : 114 ). - Das Fugen-s als Indiz morphologischer Komplexität: Untersuchungen (cf. insbesondere Kürschner 2003 ) belegen, dass die Frequenz des Fugens in direktem Zusammenhang zur morphologischen Komplexität des Erstglieds steht: (3a) Werk-ø-zeug vs. Handwerk-s-zeug Markt-ø-bude vs. Jahrmarkt-s-bude Hof-ø-mauer vs. Friedhof-s-mauer (3b) Kauf-ø-preis vs. Verkauf-s-preis Fahrt-ø-zeit vs . Abfahrt-s-zeit Die Hauptfuge in den dreigliedrigen Komposita in ( 3 a) wirkt strukturierend (cf. Kürschner 2005 : 112 , Fuhrhop 1998 : 192 ) und dient als „Dekodierungshilfe“, da es eine bestimmte Lesart [( AB )+C] fördert und eine falsche Dekodierung in [A+( BC )] verhindert (cf. Nübling/ Szczepaniak 2009 : 204 ; Gallmann 1998 : 187 ; Wegener 2005 : 184 ). In diesem Sinne ist das Fugens „in komplexer Position funktionalisiert und tritt als Gliederungsmarker“ auf (cf. Kürschner 2005 : 113 ), zumal es durch die ihm inhärente niedrige Sonorität die Silbenkoda exponiert (cf. Abschnitt 3 . 2 ). - Das Fugen-s nach derivationsmorphologisch komplexen Erstgliedern: Das Deutsche zeigt eine deutliche Präferenz des Fugens nach derivationsmorphologisch komplexen (präfigierten wie auch suffigierten) Erstgliedern (cf. 3 b). Damaris Nübling/ Renata Szczepaniak ( 2008 : 18 ) weisen nach, dass synchron eine starke Tendenz des Deutschen besteht, ein derivationell komplexes Erstglied mit unbetontem Präfix zu verfugen. Sie folgern daraus, dass es nicht die morphologische Komplexität ist, die die Verfugung mit -sbegünstigt, sondern die phonologische Komplexität (cf. Nübling/ Szczepaniak 2010 : 215 ). Anhand eines Korpus von sechzig Zweifelsfällen weisen Damaris Nübling/ Renata Szczepaniak ( 2011 ) zudem nach, dass die meisten Schwankungsfälle zwischen Null- und s -Fuge von jenen Komposita generiert werden, deren Erstglied entweder über ein betontes Präfix verfügt ( Einkauf-? s-führer , Mitglied-? s-staat ) oder das selbst ein Kompositum ist ( Lehramt-? s-kandidat , Denkmal-? spflege <?page no="223"?> ). Aufgrund ihrer phonologischen Wortqualität dürften diese Erstglieder jedoch eine nur schwache Produktivität der s-Fuge hervorrufen (cf. ebd.; Nübling/ Szczepaniak 2010 : 215 f.). - Das Fugen-s als Morphologisierungsmarker: Fugenelemente, so Nanna Fuhrhop ( 2000 : 212 ), zeigen die Morphologisierung von Komposita an, da durch sie deutlich wird, dass der „Stamm einer morphologischen Operation unterzogen wird, bevor er kompositionsfähig ist“. Fugenelemente treten zudem im Übergang von einer syntaktischen zu einer morphologischen Komposition auf und generieren zum Teil sprachliche Zweifelsfälle: richtung-? s-weisend , verfassung-? s-gebend , zukunft-? s-weisend (cf. ebd.; Nübling/ Szczepaniak 2008 : 10 ). Das Fugens tritt laut Nanna Fuhrhop ( 2000 : 211 f.) in diesen Fällen bei zunehmender Lexikalisierung auf und zeigt jeweils an, ob das Kompositum „mehr oder weniger ‚morphologisch‘ ist“. 5 Korpusanalyse: Zur Datengrundlage und Methodik Anthony Rowley ( 1997 : 109 ) beschreibt in seiner Untersuchung zum nominalmorphologischen System der nordostbayerischen Dialekte, dass das Fugens zwar im gesamten UG belegt ist, es aber im nördlichen, mittleren und westlichen Ostfränkischen besonders frequent zu sein scheint. Neben der Überprüfung der diatopischen Verteilung als Untersuchungsschwerpunkt stehen, ausgehend von den im Vorangegangen dargestellten Forschungsergebnissen und der relevanten Theoriebildung zu einer standardsprachlichen Systematik der Fugenelemente, zudem folgende Fragen im Zentrum der korpusbasierten Untersuchung zum Fugens im ofr. Sprachraum: - Hat das Fugens als einziges aus dem Inventar der produktiven Fugenelemente, das auch unparadigmatisch auftreten kann, im Ostfränkischen ein vom Standarddeutschen abweichendes Distributionsmuster ausgebildet? - Erzeugt es Kompositionsstammformen, die entweder im Standard nicht vorhanden oder aber markiert oder lexikalisiert sind? - Sind daraus spezifische funktionale Aspekte abzuleiten? Da Fugenelemente am häufigsten in N+N-Komposita auftreten (und dies auch sprachübergreifend, cf. Kürschner 2003 , 2010 ), wurde der Untersuchungsbereich auf zwei- oder mehrgliedrige N+N-Komposita eingegrenzt. Zudem entsprechen N+N-Komposita dem Wortbildungsmuster, das nahezu unbegrenzt Konkreta und Abstrakta bezeichnen kann, weshalb dieser Wortbildungstypus auch in den Materialien des Ostfränkischen Wörterbuchs besonders frequent ist.Das Datenmaterial, aus dem das der Untersuchung zugrundeliegende Korpus aufgebaut wurde, entstammt den Archiven des Fränkischen Wörterbuchs, einem Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 223 <?page no="224"?> 224 Grit Nickel Projekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Das Arbeitsgebiet des Fränkischen Wörterbuchs umfasst die nördlichen Regierungsbezirke Bayerns, Ober-, Mittel- und Unterfranken. Die Binnengliederung des ofr. Sprachraums erfolgt in drei größere Teilgebiete: das Unterostfränkische, das Oberostfränkische und den Nürnberger Raum (cf. Klepsch 2007 : 212 ). An den Rändern des UG ergeben sich Überschneidungen zu den Arbeitsgebieten des Südhessischen, des Bayerischen sowie des Thüringischen Wörterbuchs (cf. Klepsch/ Wagner 2008 : 9 ), sodass im Rahmen der Untersuchung des ofr. Kerngebiets aufgrund dieser arbeitstechnischen Eingrenzung des UG s auch Informationen über das Hessische, Nordbairische und Thüringische an den Rändern geboten werden. Hinsichtlich der eingangs genannten Fragestellung wurden die zwischen 1960 und 2001 verschickten Fragebögen des Archivs des Fränkischen Wörterbuchs gesichtet und zum Teil in vorkategorisierter Form übernommen, zum Teil in eine eigene Datenbank transkribiert. Da die aktuelle Forschung zur Distribution und zur Funktionalität der Fugenelemente des Deutschen, insbesondere des Fugens , ergeben hat, dass die s -Fuge primär auch von der morphologischen Komplexität des Erstglieds abhängig ist, wurde das Kriterium der morphologischen Komplexität (Simplizia vs. (derivations-)morphologisch komplexe Erstglieder) als ein Untersuchungsschwerpunkt für den Aufbau des Korpus gewählt; nicht berücksichtigt wurden suffigierte Feminina auf ung , heit , keit , schaft u. a., da diese in der Standardsprache regelmäßig mit -sverfugt werden und Abweichungen im Dialekt nicht erwartbar sind. Um die Distribution der verschiedenen Kompositionsstammformen im ostfränkischen Sprachraum darzustellen, wurde das Untersuchungsmaterial in einer Datenbank aufbereitet und in Form von Sprachkarten ausgewertet. Sprachkarten werden mit dem Ziel gezeichnet, ausgewählte sprachliche Merkmale grafisch darzustellen und zu dokumentieren. Das Material, das zum Erstellen der Sprachkarte genutzt wird, muss hinsichtlich der Ähnlichkeit bzw. der Unähnlichkeit seiner Merkmale klassifiziert und die Merkmale im Verhältnis ihrer Bedeutung für die Aussagekraft der Karte gewichtet werden. Die Schwierigkeit bei der Erstellung einer Sprachkarte besteht somit darin, ein ausgewogenes Verhältnis „zwischen Dokumentation und Interpretation“ (cf. Rädle 2005 : 645 ) des Belegmaterials zu bewahren, wobei auch die Erfahrung des Bearbeiters und dessen Übersicht über die Materialbasis eine Rolle spielen. Das Problem der Typisierung, d. h. der Gewichtung der sprachlichen Merkmale, die für die Fragestellung der Korpusanalyse relevant sind, stellte sich auch beim Erstellen der vorliegenden Karten, weshalb die jeweiligen Überlegungen im Einzelfall erläutert werden. In der Datenbank wurde das Dialektmaterial nach den relevanten sprachlichen Merkmalen klassifiziert und einzeln standardsprachlich lemmatisiert; <?page no="225"?> auch im Text werden die einzelnen Belege standardsprachlich angeführt, da phonologische Varianten im Kontext der Fragestellung nicht unmittelbar relevant sind. 6 Untersuchungsergebnisse Im Folgenden werden die Untersuchungsergebnisse und Sprachkarten hinsichtlich folgender Untersuchungsschwerpunkte vorgestellt: Verfugungsvarianten nach simplizischem Erstglied, Verfugung nach kontrahiertem vs. nicht-kontrahiertem Erstglied sowie Verfugung nach derivationsmorphologisch komplexem Erstglied. 6.1 Das Fugens nach Simplizia Durch die Vorbetrachtungen über die standardsprachliche Distribution und Funktionalität der Fugenelemente wurde deutlich, dass Stämme, die dem phonologischen Wortideal eines Trochäus entsprechen, weniger zur Verfugung neigen. Simplizische Stämme bilden vor allem dann eine Kompositionsstammform mit dem Fugens aus, wenn das Fugenelement eine grenzmarkierende Funktion übernimmt, indem es die Silbenkoda (eventuell auch durch Extrasilbizität) exponiert. Diese Funktion ist nach Plosiven besonders deutlich, weshalb ein Fugens in dieser phonologischen Umgebung wahrscheinlicher ist als nach Liquid oder Nasal. Im Rahmen einer korpusbasierten Untersuchung weist Heide Wegener ( 2005 : 182 ) nach, dass nur fünf Prozent aller auf Liquid oder Nasal auslautenden Simplizia ein Fugens annehmen. Im UG , dies zeigen die Karten 1 bis 3 , werden jedoch auch auf Liquid auslautende Simplizia in bestimmten Gebieten regelmäßig mit -sverfugt. Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 225 <?page no="226"?> 226 Grit Nickel Karte 1 Verfugungsvarianten zu Erstglied April Karte 1 entspricht im Wesentlichen einer Wortkarte des Handwörterbuchs von Bayerisch-Franken , da diese ebenfalls die Frage 25 des Fragebogen 4 ( 1961 , Mundartlich für jemanden in den April schicken ) zum Gegenstand hat. Anders als auf der Karte des Handwörterbuchs wurden auf der vorliegenden Karte jedoch nicht die erhobenen Komposita als einzelne Lexeme verzeichnet, sondern sie wurden hinsichtlich der Kompositionsstammform des Erstglieds April unterschieden und kartiert. 4 Von den insgesamt 975 Belegen bilden 788 Belege die Kompositionsstammform mit der Nullfuge ( April-ø ); 95 Belege werden mit -sverfugt ( April-s ). Eine weitere Kompositionsstammform wird nach dem Muster April-e ( 50 Belege) bzw. April-a ( 40 Belege) gebildet. Diese Formen sind mundartliche Varianten der Kompositionsstammform April-en . April, mhd. aprille / abrille , ist von der schwachen Deklinationsklasse in die starke gewechselt: „[D]och lautet uns der gen. heute aprils, nicht mehr aprillen, welches nur einige zusammensetzungen wahren“ (cf. Grimm et al. 2001 : Sp. 538 ). Jacob Grimm ( 1878 : 605 ) interpretiert die schwache Genitivendung, die sich in einigen Komposita erhalten hat, als morphologisiert. Auch im Baye- 4 Ein ähnliches Raumbild ergibt sich aus der Kartierung der Varianten ofr. April-ø-wetter , April-s-wetter , April-e-wetter , April-a-wetter. <?page no="227"?> rischen Wörterbuch ist unter dem Lemma April nicht die starke, sondern die schwache Genitivbildung ( des Aprilen ) vermerkt (cf. Schmeller/ Frommann 1973 : 119 , s. v. April ). Im UG ist die schwache Genitivendung als Fugenelement reanalysiert (cf. Rowley 1997 : 108 ). Die diatopische Verteilung der Kompositionsstammformen April-e / April-a geht mit dem Phänomen der Vokalisierung der mhd. Endung -(e)n einher (cf. Rowley 1997 : 107 ): Die schwache Flexionsendung -(e)n der obliquen Kasus bzw. -(e)m werden bei vorangehendem mhd. Liquid, Dental, labialem Plosiv in einem sehr geschlossenen Areal vokalisch als Schwa-Laut [ɐ] und [ə] realisiert (cf. Gruener/ Rudisch 2007 : 122 f.; Wolf 1998 : 64 ). 5 Die vorliegende Karte zeigt, dass April-e und Aprila gleichermaßen im Würzburger Raum, im südlichen Aschaffenburger Raum sowie im westlichen Mittelfranken belegt sind. Die Grenze verläuft in diesem Fall östlicher, als die Karte des Sprachatlas von Mittelfranken zeigt, wo die Vokalisierung von -(e)n einem Areal entlang der Westgrenze Mittelfrankens entspricht (ebd.: 123 ). Die Formen April-a / April-e konkurrieren in diesem Gebiet außerdem mit der unverfugten Kompositionsstammform April-ø . 80 , 7 % der erhobenen Komposita werden mit der Nullfuge gebildet. Sie ist über fast das gesamte Untersuchungsgebiet verbreitet und wird als unmarkierter Normalfall (cf. Abschnitt 3 ) nicht gesondert auf Karte 1 wiedergegeben. Die Raumbildung in Karte 1 macht deutlich, dass die Verteilung der verfugten Kompositionsstammformen diatopisch bedingt ist. Im nördlichen Untersuchungsgebiet, insbesondere im Henneberger Raum, sowie im Aschaffenburger Raum ist die Kompositionsstammform April-s frequent. Die starke Flexionsendung -s- , die im Zuge der Herausbildung des Wortbildungsmusters der Komposition als Fugenelement reanalysiert wurde, ist in den lexikalisierten Komposita erhalten und konkurriert in diesen Teilen des UG mit der Nullfuge. Auch Karte 2 zeigt, dass die Verfugungsvarianz im UG diatopisch bedingt ist. Sie fasst die Verteilung von Kompositionsstammformen mit dem Stamm Vogel zusammen. Die Datenbank wurde mithilfe der Belege des Fragebogens 2 ( Jahrgang 1960 / 61 ), Frage 11 ( Mundartlich für die Eberesche ) aufgebaut. Das simplizische Erstglied Vogel entspricht dem phonologischen Wortideal einer betonten Silbe mit Reduktionssilbe und lautet auf einen Liquid aus, sodass - ausgehend von den Erkenntnissen zur Distribution und zur Funktion des Fugens nach 5 Auch Anthony Rowley ( 1997 : 107 f.) führt die Vokalisierung der Stammbildung auf -en als formales Mittel zur Bildung der Kompositionsstammform an. Die Verteilung der Varianten Kirch-a-turm neben Kirche-s-turm und Kirch-ø-turm (subtraktive Fuge) aus dem Material des Ostfränkischen Wörterbuchs zeigen eine ähnliche diatopische Verteilung, wobei eine Gewährsperson die Formen Kirch-ø-turm und Kirch-a-turm als neuere Varianten markiert hat. Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 227 <?page no="228"?> 228 Grit Nickel Simplizia - die Kompositionsstammbildung mit dem Fugens kaum erwartbar ist.Im ostfränkischen Sprachraum sind unter den insgesamt 515 Belegen vier Kompositionsstammformen für den Stamm Vogel vertreten: Neben der standardsprachlich unmarkierten Kompositionsstammform Vogel-ø ( 391 Belege; 75 , 9 %), finden sich 70 Belege ( 13 , 6 %) der Kompositionsstammform Vögel-ø sowie zwei Kompositionsstammformen, die mit dem Fugens gebildet werden. Die Form Vogel-s ist insgesamt siebenmal belegt ( 1 , 4 %), die unparadigmatische Variante Vögel-s ist mit 47 Belegen ( 9 , 1 %) vertreten. Karte 2 Varianz der Kompositionsstammformen zum Stamm Vogel Die s -Fuge ist auf das unterostfränkische Gebiet sowie den Aschaffenburger Raum begrenzt. Das Flexionssuffix -s- , das im Zuge der Herausbildung der Genitivkomposita im Frnhd. (cf. 3 . 1 ) als Fugenelement reanalysiert wurde, ist im Dialekt - anders als in der Standardsprache - in Teilen des Untersuchungsgebiets als paradigmatisches Fugenelement ( Vogel-s ) noch erhalten. Die mit -sverfugten Kompositionsstammformen ohne Umlaut konzentrieren sich auf den Aschaffenburger Raum und vereinzelt mit nur zwei Belegen auf den Raum Würzburg. <?page no="229"?> Unter den mit s-verfugten Kompositionsstammformen ist die Variante mit Umlaut ( Vögel-s ) die frequentere. Die unparadigmatische Kompositionsstammform Vögel-s ist vor allem im unterostfränkischen sowie im mainfränkischen Gebiet relativ dicht belegt. Der Umlaut ist bei umlautfähigen Stämmen eines der formalen Mittel zur Kompositionsstammformbildung: hǫis-blads (‚Häus-øplatz‘), ghü-ghedn (‚Küh-ø-kette‘) (cf. Rowley 1997 : 107 ), Säu-ø-stall . Im größeren Teil des UG ist die Nullfuge frequent, wobei auch hier der Umlaut als formales Mittel zur Kompositionsstammformbildung zumindest an der Grenze zu Thüringen im Coburger Raum sowie im Obermain-Raum eintritt. Auch Karte 3 zeigt deutlich, dass der Umlaut zur Bildung der Kompostionsstammform in Teilen des UG frequent ist. Für die Karte wurden alle Belege (außer unbekannt) zur Frage 34 des Fragebogen 104 (mundartlich für den Bauern, der Pferde besitzt) in die Datenbank aufgenommen, obwohl im Rahmen der Fragestellung eigentlich nur Komposita mit dem Erstglied Gaul relevant sind. 6 Zusammensetzungen mit den Erstgliedern Pferd oder Ross sind im UG nur mit Nullfuge belegt. 7 Der Stamm Pferd ( 53 Belege) ist (mit wenigen Ausnahmen) ausschließlich im nordöstlichen Raum des Untersuchungsgebiets verbreitet, währen Ross ( 28 Belege) im nördlichen Nürnberger Raum, vereinzelt im Weißenburger Raum sowie um Ansbach belegt ist. Den größten Teil des Untersuchungsgebiets deckt der Stamm Gaul ( 132 Belege) ab. 6 Die diatopische Verteilung der Lexeme Pferd , Gaul und Ross in Karte 3 ist aber insofern interessant, da ein ähnliches Raumbild bereits im Deutschen Sprachatlas zu finden ist (cf. Wenker/ Wrede 1927 ). 7 Rowley ( 1997 : 108 ) weist allerdings auch einen Beleg mit dem Erstglied Pferd und s -Fuge nach: bvāš-öbvl (‚Pferde-s-apfel‘). Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 229 <?page no="230"?> 230 Grit Nickel Karte 3 Komposita für den „Bauern, der Pferde besitzt“ Im verwendeten Material des Ostfränkischen Wörterbuchs sind vier verschiedene Kompositionsstammformen des Stammes Gaul belegt. Im Ansbacher, im Nürnberger sowie im Gunzenhäuser Raum sind die Kompositionsstammformen Gaul-ø ( 17 Belege; 12 , 9 %) und Gäul-ø ( 27 Belege; 20 , 5 %) ähnlich stark verteilt. Die Kompositionsstammformen Gaul-s und Gäul-s hingegen sind auf ein ziemlich geschlossenes Areal begrenzt, das allerdings ein Großteil des Untersuchungsbereichs einnimmt. Im Würzburger Übergangsstreifen, im südwestlichen Würzburger Raum sowie im Erlanger Gebiet überwiegt die Kompositionsstammform Gaul-s (insgesamt 17 Belege; 12 , 9 %). Die Kompositionsstammform Gäul-s ist mit 71 Belegen und einem relativen Anteil von 53 , 8 % insbesondere im Würzburger Raum, aber auch im Henneberger Raum, in der Region Grabfeld sowie im Aschaffenburger Raum frequent. 8 8 Die Verteilung der Komposita Gaul-(s)-apfel , Gäul-s-apfel oder auch Gäul-(s)-bollen (Fragebogen 69 , Frage 104 ) entspricht dem Bild, das sich aus der vorliegenden Karte ergibt. Auch die Verteilung der einzelnen Kompositionsstammformen der mundartlichen Belege für Giersch ( Gäul-(s)-kümmel , Ross-ø-kümmel , Pferde-ø-kümmel , Fragebogen 113 , Frage 28 ) entsprechen diesem Befund. Gestützt wird das Ergebnis durch die Analyse der Antwortbelege der Bayerischen Dialektdatenbank BayDat . Die Frage 0502 ( die festen runden Exkremente beim Pferd ) wurde für Mittel- und Unterfranken erhoben. In Mittelfranken <?page no="231"?> 6.2 Verfugung und Kontraktion Die folgenden zwei Karten rücken einen möglichen Zusammenhang zwischen Verfugung und Kontraktionserscheinungen ins Zentrum der Fragestellung. Kontraktion ist ein vor allem gesprochensprachliches Phänomen, das in den Dialekten besonders konsequent auftritt (cf. Rein 1983 : 1148 ). Untersucht wurden ein (in Teilen des UG s) kontrahiertes simplizisches Erstglied sowie ein (teilweise) kontrahiertes, morphologisch komplexes Erstglied. Karte 4 Varianz der Kompositionsstammformen zum Stamm Stuben Karte 4 fasst die Antwortbelege der Frage 23 des Fragebogens 105 sowie von Frage 8 des Fragebogens 111 zusammen, die jeweils nach der mundartlichen Bezeichnung des Fußbodens in der Wohnstube fragen. In die Datenbank aufgenommen wurden zweigliedrige Komposita mit dem Erstglied Stuben (insergibt sich eine Varianz der Komposita Ross-ø- und Gäul-ø-bollen , während in Unterfranken daneben auch die Kompositionsstammform Gäul-s ( Gäul-s-bollen , Gäul-s-mist ) belegt ist. Die Antworten auf Frage 0537 ( mundartlich für die Pferdeschwemme ), die nur in Unterfranken erhoben wurde, gibt ein ähnliches Bild wieder: Besonders frequent ist die Kompositionsstammform Gäul-s : Gäul-s-loch , Gäul-s-see , Gäul-s-trenke , Gäul-s-kessel , Gäul-s-schwemme . Die Auswertung der Belege, die durch BayDat bereitgestellt werden, stützen somit die Befunde, die auf Karte 3 dargestellt werden. Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 231 <?page no="232"?> 232 Grit Nickel gesamt 214 Belege). Als Stamm wird an dieser Stelle Stuben und nicht der standarddeutsche Stamm Stube gewählt, da die Reduktionssilbe -en in standardsprachlich auf Schwa auslautenden Substantiven ein Merkmal oberdeutscher Dialekte ist (cf. Schmeller/ Frohmann 1872 / 1973 : 720 , Bd. 2 , s. v. die Stuben ). Die Erstglieder wurden unter verschiedenen Aspekten segmentiert und typisiert. Zunächst wurde zwischen kontrahierten und nicht kontrahierten Erstgliedern unterschieden. Der Kontraktionsprozess ist von einer Verlagerung des Akzents auf die betonte Silbe begleitet, was schließlich zu einem Schwund der Reduktionssilbe und zu Kontaktassimilation des Nasals der Silbenkoda führt (cf. Rein 1983 : 1152 ). Für die kontrahierten Formen werden exemplarisch Stum / Stoum genannt. Vokalkürze und -länge sowie die Lautung des Vokalphonems werden von den Gewährspersonen unterschiedlich markiert und wurden im Rahmen der Typisierung nicht berücksichtigt. Die nicht-kontrahierten Stämme werden in jene mit vokalischem Auslaut ( Stuba ) und jene mit konsonantischem Auslaut ( Stuben ), einschließlich der zum Teil assimilierten Stämme ( Stubm ), unterteilt. Das Areal, in dem die Vokalisierung der Endung -en durchgeführt wird, ist, wie Karte 1 gezeigt hat, relativ geschlossen und ohne Übergangsgebiete. Es ist in Karte 4 grau unterlegt und gibt das Auftreten der nicht verfugten Kompositionsstammformen Stuba-ø / Stuber-ø ( 19 Belege) bzw. Stube-ø / Stube-ø ( 25 Belege) als Normalfall in diesem Teil des UG wieder. Die Nullfuge ist mit 61 , 1 % unter den vokalisch auslautenden Kompositionsstammformen gegenüber 38 , 9 % Belegen mit s-Fuge weitaus häufiger belegt. Die mit -sverfugte auf Schwa auslautende Kompositionsstammform Stube-s ( 15 Belege) konzentriert sich vor allem auf das südostfränkische Gebiet sowie den Würzburger Raum (cf. Rowley 1997 : 108 ). Die auf [ɐ] auslautenden, mit -sverfugten Kompositionsstammformen Stuba-s / Stuber-s ( 13 Belege) sind besonders im schwäbischen Übergangsstreifen, im Ansbacher Raum sowie vereinzelt im südlichen Würzburger Raum frequent. Die Belege der konsonantisch auslautenden Kompositionsstammform mit Nullfuge Stuben-ø / Stubm-ø ( 22 Belege) konzentrieren sich vor allem auf den Nürnberger Raum; weitere vereinzelte Belege sind im restlichen Untersuchungsgebiet verteilt. Der konsonantisch auslautende nicht-kontrahierte Stamm wurde in nur zwei Belegen mit -sverfugt ( Stuben-s ). Die nicht verfugte, kontrahierte Kompositionsstammform mit Nullfuge Stumø ist mit 118 Belegen insgesamt am häufigsten vertreten. Mit 78 , 7 % ist der Anteil der Nullfuge nach kontrahiertem Stamm in diesem Fall wesentlich frequenter als die s -Fuge mit 21 , 3 % ( 32 Belege). Im Falle des simplizischen Erstglieds Stuben lässt sich zusammenfassen, dass die Kontraktionserscheinung die Nullfuge im Gegensatz zur s -Fuge begünstigt. Allerdings bietet die diatopische <?page no="233"?> Verteilung der Verfugung Aufschluss über das Fugenverhalten hinsichtlich dieses Untersuchungsaspekts: Die s -Fuge ist vor allem im Obermain-Raum, im Bayreuther Raum sowie im nördlichen Regnitz-Raum häufig vertreten, während die Nullfuge besonders im Nürnberger Raum, im Gunzenhäuser Raum, im Rehauer Gebiet sowie vereinzelt im Bayreuther Raum belegt ist. Im Bayreuther Raum konkurrieren Null- und s -Fuge teilweise. Karte 5 Varianz der Kompositionsstammformen zu den Stämmen Grundbirne , Erdapfel , Erdbirne Karte 5 fasst das Fugenverhalten nach einem morphologisch komplexen Erstglied zusammen. Für diese Karte wurden die Fragen 23 („mundartlich für die Kartoffelfurchen“) und 29 („mundartlich für die kleinen Küchlein aus geriebenen rohen Kartoffeln“) des Fragebogens 2 in der Datenbank erfasst. Aufgrund des zentralen Aspekts der Fragestellung wurden nur jene Erstglieder in die Wortlisten aufgenommen, die Kontraktionserscheinungen aufweisen. Hierbei handelt es sich um zweigliedrige Komposita: Grundbirne , Erdbirne und Erdapfel . Die Simplizia Kartoffel und Potacke wurden nicht berücksichtigt (cf. Schmeller/ Frohmann 1973 : 413 , Bd. 1 , s. v. Die Pataken ; Martin 1963 ; Arzberger/ Rigoll 2006 : 258 f.), wenngleich auch der Stamm Kartoffel im ofr. Sprachraum eine Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 233 <?page no="234"?> 234 Grit Nickel nicht verfugte und eine mit -sverfugte Kompositionsstammform ausgebildet hat. 9 Alle drei untersuchten Erstglieder wurden hinsichtlich der lautlichen Unterschiede (Kontraktion und Assimilation) typisiert und kartiert. Auch die Unterscheidung von vokalisch im Gegensatz zu konsonantisch auslautenden Stämmen war für die Typisierung relevant. Der komplexe Stamm Erdbirnen ( 115 Belege) bildet in allen lautlichen Varianten nur eine Kompositionsstammform, nämlich mit Nullfuge aus. Die nicht kontrahierte Form ( Erdbirn-ø, 22 Belege mit einem relativen Anteil von 19 , 1 %) sowie die konsonantisch auslautende, kontrahierte Form ( Ebirn-ø, 51 Belege; 44 , 3 %) konzentrieren sich vor allem auf Teile des Nürnberger und des Ansbacher Raums als auch in einem kleinen Teil des nordwestlichen Würzburger Raums, während die vokalisch auslautende, kontrahierte Kompositionsstammform ( Ebira-ø , 42 Belege; 36 , 5 %) entlang der südwestlichen Grenze des Untersuchungsgebiets, im Südostfränkischen sowie im Schwäbischen Übergangsstreifen besonders frequent ist. Auch die dreisilbige, vokalisch auslautende, kontrahierte Form des Kompositums Grundbirne wird nur mit der Nullfuge verfugt ( Grumbira-ø / Grumbera-ø , 90 Belege). Diese Form ist ausschließlich im Würzburger Raum belegt. Die konsonantisch auslautende, kontrahierte, zweisilbige Variante Grumbern (insgesamt 148 Belege) hat dagegen eine mit Nullsowie eine mit -sverfugte Kompositionsstammform ausgebildet. Die nicht verfugte Kompositionsstammform Grumbern-ø ( 126 Belege) überwiegt im Aschaffenburger Raum sowie im Fuldaer Übergangsstreifen. Mit 85 , 1 % gegenüber der Variante mit s -Fuge ( Grumbern-s , 22 Belege) ist sie wesentlich häufiger verteilt. Diese Kompositionsstammform konzentriert sich auf den Fuldaer Übergangsstreifen und konkurriert dort mit der nicht verfugten Variante. Das Areal, in dem das Lexem Grundbirne belegt ist, ist damit relativ geschlossen und auf das Unterostfränkische sowie das Rheinfränkische im Aschaffenburger Raum begrenzt. Das dritte untersuchte Erstglied, Erdapfel, ist sowohl in der kontrahierten wie in der nicht-kontrahierten Variante mit Null- und s -Fuge belegt. Die dreisilbige, nicht kontrahierte Kompositionsstammform mit Nullfuge Erdäpfel-ø ( 171 Belege) ist besonders an der Grenze des unterostfränkischen zum oberostfränkischen Gebiet, im Würzburger Übergangsstreifen, im Regnitz-Raum sowie vereinzelt im Bayreuther Raum verbreitet. Die nicht kontrahierte, mit -sverfugte Kompositionsstammform Erdäpfel-s ( 78 Belege) konzentriert sich 9 Allerdings ist die Kompositionsstammform Kartoffel-s mit nur 4 Belegen weitaus weniger frequent als die Kompositionsstammform Kartoffel-ø ( 132 Belege). Die Komposita Kartoffel-s-zeile , Kartoffel-s-küchlich sowie Kartoffel-s-dutschlich (‚kleine Küchlein aus rohen Kartoffeln‘) sind das Gebiet des Henneberger Raums und des nördlichen Grabfelds begrenzt. <?page no="235"?> auf die Region Grabfeld, Teile des Fuldaer Übergangsstreifen sowie den Coburger Raum und den Obermain-Raum und somit den nördlichen Teil des Untersuchungsgebiets. Die zweisilbige, kontrahierte Kompositionsstammform Erpfl-ø ( 87 Belege) dominiert das nordöstliche Untersuchungsgebiet, insbesondere den Bayreuther Raum, den Obermain-Raum und Teile des Regnitz-Raums. Die kontrahierte mit -sverfugte Kompositionsstammform Erpfl-s ( 17 Belege) hingegen ist auf den nördlichsten Zipfel des Obermain-Raums und Teile des Coburger Raums begrenzt. Insgesamt sind auch in diesem Fall die nicht verfugten Kompositionsstammformen frequenter als die mit -sverfugten: Die nicht kontrahierte Kompositionsstammform mit Nullfuge ist mit 68 , 7 % wesentlich häufiger als die Form mit s -Fuge ( 31 , 3 %). Die kontrahierte Kompositionsstammform mit Fugen-s ( Erpfl-s ) ist mit 16 , 3 % im Verhältnis zur Nullfuge ( 83 , 7 %) noch weniger frequent. Die Karten 4 und 5 zeigen, dass Kontraktionserscheinungen die Wahrscheinlichkeit der Verfugung mit -smindern. Unter Berücksichtigung der für die Standardsprache erläuterten funktionalen Aspekte der s -Fuge (phonologische Optimierung, wenn die Silbenstruktur vom trochäischen Ideal abweicht; das Fugen-s als Indikator phonologischer und morphologischer Komplexität) entspricht diese Verteilung der Null- und der s -Fuge nach kontrahiertem Erstglied durchaus dem für die Funktionsweise und Distribution der Fugenelemente in der Standardsprache gesteckten Rahmen. Bemerkenswert hingegen ist die diatopische Verteilung auf beiden Karten: Obwohl Kontraktionserscheinungen für weitere Teile des Untersuchungsgebiets beschrieben wurden, ist die Verfugung der kontrahierten Stämme mit -smit unterschiedlicher Verbreitung jeweils auf den nördlichen Teil des Untersuchungsgebiets begrenzt. 6.3 Fugen-s nach derivationsmorphologisch komplexen Erstgliedern Im Folgenden steht ein Aspekt der Verteilung und der Funktionalität des Fugen-s im Vordergrund, den vor allem neuere Untersuchungen (cf. v. a. Kürschner 2003 ; Nübling/ Szczepaniak 2008 ) betont haben. Sebastian Kürschner ( 2003 ) hat in seiner korpusbasierten Untersuchung gezeigt, dass die derivationsmorphologische Komplexität einen direkten Einfluss auf das Fugenverhalten des Erstglieds hat. Damaris Nübling und Renata Szczepaniak ( 2008 ) weisen nach, dass vor allem synchron eine starke Tendenz besteht, Erstglieder mit unbetontem Präfix mit -szu verfugen. Die Frage, welche Verfugungsvarianten nach einem unbetonten Präfix belegt sind, kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nur anhand eines einzelnen Falls behandelt werden, da im verwendeten Material keine weitere, einigermaßen aussagekräftige Menge an Komposita mit derivationsmorphologisch komplexen Erstglied mit unbetontem Präfix belegt ist. Die Datenbank Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 235 <?page no="236"?> 236 Grit Nickel setzt sich aus den Antworten auf die Frage „Mundartlich für die Gabel, mit der man Getreidegarben verlädt“ (Fragebogen 2 , Frage 17 ) zusammen, wobei nur Komposita, die nach dem Muster Getreide-? s-gabel gebildet werden, aufgenommen wurden. Karte 6 Varianz der Kompositionsstammformen zum Stamm Getreide Die insgesamt 339 Belege lassen sich in drei verschiedene Kompositionsstammformen klassifizieren: Der nicht verfugte, apokopierte Stamm mit Nullfuge Getreid-ø bildet eine sehr umfangreiche Gruppe ( 153 Belege). Eine zweite, wesentlich kleinere Gruppe besteht aus dem ebenfalls durchgängig apokopierten Stamm Getreidmit s -Fuge ( 31 Belege). 10 Die dritte Gruppe ( 155 Belege) besteht aus dem nicht präfigierten Einsilber Treid-ø . Karte 6 zeigt mithilfe von Isoglossen, dass die räumliche Verteilung der drei Formen relativ abgeschlossen und ohne Übergangsgebiete ist: Die nicht verfugte, apokopierte Kompositionsstammform Getreid-ø ist (mit einzelnen Ausnahmen) auf das nördliche Untersuchungsgebiet begrenzt. Die mit -sverfugte Kompositionsstammform ist nur im Coburger Raum und im westlichen Grabfeld im nördlichen UG belegt. Sie 10 Anthony Rowley ( 1997 : 108 ) führt die Varianten gədrēdsbūdn im Gegensatz zu drābūan ( ‚Getreid-s-boden‘ vs. ‚Treid-ø-boden‘ ) an. <?page no="237"?> ist unter der präfigierten Kompositionsstammform Getreid-? s mit einem relativen Anteil von 16 , 8 % weitaus weniger frequent als die Variante mit Nullfuge ( 83 , 2 %). Der gesamte südliche Teil des UG ist von der einsilbigen, nicht verfugten Kompositionsstammform Treid-ø dominiert. Diese Verteilung entspricht einer generellen Tendenz des Ostfränkischen: Der Norden des UG zeigt eine starke Präferenz für das kollektivierende Präfix Ge- , während im südlichen Rest des ostfränkischen Sprachraums das Präfix getilgt ist. In den Materialien des Ostfränkischen Wörterbuchs finden sich weitere Beispiele dieser Kollektiva, die auf den nördlichen Teil des ostfränkischen Sprachraums beschränkt sind: das Gesims , das Geschweller , das Gemück , das Gebrück . 11 0 Aufgrund der dünnen Materiallage kann an dieser Stelle nur eine Hypothese formuliert werden, die sich auf die Erkenntnisse und Tendenzen der Standardsprache stützt, hinsichtlich des Fugenverhaltens im Dialekt allerdings überprüft werden muss: Derivationsmorphologisch komplexe Stämme mit dem unbetonten Präfix Ge- , das aufgrund seiner kollektivierenden Semantik im nördlichen Teil des Untersuchungsgebiets besonders frequent ist, werden in einem nur sehr kleinen Gebiet mit -sverfugt. Simplizische Stämme des Typs Treid-ø bilden hingegen nur Kompositionsstammformen mit der Nullfuge aus. Inwiefern Apokopierung das Auftreten des Fugen-s begünstigt, kann an dieser Stelle nur vermutet werden. Im Falle des apokopierten Stammes Getreid-s markiert das Fugen-s durch Extrasilbizität die Morphemgrenze des Erstglieds. Ob dieser funktionale Aspekt, der in der Standardsprache zu finden ist und zum Teil Schwankungsfälle generiert, die Verfugung mit -sim Dialekt begünstigt, müssen umfangreichere Korpusuntersuchungen zeigen. Karte 7 fasst einen weiteren Fall derivationsmorphologisch komplexer, nämlich suffigierter Erstglieder zusammen: Diminutiva. Diminution ist im Dialekt ein besonders frequentes Wortbildungsmuster. Diminutiva bilden daher eine geeignete Materialbasis, um Verfugungstendenzen nach morphologisch komplexen Erstgliedern im UG zu überprüfen. Das UG kennt im Wesentlichen die Diminutionssuffixe -le , -la und -li , die auch im untersuchten Dialektmaterial zu finden sind. Im Westen des UG sind außerdem das Diminutionssuffix -(e)l sowie das Suffix -lich frequent. Im untersuchten Material sind diese Diminutivsuffixe allerdings nicht belegt, weshalb die Belegdichte im unterostfränkischen Gebiet weniger aussagekräftig ist. Insgesamt wurden 484 Belege untersucht, die sich aus verschiedenen Komposita mit einer Diminutivform als Erstglied, zusammensetzen, darunter Röhr- 11 Bei Rowley (ibd.: 109 ): gmōas-grund (‚Gemeinde-s-grund‘). Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 237 <?page no="238"?> 238 Grit Nickel le-? s-nudel (‚Makkaroni‘), Stöckele-? s-schuh , Gaggele-? s-frau (‚Frau, die Eier verkauft‘), Zettele-? s-wirtschaft . Im Gegensatz zum nhd. Standard findet sich im Dialekt die Differenzierung zwischen singularischen Diminutivsuffixen (le , -la ) und einem pluralischen Diminutivsuffix (li ) (cf. Heyse/ Klepsch 2007 : 194 ; Steger 1968 Karte 63 . 1 und 63 . 2 ; Wagner 1987 : 90 ; Wolf 1998 : 70 ). Diese Unterscheidung spiegelt sich auch auf der vorliegenden Karte wieder. Das Diminutivsuffix -le ist besonders im Würzburger Raum, im Ansbacher sowie im Südostfränkisichen und in Teilen des Oberostfränkischen frequent; in diesen Arealen dominiert die Kompositionsstammbildung mit Fugens nach dem Diminutiv le ( 237 Belege; 96 %). Nur 4 % der Komposita mit diesem Diminutiv werden nicht verfugt und sind vor allem im nordöstlichsten Zipfel des Oberostfränkischen belegt ( 10 Belege). Karte 7 Verfugungsvarianten nach dimuniertem Erstglied Das Diminutivsuffix -la , das von den Gewährspersonen zum Teil in der Form le r transkribiert wird, ist mit 159 Belegen insgesamt weniger häufig als -le ( 247 Belege). -la ist besonders im Nürnberger und im Bayreuther Raum sowie im Obermain-Raum und im Nailaer Raum frequent. Vor allem die nicht mit -sverfugten Belege konzentrieren sich auf den nordöstlichen Teil des Oberostfränkischen. <?page no="239"?> 66 % aller Komposita, deren Erstglied auf das Diminutivsuffix la auslauten, werden mit -sverfugt ( 105 Belege gegenüber 54 Belegen mit Nullfuge). Das Diminutivsuffix li , das den Plural markiert ( Gaggeli-s/ ø-frau) , Stöckli-ø-schuh ) ist insgesamt nur elf Mal vertreten. Im Gunzenhäuser Raum im südlichen UG ist das Diminutiv -li (neben -la ) vor allem ohne Fugens belegt ( 3 Belege), während die mit -sverfugte Form ( 8 Belege) im Südostfränkischen sowie im Würzburger Raum zu finden sind. Insgesamt besteht eine klare Tendenz des Fugens nach Diminutivbildungen; auch hinsichtlich der diatopischen Verteilung zwischen Null- und s -Fuge lassen sich Tendenzen erkennen. 7 Zusammenfassende Darstellung des Analyseergebnisses und Ausblick Im Zentrum der Untersuchung stand zunächst die Frage, ob sich die Verteilung des Fugens im Dialekt, speziell im ostfränkischen Sprachraum, von der Systematik und den diversen funktionalen Aspekten der Standardsprache unterscheidet. Die einzelnen Analysen und die dargebotenen Sprachkarten haben veranschaulicht, dass das dialektale Fugensystem von dem der Standardsprache in einigen wesentlichen Punkten zu unterscheiden ist. Die Analyse der verschiedenen simplizischen Stämme hat gezeigt, dass neben den Kompositionsstammformen, die in der Standardsprache produktiv oder lexikalisiert sind, im Dialekt zunächst weitere Kompositionsstammformen berücksichtigt werden müssen. Aussagen über die Produktivität (und damit über die systematische Distribution und Funktionalität) der einzelnen Kompositionsstammformen und Fugenelementen im UG können kaum getroffen werden; dies ist in erster Linie der knappen Datenlage geschuldet, da das untersuchte Material hauptsächlich lexikalisierte Komposita umfasst (cf. Rowley 1997 : 109 ). Aufgrund der Konzeption der Fragebögen, die zumeist gezielt einen bestimmten Wortschatz abfragen, sind die Belege der Gewährspersonen lexikalisiert und können im Einzelfall zwar Hinweise auf Reihenbildung als Indiz für die Produktivität, aber keine Hinweise auf die Produktivität einer Kompositionsstammform im Rahmen okkasioneller, spontansprachlicher Bildungen liefern. Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse können somit nur anhand von Einzelfallanalysen bestehende Kompositionsstammformen und ihre diatopische Verteilung dokumentieren, nicht aber weitreichendere Aussagen zur Systematik und Produktivität treffen. Die Raumbilder zeigen jedoch, dass nicht nur eine hohe Varianz an Verfugungsmöglichkeiten (auch in Abgrenzung zur Standardsprache) im UG bestehen, sondern vor allem auch, dass es in der Tat eine areale Verteilung und Präferenz für bestimmte Verfugungsmuster gibt. Die Varianz und auch die diatopische Verteilung der Kompositionsstammformen zu den Stämmen April , Vogel und Gaul zeigen, dass Kompositionsstammformen und damit formale Mittel Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 239 <?page no="240"?> 240 Grit Nickel zur Kompositionsstammformbildung im Dialekt aktiv sind, die in der Standardsprache synchron nicht vertreten sind. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die hohe Frequenz der s -Fuge im nördlichen Untersuchungsgebiet, im Unterostfränkischen und zum Teil in dem Interferenzgebiet zum Rheinfränkischen. Umfassendere, dialektvergleichende Korpusuntersuchungen werden prüfen müssen, inwiefern dieses Spektrum der verschiedenen synchron erhaltenden Kompositionsstammformen über den ostfränkischen Sprachraum hinausreicht. Eine weitaus systematischere Aussagekraft hingegen haben die Analysen des Fugenverhaltens nach kontrahierten und morphologisch komplexen Erstgliedern. Kontrahierte und damit morphologisch weniger komplexe Erstglieder werden seltener mit -sverfugt als nicht kontrahierte Erstglieder. Die Sprachkarten zeigen in den beiden untersuchten Fällen zudem eine Beschränkung der s -Fuge auf den nördlichen Teil des Untersuchungsgebiets. Die Untersuchung der derivationsmorphologisch komplexen Erstglieder hat zunächst für das unbetonte Präfix Gedeutlich gemacht, dass die Komplexität des Erstglieds (neben weiteren Phänomenen wie Apokopierung) das Fugens möglicherweise begünstigt. Im vorliegenden Fall war die verfugte Kompositionsstammform auf einen relativ kleinen räumlichen Bereich beschränkt. Auch die Analyse der suffigierten Diminutivbildungen hat gezeigt, dass im Dialekt (wie auch in der Standardsprache) eine Tendenz zur Verfugung nach komplexem Erstglied besteht; auffällig war auch hier die diatopische Verteilung der einzelnen Kompositionsstammformen. Die vorliegende Untersuchung kann letztlich nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer vollständigen Systematisierung des Fugensystems des ofr. Sprachraums sein. Dennoch zeigt sich, dass die Berücksichtigung dialektaler Daten sinnvoll ist: Die aktuelle Theoriebildung wird anhand dieser Materialbasis überprüft und ergänzt. Damit eine umfassende Systematisierung der Fugenelemente im Dialekt gelingen kann, ist es zudem notwendig, die Nominalmorphologie der Dialekte im Rahmen ihrer synchronen Merkmale und diachronen Entwicklungen zu erfassen und zu systematisieren. 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Von Gäul-s-bauer , April-s-narr und Getreid-s-gabel 243 <?page no="245"?> E Sprachvergleichendes <?page no="247"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 247 Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen Korakoch Attaviriyanipap Abstract This paper aims to analyze the functions of reduplicatives in Thai and their German equivalents. Using a self-compiled bidirectional parallel corpus, it is possible to find out which functions of the reduplication process appear and what the German equivalents of reduplicatives in Thai look like. The corpus consists of Thai and German contemporary short stories as well as their translations in the other language. Reduplicative constructions in Thai show different functions such as pluralization, distribution, attenuation and intensification, as well as influences on aspectuality and modality; however, most of these cannot be expressed through reduplication in German. Mostly, they are marked by inflection, different parts of speech, word formation morphemes and some other reduplicative-like constructions. This discussion on the German equivalents will put an emphasis on the area of word formation. 1 Einleitung Reduplikation gehört zum universellen Wortbildungsverfahren . Reduplikative Konstrukionen lassen sich in Sprachen aller morphologischen Typen finden (Wiltshine/ Marantz 2000 : 560 ), egal, ob in synthetischen (wie z. B. Latein, Griechisch), isolierenden (wie z. B. Chinesisch, Thailändisch) oder agglutinierenden Sprachen (z. B. Türkisch, Yoruba). In formaler Hinsicht liegt Reduplikation vor, wenn die wortbildende Erweiterung einer Basis entweder durch die Kopie des Basiselements oder durch Kopieren eines Teils der Basis gewonnen wird. Laut dieser Definition unterscheidet man grob zwei unterschiedliche Reduplikationstypen: totale und partielle Reduplikation (Rubino 2005 : 11 ; Gil 2005 : 33 ) 1 . Bei totaler Reduplikation wird eine Basis, ein Wort oder ein Wortstamm komplett kopiert, bei partieller Reduplikation nur teilweise, d. h. ein Vokal, ein Konsonant oder eine bestimmte Sequenz. Zwischen Basis und Reduplikationsbildung sollte 1 Es lassen sich unterschiedliche Ansätze zur formalen Kategorisierung der Reduplikationen finden. Wiltshine/ Marantz ( 2000 : 558 f.) sprechen z. B. von vier Typen: totale Reduplikation, partielle Reduplikation, inexakte Reduplikation und Triplikation. <?page no="248"?> 248 Korakoch Attaviriyanipap es sowohl eine morphologische Relation als auch einen systematischen semantischen Effekt geben (Schindler 1991 : 599 ). Nach Alieva ( 1998 : 413 ) gilt Reduplikation in südostasiatischen Sprachen als ein wichtiges Wortbildungsmittel auf allen Ebenen. Sie kann eingesetzt werden, um neue Wörter zu gewinnen, grammatische Formen zu bilden, Wortarten zu wechseln sowie syntaktische Konstruktionen zu bilden. Die Wiederholung von satzäquivalenten Äußerungen (z. B. Hilfe! Hilfe! , Schnell! Schnell! ), die nicht morphologisch bzw. nach Wortbildungsprinzipien gebildet werden, sondern eher nur empathischen Zwecken dienen, wird gelegentlich unter Reduplikation subsumiert (vgl. z. B. Os 1989 ). Solche Formen werden in der vorliegenden Studie allerdings ausgeschlossen, weil sie m. E. primär als pragmatische oder textlinguistische Mittel angesehen werden müssen, die zur Erzielung bestimmter Effekte eingesetzt werden. Reduplikationen und Repetitionen sind bei isolierenden Sprachen zwar schwierig voneinander abgrenzbar (Gil 2005 : 31 ), aber per Definition unterscheiden sie sich dadurch, dass die Repetition nicht nur auf die Wortebene beschränkt ist und dadurch als syntaktisches und pragmatisches Mittel betrachtet werden muss. Reduplikation betrifft hingegen häufig nur Morpheme und Wörter und gehört aus diesem Grund eindeutig zur morphologischen Ebene. Da im Deutschen lediglich eine sehr geringe Anzahl von Reduplikationen vorliegt und die Reduplikation im Wortbildungsprozess des Deutschen ohnehin keine bedeutende Rolle spielt, ist es nicht sinnvoll die deutschen Reduplikationen direkt mit denen im Thailändischen formal und funktionell zu vergleichen. Im Thailändischen, einer isolierenden Sprache, ist Reduplikation ein sehr wichtiges Wortbildungsverfahren, das viele semantische und syntaktische Funktionen aufweist, während Affigierung selten zu finden ist. Im Deutschen stehen hingegen im Bereich der Wortbildung zahlreiche Affixe zur Verfügung. Man kann diese verschiedenen Möglichkeiten in den beiden Sprachen deshalb nicht 1 : 1 einander gegenüberstellen. Es wird nur ein Versuch unternommen, zu zeigen, wie die beiden Möglichkeiten, die für Thailändisch und Deutsch typisch sind (Reduplikation vs. andere Wortbildungsmittel) jeweils für die unterschiedlichen Zwecke eingesetzt werden können. Die thailändischen Reduplikationen werden also einerseits aus thailändischer und typologischer Sicht und andererseits mit Hinblick auf das Wortbildungsverfahren im Deutschen analysiert. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Funktionen der Reduplikationen im Thailändischen und ihre deutschen Entsprechungen zu analysieren. Die kontrastive Analyse soll folgenden Fragen nachgehen: 1 ) Welche Funktionen weist der Reduplikationsprozess im Thailändischen auf ? <?page no="249"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 249 2 ) Welche deutschen Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen treten im Korpus auf und wie kann man sie kategorisieren? 3 ) Welche Wortbildungsmittel findet man als Formen der deutschen Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen? Im folgenden Abschnitt werden zunächst Form und Funktion der Reduplikationen im Deutschen und im Thailändischen skizziert. Anschließend wird auf das Korpus und das methodische Vorgehen eingegangen, bevor die Ergebnisse der Korpusanalyse präsentiert werden. Der Beitrag schließt mit der Schlussbemerkung und einem Ausblick. 2 Reduplikation im Deutschen und im Thailändischen 2.1 Reduplikation im Deutschen Die Reduplikation gilt als ein Wortbildungsprozess im Deutschen. Ein komplexes Wort wird durch Wiederholung des Basismorphems, entweder ganz oder nur partiell, gebildet. Im Deutschen kommt häufig ein Vokalwechsel von i zu a vor, z. B. bei Mischmasch, Wirrwarr, Hickhack usw. und seltener gibt es eine Änderung im Anlaut bzw. eine Reimbildung, wie z. B. Schickimicki . Totalreduplikation gibt es, trotz einer sehr niedrigen Anzahl, auch im Deutschen, wie z. B. plemplem , blabla , deren Basismorphem jedoch häufig keine lexikalische Bedeutung trägt. Fälle, wo ein ganzes Wort bzw. ein freies Morphem redupliziert wird, kommen im Deutschen auch vor, jedoch werden solche Formen nicht zu Reduplikationen gezählt. Donalies ( 2007 : 68 ) grenzt solche Formen wie Film- Film, graugrau , die vorrangig der Hervorhebung dienen, von Reduplikationen ab und bezeichnet sie als Selbstkomposita bzw. Determinativkomposita. Die Reduplikation spielt im Deutschen eine maginale Rolle, kommt nur selten vor und ist eine kaum produktive Wortbildungsart. Laut Lohde ( 2006 : 43 ) existiert die deutsche Reduplikation nur beim Substantiv und Adjektiv und ist meistens in der Kinder- und Umgangssprache vorhanden. Auch zahlenmäßig fallen Reduplikationen kaum ins Gewicht. Es gibt nur ca. 100 Bildungen dieser Art, die vielfach umgangssprachlich sind (Schindler 1991 : 597 ; Schümann 2010 : 394 ). Die Zuordnung der Reduplikation zu einer bestimmten Wortbildungsart ist nicht überall einheitlich. Während z. B. davon gesprochen wird, dass Reduplikation sowohl als Flexion als auch als Derivation betrachtet werden kann (Stekauer et al. 2012 : 103 ), wird dieser Wortbildungsprozess nicht selten der Komposition zugeordnet (vgl. z. B. Donalies 2007 : 68 ; Elsen 2011 : 66 ), bei der durch Doppelung eines Wortes ein Kompositum gebildet wird. Altmann ( 2011 : 62 ) nimmt nicht an, dass Reduplikationen Komposita sind. Dagegen spricht seines Erachtens, dass ihre Bestandteile i. d. R. keine selbstständigen Lexeme <?page no="250"?> 250 Korakoch Attaviriyanipap sind. Fleischer und Barz ( 2012 : 94 ff.) sprechen von einem eigenständigen Wortbildungstyp. Reduplikationen stellen trotz ihrer Doppelstruktur semantisch nur ein einfaches Lexem dar. In der vorliegenden Arbeit werden deshalb für das Deutsche, das als Vergleichssprache analysiert wird, nicht nur Reduplikationen, sondern alle möglichen Formen der deutschen Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen mitberücksichtigt. Vor allem wird die Beachtung den verschiedenen Wortbildungstypen im Deutschen geschenkt, die ähnliche Funktionen wie die thailändischen Reduplikationen einnehmen. 2.2 Reduplikation im Thailändischen In der thailändischen Grammatik findet man keine einheitliche Kategorisierung der Reduplikation. Iwasaki/ Ingkaphirom ( 2005 : 35 ) unterteilen die Reduplikation im Thailändischen beispielsweise in drei verschiedene Kategorien: simple reduplication , complex reduplication 2 und semantic reduplication , wobei die letzte Kategorie der semantischen Komposition zugeordnet werden könnte. Chakshuraksha ( 1994 : 32 ff.) unterscheidet hingegen 4 Typen der Reduplikation im Thailändischen: simple reduplication , emphatic reduplication , negative reduplication und evocative reduplication . Auch hier scheint der Begriff der Reduplikation nicht eindeutig definierbar zu sein. Im vorliegenden Beitrag werden Reduplikationen als Konstruktionen definiert, die durch eine Wortdoppelung entstehen. Hauptsächlich handelt es sich um eine Totalreduplikation. Jedoch dürften auch hier, wie im Deutschen, lautliche Varianten zwischen der Basisform und der Reduplikation vorkommen. Es handelt sich vor allem um den Tonwechsel und die Vokalkürzung der ersten Silbe, die entweder zur Intensivierung oder zur Abschwächung der semantischen Eigenschaft der Reduplikation führt. Da bei der vorliegenden Korpusanalyse schriftliche Daten analysiert werden und die Teilreduplikationen, egal ob mit Vokal- oder mit Tonwechsel, kaum vorkommen, wird die Unterscheidung zwischen totaler und partieller Reduplikation nicht vorgenommen. Während im Deutschen nur eine geringe Anzahl von Reduplikationen vorliegt, ist die Reduplikation im Thailändischen ein produktives Verfahren und sehr aktiv im Gebrauch. Bemerkenswert ist außerdem, dass es im Thailändischen ein Schriftzeichen für die Reduplikation gibt. „Mai Yamok“, das sogenannte Verdoppelungszeichen, wird in der thailändischen Schriftsprache verwendet, wenn ein Wort wiederholt wird. Es kann sowohl für die Hervorhebung satzäquivalenter Konstruktionen oder Phrasen als auch für den reduplizierten 2 Iwasaki/ Ingkaphirom ( 2005 ) bezeichnen komplexe Reduplikation als Reduplikationen mit Tonwechsel in der ersten Silbe, die die Extra-Intensivierung zum Ausdruck bringen. <?page no="251"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 251 Teil eingesetzt werden (Anchaleenukoon 1999 : 24 ). Homonyme und Homographen von zwei Wörtern, die zwar gleich nacheinander auftreten, dürfen jedoch nicht durch das Zeichen „Mai Yamok“ ersetzt werden, denn es handelt sich hier weder um Reduplikation noch um Wiederholung, sondern um zwei Spracheinheiten mit zwei unterschiedlichen syntaktischen Funktionen. Die thailändische Reduplikation wurde bereits mehrfach untersucht. Kontrastive Analysen liegen allerdings nur selten vor. Sie wird vor allem rein typologisch betrachtet, oder nur mit einer solchen Sprache verglichen, die auch im Hinblick auf die Reduplikation viele Gemeinsamkeiten aufweist, z. B. Chinesisch (You 2006 ). In der einschlägigen Literatur (vgl. z. B. Anchaleenukoon 1999 , Iwasaki/ Ingkaphirom 2005 ) findet man häufig die folgenden Funktionen der Reduplikationen im Thailändischen: 1. Plural, z. B. dèk dèk (Kind-Kind ‚Kinder‘) 2. Iteration, Kontinuation, z. B. khǐ: an khǐ: an (schreiben-schreiben ‚schreiben, am Schreiben sein‘), nâŋ nâŋ (sitzen-sitzen ‚sitzen, sitzen noch‘) 3. Distribution, z. B. pen khan-khan-paj ( KOP - KLF - KLF -gehen ‚ein Auto nach dem anderen‘) 4. Intensivierung (Bedeutungsverstärkung), z. B. tha: -sǐ: -hâj-dam-dam-nɔ̀j (malen-Farbe-geben-schwarz-schwarz- MP ‚bemal’ es bitte ganz schwarz‘) 5. Extra-Intensivierung, z. B. káw-kàw (alt-alt ‚sehr alt‘) 6. Abschwächung dam dam (schwarz-schwarz ‚schwärzlich‘) 3 . 7. Reduzierung des Bestimmtheitsgrades kla: ŋ kla: ŋ (mitte-mitte ‚ungefähr in der Mitte‘), lǎŋ lǎŋ (hinten-hinten ‚ungefähr hinten, in den hinteren/ letzten Reihen‘) 8. Neue Bedeutung klûaj-klûaj (Banane-Banane ‚nicht schwer‘) ŋu: ŋu: -pla: -pla: (Schlange-Schlange-Fisch-Fisch ‚ein bisschen wissen/ können‘) 9. Konnotation negativer Bedeutung, z. B. di: -dɛ : (‚gut‘ + lautliche Variation von ‚gut‘ = ‚(eigentlich nicht) gut‘). Auch Iteration kann gelegentlich etwas Negatives im Sinne von „nicht mit Absicht tun“ implizieren, z. B. khǐ: an khǐ: an (schreiben-schreiben ‚am Schreiben sein‘) bedeutet, dass man einfach so schreibt und schreibt, ohne Absicht, etwas Bestimmtes zu erzielen (You 2006 ). 3 Da es sich bei der Reduplikation sowohl um Intensivierung als auch um Abschwächung einer Eigenschaft handeln kann, ist es nicht immer einfach die Bedeutung festzustellen. Die Phonologie spielt hierbei eine große Rolle. Bei der Intensivierung wird das erste Element meistens betont, so dass die Basis und der Reduplikant gleich lang sind. Bei der Abschwächung wird es hingegen nicht betont und ist etwas kürzer. Mit dem Verdopplungszeichen kann man ohne diese lautliche Eigenschaft die eigentliche Funktion der Reduplikation nie ganz sicher feststellen, ob es sich um Intensivierung oder Abschwächung handelt. Die Bedeutung wird aus dem Kontext wahrgenommen. <?page no="252"?> 252 Korakoch Attaviriyanipap Bei den Funktionen Extra-Intensivierung und Konnotation negativer Bedeutung enthalten die Reduplikationen immer einen Ton- und Vokalwechsel. Die Reduplikanten werden in der Schriftsprache deshalb nicht durch das Wiederholungszeichen geschrieben, sondern müssen explizit verschriftet werden. Hingegen kann es eine Überlappung zwischen der Intensivierung und Abschwächung geben, wenn man die Reduplikationen nur schriftlich wahrnimmt, denn man hört die Betonung sowie die nur minimal unterschiedliche Lokallänge nicht. Die Erkenntnis, dass die Funktion der thailändischen Reduplikationen teilweise pragmatischer Art ist und Gegenbedeutungen wie Intensivierung vs. Abschwächung vorkommen können, stimmt mit der Studie von Kajitani ( 2005 : 100 ) überein: Die wichtigste Funktion der Reduplikationen in allen Sprachen ist es die Quantität (Plural, Distribution) oder die Qualität bzw. Grad (Intensivierung, Abschwächung) von der Basis zu verändern. Durch ihre Untersuchung von 16 Sprachen, darunter auch Thailändisch, wurde festgestellt, dass die durch die Reduplikationen ausgedrückten Bedeutungen zwar sehr unterschiedlich sein können, aber mehrheitlich sprachübergreifend sind. Während in mehreren Sprachen nur einige bestimmte Wortarten redupliziert werden können, kann Reduplikation im Thailändischen bei allen Wortarten vorkommen: Substantiv, Pronomen, Verb, Präposition, Klassifikator, Numerale, Adjektiv, Adverb und Interjektion 4 werden beispielsweise bei You ( 2006 : 2 ) aufgelistet. Reduplikationen können zudem eine lautmalerische Bedeutung haben (Müller 2003 : 17 ). Auch reduplizierende Onomatopoetika kommen im Thailändischen sehr häufig vor. Sie werden in der vorliegenden Korpusanalyse allerdings nicht berücksichtigt. Formal sind sie ohnehin immer Reduplikationen, so dass man keine besondere Funktion der Reduplikation festzustellen braucht. 5 4 Es sei hier anzumerken, dass die Wortartbestimmung mehrheitlich erst auf der syntaktischen Ebene möglich ist, denn Thailändisch ist eine isolierende Sprache, die über keine Flexion verfügt. 5 Häufig werden die Onomatopoetika von der Wortbildungswiederholung getrennt, denn sie gelten nicht als eigentliche Wortbildungsmittel. Man unterscheidet hier auch zwischen phonologischen und morphologischen Verfahren. Lautmalereien wie Kuckkuck sind lautlich, nicht morphologisch strukturiert. Sie führen aber nicht zu Veränderungen in der morphologischen Struktur. Bei Elsen ( 2011 ) werden die Lautmalereien (z. B. Wauwau ) nicht als Reduplikation, die anderen Formen, wie z. B. Hickhack , dagegen als Reduplikationskomposita bezeichnet. <?page no="253"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 253 3 Daten und Analysemethode Für die vorliegende Analyse wird das von Johansson ( 2003 : 39 ) beschriebene Modell eines bidirektionalen parallelen Korpus verwendet, das sich aus Original- und Übersetzungstexten der zu vergleichenden Sprachen zusammensetzt. Das eigens zusammengestellte Korpus besteht aus 13 deutschen und 15 thailändischen zeitgenössischen Kurzgeschichten und deren Übersetzungen in die jeweilige andere Sprache. Im Korpus sind vier verschiedene Texttypen vorhanden: deutsche Originaltexte, deutsche Übersetzungstexte, thailändische Originaltexte und thailändische Übersetzungstexte. Die deutschen Kurzgeschichten stammen von 13 Autoren und 13 Übersetzern, während die thailändischen Kurzgeschichten von 13 Autoren verfasst und von 3 Übersetzern ins Deutsche übersetzt wurden. Insgesamt umfasst das Korpus also 56 Texte, die zwischen 1980 und 2008 erschienen sind. Den Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse bildet die thailändische Sprache. Im ersten Schritt wurden aus den thailändischen Texten alle Belege von Reduplikationen herausgearbeitet, anschließend wurde nach ihren Entsprechungen im deutschen Korpus gesucht. Jeder Beleg im Gesamtkorpus wird mit einer Abkürzung der Autorennamen, Nummer des Belegs und entweder O (Original) oder Ü (Übersetzung) gekennzeichnet. So bezieht sich [ JH - 1 _O] beispielsweise auf Beleg Nr. 1 aus der Kurzgeschichte der Autorin J. H. ( Judith Hermann) in der Übersetzungsversion, während sich [ JH - 1 _Ü] auf die entsprechende Äußerung im thailändischen Übersetzungstext bezieht. 4 Ergebnisse 4.1 Übersicht der thailändischen Reduplikationen bei den einzelnen Kurzgeschichten Allein die Anzahl der Reduplikationen macht es deutlich, dass die Reduplikation ein wichtiges Wortbildungsverfahren im Thailändischen ist. Während die Anzahl der deutschen Reduplikationen bei etwa 100 liegt, kommt in einem thailändischen Text fast auf jeder Seite mindestens eine Reduplikation vor. Im untersuchten Korpus, das insgesamt ca. 144 150 thailändische Wörter umfasst, liegt der prozentuale Anteil der Reduplikationen bei ca. 1 Prozent ( 1 , 01 % im Originaltext und 0 , 81 % im Übersetzungstext). Im Gesamtkorpus der thailändischen Texte lassen sich 1 562 Reduplikationen (Tokens) finden, und zwar 687 Tokens in thailändischen Originaltexten und 875 Tokens in thailändischen Übersetzungstexten. Es handelt sich um insgesamt 334 Lexeme (Types). Die Anzahl der Types und Tokens in jeder einzelnen Kurzgeschichte wird in Tab. 1 dargestellt: <?page no="254"?> 254 Korakoch Attaviriyanipap Thailändisch-= Ausgangssprache Deutsch-= Ausgangsprache Werk Types Tokens % Werk Types Tokens % SK 12 16 75.00 AG 25 37 67.57 PT 20 26 76.92 UP 55 125 44.00 WL 42 78 53.85 SS 33 55 60.00 KS 34 54 62.96 JE 19 41 46.34 An 114 175 63.43 HK 29 34 85.29 SP 12 16 75.00 FH 13 16 81.25 Sri 14 19 73.68 DK 32 59 54.24 PS 18 30 60.00 JF 54 110 49.09 WC 15 17 88.24 RR 38 62 61.29 An2 80 93 86.02 MB 38 56 67.86 AT 14 22 63.64 NE 5 5 100.00 PB 29 46 63.04 KV 37 59 62.71 AT 2 20 25 80.00 JH 69 216 31.94 VN 31 52 59.62 875 NP 15 18 83.33 687 Tab. 1 Anzahl der Types und Tokens der thailändischen Reduplikationen im Korpus Wenn man den prozentualen Anteil der Types im Vergleich zu den Tokens in jeder einzelnen Kurzgeschichte berechnet, dann ist es bemerkenswert, dass die Texte mit dem Thailändischen als Ausgangssprache mehr Varianten von Reduplikationen aufweisen ( 53 , 85 - 88 . 24 %, durchschnittlich 70 , 98 %), während die Anzahl bei thailändischen Übersetzungstexten einen niedrigeren Anteil bildet ( 31 , 94 - 100 %, durchschnittlich 62 , 43 %). Da die Reduplikation in vielen Sprachen dazu dient, die Wortart der Basisform in eine andere Kategorie zu wechseln, werden alle hier untersuchten Tokens auch nach Wortart sortiert. Jedoch ist es im Thailändischen kaum möglich ohne syntaktische Kriterien die Wortart eines Wortes zu bestimmen, denn es gibt keine sicheren morphologischen Kriterien dafür. In der ersten Phase der Analyse wird zunächst jeder Typ allen möglichen Wortarten zugeordnet. Bei den Reduplikationen selbst handelt es sich eigentlich vorwiegend nicht um eine <?page no="255"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 255 Wortartbestimmung, sondern um die Klassifizierung nach der syntaktischen Funktion in jedem einzelnen Kontext. Deshalb werden in der folgenden Tabelle links die möglichen Wortarten jedes einzelnen Types und rechts die aufgetretenen syntaktischen Funktionen im Korpus dargestellt. Wortart(en) der BAS Wortart(en)/ syntaktische Funktion(en) der RED 1 Adjektiv Attribut, Adverbial 2 Adverb Adverbial, Attribut 3 Verb Prädikat, Attribut, Adverbial 4 Substantiv Subjekt/ Objekt, Attribut 5 Präposition Präposition, Attribut, Adverbial 6 Pronomen Subjekt/ Objekt 7 Konjunktion Konjunktion 8 Adjektiv, Adverb Attribut, Adverbial 9 Adjektiv, Substantiv Attribut, Subjekt/ Objekt 10 Adjektiv, Präposition Präposition, Adverbial 11 Adjektiv, Verb Attribut, Adverbial, Prädikat 12 Adjektiv, Adverb, Substantiv Attribut 13 Adjektiv, Adverb, Präposition Attribut 14 Adjektiv, Adverb, Verb Attribut, Adverbial, Prädikat 15 Adjektiv, Adverb, Präposition, Verb Präposition, Adverbial 16 Adjektiv, Substantiv, Verb Attribut 17 Adverb, Substantiv, Präposition Präposition 18 Adverb, Präposition Adverbial 19 Adverb, Präposition, Verb Attribut 20 Präposition, Substantiv Präposition, Subjekt/ Objekt, Adverbial Tab. 2 Wortart(en) der Basisform im Vergleich zur Wortart oder zu(r) syntaktischen Funktion(en) der Reduplikation Im untersuchten Korpus der thailändischen Sprache lassen sich Reduplikationen fast aller möglichen Wortarten finden. Vor allem, wenn es sich um Formen <?page no="256"?> 256 Korakoch Attaviriyanipap handelt, deren Wortartstatus nicht eindeutig ist, weil sie je nach Verwendungskontext überwiegend mehr als einer bestimmten Wortart zugeordnet werden können, liegt häufig der adverbiale oder attributive Gebrauch vor. d. h. die meisten thailändischen Reduplikationen im Korpus fungieren syntaktisch überwiegend als Adverbien oder Adjektive. Abb. 1 stellt den Anteil verschiedener Wortarten bzw. syntaktischer Funktionen der im thailändischen Korpus gefundenen Reduplikationen dar. Es sei anzumerken, dass die Wortart der Reduplikationsbelege nur syntaktisch bestimmbar ist. Deshalb handelt es sich nicht um einen klassischen Wortartwechsel, der ein bestimmtes morphologisches Merkmal aufweist, wie etwa die Nominalisierung auf ung im Deutschen (z. B. erheben vs. Erhebung ) oder die Suffigierung mit ly im Englischen, die häufig verwendet wird, um ein Adverb aus einem Adjektiv zu bilden (z. B. beautiful vs. beautifully ). Präpositionen und Konjunktionen nehmen im Gegensatz zu anderen Wortarten nie alleine eine syntaktische Funktion ein. Adverbial Attribut  Adverbial  Attribut  Konjunktion Konjunktion  Subjekt/ Objekt (Substantiv)  Subjekt/ Objekt (Pronomen) Subjekt/ Objekt (Pronomen)  Präposition  Prädikat Prädikat Präposition Subjekt/ Objekt (Substantiv) Abb. 1 Wortarten bzw. syntaktische Funktionen der thailändischen Reduplikationen im Korpus <?page no="257"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 257 4.2 Funktionen der thailändischen Reduplikationen und ihre Entsprechungen im Deutschen 4.2.1 Konstruktion einer neuen Bedeutung Bei dieser Funktion entsteht durch die Reduplikation ein neues Wort mit einer völlig anderen Bedeutung. Für manche Formen lässt sich die metaphorische Übertragung von der Bedeutung der Basis noch feststellen, jedoch gibt es überwiegend keinen direkten Zusammenhang mit der Basisform mehr. Im Korpus findet man z. B. folgende Reduplikationen: (1) cìt-caj khɔ̌ːŋ khǎw khɔ̂j-khɔ̂j saŋòp loŋ [ WL _O- 8] Geist von er dann-dann ruhig absteigen ‚Seine Gedanken beruhigten sich allmählich‘ (2) phɔ̂: phɯ̂ŋ sɯ́: mɔ̂: ma: jòk-jòk [ WL _O-8] Vater erst kaufen Topf kommen Jade-Jade ‚…, den Papa gerade erst gekauft hat‘ Bei der Entstehung einer völlig neuer Bedeutung handelt es sich oft um feste Redewendungen. Manchmal resultiert die neue Bedeutung nicht sofort nach dem Reduplikationsprozess, sondern durch die Verbindung der reduplizierten Form mit einem anderen sprachlichen Element. Das Wort rew bedeutet beispielsweise ‚schnell‘, aber mit dem Deiktikum ní: ‚ dies‘ als rew-rew-ní: bedeutet es entweder ‚neulich‘ oder ‚bald‘. 4.2.2 Transposition Reduplikation wird oft verwendet, um die Wortart der Basisform in eine andere zu ändern, beispielsweise im Indonesischen. Durch die Reduplikation des Wortes pagi (‚Morgen‘) ist pagi-pagi (‚früh am Morgen‘) entstanden (Rubino 2005 : 21 ). Solche Transposition lässt sich in dem hier analysierten Korpus ebenfalls finden, wie in der folgenden Tabelle ersichtlich ist. Types Wortart der Basis Wortart der Reduplikation 6 cù: -cù: V. (‚angreifen‘) Adverb (‚plötzlich‘) lû: ak-lû: ak V (‚blanchieren‘) Adverb (‚nachlässig‘) <?page no="258"?> 258 Korakoch Attaviriyanipap Types Wortart der Basis Wortart der Reduplikation 6 wan-wan N (‚Tag‘) Adverb (‚tagelang, Tag für Tag‘) Tab. 3 Der durch die Reduplikation ermöglichte Wortartwechsel Mehrheitlich findet man im Korpus die Transposition von einer anderen Wortart (v. a. Verb und Präposition) zu einem Adverb (d. h. das Wort wird in der Funktion eines Adverbials verwendet). Durch die Reduplikation entsteht ein Adverb bzw. Adverbial mit einer anderen Bedeutung: (3) tɛ̀: lɛ’: w cù: -cù: rɯ̂: aŋ kɔ̂: ŋî: ap hǎ: j [ VN _O-46] aber dann angreifen-angreifen Sache dann still verschwinden ‚Aber dann wurde es sehr plötzlich ganz still um die Sache‘ Die Transposition von einer Präposition zu einem Adverb erlaubt es, die Reduplikation ohne jegliche Nominalphase zu gebrauchen. Im Deutschen kann das Adverbial z. B. durch eine Verbpartikel ausgedrückt werden: (4) khànàthî: tu: atalòk dɯŋ pâ: j cho: rɔ̂: p-rɔ̂: p [ UP _Ü-57] während Clown ziehen Schild zeigen um-um ‚während der Clown es herumzeigt‘ Bei Wörtern, die entweder als Verb, Adjektiv oder Adverb fungieren können, ist es anzumerken, dass die Reduplikationen meistens nicht mehr als Verb fungieren bzw. nicht allein das Prädikat bilden können, sondern nur gemeinsam mit einem Hauptverb. Die reduplizierte Form tritt meistens als Adverbial oder Attribut auf. Jedoch scheint diese Restriktion nicht allgemeingültig zu sein. Interessanterweise ist die Bedingung hierfür immer ganz unterschiedlich, z. B. dürfen manche Formen nur mit unbelebtem Subjekt kombiniert werden. 6 Die Wortartklassifizierung der Reduplikationen basiert zum großen Teil auf einem syntaktischen Kriterium, dass heißt, dass alle drei in Tab. 4 aufgelisteten Beispiele als Adverbiale fungieren und deshalb der Wortart „Adverb“ zugeordnet werden. <?page no="259"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 259 (5) phǒm khɔ̌ːŋ kɛ: ba: ŋ ba: ŋ ŋɔ̀: k mòt lɛ́: w [ HK _Ü-16] Haar von er dünn-dünn grau werden alle schon ‚der trug dünnes weißes Haar‘ Das Phänomen, dass Reduplikation das syntaktische Verhalten eines Wortes beeinflusst, kommt in anderen Sprachen ebenfalls vor, z. B. im Chinesischen. Yang ( 2001 ) zufolge können im Chinesischen die syntaktischen Funktionen von Reduplikationen einiger einsilbigen Adjektive eingeschränkt werden. Das Adjektiv hao (‚gut‘) kann beispielsweise syntaktisch als Prädikat, Attribut, Adverbialbestimmung oder Kompliment dienen, während seine reduplizierte Form nur als Adverbialbestimmung fungieren kann. Aus Tabelle 1 in Kapitel 4 . 1 lässt sich feststellen, dass nur bei Pronomen und Konjunktionen kein Wortartwechsel innerhalb derselben Wortart entsteht. Jedoch sei hier anzumerken, dass bei Pronomen allerdings ein Klassenwechsel vorkommen kann. Eine multifunktionale Form wie z. B. khrai (wörtlich ‚wer‘) kann, genauso wie im Deutschen, je nach Kontext unterschiedlichen Subtypen der Pronomina zugeordnet werden 7 , jedoch fungiert die reduplizierte Form khraj-khraj (wer-wer) eindeutig als Indefinitpronomen und bedeutet ‚jeder‘. Hier bleibt der Gebrauch als das Interrogativum wer ausgeschlossen. 4.2.3 Pluralisierung und Distribution Die Reduplikation dient in vielen Sprachen der Pluralisierung (Iturrioz-Leza/ Skopeteas 2000 : 1061 ). Fabricius ( 1998 : 60 ) betrachtet Pluralisierung als die häufigste Funktion der Reduplikation von Nomina in australischen Sprachen. Im Korpus lassen sich ebenfalls Reduplikationen finden, die im Thailändischen die Pluralität markieren. Da Numerus keine obligatorische grammatische Kategorie für Substantive im Thailändischen ist, lassen sich alle Substantive, die nicht weiter modifiziert werden, sowohl als Singular als auch als Plural interpretieren, wenn sie zählbar sind. Bei reduplikativen Formen ist jedoch lediglich die Pluralbedeutung akzeptabel. (6) phǒm lâw sù: phɯ̂: anphɯ̂: an [ AT 2_O-11] Ich erzählen zu Freund-Freund 7 Das deutsche Wort wer kann sowohl als Interrogativpronomen als auch als Relativpronomen fungieren, etwa Wer kommt heute? vs. Wer heute spät kommt, muss nachher abwaschen . Anzumerken ist aber, dass die Relativpronomina im Deutschen formal keine eigene Gruppe von Wörtern bilden (vgl. dazu Helbig/ Buscha 2001 : 236 ). <?page no="260"?> 260 Korakoch Attaviriyanipap ‚Ich erzählte es meinen Freunden‘ In der folgenden Tabelle werden alle Substantive aufgezeigt, die im Korpus vorkommen und die durch die Reduplikation eine Pluralbedeutung erwerben. Eine Modifikation mit Singularbedeutung ist nicht mehr möglich. Types Bedeutung der Basis Bedeutung der Reduplikation dɛ̀k-dɛ̀k ‚Kind‘, ‚Kinder‘ ‚Kinder‘ lû: k lû: k ‚Kind‘, ‚Kinder‘ ‚Kinder‘ phɯ̂: anphɯ̂: an ‚Freund‘, ‚Freunde‘ ‚Freunde‘ sǎw-sǎw ‚junge Frau‘, ‚junge Frauen‘ ‚junge Frauen‘ nùm-nùm ‚junger Mann‘, ‚junge Männer‘ ‚junge Männer‘ jâ: t jâ: t ‚Verwandte/ r‘ (Sg), ‚Verwandte‘ (Pl) ‚Verwandte‘ (Pl) Tab. 4 Durch Reduplikation pluralisierte Substantive im Korpus Die Verdoppelung von Wortmaterial gilt als produktives Mittel für den Plural (Robino 2008 ), weshalb die Pluralisierung als eine prototypische Funktion von Reduplikationen gilt. Die Pluralbildung von Substantiven durch Reduplikation ist im Thailändischen jedoch ziemlich eingeschränkt. Es lassen sich nicht einfach beliebige Substantive durch die Reduplikation pluralisieren, sondern nur bestimmte Substantive, die m. E. zum Grundwortschatz des semantischen Feldes „Mensch“ gehören. Andere Substantive, mit denen man durch Reduplikation eine Pluralform bilden kann, sind einige Verwandtschaftsbezeichnungen wie z. B. pâ: -pâ: (‚Tante-Tante‘ = ‚Tanten‘, ‚ältere Frauen‘) luŋ-luŋ (‚Onkel-Onkel‘ = ‚Onkel‘, ‚ältere Männer‘). Anders als ein Adjektiv wie lǎ: j-lǎ: j ‚mehrere‘, das wegen seiner Semantik naturgemäß ein pluralisiertes Bezugswort verlangt, ist die Eigenschaft nur Pluralsubstantive zu attribuieren bei einigen Adjektiven erst durch die Duplikation entstanden. Dies ist in Tabelle 5 ersichtlich: Types Bedeutung der Basis Bedeutung der Reduplikation ɯ̀: n-ɯ̀: n ‚ander-‘ (+ Sg/ Pl- NP ) ‚ander-‘ (+Pl- NP ) rɛ̂: k rɛ̂: k ‚erst-‘ (+ Sg- NP ) ‚erst-‘ (+Pl- NP ) Tab. 5 Durch Reduplikation pluralisierte Adjektive im Korpus <?page no="261"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 261 Im Zusammenhang mit der Pluralität steht die Funktion der Distribution. Häufig wird behauptet, dass es sich bei Pluralbedeutung um eine von den zwei unterschiedlichen Dimensionen handelt: kollektiv oder distributiv. Kiyomi ( 1995 : 1154 f.) berechnet in einer Stichprobe von 23 malayopolynesischen Sprachen, dass acht Sprachen u. a. den allgemeinen Plural und ebenso viele Sprachen den distributiven Plural durch Reduplikation ausdrücken. Die Distribution entsteht im Thailändischen durch die Reduplikation des Wortes thúk (‚jed-‘). Anzumerken ist allerdings, dass die Distribution in der Tat nicht erst durch die Reduplikation entsteht, sondern bereits in der Semantik dieses Wortes verankert ist. Die Reduplikation hebt die Distribution nur hervor. Bei Substantiven, die Zeitangaben sind (wie Tag , Nacht , Stunde usw.), lässt sich hingegen die Pluralbedeutung im distributiven Sinne feststellen. Die Reduplikation von solchen Substantiven ist oft zweideutig. Sie implizieren die Länge als kollektive Einheit, i. e. mehrere X, oder die Wiederholung dieser Zeitangabe als X und X und X. Deutsche Entsprechungen von wan-wan ‚Tag-Tag‘ sind deshalb sowohl ‚tagelang‘ als auch ‚Tag für Tag‘. 4.2.4 Intensivierung & Extra-Intensivierung Intensivierung ist ein semantisch-funktionales Phänomen der Gradspezifikation. Reduplikativkomposita liegt häufig auch eine Intensivierung zugrunde (Elsen 2011 : 66 ). Dass Reduplikation diese Funktion übernehmen kann, ist ebenfalls sprachübergreifend üblich. Nach Raciene ( 2013 : 128 ), die sprachliche Ausdrucksmittel der Intensivierung von Eigenschaften im Deutschen mit denen im Litauischen verglichen hat, stellt die Verdoppelung des Adjektivs im Litauischen eine weitere Möglichkeit der Wiedergabe deutscher Intensivierungskomposita dar. Ähnliche Strukturen kommen in anderen Sprachen vor, so werden z. B. deutsche verstärkende Bildungen durch Verdoppelung eines Adjektivs ins Rumänische übersetzt, wobei die zweite Form ein Diminutiv ist. Auch Müller ( 2003 ) bestätigt, dass Reduplikationen von Adjektiven oft der Bedeutungsverstärkung dienen; die entstehenden Ausdrücke entsprechen dem Elativ der Adjektive. Bei Reduplikationen im Thailändischen kommt die Intensivierung ebenfalls häufig vor, jedoch ist bei dieser Funktion nie eindeutig zu bestimmen, ob es sich um Intensivierung oder Abschwächung handelt, ohne phonetische Eigenschaften (Betonung, Vokalausdehnung usw.) zu betrachten. In der Schriftsprache hängt die Interpretation zum Teil von der Semantik der Adjektive ab. Die Intensivierung ist insbesondere auffällig, wenn die jeweiligen Ausdrücke modal markiert werden, z. B. durch den Imperativ: <?page no="262"?> 262 Korakoch Attaviriyanipap (7) bɔ̀: k hâj  ɔ̀: k paj rew-rew [ PT _O-16] sagen geben hinausgehen gehen schnell-schnell ‚Schnell, geh schnell weg! ‘ Auch die Entsprechung dieser Reduplikation in der deutschen Übersetzung stellt eine Wiederholungsstrategie dar, jedoch nicht auf der morphologischen Ebene. Bei einigen Types lässt sich die Intensivierung eher von ihrer Semantik ableiten, wie bei dem oben dargestellten Beispiel und bei mâ: k-mâ: k (‚viel-viel‘ = ‚sehr‘, ‚sehr viel‘). Ein interessantes Beispiel ist die Reduplikation rɯ̂: aj-rɯ̂: aj , die auf die Basisbedeutung von rɯ̂: aj 8 als ‚immer‘ zurückgeht. Deutsche Entsprechungen sind u. a. ständig , regelmäßig , zunehmend . Nur ein einziger Beleg für die Extra-Intensivierung tritt im untersuchten Korpus auf. Diese Funktion wird durch die Hervorhebung des Tons der ersten Silbe deutlich gemacht. In der deutschen Übersetzung wird die Reduplikation nicht wortwörtlich, sondern durch eine bildliche Beschreibung übertragen. Die Intensivierung wird durch die Negation an zwei Stellen ausgedrückt: (8) mɯ̂: akí sǔ: an kàp mɛ̂: kɔ̂: tham nâ : chɤ́: j chɤ̌: j [An_O-75] Soeben durchkreuzen mit Mutter (ich) PRT tun Gesicht gleichgültig ‚Als er gerade an mir vorbeiging, hat er nicht eine Miene verzogen und kein Wort gesagt.‘ 4.2.5 Abschwächung und Reduzierung des Bestimmtheitsgrads Die Reduplikation kann nicht nur die Intensivierung, sondern auch die Abschwächung einer Eigenschaft zum Ausdruck bringen. Dass bei der Reduplikation desselben Morphems ganz gegensätzliche Bedeutungen entstehen können, ist sprachübergreifend (vgl. z. B. Rubino 2008 ). Im Thailändischen findet man ebenfalls diese beiden gegensätzlichen Funktionen im Reduplikationsprozess. Typologisch kann die Diminution als eine Funktion der Reduplikation vorkommen. Die Diminutiva oder Verkleinerungsformen lassen sich m. E. auch un- 8 Das Basiselement rɯ̂ : aj kann entweder ‚weiter‘ im Sinne von ‚ununterbrochen‘ bei einer bestimmten Handlung oder ‚immer‘ im Sinne der Wiederholung von einer Handlung zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder durch mehrere Akteure bedeuten. <?page no="263"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 263 ter Abschwächung zusammenfassen. Während man im Deutschen Substantive, sei es belebt oder unbelebt, formal durch Diminutivform verkleinert, lässt sich dieses sprachliche Mittel im Thailändischen bei Adjektiven finden. Die Reduplikation von Adjektiven, die eine geringe Menge oder eine kleine Größe ausdrücken, teilt eine ähnliche semantische Funktion mit dem deutschen Diminutiv: (9) mi: cùt lék-lék sǐ: khǎ: w phùtkhɯ̂n ma: [ JF _Ü-49] haben Punkt kleinklein weiß auftauchen gehen ‚zeichnen sich weiße Pünktchen ab‘ Relevant bei der Abschwächung ist die Funktion der Reduplikation im Thailändischen, den Bestimmtheitsgrad von der Basis zu reduzieren. In Beispiel ( 10 ) wird die Unbestimmtheit der Präposition um durch die Reduplikation stärker, ähnlich wie ihre deutsche Entsprechung, wenn man die Präpositionalphase um… mit …herum ergänzt. Nach Bopst ( 1989 : 136 ) ist herum ein indefinites Richtungsadverb der deutschen Sprache und drückt die Bestimmungslosigkeit aus. (10) nákthɔ̂ŋthî: aw khɔ̌ːŋ thɤ: cà  nâŋ rɔ̂: p-rɔ̂: p kràco: m [ JH _Ü- 164] Tourist von sie FUT sitzen um-um Zelt ‚sitzen die Touristen um die Zelte herum‘ 4.2.6 Wechsel oder Ausdruck der Aspektualität Neben Numerus markieren verdoppelte Elemente eines Wortes auch die verbale Aspektualität, wie z. B. wiederholend und damit intensivierend (Rubino 2008 ). Der Ausdruck eines bestimmten lexikalischen Aspekts, wie etwa Iterativ lässt sich im Reduplikationsverfahren im Thailändischen ebenfalls finden. Gelegentlich wird der inhärente Aspekt des Basisverbs zu einem anderen gewechselt, wenn es redupliziert wird. (11) tɛ̀: rɯ̂: aŋ thî: tamrù: at sì: na: j chû: aj kan aber Geschichte Rel.Pron Polizist vier KLF helfen einander <?page no="264"?> 264 Korakoch Attaviriyanipap khónhǎ: naj sǔ: an lékkracǐwlǐw kômkômŋɤ: j-ŋɤ: j suchen in Garten winzig sich bückensich bückenaufblickenaufblicken jù : ta: m phûmmá: j lɛ́  dòkmá: j [ HK _Ü- 19] bleiben entlang Busch und Blume ‚Aber, dass sie schließlich zu viert den winzigen Garten durchsuchten, gebückt zwischen den Sträuchern und dem Blumenbeet standen, …‘ Im obigen Beispiel enthält die Basisform an sich bereits zwei Morpheme; zwei Handlungen, die nicht gleichzeitig erfolgen können. Hier wird nach dem Muster AABB das Basiselement gebildet, wodurch ein Prädikat mit einer iterativen Bedeutung entsteht. Nach Bybee et al. ( 1994 : 125 ) ist der Iterativ die nächstliegende Aspektualtiät der Reduplikation. Es handelt sich hier, wie bei der Pluralbedeutung, um den ikonischen Effekt der Wiederholung eines sprachlichen Elements. Das Wort „Reduplikation“ wird gelegentlich selbst „Iteration“ genannt (Donalies 2007 : 68 ). Beide Begriffe beziehen sich auf eine Wiederholung. Vor allem, wenn es sich um die Wiederholung eines Verbs handelt, bringt die Reduplikation den iterativen Aspekt zum Ausdruck. Während der Iterativ sprachübergreifend häufig mit der Reduplikation in Zusammenhang steht, ist es bemerkenswert, dass im Thailändischen nicht nur die Iteration, sondern auch ein ganz anderer Verbalaspekt durch die Reduplikation entstehen kann. Jedoch sei hier anzumerken, dass die reduplikative Form syntaktisch nicht als Verb fungiert, sondern die Funktion eines Adverbials einnimmt, wie in Beispiel ( 12 ) ersichtlich ist: (12) tɔ̀: ma : jù : jù : kɔ̂: dâj kin tɛ̀ : cha: khǐ: aw [ RR _Ü-22] dann beginnen PRT können essen nur Grüntee <?page no="265"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 265 ‚und plötzlich gab es nur noch grünen Tee …‘ Das Basisverb jù : ist ein Positionsverb. Die Reduplikation führt jedoch zum Wortartwechsel. Als Adverb bedeutet die Reduplikation „plötzlich“ und impliziert statt eines imperfektiven Aspekts die Punktualität. Dadurch, dass man hier zwischen der Basis und der Reduplikation kein Minimalpaar in derselben syntaktischen Umgebung bilden kann, weil sie jeweils eine andere Wortstellung aufweisen, lässt sich vermuten, dass es sich hier wohl um einen besonderen Fall handelt, der schon sehr weit lexikalisiert ist. 9 4.2.7 Ausdruck der Modalität und Expressivität Bei einigen reduplikativen Adverbialen schwingt gleichzeitig die Modalität mit. Gemeint ist hier die Modalität im weiteren Sinne, die im Deutschen unterschiedlich ausgedrückt werden kann. Im Folgenden wird ein Beispiel der Modusmarkierung durch Reduplikation dargestellt: (13) lɤ̂: k paj hǎ: lɔ̀n sǐ: a chɤ̌: jchɤ̌: j [ HK _Ü-25] aufhören gehen suchen sie PRT still-still ‚Er ging nur einfach nicht mehr hin‘ (14) khít du: di: -di: ná  [Sri_O-10] denken schauen gut-gut PRT ‚Denk da mal drüber nach! ‘ In Beispiel ( 13 ) wird die modale Bedeutung durch die Verbindung der Modalpartikel sǐ: a und der Reduplikation chɤ̌: jchɤ̌: j zum Ausdruck gebracht, was im Deutschen durch einfach realisiert wird 10 . Die Reduplikation in Beispiel ( 14 ), die für Befehlssätze von Belang ist, fungiert hingegen anders. Sie ersetzt die sprachlichen Mittel zur Bildung eines Imperativs. Falls das Prädikat bereits mit einem 9 Einen sehr ähnlichen Fall findet man bei der Reduplikation cù : -cù : ‚angreifen-angreifen‘, deren reduplikative Form ebenfalls als Adverbial fungiert und ‚plötzlich‘ bedeutet. Beim ‚angreifen‘ lässt sich die Punktualität allerdings noch von der Semantik des Basisverbs ableiten, bei einem Positionsverb wie jù : hingegen ist die neue Bedeutung, die durch das Reduplikationsverfahren entsteht, total irrelevant. 10 Die thailändische Modalpartikel sǐ: a entspricht nicht automatisch einfach im Deutschen, sondern muss je nach Kontext interpretiert werden, z. B. als doch im Satz Steh doch auf! <?page no="266"?> 266 Korakoch Attaviriyanipap Befehlsmarker gebildet wurde, dann ist die Reduplikation nicht mehr obligatorisch und die Reduplikation übernimmt nur die Funktion der Intensivierung. Erst durch Reduplikation oder mithilfe einer anderen zusätzlichen Markierung kann man mit einem solchen Adjektiv einen Befehlssatz bilden. Die Reduplikation entspricht im obigen Beispiel in diesem Fall dem Modus im Deutschen. Dass Reduplikation die Modalität ausdrücken kann, ist allerdings kein besonderes Phänomen. Im Chinesischen kann Reduplikation modale Funktionen aufweisen, indem sie subjektive Empfindungen ausdrückt. Die Reduplikationen mancher einsilbiger Adjektive, wenn sie im Satz als Attribut fungieren, drücken die Sympathie oder auch die Antipathie des Sprechers aus (Yang 2001 : 123 ). Der Ausdruck der Expressivität lässt sich ebenfalls als eine Funktion der thailändischen Reduplikationen beschreiben. Diese Funktion überlappt sich eindeutig mit dem Ausdruck der Modalität, zumal sowohl modale als auch expressive Äußerungen mit der Einstellung und den Gefühlen des Sprechers zusammenhängen. Mit dieser letzten Funktion der Reduplikation, die sich in dem hier untersuchten Korpus finden lässt, möchte ich mich Alieva ( 1998 : 413 ) anschließen, die beschreibt, dass sich die Verwendung der Reduplikationen in südostasiatischen Sprachen nicht auf lexikalischen, grammatischen, semantischen und pragmatischen Ebenen beschränkt. Die Reduplikation gilt ebenfalls als ein Mittel zum Ausdruck der Expressivität. Die Reduplikation chɤ̌: j-chɤ̌: j in Beispiel ( 13 ) impliziert beispielsweise eine eher negative Einstellung. Hingegen drücken Reduplikationen mit der Funktion Abschwächung eher die Sympathie des Sprechers aus, was üblich bei Diminutiva ist (vgl. z. B. Hentschel/ Weydt 2003 : 196 ). Substantive, die im Thailändischen mit der Reduplikation lék-lék ‚klein-klein‘ = ‚etwas klein‘ attribuiert werden, enthalten, wie ihre deutschen Entsprechungen, eine positive emotionale Komponente, wie im folgenden Beispiel ersichtlich ist: (15) mɛ́: thi: rɛ̂: k pen phi: aŋ dɯ̀: m khɛ̂: phi: aŋ kɛ̂: w lék-lék obwohl zuerst KOP nur trinken nur nur Glas kleinklein phɯ̂: ahâj mɯn thâwnán [ JE _Ü-30] zwecks beschwipst nur ‚zwar immer nur gläschenweise zu saufen‘ <?page no="267"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 267 4.3 Deutsche Entsprechungen thailändischer Reduplikationen In vielen Sprachen der Welt gilt die Reduplikation als ein produktives morphologisches Verfahren (Elsen 2011 : 74 ). Die vorliegende Analyse kann dieses Phänomen für das Thailändische deutlich zeigen. Im Deutschen erscheint Reduplikation jedoch nur auf phonologischer Ebene und findet ihre Verwendung eher in der Kindersprache. Anhand der Analyse des hier untersuchten bidirektionalen Korpus wird angestrebt, die aufgetretenen Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen in den deutschen Original- und Übersetzungstexten zu kategorisieren. Es sei hier anzumerken, dass im Übersetzungsprozess nicht selten etwas weggelassen wird und nicht unbedingt alle Entsprechungen der gesuchten Form auftauchen müssen. In dieser Phase der Untersuchung wird deshalb keine quantitative Analyse durchgeführt. Die deutschen sprachlichen Mittel, die im untersuchten Korpus als Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen auftreten, lassen sich grob in vier unterschiedliche Kategorien einteilen: verschiedene Wortarten, grammatische Kategorien, reduplikationsähnliche Konstruktionen und Wortbildungsverfahren. Die folgende Tabelle stellt die verschiedenen Typen der deutschen Entsprechungen sowie ihre jeweilige(n) Funktion(en) dar. 11 Danach folgt die Beschreibung einzelner Kategorien der deutschen Entsprechungen. Trans. Pl Distr. Intens. Absch. Best. Aspekt Modal Verschiedene Wortarten Indefinitpronomen √ √ Intensivpartikeln √ Modalpartikeln √ Modalwörter √ Modalverben √ √ 11 Die Funktion der Reduplikation, neue Bedeutung der Basisform zu schaffen, wird nicht mit aufgelistet, denn es handelt sich hier eher um die Lexikalisierung einer Form, nicht um den Ausdruck einer bestimmten semantisch-grammatischen Kategorie. <?page no="268"?> 268 Korakoch Attaviriyanipap Trans. Pl Distr. Intens. Absch. Best. Aspekt Modal Grammatische Kategorien Numerus √ Verbformbildung (Partizipien) √ √ Modus (Imperativ) √ Komparation (Komparativ, Superlativ) √ √ RED ähnliche Konstruktionen Nx Präp.Nx √ √ √ x und x √ √ von Nx zu Nx √ um N herum √ Wortbildungsverfahren Komposition √ √ √ √ √ Derivation √ √ √ √ √ √ √ √ Tab. 6 Deutsche Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen Die im Korpus feststellbaren Funktionen der thailändischen Reduplikationen werden durch verschiedene Wortarten im Deutschen übernommen. Indefinitpronomen (z. B. man , jeder ) drücken beispielsweise die Unbestimmtheit sowie die Distribution aus. Die Intensivpartikel sehr wird immer einem Adjektiv oder einem Adverb vorangestellt, um die da ausgedrückte Eigenschaft oder Art und Weise zu intensivieren. Die Modalität kann im Deutschen durch Modalwörter, Modalpartikel und Modalverben zum Ausdruck gebracht werden. Die episte- <?page no="269"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 269 mische Verwendung des Modalverbs müssen führt darüber hinaus zur Verstärkung bzw. Erhöhung des Sicherheitsgrads einer Äußerung. Dass Thailändisch eine isolierende Sprache und Deutsch eine flektierende Sprache ist, führt sicherlich dazu, dass die Reduplikation, die im Thailändischen eine wichtige, aber im Deutschen nur eine marginale Rolle spielt, durch die Flexion ersetzt werden kann. Während einige Sprachen, insbesondere Thailändisch, die Reduplikation als Mittel zur Pluralbildung verwenden, wird die Pluralisierung im Deutschen durch die grammatische Kategorie „Numerus“ bzw. Pluralmorpheme realisiert. Im Verbalbereich lassen sich häufig die Aspektualität und Intensität durch die Partizipialformen ausdrücken. Die Modalität wird durch die verschiedenen Modi zum Ausdruck gebracht, z. B. der Imperativ als Entsprechung von einer Reduplikation im Beispiel ( 20 ). Für Adjektive und Adverbien steht die Komparation zur Verfügung, wenn Eigenschaften oder Umstände intensiviert oder abgeschwächt werden sollen. 12 Der Komparativ gilt als ein entsprechendes sprachliches Mittel im Deutschen, das als Entsprechung dieser Reduplikation auftritt. Interessanterweise wird im Deutschen selbst das Temporaladverb immer ebenfalls als eine Möglichkeit verwendet, um die Intensivierung zum Ausdruck zu bringen. Gelegentlich wird es verdoppelt als immer und immer wieder . Vor allem beim gemeinsamen Erscheinen mit einem Adjektiv im Komparativ kann „immer“ eine Eigenschaft intensivieren: (16) nísǎjcajkhɔ: tha: ŋdâ: n ní: khɔ̌ːŋ khǎw kɔ̂: Charakter auf der Seite dies von ihm dann phùt chát khɯ̂n ma: rɯ̂: aj-rɯ̂: aj [An_O-75] auftauchen deutlich steigen kommen immerimmer ‚zeigte er die dunkle Seite seines Charakters immer deutlicher! ‘ Unter den deutschen Entsprechungen im Korpus sind einige Konstruktionen m. E. „reduplikationsähnlich“, denn es handelt sich hierbei immer um eine 12 Bemerkenswert ist das Adverb öfters . Formal ist es abgeleitet von dem Komparativ des Adverbs oft . Während öfter die Intensivierung impliziert und im Vergleich eine Stufe höher als oft steht, steht die Bedeutung von öfters jedoch in Zusammenhang mit einer Abschwächung, denn öfters bedeutet ‚gelegentlich‘ und doch nicht so „oft“ wie die Grundform oft . Ähnlich wie die Reduplikation im Thai, könnte im Deutschen ein bestimmtes sprachliches Mittel, wie die Komparation, gegensätzliche Bedeutungen ausdrücken. <?page no="270"?> 270 Korakoch Attaviriyanipap Wiederholung eines bestimmten Wortes innerhalb einer kleinen Syntagma. Sie lassen sich entweder als syndetische Reduplikation (Stolz et al. 2011 ) oder syntaktische Reduplikation (Travis 2001 ) bezeichnen. Bemerkenswert bei solchen reduplikationsähnlichen Entsprechungen im Korpus ist die Tatsache, dass in den meisten Fällen eine Präposition als Bestandteil der Reduplikation auftritt und alle Konstruktionen als Adverbial fungieren. Die auffälligste Konstruktion lässt sich als „Nx Präp Nx“ beschreiben. Es handelt sich hierbei jeweils um die Verdoppelung desselben Substantivs vor und nach einer Präposition: Schritt für Schritt, Büros über Büros . Insbesondere kommt die Konstruktion mit der Präposition für am häufigsten vor und scheint noch produktiv zu sein: (17) sɯ̂ŋ khǎw tɔ̂ŋ thɔ̌: j chà: k cùtjɯ: n mâ: kkhɯ̂n rɯ̂: ajrɯ̂: aj [ SS _Ü- 24] Rel-Pron er müssen zurücktreten von Standpunkt mehr immerimmer ‚in denen er Schritt für Schritt seiner Position abgekommen war‘ (18) thamŋa: n paj wan-nɯ̀ŋ-wan-nɯ̀ŋ [ VN _O-49] arbeiten gehen Tag-ein-Tag-ein ‚Tag für Tag zur Arbeit gehen würde‘ Die Verdoppelung mit „und“ wie z. B. nach und nach scheint hingegen sehr weit lexikalisiert zu sein. Es handelt sich um eine feste Verbindung, die als Synonym für allmählich gilt. (19) khwa: mrú: sɯ̀k càpcaj tɯ̀: ntên […] cɯŋ khɔ̂jkhɔ̂j banthaw loŋ [An2_O-106] Gefühl beeindrucken gespannt deshalb danndann mildern absteigen ‚Nach und nach fiel die Aufregung von ihr ab‘ Bei der Präpositionalphrase um N herum , wie in Beispiel ( 10 ) bereits dargestellt wurde, handelt es sich um eine klammerschließende Konstruktion, die durch Wiederholung von zwei semantisch ähnlichen Worten um und herum aus- <?page no="271"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 271 gedrückt wird, was im Deutschen oft zu finden ist. In vielen Fällen ist herum nur fakultativ. Jedoch wird durch herum die betroffene Lokalität etwas erweitert und dadurch die Unbestimmtheit erhöht. Bopst ( 1989 : 59 ) bezeichnet den Gebrauch von um … herum als „adverbialen Nachdruck“. Ähnliche Konstruktionen findet man ihm zufolge auch bei anderen Präpositionen, z. B. aus … heraus . Im Korpus findet man als Entsprechung zu der Reduplikation rɔ̂: p-rɔ̂: p , die wörtlich als um N herum übertragen wird, die Konstruktion von Nx zu Nx, wie z. B. von Wand zu Wand . Für diese Konstruktion liegt allerdings nur ein einziger Beleg vor. Bei der letzten Gruppe der deutschen Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen handelt es sich um sämtliche Wortbildungsmittel. Diese Kategorie wird getrennt und ausführlicher behandelt. 4.4 Deutsche Wortbildungsmittel als Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen Da deutsche Reduplikationen nur in geringer Anzahl vorkommen, ist es nicht erstaunlich, dass sich im Korpus keine einzige deutsche Reduplikation als Entsprechung der thailändischen Reduplikationen finden lässt. Stattdessen treten vorwiegend andere Wortbildungsarten auf. Es handelt sich überwiegend um Komposition und Derivation. Vor allem bei den Derivaten findet man alle Funktionen bzw. Bedeutungen, die im Korpus bei thailändischen Reduplikationen vorkommen, wie bereits in Tabelle 6 dargestellt wurde. 4.4.1 Komposition Komposition gehört zu den kombinierenden Wortbildungsarten im Deutschen. Da Reduplikation auch häufig unter Komposition subsumiert wird (Donalies 2007 : 37 ), ist es erwartbar, dass Komposita als Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen auftreten. Im untersuchten Korpus lassen sich bei diesen Entsprechungen folgende Funktionen feststellen: Transposition, Plural, Intensivierung, Abschwächung und Reduzierung des Bestimmtheitsgrades, wie die Beispiele in der folgenden Tabelle zeigen: Th. Reduplikation Komposition als deutsche Entsprechung Gemeinsame / Ähnliche Funktion klâjklâj (neben-neben) Nebenan bellte der Hund [ DK _O-7] Transposition rɯ̂: a  di: -di: (Geschichte gut-gut) …, als ginge es um Gutpunkte [ AG _O-17] Plural <?page no="272"?> 272 Korakoch Attaviriyanipap Th. Reduplikation Komposition als deutsche Entsprechung Gemeinsame / Ähnliche Funktion ta: to: -to: (Auge groß-groß) Kata, sind das nicht Säugetiere, mit riesengroßen Augen …? [ MB _O-15] Intensivierung mɯ: a  lék-lék (Stadt klein-klein) Eine Kleinstadt, und er kannte jede Straße [ DK _O- 7] Abschwächung daj-daj (welch-welch) Bevor ich jedoch irgendeine Reaktion zeigen konnte [ KS _Ü-18] Reduzierung des Bestimmtheitsgrads Tabelle 7 Komposita als deutsche Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen Im Deutschen können fast alle Wortarten miteinander kombiniert werden und durch Komposition kann ein Wortartwechsel entstehen. Üblicherweise wird ein neues Kompositum der Wortart eines Gliedes zugeordnet. Allerdings kann ein Kompositum auch einer Wortart angehören, die keines seiner Bestandteile hat, wie nebenan in der obigen Tabelle. Hier lässt sich eine Gemeinsamkeit zwischen der deutschen Komposition und der thailändischen Reduplikation feststellen. Es entsteht also eine Transposition von einer Präposition zu einem Adverb. Mit Reduplikationen als Attribut ist eine Pluralbedeutung im Thailändischen interpretierbar. Aus diesem Grund kann ein Wort mit Pluralmorphem im Deutschen als eine NP mit einem Attribut in Form von Reduplikation übersetzt werden, wie in [ AG _O- 17 ] gezeigt wird. Intensivierungs- und Abschwächungsausdrucksweisen können im Deutschen ebenfalls durch Komposition erfolgen, wie oben bei riesengroßen und Kleinstadt der Fall ist. Es handelt sich m. E. um eine Art Gradation. Durch das Bestimmungswort wird das Basiswort entweder vergrößert oder verkleinert. Das ist ähnlich wie die Reduplikationen im Thailändischen, die sich aufgrund der lexikalischen Bedeutung der Basis entweder als Intensivierung oder Abschwächung interpretieren lassen. Bei Komposita mit irgendals Bestimmungswort wird der Bestimmtheitsgrad reduziert, indem Interrogativa in Indefinitpronomina umgewandelt werden. Auch in diesem Fall lässt sich eine Gemeinsamkeit zwischen Komposition im Deutschen und Reduplikation im Thailändischen beobachten. 4.4.2 Derivation Bei der Derivation werden Basiswörter mit Wortbildungsaffixen kombiniert. Die Affixe in den deutschen Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen umfassen Präfixe, Suffixe, sowie Zirkumfixe. Bei präfigierten Verbformen un- <?page no="273"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 273 terscheidet man im Deutschen häufig zwischen Präfix- und Partikelverben mit dem Kriterium, dass Präfixverben stets untrennbar bleiben, während Partikelverben sowohl trennbar als auch untrennbar sein können. Jedoch wird diese Unterscheidung in der vorliegenden Arbeit nicht gemacht. Die folgende Zusammenstellung der deutschen Affixe, die im Korpus als deutsche Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen vorkommen und gemeinsame oder ähnliche Funktionen übernehmen, hat allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit und zeigt nur exemplarisch die gemeinsamen bzw. ähnlichen Funktionen der deutschen Affixe und der thailändischen Reduplikationen. Th. Reduplikation Dt. Affixe Derivation als deutsche Entsprechung Gemeinsame/ Ähnliche Funktion khɯ̂n ma rɯ̂: ajrɯ̂: aj (steigen kommen immerimmer) anhaben sich eine ganze Menge Stifte angesammelt [ JF _O-6] Intensivierung cùt lék-lék (Punkt klein-klein) -chen Zwischen den rosa Poren, wo der Haaransatz ausrasiert ist, zeichnen sich weiße Pünktchen ab [ JF -49] Abschwächung (Diminutiv) plík-plík (blättern-blättern) durch- Sie griff nach einer herumliegenden Zeitung und blätterte sie durch [An_Ü-98] Iterativ / Intensivierung krathú  krathú  (schlagen-schlagen) ein- …öffnet das Fliegenglitter und schlägt auf die Äste des Baumes ein [An_Ü- 171] Iterativ / Intensivierung krí: tkrí: t (schreien-schreien) ge- -e …, gefolgt von lautem Geschrei und Getobe [An_Ü-125] Iterativ / Expressivität rɔ̂: p-rɔ̂: p (um-um) herum- Er rollte mit den Kugelgelenken herum [ SS _O-11] Reduzierung des Bestimmtheitsgrads paj rɯ̂: ajrɯ̂: aj (gehen immer-immer ) …mit dem Herumzappen anfangen [ SS _O-40] Iterativ mɔ:  paj rɔ̂: p-rɔ̂: p (schauen gehen um-um) um- …sehen Sie sich ohne Hemmungen um [ UP _O- 101] Reduzierung des Bestimmtheitsgrads <?page no="274"?> 274 Korakoch Attaviriyanipap Th. Reduplikation Dt. Affixe Derivation als deutsche Entsprechung Gemeinsame/ Ähnliche Funktion paj hâj phón-phón (gehen geben entkommen-entkommen) ver- Wann werden sie endlich verschwinden [An_Ü- 106] Intensivierung khlà: tkhlà: t (feige-feige) -haft …streckte zaghaft die Hand… aus [ KS _Ü-17] Modalität samǎj dèk-dèk (Zeitalter Kind-Kind) -heit und an meine Kindheit zurückdenken [ WL _Ü- 62] Plural (Kollektiv)  ók - ók-  ɤ̂: n-  ɤ̂: n (zittern-zittern) 13 -ig oder so zittrig auf den Beinen, dass ein Unfall passiert war [ SP _Ü-10] Modalität  ɔ̂m-  ɔ̂m-  ɛ̂m-  ɛ̂m (zögern-zögern) 14 -lich brachte sie zögerlich hervor [An_Ü-72] [An_Ü-72] Modalität khî: nók khǎw-khǎw (Vogelkot weiß-weiß) überall klebt weißlicher Kot [ RR _O-5] Abschwächung cháw-cháw (Morgen- Morgen) -s daß er morgens eigentlich nicht spricht [ JH _O-151] Transposition baw-baw (leicht-leicht) -sam Mein Vater nahm mich behutsam in seine Arme [ PB _Ü-22] Modalität pen klùm-klùm ( KOP Gruppe-Gruppe) -weise die grüppchenweise herumziehen [ UP _O-67] Distribution Tabelle 8 Derivate als deutsche Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen Wie in der obigen Tabelle ersichtlich ist, tragen Verben mit den Präfixen an- , durch- , ein- und verdie Wortbildungsbedeutung „intensiv“. Eine Intensivierung 13 Eigentlich hat das Basiswort hier zwei Silben,  ók-  ɤ̂ : n , die selbst eine Teilreduplikation aus dem Wort  ók (‚gierig sein‘) ist. 14 Ähnlich wie bei  ók - ók-  ɤ̂ : n-  ɤ̂ : n handelt es sich hier um ein zweisilbiges Basiswort,  ɔ̂ m-  ɛ̂ m , das als Verb (‚zögern‘) verwendet wird oder häufiger als Adverbial ‚zögernd‘ gebräuchlich ist. Das Erstglied hat an sich keine Bedeutung, kann m. E. aber eine Variante von  ɔ̂ : m sein, das ‚indirekt‘ bedeutet. Das zweite Glied geht auf die Lautwiedergabe beim Husten zurück. <?page no="275"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 275 drückt an bei Verben aus, indem die präfigierte Form ein mengenmäßiges Vermehren bezeichnet. Präfixverben mit durchimplizieren mit der Bedeutung ‚ohne Unterbrechung‘ auch die Intensivierung. Das Präfix einin [An_Ü- 171 ] bezeichnet das mehrmalige Schlagen und deshalb das intensive Einwirken auf die betroffenen Gegenstände. Eine Intensivierung der Basisbedeutung bewirkt auch das Präfix verbeim Verb v erschwinden . Die Intensivierung hängt grundsätzlich mit der Iteration eng zusammen, weil die Wiederholung einer Handlung immer deren Intensität steigert. Das Suffix -lich modifiziert das Basislexem mit der Modifikationsart „Gradation“. Durch die Affigierung mit -lich wird die Bedeutung ‚nur annähernd‘ vermittelt, wie z. B. weißlich in [ RR _O- 5 ]. Die Abschwächung einer adjektivischen Eigenschaftsbezeichnung gilt ebenfalls als Diminuierung. Aus diesem Grund wurde das Suffix -chen auch in der obigen Tabelle dargestellt. Diese Betrachtungsweise lehnt sich an Fleischer/ Barz ( 2012 : 232 ) an, die -lich als Diminutivsuffix beim Adjektiv und -chen beim Substantiv bezeichnen. Die Bedeutung bzw. Funktion „Modalität“ in Tabelle 8 bezieht sich auf die Modalität im weitesten Sinne, d. h. alle möglichen Modalausdrucksweisen werden mitberücksichtigt, weshalb -haft , -ig , -sam und -lich als Beispiele der Entsprechungen der thailändischen Reduplikation aufgelistet sind. Es handelt sich bei all diesen Beispielen um deverbale Transposition mit der Bedeutung „aktivisch-modal“, wie dies typischerweise bei der Wortbildungsbedeutung dieser Suffixe zu finden ist (vgl. ebd.: 306 ). Die Suffigierung mit lich bei Farbadjektiven weist am deutlichsten Ähnlichkeiten mit der thailändischen Reduplikation auf, denn beide sprachlichen Mittel drücken Abschwächung aus. Nach Kühnhold et al. ( 1978 : 412 ) bezeichnet lich eine unzureichende Annäherung an die Basis und bedeutet etwa „etwas BA “ (ebd: 412 ). Anzumerken ist, dass Adjektive mit lich in deutschen Originaltexten, in der thailändischen Übersetzung immer als Reduplikationen auftreten. Hingegen wird die Reduplikation in der deutschen Fassung nicht explizit übertragen. Die Pluralbedeutung wird im Deutschen grundsätzlich durch die Flexion, nämlich durch Pluralmorpheme, ausgedrückt. Jedoch findet man relevante Bedeutungen wie Kollektiv und Distribution im Wortbildungsverfahren. Die Modifikation mit -heit führt zur Bedeutung ‚Menge‘ oder ‚Gesamtheit‘, während die Wortbildung mit -weise mit der Bedeutung ‚in der Form/ Art von …‘ gleichzeitig die Pluralbedeutung impliziert. Die Kombination eines Substantivs mit -weise (meistens in Pluralform, z. B. tonnenweise, gruppenweise ) ist als Aufteilung bzw. Distribution wahrzunehmen, sowie grüppchenweise in [ UP _O- 67 ]. Mit den Präfixen herum- und umkann der Bestimmtheitsgrad der lokalen Bedeutung reduziert werden. Zum einen drückt herumeine Wiederholung bzw. die Iteration aus, wie z. B. bei herumzappen in [ SS _ 0 - 40 ] der Fall ist. Zum <?page no="276"?> 276 Korakoch Attaviriyanipap anderen wird durch die Präfigierung die Bestimmungslosigkeit ausgedrückt, zumal Verben mit herumkein Ziel bzw. kein Objektbenötigen. Den Ausdruck der Unbestimmtheit findet man auch bei den Verben mit dem Präfix um- , allerdings nicht immer, weil um -Verben zweiwertig sind und deshalb ein Akkusativobjekt regieren kann. Wenn es sich aber um ein reflexives Verb handelt, wie in [ UP _O- 101 ] gezeigt wird, kann von der Bestimmungslosigkeit der lokalen Angabe die Rede sein. Die Transposition findet man bei deutschen Entsprechungen, deren Basis ein Substantiv ist und durch das Suffix -s in ein Temporaladverb umgewandelt wird, wie z. B. morgens in Tabelle 8 . Bemerkenswert ist, dass man unter den deutschen Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen ebenfalls die Expressivität feststellen kann. In [An_Ü- 125 ] drückt das Zirkumfix ge…e die Wiederholung bzw. den verbalen Aspekt „Iterativ“ aus. Darüber hinaus wird hier die negative Einstellung des Sprechers zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich bei der Affigierung mit ge-…e , oder ge-…ei um Iteratives, Unerwünschtes. Die Iteration der Grundbedeutung ist also mit einer pejorativen Konnotation, mit einem Ausdruck des Überdrüssigen bzw. Lästigen verbunden (Fliescher/ Barz 2012 : 266 ). 5 Schlussbemerkung und Ausblick Anhand der Korpusanalyse kann man verschiedene Funktionen der thailändischen Reduplikationen feststellen: Konstruktion einer ganz neuen Bedeutung, Transposition, Pluralisierung und Distribution, Intensivierung und Extra-Intensivierung, Abschwächung und Reduzierung des Bestimmtheitsgrads, Wechsel oder Ausdruck der Aspektualität und Ausdruck der Modalität und Expressivität. Da die deutschen Reduplikationen formal und funktionell ganz anders sind, lassen sich die deutschen Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen formal in vier unterschiedlichen Gruppen kategorisieren: verschiedene Wortarten, grammatische Kategorien, reduplikationsähnliche Konstruktionen und Wortbildungsverfahren. Die Funktionen, die die Reduplikation im Thailändischen einnimmt, werden im Deutschen sowohl morphologisch als auch syntaktisch ausgedrückt. Das sprachliche Mittel dafür scheint die Derivation zu sein. Anhand der vorliegenden Analyse lässt sich feststellen, dass die Ausdrucksweisen der Intensivierung und der Abschwächung zahlreich vorhanden sind, sowohl im Deutschen (v. a. durch Derivation) als auch im Thailändischen (durch Reduplikation). Der Vergleich von sprachlichen Möglichkeiten zum Ausdruck der Intensivierung in den beiden Sprachen könnte noch umfassender sein als der Rahmen der vorliegenden Untersuchung, wenn sprachliche Mittel auf allen Ebenen mitberücksichtigt werden. Ein solches Thema sei hier für weitere Forschungen zu empfehlen. <?page no="277"?> Reduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen 277 Der dritten Gruppe der deutschen Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen sollte man m. E. ebenfalls viel Beachtung schenken. Solche Syntagma, bei denen bestimmte Präpositionen zwei formgleiche Substantive miteinander verbinden, um die Distribution auszudrücken (Nx für Nx, von Nx zu Nx), lassen sich ebenfalls in anderen Sprachen finden, z. B. im Englischen flower to flower , plate after plate , tile by tile . Solche Konstruktionen, die als syntaktische Reduplikationen bezeichnet werden können, scheinen ebenso produktiv zu sein. Neben den bereits erwähnten Präpositionalphrasen lassen sich im Deutschen noch andere Formen finden, wie z. B. Hand in Hand , Stück um Stück , Ellbogen an Ellbogen , Menschen über Menschen , Jahrhundert auf Jahrhundert . Die Frage, wie groß ihre Anzahl ist und wie produktiv solche Konstruktionen sind, lässt sich im Rahmen der vorliegenden Studie nicht beantworten, ist m. E. aber erforschenswert und sollte mit einem viel größeren deutschsprachigen Korpus überprüft werden. Während Thailändisch, als eine morphologiearme Sprache, die deutschen grammatischen Kategorien üblicherweise mehrheitlich lexikalisch und syntaktisch zum Ausdruck bringt, scheint sich das Phänomen der Reduplikation anders zu verhalten. Im Thailändischen ist die Reduplikation ein produktiver Wortbildungsprozess, während die deutschen Entsprechungen die ähnlichen Funktionen eher durch zahlreiche Affixe ausdrücken und Reduplikation eher auf der syntaktischen Ebene aufweisen. Schließlich stellt sich die Frage: Sind diese beiden typologisch unterschiedlichen Sprachen nicht doch irgendwie ähnlich? Weitere kontrastive Untersuchungen wären wünschenswert, um diese spannende Frage zu beantworten. Literatur Alieva, Natalia (1998): „Reduplication in Southeast Asian languages: Differences in word structures“. In: Janse, Mark (ed.): Productivity and Creativity. Studies in General and Descriptive Linguistics in Honour of E. M. Uhlenbeck . Berlin/ New York, Mouton de Gruyter: 413-419. Altmann, Hans (2011): Prüfungswissen Wortbildung . Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Anchaleenukoon, Sunan (1999): rabòpkham pha: sa: thaj (’Thai Morphology’). Bangkok: Academic Publication Project, Faculty of Arts, Chulalongkorn University. Bopst, Hans-Joachim (1989): UM und HERUM . Eine syntaktisch-semantische Untersuchung zur deutschen Gegenwartssprache . München: iudicium. 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Bound Topis found to have diverged into several closely linked word-formation schemata over time; its use as an evaluative item expressing a (subjective) quality is paradigmatically related to free adjectival top ‘great‘. This evaluative use bears striking distributional and semantic similarities to numerous items that usually qualify as ”affixoids“, such as Bomben-, Hammer-, Spitzen-, and is paralleled by similar developments in other Germanic languages, e. g. of Dutch top(-) and Swedish toppen (-). 1 Einführung Topmanager leisten im heutigen Deutsch mitunter Toparbeit , Topattraktionen können in Topzustand sein, ein Topprodukt wird mit Topqualität! angepriesen, eine topfitte Topathletin ist vielleicht Topfavoritin eines Wettkampfs, ihre Platzierung hoffentlich ebenso top . Die große Varianz im Schriftbild deutet auf kategoriale Unsicherheit hin: Schreibt man Topalternative , Top - Alternative oder gar top Alternative ? Wenn die Alternative wirklich top ist, müsste man dann nicht auch von einer toppen Alternative sprechen können? Für eine derartige toppe Alternative , bei der wir top als flektiertes Adjektiv in attributiver Stellung analysieren müssten, gibt es im Internet tatsächlich Belege, 1 auch wenn sie auf viele 1 achja, …ne toppe alternative gibts eigentlich (stark vereinfacht): wenn du nach der BA deinen Master machst, kannste dich ja in die industrielle richtung bewegen, somit biste wieder am start. (www.dhbw-community.de/ archive/ index.php/ t-3289. html [ 01 . 06 . 2014 ]) <?page no="281"?> Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 281 Sprecher/ innen des Deutschen wohl nicht ganz regelkonform oder zumindest stilistisch stark markiert wirken dürften. Auf ähnliche Ablehnung stößt bei vielen sicher die Schreibweise Top Alternative , aber auch dieser Typus begegnet durchaus, 2 besonders in Texten, in denen das Hauptaugenmerk weniger der normgerechten Rechtschreibung gilt. Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist die Annahme, dass die kategoriale Zuordnung von dt. Top(-) / top(-) Probleme bereitet, und zwar nicht nur Sprachnutzern im Alltag, insbesondere Schreibern, sondern auch Linguisten. So heißt es bei Altmann ( 2011 : 24 ) explizit: „Nichtnative Stämme v. a. in neologistischen Bildungen sind oft nicht eindeutig kategorial bestimmt, z. B. top , super , ultra . Sie kommen sowohl als selbstständige Lexeme wie auch gebunden in Wortbildungskonstruktionen vor (…).“ Bei dt. Top(-) / top(-) handelt es sich um eine entlehnte lexikalische Einheit, die in substantivischen (z. B. top manager ) und adjektivischen (z. B. top secret ) Komposita aus dem Englischen ins Deutsche importiert und als Wortbildungselement für heimische Bildungen nutzbar gemacht wurde; Schmidt ( 1990 : 205 ) spricht deshalb noch von einem „produktiven Lehnpräfix“, wenngleich er auch das „adjektivisch selbstständig gebrauchte top “ erwähnt, das einer Einordnung von Top(-) / top(-) als bloßes Präfix entgegensteht. Andere Autoren (Lohde 2006 : 78 - 79 ; Fleischer/ Barz 2012 : 173 ) klassifizieren Top in Zusammensetzungen als Konfix, d. h. als gebundenes, aber basisfähiges Wortbildungselement, relativieren den Konfixcharakter zugleich jedoch mit Hinweis auf den Gebrauch außerhalb von Komposita. Aufgrund des adjektivischen Gebrauchs von top erwägen Fleischer/ Barz (ibd.) für nominale Komposita mit dem Erstglied Top ausdrücklich eine Einordnung als Adjektiv-Substantivbzw. AN -Kompositum. Aus funktionaler Sicht hingegen ließe sich Top auch mit den sogenannten Affixoiden bzw. Präfixoiden in Zusammenhang bringen, genauer mit jenem Typ, der der Augmentation dient (vgl. Elsen 2009 ). Ohne gravierende Bedeutungsveränderung mit Top austauschbar wären beispielsweise die potenziellen Präfixoide Spitzen -, Bomben -, Hammer -, z. B. in Kombination mit stimmung , wetter , film , lehrerin , usw. Gegen eine Aufnahme von Top in die Liste der Affixoidkandidaten des Gegenwartsdeutschen spricht jedoch das Fehlen eines wichtigen Kriteriums: der Existenz eines entsprechenden freien Lexems, das neben dem Affixoid existiert, von dem es sich semantisch aber mehr oder weniger weit entfernt hat (cf. die Spitze ; Elsen 2009 : 318 ). 2 Hardware, mehr Schnittstellen, die Webcam, Flash-Unterstützung, mehr Speicher, das größere Display und der kleinere Preis könnten das WeTab als Top Alternative zum iPad dastehen lassen. (www.grundlagen-computer.de/ hardware/ tablets/ ipad-alternativen-werwird-es-mit-dem-apple-ipad-aufnehmen [ 01 . 06 . 2014 ]) <?page no="282"?> 282 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens Statt nochmals für die eine oder die andere kategoriale Einordnung des Morphems {top} zu plädieren, gehen wir im Folgenden einen anderen Weg, nämlich den der Konstruktionsmorphologie nach Booij ( 2010 ). Die Konstruktionsmorphologie (CxM) ist eine junge Weiterentwicklung der Konstruktionsgrammatik (CxG; vgl. u. a. Croft 2001 ; Goldberg 1995 , 2006 ), die Wortbildungsprodukte als systematische Form-Bedeutungs-Paare konzeptualisiert, d. h. als Konstruktionen. Wie zu zeigen ist, bietet dieser Ansatz interessante neue Perspektiven in Bezug auf traditionelle theoretische Probleme der Morphologie, u. a. indem er kategoriale Zuordnungsprobleme in der Wortbildung als sekundär erscheinen lässt. Entscheidend dafür ist der Umstand, dass Konstruktionsmorphologie wort- und nicht morphembasiert, ihre minimale Konstruktionseinheit also das Wort ist, womit sich letztlich auch die Frage nach der Kategorie einzelner Wortbildungselemente stark relativiert. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Bedeutung bzw. Funktion von Top(-)/ top(-) stark kontextabhängig ist, d. h. an das Auftreten innerhalb eines spezifischen Wortbildungsschemas - einer „Konstruktion“ - oder einer syntaktischen Struktur gebunden ist. Dabei kann es zur Herausbildung kohärenter Unterschemata kommen, die ein gewisses Eigenleben führen und unterschiedliche Produktivitätsgrade aufweisen. Auch wenn mit diesem Beitrag keine kontrastive Studie im engeren Sinne (vgl. König 2012 ) geleistet wird, ist ein Blick auf weitere germanische, also eng verwandte Sprachen doch lohnenswert. Neben dem Englischen als Gebersprache der Lehneinheit soll dies hier zum einen das nordgermanische Schwedisch sein, zum anderen die Nachbarsprache Niederländisch. Zu dem - dort wohlgemerkt nativen - nl. top liegen bereits zwei Untersuchungen vor (Van Goethem 2014 ; Van Goethem/ Hüning im Erscheinen), wobei auch auf dt. Top(-)/ top(-) sowie vergleichend auf dt. Spitzen -/ spitze Bezug genommen wird. Dass sich dabei bemerkenswerte Parallelen zum Deutschen ergeben, ist einer der Stärken des konstruktionsmorphologischen Ansatzes zu verdanken, der neben einzelsprachlichen Unterschieden auch übereinzelsprachliche Gemeinsamkeiten in den Blickpunkt rückt und einen willkommenen Mehrwert für den Sprachvergleich darstellt. Vorgegangen wird wie folgt: Ausgehend von einer knappen Darstellung der sprachhistorischen Gegebenheiten im Zusammenhang mit {top} unter ( 2 ) sollen die Verwendungsweisen dieser lexikalischen Einheit im heutigen Deutsch skizziert werden, gestützt auf lexikographische Daten sowie Korpusabfragen ( 3 ). Nachfolgend steht die Diskussion um den kategorialen Status des Wortbildungselements im Mittelpunkt, zunächst laut herkömmlichen Darstellungen, wobei insbesondere die Begriffe „Konfix“ und „Affixoid“ erläutert werden müssen ( 4 ); anschließend wird der konstruktionsmorphologische Ansatz präsentiert und auf Top(-) / top(-) angewandt ( 5 ), bevor ein Blick auf die verwandten Sprachen <?page no="283"?> Niederländisch und Schwedisch das Bild komplettiert und zusätzliche Evidenzen für die hier gezogenen Schlüsse bietet ( 6 ). 2 Zur Etymologie von dt. Top(-)/ top(-) Dasjenige Top(-) / top(-) , das hier von Interesse sein soll, wurde entlehnt aus jenem engl. top (als Substantiv: ‚Spitze, höchster Punkt, oberes/ oberstes Teil, usw.‘; als Adjektiv: ‚hoch/ höchst, oberst, best, usw.‘; Duden Oxford 1999 : 1621 ; Kluge 2002 : 920 ), das in Zusammensetzungen wie top award ‚hohe/ höchste Auszeichnung‘, top scientists/ actors ‚hochkarätige Wissenschaftler/ Schauspieler‘, top sportsman / job / politician ‚Spitzensportler/ -position/ -politiker‘, top score / nation / pop star ‚höchste Punktzahl/ führende Nation/ größter Popstar‘, top manager / management ‚Topmanager/ -management‘, top speed ‚Höchst-/ Spitzengeschwindigkeit‘ u. v. a. m. vorkommt (vgl. Duden Oxford 1999 : 1621 ). Neben Lexemen, die Schmidt ( 1990 : 205 ) als Lehnwörter auffasst ( topfit , Topform , Top - Manager , top secret , Topstar ), „finden sich (…) auch Kombination, die aller Wahrscheinlichkeit nach im Deutschen gebildet worden sind, z. B. Top - Angebot , Top - Knüller , Top - Lage , Top - Preis , Top - Qualität , topmodisch , topschick “. Zunächst handelte es sich bei diesem Top -/ top im Deutschen tatsächlich um ein „Lehnpräfix“ (Schmidt ibd.). Dann kam es jedoch (um mit Barz 2008 : 48 zu sprechen) zu einer „Reaktivierung“: Das nichtnative Wortbildungselement top wurde in komplexen Lehnwörtern als lexikalische Einheit identifiziert und für heimische Bildungen nutzbar gemacht wie auch z. B. bei Nonstop -, Allround -, Fulltime usw. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es ein gleichlautendes Lexem nicht schon zuvor im Deutschen gegeben hätte: Ein dem englischen top nahezu identisches Kognat begegnet im Niederdeutschen, gewöhnlich in der Schreibung Topp (vgl. nl. top ), und ist die niederdeutsche Entsprechung von hd. Zopf . Dieses maskuline nd. Topp 3 ist über die Seemannssprache auch ins Standarddeutsche übernommen worden, und zwar in der Bedeutung ‚Spitze eines Mastes‘ sowie als scherzhaftes ‚oberster Rang im Theater‘ ( Duden-Universalwörterbuch ( DUW ) 2007 : 1689 ). Genuin deutsche Komposita mit jenem Topp existieren zwar (z. B. Toppflagge , topplastig , Toppsegel , Großtopp ), sind aber wenig frequente fachsprachliche Ausdrücke und vom zuvor besprochenen Top(-) / top(-) selbstverständlich 3 „ein altes nur noch im Niederdeutschen übliches Wort, welches theils das oberste, den Gipfel eines Dinges, theils ein spitz zulaufendes, kegelförmiges Ding, theils auch einen Büschel bedeutet, da es denn von einigen Niederdeutschen, wenn sie Hochdeutsch reden wollen, nicht selten in Topf verwandelt wird, obgleich Zopf der eigentliche gleichlautende Hochdeutsche Ausdruck ist. Im Angels. Engl. Schwed. u. s. f. hat Topp eben dieselben Bedeutungen. Im Nieders. ist der Topp eines Berges, dessen Gipfel, der Topp eines Baumes, der Wipfel, Zopf, der Topp des Mastbaumes, dessen Spitze, ein Haartopp, ein Haarzopf.“ (Adelung 1801 : 630 ). Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 283 <?page no="284"?> 284 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens getrennt zu betrachten. Ebenfalls niederdeutscher Herkunft ist topp als ‚Ausruf der Bekräftigung nach einer vorausgegangenen Abmachung‘ (ibd.) - etwa im bekannten topp, die Wette gilt! Die Interjektion topp ist schon länger für das Nhd. belegt 4 und ist vom Verb toppen abgeleitet; die Verwandtschaft mit dem Substantiv Topp ist offensichtlich, außerdem gehört tippen zu dieser Gruppe (vgl. tipptopp , ebenso engl./ nl. tiptop , schw. tipptopp ). Das Verb toppen hat im heutigen Deutsch wiederum zwei Ursprünge: das nd. toppen , das als fachsprachliches ‚(eine Rah oder einen Baum) zur Mastspitze ziehen, hochziehen‘ ins Standarddeutsche gekommen ist, sowie das jüngere toppen ‚übertreffen‘ < engl. to top . Hinzu kommen zwei weitere aus dem Englischen stammende fachsprachliche Verwendungsweisen, die im DUW erwähnt werden: ‚(bei der Destillation von Erdöl) die niedrig siedenden Bestandteile abdestillieren‘ (Chemie) und ‚den Ball beim Schlagen oberhalb des Zentrums treffen‘ (Golf, vgl. Topspin im Tennis). Bei dem aus dem Englischen entlehnten Erstglied Top- / tophandelt es sich um eine rezentere Erscheinung. Laut dem Deutschen Fremdwörterbuch ( DFW ; Schulz et al. 1981 : 287 - 289 ) ist Top -/ top - „in neuester Zeit aufgekommen als Bestimmungswort in aus dem Engl./ Amerikan. entlehnten, teillehnübersetzten oder im Deutschen neu gebildeten, vor allem im Bereich von Mode, Wirtschaft und Werbung verwendeten adj. Zss. mit der Bed. ‚hoch(-), höchst(-), äußerst‘, in subst. Zss., auf Sachen bezogen, für ‚erstklassig; Spitzen-, Super-‘ und, auf Personen bezogen, für ‚(beruflich) hochqualifiziert, sehr gut bezahlt; auf höchster Ebene eingesetzt, zur Spitzenklasse gehörend‘ (…)“. Zusätzlich erwähnt wird das ungebundene top : „selten als prädikativ gebrauchtes Adj. (…) ‚(hoch-)modern, in sein; Mode, Spitze, Klasse sein‘“ (ibid.). Ältere Belege für Zusammensetzungen mit dem ursprünglich engl. Top -/ top lassen sich eindeutig als Entlehnungen identifizieren. Sie sind oft als fremdsprachliche Elemente gekennzeichnet und treten bisweilen gemeinsam mit ihrer Übersetzung auf: (1) (…) den Versuch, das Pferd mit seiner grössten Schnelligkeit (top-speed) über die volle Meile zu fahren. (1883; Deutsches Textarchiv , DWDS ) Weitere frühe Belege aus dem Deutschen Textarchiv des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache ( DWDS ), die in deutschsprachigen Texten auftauchen, sind beispielsweise top working gear ( 1897 ), top-heavy ( 1899 ) und top boil ( 1903 ). Auch weitaus später werden solche Zusammensetzungen von Schreibern häufig noch explizit als Lehnwörter ausgewiesen: 4 „Walter, der bis dahin still und ernst die Worte seines Freundes anhörte, strekte seine Hand aus und sagte: ‚topp! ich bin euer.‘“ ( 1789 ; Deutsches Textarchiv , DWDS ) <?page no="285"?> (2) (…) es sind dies die Hoheitsträger und die Mitglieder der politischen Stäbe, die von der Anklagebehörde als „top-leaders“ oder „main-leaders“ bezeichnet werden. (1947; Kernkorpus 20 , DWDS ) Leopold ( 1967 : 54 ) nahm noch in den Sechzigerjahren fälschlicherweise an, Top -/ top würde sich nur mit englischen Wörtern verbinden. Erste - noch nicht klar von Lehnübersetzungen zu trennende - im Deutschen gebildete Zusammensetzungen tauchen vereinzelt bereits um die Mitte des 20 . Jahrhunderts auf wie z. B. Top-Kommunisten ( Die Zeit , 07 . 07 . 1949 ), Top-Besatzung ( Die Zeit , 05 . 12 . 1957 ), Top-Erzeugnisse ( Spiegel , 09 . 05 . 1962 ). Geht man der Beleglage einzelner Bildungen nach, selbst so geläufiger wie beispielsweise Topmodel , stößt man allerdings bis in die 1980 er-Jahre hinein noch auf verhältnismäßig wenige Zusammensetzungen mit dem Lehnpräfix Top -/ top -; ab den Neunzigerjahren nimmt die Produktivität des Erstglieds Topdann jedoch enorm zu, insbesondere in substantivischen Zusammensetzungen. Auch das dem DFW zufolge seltene, prädikativ gebrauchte Adjektiv top kann in den letzten Jahren eine außerordentliche Gebrauchszunahme verzeichnen. Anfänglich, d. h. Mitte der 1960 er Jahre, wurde es oft noch als Fremdwort gekennzeichnet, etwa in ( 3 ): (3) Die meisten Photomodelle, die „top“ sind und in Frage kommen, kennt sie. (29. 04. 1966; Die Zeit , DWDS ) Der erste Beleg im DFW stammt von 1969 und ist nicht mehr in dieser Weise markiert: (4) Auf Fremdsprachen habe ich bewußt verzichtet, damit mein Deutsch top bleibt (18. 07. 1969, Der Volkswirt ). Da das Englische nicht über ein identisch verwendetes Adjektiv verfügt, spricht einiges dafür, dass das als ungebundenes Adjektiv gebrauchte dt. top nicht an sich entlehnt wurde, sondern seinen Ursprung in Zusammensetzungen im Deutschen hat. Ein derartiger Prozess, bei dem es gleichsam zur Loslösung einer Wortbildungseinheit und zur Entstehung eines neuen freien Lexems kommt, kann mit Norde ( 2009 : 186 ) als „debonding“ bezeichnet werden. Das Szenario scheint jedoch ein wenig komplexer zu sein. Zum einen existiert ein adjektivisches, teils aus dem Englischen entlehntes, wohl aber auch mit dem Nieder- Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 285 <?page no="286"?> 286 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens deutschen in Zusammenhang stehendes tipptopp bereits länger im Nhd. 5 , das sich durch große semantische Nähe zum heutigen top auszeichnet: (5) Das Mittagessen war einfach tipp topp. (1918; Kernkorpus 20, DWDS ) Zum anderen gibt es frühere Belege eines gleichlautenden prädikativ verwendeten Elements, das ziemlich sicher niederdeutscher Herkunft und von jenem ‚Ausruf der Bekräftigung nach einer vorausgegangenen Abmachung‘ unabhängig ist: (6) (…) und die Schiffe, auf denen der Mann gefahren hat, sind topp. (1926; Kernkorpus 20, DWDS ) Die seltenen frühen Okkurrenzen von top(p) bzw. tipptopp / tiptop sollten nicht überwertet werden, zumal auch für letztere Einheit eine deutliche Frequenzzunahme innerhalb der letzten Jahrzehnte zu konstatieren ist. Immerhin legen diese Beobachtungen nahe, dass Top(-) / top(-) , zumindest im regionalen Sprachgebrauch und durch niederdeutsche Interferenz, der Standardsprache nie gänzlich fremd war. Wie es später noch ausführlicher zu erläutern gilt, hängt das heute populäre freie top relativ gesichert mit der Verwendung von Top -/ top als Erstglied in Komposita zusammen, verläuft doch nicht zuletzt die Gebrauchszunahme in beiden Fällen in den letzten Jahrzehnten erstaunlich parallel. Dass auch ein - sowohl vom Englischen als auch vom Niederdeutschen gestütztes - tipptopp mit ähnlicher Gebrauchsweise sowie ein sehr seltenes niederdeutsches topp in prädikativer Verwendung wie in ( 6 ) vorhanden gewesen sind, kann der späteren erweiterten Verwendung durchaus förderlich gewesen sein; dass sie deren Ursache waren, ist jedoch unwahrscheinlich. 3 Die Verwendung von dt. Top(-)/ top(-) 3.1 Lexikographische Daten Eine Übersicht über die prototypischen Verwendungsweisen der lexikalischen Einheit Top(-) / top(-) im Gegenwartsdeutschen bieten die Einträge im DUW ( 2007 : 1688 - 1689 ). Dort ist zuerst ein adjektivisches (und indeklinables, also defektives) top verzeichnet, gefolgt von top -/ Topals Erstglied adjektivischer 5 „(…) entsprechend dem engl. sprachgebrauch wird auch in der nhd. umgangssprache vielfach tipp topp im sinne von das ‚höchste vom höchsten, das feinste vom feinsten‘ verwendet“. ( DWB 1935 : 867 ) <?page no="287"?> wie substantivischer Komposita. Das dabei zuerst erwähnte top als Erstglied adjektivischer Bildungen ist relativ unkontrovers: In topaktuell , topmodisch usw. fungiert top als Intensivierer und lässt sich mit ‚sehr‘ umschreiben. Als Erstglied in Kombination mit Substantiven lassen sich laut DUW drei Verwendungsweisen von Top ausmachen: i. als „Verstärkung“ ( Topflop, Topterroristin ); ii. als Ausdruck dafür, „dass etw. als ausgezeichnet, hervorragend angesehen wird“ ( Topagentur, Topangebot, Toplage, Topmodell, Topveranstaltung ); und iii. als Ausdruck dafür, „dass jmd. oder etw. als besonders gut, höchstrangig, als [qualitativ] erstklassig angesehen wird“ ( Topathlet, Topausbildung, Topfavorit, Topmaterial, Topmodel, Topmodell, Topstar ). Plausibler und ökonomischer ist allerdings eine Zweiteilung in eine qualitativ-absolute und eine hierarchisch-relative Lesart, wie sie in ähnlicher Form auch von Ruf ( 1996 ) gehandhabt wird. Ein Topflop ist demnach ein Flop, der (relativ zu anderen Flops) besonders hoch in der Rangordnung der Flops anzusiedeln ist, ebenso befindet sich ein Topterrorist in einer gedachten Terroristenrangliste sehr weit oben; entsprechend für eine Topagentur , eine Toplage und einen Topathleten . Für andere der angeführten Beispiele bietet sich eher eine qualitativ-absolute Lesart an, die ohne direkten Vergleich zustande kommt wie z. B. im Fall von Topangebot oder Topveranstaltung . Entscheidend ist, dass sich die beiden Lesarten keineswegs ausschließen: Eine Topagentur kann sowohl im Verhältnis zu anderen Agenturen weit oder ganz weit oben in einer Hierarchie angesiedelt sein als auch eine Agentur bezeichnen, in der sehr gute Arbeit geleistet wird; eine ‚sehr gute‘ Topagentur könnte immer noch weit von einer Spitzenposition unter den konkurrierenden Agenturen entfernt sein. Auch Ruf ( 1996 : 139 ) betont diese semantische Zweideutigkeit: Topmannschaft etwa könne nicht eindeutig zugeordnet werden, da es sich dabei um eine Mannschaft an der Spitze einer Rangliste handeln kann oder aber um eine - möglicherweise bloß aus Sicht des Sprechers - sehr gute Mannschaft. Die systematische Ambiguität zwischen diesen beiden Hauptverwendungsweisen - die sich übrigens auch aus den Korpusdaten ergibt (siehe unten) - war wohl auch ein entscheidender Faktor für die Etablierung jener freien Form top , die im DUW als indeklinables Adjektiv bezeichnet wird. Dass sich das mit Substantiven kombinierte Top in vielen Fällen durch Spitzen ersetzen lässt, passt in dieses Bild, denn auch beim semantischen Äquivalent des englischen Substantivs top als kompositionelles Erstglied stößt man auf eine entsprechende Ambiguität, z. B. bei Spitzenpolitiker , das sowohl mit ‚Politiker, der weit oben in der Hierarchie steht‘ als auch mit ‚sehr guter/ kompetenter Politiker‘ paraphrasiert werden kann (vgl. Grzega 2004 ). Einen Eindruck der frequenteren und wohl usualisierten Zusammensetzungen mit Top -/ top als Erstglied vermittelt ebenfalls das DUW . Fünf adjektivischen Bildungen ( topaktuell , topfit , topgesetzt , topmodisch , topsecret ), von denen Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 287 <?page no="288"?> 288 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens lediglich das regional-fachsprachliche topgesetzt - „(bes. schweiz.; Sport) ‚als Nummer eins gesetzt‘“ - weniger üblich erscheint, stehen hier elf substantivische Komposita gegenüber: Topform ‚Bestform‘, Topleistung ‚Spitzenleistung‘, Topmanagement ‚oberste Leitung eines Großunternehmens‘, Topmanager / in ‚jmd. der zum Topmanagement gehört‘, Topmannschaft ‚Spitzenmannschaft‘, Topposition ‚Spitzenposition‘, Topqualität ‚beste Qualität, Spitzenqualität‘, Topspiel ‚Spitzenspiel‘, Topstar ‚Star der Spitzenklasse‘, Topzuschlag ‚Zuschlag, den der Veranstalter bei einem Spitzenspiel bes. im Fußball erhebt‘. Weitere komplexe Lexeme mit dem Bestandteil Top(p)- / topkomplettieren das Bild, sind jedoch von den vorigen Beispielen zu scheiden: In Toplader und Topspin wird auf ein räumliches ‚oberhalb‘ referiert, 6 in Top down - Methode ist die Bedeutung ‚oben‘ etwas abstrakter, topless bedeutet ‚ohne Oberteil‘ (vgl. das Top ) und bei Toppsegel liegt das oben besprochene Topp niederdeutscher Herkunft in fachsprachlicher Verwendung vor. Ein interessanter Sonderfall ist Top Ten : Im Englischen sind solche Bildungen völlig transparent (‚die obersten Zehn‘). Da sich im Deutschen jedoch ein relativ eigenständiges Schema zur Bezeichnung bewertender Einordnungen bzw. „Rankings“ mit eigener Nische herausgebildet hat ( Top 40 , Top fünf , Top 100 ), das sich im Übrigen als ziemlich produktiv erweist, sollen diese Formen im Folgenden gesondert betrachtet werden; man vergleiche Top(-) in Top Ten und Topqualität , wobei letztgenanntes Top ohne weiteres durch Spitzen ersetzbar wäre, was für Top in Top Ten nicht gilt. 3.2 Korpusdaten Für ein realistischeres Bild des aktuellen Gebrauchs von Top(-) / top(-) , d. h. als Kompositionsglied wie als ungebundene Form, sollten wir uns nicht auf lexikographische Daten verlassen, ebenso wenig aber auch auf die Ergebnisse der bisher wohl ausführlichsten diesbezüglichen Untersuchung (Ruf 1996 ), die auf überholten korpuslinguistischen Grundlagen basiert und Top -/ top nur in Zusammensetzungen behandelt. Stattdessen stützen wir uns auf Daten aus den COW-Korpora ( Corpora from the Web ; Schäfer/ Bildhauer 2012 ). Hierbei handelt es sich um große Sammlungen (mehrere Gigatoken) von rezenten Texten aus dem World Wide Web , in vielen Fällen um spontanes und informelles Sprachmaterial (Foren usw.); weil es sich hierbei um Material handelt, für das institutionalisierte Sprachnormen nur bedingt greifen, ist es äußerst brauchbar, um Aussagen über Entwicklungstendenzen des Gegenwartsdeutschen zu treffen. Zudem liegen Unterkorpora vergleichbarer Größe nicht nur für Deutsch, son- 6 Schmidt ( 1990 : 209 ) zufolge ist diese Bedeutung von Topmit Bezug auf eine Oberseite oder einen oberen/ obersten Teil von etwas „im Deutschen seit dem 19 . Jh. nachgewiesen und heute kaum produktiv“. Auch in unseren Korpusdaten stellt dieser Typus nur eine sehr kleine Gruppe dar (z. B. Topcase ). <?page no="289"?> dern u. a. auch für Niederländisch und Schwedisch vor, wodurch eine verhältnismäßig repräsentative Vergleichbarkeit möglich ist. Auch den Untersuchungen von Van Goethem ( 2014 ) und Van Goethem/ Hüning (im Erscheinen) liegen diese Datensammlungen zugrunde, und so lassen sich die hier ermittelten Ergebnisse mit jenen Untersuchungen gut vergleichen ( 6 ). Vorgegangen wurde folgendermaßen: Aus dem Unterkorpus DECOW 2012-C06X7M wurden 5000 randomisierte Belege für Okkurrenzen von Top bzw. top als kompositionelles Erstglied sowie vom frei vorkommenden Top bzw. top ermittelt (da Groß- und Kleinschreibung keine Rolle spielt, sind auch andere Schreibweisen möglich wie etwa das tatsächlich belegte TOP ). Unter Ausschluss von irrelevanten Belegen (z. B. Eigen- oder Ortsnamen, Bekleidungsstück Top , TOP ‚Tagesordnungspunkt‘) wurden schließlich die ersten 1000 Treffer ausgewertet. Die Hauptverwendungsweisen, die sich für Top(-) / top(-) im Deutschen aus dieser Korpusabfrage ergeben, sind demnach 1 . top als Substantiv ( 1 , 0 %), 2 . Verbindungen vom Typ Top Ten ( 14 , 9 %), 3 . top in Kombination mit Substantiv ( 62 , 7 %) oder 4 . mit Adjektiv ( 4 , 0 %), 5 . top in prädikativer Position ( 11 , 2 %), 6 . adverbial gebrauchtes top ( 3 , 4 %) und schließlich 7 . parenthetisches top , dessen Gebrauch mitunter einer Interjektion ähnelt ( 0 , 9 %). Die sonstigen 1 , 9 % ergeben sich aus entlehnten Formen, zumeist Phrasen, die zwar nicht als irrelevant gewertet wurden, aber keinem der zuvor genannten Typen entsprechen, z. B. in den folgenden Beispielen ( 7 - 9 ): (7) Und die werden dermaßen over the top sein müssen, weil man in Teil 3 ja auch schon richtig geklotzt hat. ( DECOW 2012-C06X7M: 15 972 390) (8) Wäre vieleicht mal Zeit die gängigen Verfahren irgendwo on Top zusammenzufassen, damit sich nicht immer wieder neu Leute zu tode googlen müssen. (38 629 303) (9) Das Boot ist äußerst kippstabil und das Hinterteil bleibt - im Gegensatz zu allen anderen getesteten sit on top trocken. (4 456 254) Bei den wenigen Belegen für ein Substantiv Top handelt es sich in allen Fällen um Entlehnungen oder Zitate aus dem Englischen, wohlgemerkt mit Bedeutungsnuancen: (8) Tops und Flops spare ich mir dann mal, war ja nicht da. (1 202 387) (9) Mitte 2009 endete ein fünfjähriger Abwärtstrend im US Leading Indicator, er notiert heute auf Allzeithoch und in der prozentualen Veränderung gegen Vorjahr mit aktuell +8.70 % nahe dem 2004er Top beim Anstieg mit max. +9.73 %. (18 413 832) Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 289 <?page no="290"?> 290 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens (10) Der „top of the hill - die Gipfelhöhe des Berges“ ist das Ziel. (10 694 167) (11) überwiegend 20 Fuß-Container: geschlossen, Flat, Open Top und Tankcontainer. (10 163 324) Während Top in ( 8 ) für den ‚Gegenteil eines Reinfalls‘ bzw. eines Flops steht ( Tops und Flops sowie top oder flop sind übliche Kollokationen), ist in ( 9 ) ein ‚Hoch‘ gemeint, in diesem Fall in Bezug auf eine Börsennotierung. In beiden Fällen handelt es sich um abstrakte Bedeutungen, während in den Beispielen ( 10 ) und ( 11 ) ein konkreter oberer oder oberster Teil von etwas bezeichnet wird: in ( 10 ) eine Bergspitze, im Beispiel ein englischsprachiger Einwurf, in ( 11 ) die Oberseite eines Containers. Die geringe Zahl an Belegen, in denen Top substantivisch gebraucht wird, bestätigt die Annahme, dass das produktiv verwendete dt. Top(-) / top(-) in Zusammensetzungen, also als Lehnpräfix, ins Deutsche importiert wurde. Mit knapp 15 % der Belege machen Fälle des Typs Top Ten eine ziemlich große Untergruppe aus. Auffällig ist, dass die Zahl meist als Ziffer geschrieben wird wie in ( 12 ); in den wenigen Belegen, wo ein Zahlwort verwendet wird, ist Letzteres in unserem Material immer englisch wie in ( 13 ): (12) Hier finden Sie die Top 10 der Sportwagen. (1 862 175) (13) „Das Leistungszentrum gehört sicherlich zu den Top Five der Liga“, sagte Todt, der zuvor in gleicher Funktion beim Hamburger SV tätig war. (26 262 887) Auch wenn eine nachfolgende deutsche Zahl absolut denkbar ist und auch generell in der geschriebenen und gesprochenen Sprache begegnet (z. B. Top drei ), so scheint dieser Typus doch weniger verbreitet zu sein, jedenfalls in den dem Korpus zugrunde liegenden Texten. Hier hat sich anscheinend ein kompositionelles Schema herausgebildet, das produktiv genutzt werden kann: [ Top x] ‚die obersten x‘, wobei x die Variable einer (gewöhnlich englischen) Zahl repräsentiert. Die mit Abstand größte Gruppe stellen mit 62 , 7 % Kombination von Top(-) / top(-) mit einem Substantiv dar. Eine Frage, auf die es später noch näher einzugehen gilt, ist, ob wir es in allen Fällen mit Komposita zu tun haben, da es oftmals Getrenntschreibungen gibt, bei denen top auch den Status eines unflektierten Adjektivs in prädikativer Position innehaben könnte: <?page no="291"?> (14) Auch wenn er momentan nicht in top Verfassung ist, wird er sicher schon bald wieder zu Normalform zurückkehren - was bei ihm regelmäßig Weltklasse heißt. (27 945 907) Generell treffen wir bei den Top(-) / top(-) -Substantiv-Kombinationen eine große graphematische Varianz an: Von den 627 Belegen sind 249 (oder 39 , 7 %) Zusammenschreibungen, 229 ( 36 , 5 %) Kombination mit Bindestrich und 149 ( 23 , 8 %) Getrenntschreibungen. Da in vielen Fällen keine normgerechte Großbzw. Kleinschreibung angewandt wird, könnte man anhand von belegten Schreibweisen wie Topthema , TopSpieler , topmodell ; Top - Ereignis , top laune , TOP - Beratung , top - Boxer ; Top Unterkünfte , top Zustand , TOP Notebook , top nudelholz , topp Qualität usw. durchaus noch mehr Unterscheidungen vornehmen. Zumindest teilweise scheint sich hier die wachsende Tendenz zur Getrenntschreibung von Komposita bemerkbar zu machen, die nicht nur für das Deutsche, sondern auch für das Niederländische und Schwedische gilt und meist mit dem Einfluss des Englischen begründet wird (vgl. zum Deutschen: Scherer 2012 ); ob eventuell eine vom gewöhnlichen Betonungsmuster für Komposita abweichende Prosodie vorliegt, ist dem geschriebenen Material nicht zu entnehmen. Auffällig ist, dass bei mehr als 30 % aller Belege der Top(-) / top(-) -Substantiv-Kombinationen das Zweitglied ebenfalls aus dem Englischen stammt. In den meisten Fällen wurde das Kompositum wohl als Ganzes entlehnt, andere Zusammensetzungen könnten dagegen im Deutschen selbst gebildet worden sein ( Topseller , Topmodel , Top- Rating , Top-Management , Top-College , Top Act , Topservice , Topdesign , u. v. a. m.). Auch dies ist ein relativ klares Indiz für die Herkunft dieser produktiv genutzten Wortbildungseinheit. Adjektivische Komposita bzw. Kombination von top mit (genuinem) Adjektiv machen dagegen nur 4 , 0 % der Belege aus ( top -Partizip-Kombinationen werden unter dem adverbialen Gebrauch eingeordnet), von denen topfit sowie topaktuell die frequentesten Types sind. Auch hier trifft man auf eine nur teilweise normgerechte Varianz im Schriftbild: (15) Wir waren heute von Beginn topfit. (1 316 925) (16) Sonst bin ich Top-Zufrieden. (12 055 781) (17) Dort sind die wichtigsten Stationen top sauber und die Verkleidungen der Säulen bestehen aus schicken, glänzenden Lochblechen. (16 056 799) Eine weitere häufig vertretene Verwendungsweise stellt das ungebundene top in prädikativer Position dar ( 11 , 2 %), das allem Anschein nach wie ein Adjektiv Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 291 <?page no="292"?> 292 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens verwendet wird. Wiederum stößt man auf Varianz in der Schreibung; Abweichungen von der häufigsten Form top liegen etwa in den folgenden Belegen vor: (18) Die Story ist wahrlich in dem fall einzigartig gegensätzlich … und sogar die Deutsche Syncronisation ist Top! (24 211 933) (19) Aber ansonsten finde ich: echt topp! (13 930 915) (20) Die Flugeigenschaften sind absolut TOP . (9 081 980) Bei den Fällen mit großgeschriebenem Top lässt sich kein semantischer oder funktionaler Unterschied zum viel geläufigeren top erkennen; dass es sich hier um ein Substantiv handelt, ist unwahrscheinlich. Vorangestellte Modifizierer wie in ( 19 ) sind ein weiteres deutliches Indiz für Adjektivstatus. Ein adverbial gebrauchtes Adjektiv top liegt beispielsweise in Fällen wie den folgenden vor ( 3 , 4 % der Belege): (21) Und … es ist alles top verlaufen! (10 094 668) (22) Man muss mal bedenken dass viele Politiker wirklich topausgebildete Menschen sind … die in der freien Marktwirtschaft wesentlich mehr verdienen würden. (27 256 128) (23) Sie hat einen hervorragenden AF , tollen Sucher und das Gehäuse ist top verarbeitet. (2 900 469) Diese Gebrauchsweisen zeigen, dass sich im Deutschen tatsächlich ein, wenn auch defektives, Adjektiv top herausgebildet hat, das zumindest in adverbialer und prädikativer Verwendung produktiv genutzt werden kann. Problematischer ist die Interpretation bezüglich des attributiven Gebrauchs: In Fällen wie top Verfassung lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob wir es nicht bloß mit einem fälschlicherweise getrenntgeschriebenen Kompositum zu tun haben (d. h. mit einer Abweichung vom normgerechten Topverfassung oder Top - Verfassung ). Denkbar wäre hier auch ein abweichendes Betonungsmuster: Nicht das kompositionelle Erstglied top , sondern Verfassung würde dann den Hauptakzent tragen, so dass eine Nominalphrase mit unflektiertem Adjektiv in attributiver Position vorliegen könnte. Zweifelsfrei um ein Adjektiv handelt es sich, wenn top Flexion zeigt (vgl. Fußnote 1 ). Belege solcher Art lassen sich durchaus mithilfe einer Google-Suche finden, zahlreich sind sie jedoch keineswegs - auch unsere Korpusabfrage hat kein einziges flektiertes Adjektiv top ergeben. Fälle, in denen ein adjektivisches top flektiert wird, erscheinen stilistisch stark markiert und sind teilweise wohl auch humoristisch intendiert: <?page no="293"?> (24) Ich sag nur toppes Wetter, toppe Bootstour, toppe Leute, T OP ! (www.matzeinparis.blogspot.be/ 2008/ 03/ erasmus-bootstour.html [01. 06. 2014]) (25) Küche top, Service sogar noch topper (www.tripadvisor.de/ ShowUserReviewsg190454-d905456-r127420956-Stadtwirt-Vienna.html [01. 06. 2014]) (26) Welches Topmodel war am topsten? (www.spiegel.de/ spam/ a-767877.html [01. 06. 2014]) Als vorläufige Hypothese lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass wir im Falle des ungebundenen adjektivischen top einen unvollständigen Kategorienwechsel beobachten können. Unabhängig von der zugrunde liegenden Wortart im Englischen liegt zunächst ein gebundenes Wortbildungselement vor, sozusagen ein „Lehnpräfix“. Die ursprüngliche hierarchische Bedeutung wurde um eine qualitative Lesart erweitert, so dass top problemlos als Prädikatsnomen gebraucht werden kann; die Parallele zu ähnlich augmentativ-evaluativ verwendeten Elementen wie z. B. Hammer / hammer , Schrott / schrott , Bombe / bombe , die mit derselben evaluativen Bedeutung als kompositionelles Erstglied sowie frei auftreten und dabei eingeschränkt adjektivische Züge tragen (Pittner/ Berman 2006 ; Berman 2009 ) ist offensichtlich. Diese Funktion kann auch als Ursprung eines adjektivisch gebrauchten top angenommen werden; ebenso wie bei den adjektivischen hammer , schrott , bombe usw. ist dieser Kategorienwechsel allerdings bisher nur unvollständig vollzogen worden, was sich daran niederschlägt, dass Flexion nur bedingt möglich ist bzw. von Muttersprachler/ innen häufig als inakzeptabel angesehen wird. Abschließend erwähnt werden müssen noch die wenigen Fälle ( 0 , 9 %) des parenthetischen top , das ähnlich einer Interjektion verwendet wird, was einer Einordnung als freies Adjektiv zumindest nicht widerspricht: (27) Sowas von genial, sowohl Landschaft, action als auch gefilme … Top! (14 575 036) 4 Zum kategorialen Status von dt. Top(-)/ top(-) Wie eingangs bereits erwähnt, bereitet die lexikalische Einheit Top(-) / top(-) in herkömmlichen theoretischen Ansätzen der Wortbildungsforschung Probleme bei der kategorialen Einordnung. Lohde ( 2006 ) zählt das Erstglied Top in Komposita beispielsweise zu den Konfixen, also nichtnativen Morpheme, die zwar basisfähig, aber gebunden sind (z. B. Proto -, Semi -, Neo -, Vize -; als native Konfixe werden bisweilen Schwieger - und Stief angesehen, da sie geringfügig reihenbildend sind und damit keine unikalen Morpheme darstellen; zum Konfixbegriff Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 293 <?page no="294"?> 294 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens und -konzept vgl. Michel 2009 ). Als Kernbereich der Konfixe werden meist Latinismen oder Gräzismen betrachtet, Lohde ( 2006 : 78 ) zufolge fließen jedoch in den letzten Jahren „auch verstärkt Konfixe aus dem amerikanischen Englisch in das Deutsche mit ein“, wobei er Top als Beispiel anführt. Allerdings, so Lohde ( 2006 : 79 ), hat Top - „ebenfalls eine adjektivische Bedeutung (…). Insofern muss hier der Konfixcharakter ebenso bezweifelt werden“. Ähnlich äußern sich Fleischer/ Barz ( 2012 : 173 ): „Das im Deutschen zunächst nur gebunden gebrauchte top- ‚Höchst-, Spitzen-‘ wie in Topform , leistung , manager , mannschaft (…) ist inzwischen auch als Substantiv ( das Top ‚ärmelloses Oberteil‘) und Adjektiv ( er ist immer top gekleidet ‚von höchster Güte, hochmodern‘ (…)) geläufig, sodass Topform , Topleistung usw. nicht mehr als Konfixkomposita gelten können, sondern in den Lesarten ‚Bestform‘, ‚Spitzenleistung‘ als Kompositum aus Adjektiv und Substantiv“. Bei genauerer Betrachtung unserer Sammlung substantivischer Zusammensetzungen mit Top als Erstglied vermag eine Bewertung sämtlicher Belege als Substantivkomposita mit adjektivischem Erstglied nicht recht zu überzeugen, da in vielen Fällen Akzentmuster möglich wären, die eher auf einen Zusammenhang mit substantivischen Augmentativbildungen hinweisen (Altmann 2011 : 80 - 81 , Fleischer/ Barz 2012 : 143 - 145 ). Während ein adjektivisches Erstglied die Hauptbetonung tragen muss, und zwar auch in Augmentativbildungen (’ Groß ̩ brand , ’ Hoch ̩ genuss , ’ Höchst ̩ geschwindigkeit , vgl. Fleischer/ Barz 2012 : 158 ), gibt es für Augmentativbildungen mit substantivischem Erstglied ein ziemlich regelhaft abweichendes Betonungsmuster: ’ Affen.hitze , ’ Arsch.kälte‚ ‚Bomben.ergebnis , ‚Hammer.film , ‚Spitzen.urlaub. Die betreffenden Erstglieder werden häufig mit dem - nicht ganz schlüssigen, aber verbreiteten - Begriff „Affixoid“ bezeichnet: Ähnlich wie Konfixe nehmen diese Wortbildungselemente eine Zwischenposition zwischen Grundmorphemen und Affixen ein, wobei sie im Gegensatz zu Konfixen allerdings über ein freies Pendant verfügen. Von ihrer freien Entsprechung unterscheiden sich Affixoide semantisch, ihre Bedeutung ist generell abstrakter; Präfixoide wie etwa in den aufgeführten Beispielen dienen oft der evaluativen Augmentation. Affixähnlich ist ihre starke Tendenz zur systematischen Reihenbildung, während sie lautlich eher Wörtern bzw. Grundmorphemen ähneln (vgl. u. a. Stein 2008 ; Elsen 2009 ; Leuschner 2010 ; Booij/ Hüning 2014 ). Das Erstglied Topließe sich hier ohne Weiteres einordnen. Ähnlich wie das Affixoid Spitzen sowohl Hauptals auch Nebenbetonung tragen kann ( ‚Spitzenpolitiker ‚ein Politiker in hoher Position, mit wichtiger Funktion‘ vs. ’ Spitzenpo. litiker ‚sehr guter Politiker‘), sind für Zusammensetzungen mit dem Erstglied Top beide Akzentmuster denkbar: Neben dem gewöhnlichen ’ Top.model , ließe sich auch ’ Top . model ‚Model, dass seine Arbeit sehr gut macht (aber vielleicht <?page no="295"?> nicht zu den ’Top.models dieser Welt gehört)‘ bilden; möglicherweise spiegelt die bereits angesprochene Getrenntschreibung (man stößt auch auf die Schreibung top Model ) diese unterschiedlichen Betonungsmuster wider. Festzuhalten ist, dass wir beim Erstglied Top in substantivischen Zusammensetzungen Polysemie und damit einhergehend potenziell abweichende Betonungsmuster vorfinden. Eine weitere Parallele zu den augmentativ verwendeten substantivischen Erstgliedern ist der Gebrauch einiger dieser Wortbildungselemente als Prädikatsnomen ( Das ist Hammer / hammer! ), deren Status nicht eindeutig Substantiv oder Adjektiv ist; vielmehr haben wir es mit einem fließenden Übergangsstatus zu tun, der erst durch die Verwendung von Flexion, adverbialen Intensivierern usw. in dem einen oder anderen Sinne geklärt wird ( Das ist totaler ADJ Hammer N vs . Das ist total INT hammer A ; Berman 2009 : 107 ). Als ähnlicher Fall ließe sich Super(-)/ super(-) anführen, das genau wie Top(-)/ top(-) zunächst ebenfalls nur gebunden gebraucht wurde und inzwischen über eine freie Form verfügt. Auch Super kann, wie andere Augmentativa, in Substantivkomposita sowohl Haupt als auch Nebenbetonung tragen (Grzega 2004 ). Allem Anschein nach ist die Suche nach einer Kategorie für die jeweiligen Elemente nicht recht zielführend. Statt Kategorien wie Substantiv, Adjektiv, Präfix, Konfix, Affixoid usw. sollte man Funktionen in den Blick nehmen; eine Wortartzuordnung mag einen deskriptiven Nutzen haben, der theoretische Gewinn ist jedoch fragwürdig. Wie im folgenden Abschnitt herausgearbeitet werden soll, bietet der konstruktionsmorphologische Ansatz die Möglichkeit, semantische, formale und funktionale Aspekte auf eine theoretisch fundierte Weise gleichermaßen zu berücksichtigen, wobei auch die Polysemie von ursprünglich homogenen Wortbildungs- oder Kompositionsmustern erfasst werden kann. 5 Der konstruktionsmorphologische Ansatz Zu den großen Vorteilen der Konstruktionsmorphologie (Booij 2010 ) gehört, dass sie die Schematizität von Wortbildungsmustern theoretisch und empirisch fundiert konzeptualisieren kann, ohne dabei Begriffen wie Konfix oder Affixoid einen Sonderstatus zuweisen zu müssen. Laut Booij / Hüning ( 2014 ) zeigt die Debatte um den theoretischen Status des Affixoidbegriffs vor allem, dass es keine scharfe Trennlinie zwischen Komposition und Derivation gibt: Freie Lexeme und Affixe bilden die beiden Enden einer Skala, und zwischen Komposition und Derivation gibt es Wortbildungsprodukte mit Eigenschaften beider Prozesse. Wie u. a. auch schon Leuschner ( 2010 ) im Anschluss an Motsch ( 1996 ) betont, schließt dies keineswegs aus, dass derartige Terminologie deskriptiv nützlich sein kann, um Wortbildungselemente in diesem Übergangsbereich zu benennen, ohne deswegen gleich Kategorienstatus in Anspruch nehmen zu müssen. Unser Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 295 <?page no="296"?> 296 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens Beispiel Top(-) / top(-) bietet sich als Paradebeispiel für dieses Einordnungsproblem an: Plausibler als eine Kategorisierung als Konfix (wie etwa phil -) wäre es, die lexikalische Einheit in Zusammensetzungen gemeinsam mit Präfixoiden wie Spitzen zu gruppieren, nur eben mit der Besonderheit, dass es im Deutschen kein substantivisches Ausgangslexem gibt. Den Gebrauch als „freies Adjektiv“ zur Grundlage einer Charakterisierung von substantivischen Zusammensetzungen mit Top als AN -Komposita zu nehmen, erscheint angesichts der Feststellung, dass sich für ähnliche Fälle wie Bombe / bombe , Hammer / hammer , Spitze / spitze usw. als Prädikationsnomen ebenfalls ein Substantiv-Adjektiv- Kontinuum konstatieren lässt, gleichfalls fraglich. Top(-) / top(-) trägt demnach in vielfacher Hinsicht Züge eines Elements im Übergangsbereich. Konstruktionsmorphologie basiert auf dem kognitiv orientierten Theoriemodells der Konstruktionsgrammatik (vgl. Goldberg 1995 , 2006 ); als Konstruktion bzw. Schemata gelten systematische Form-Bedeutungs-Paare, d. h. Form und Semantik sind im mentalen Lexikon „koindiziert“. Das Sprachwissen der Sprecher/ innen lässt sich als eine netzwerkartige Hierarchie von Konstruktionen konzeptualisieren, die komplett abstrakt oder sehr spezifisch sein können: Any linguistic pattern is recognized as a construction as long as some aspect of its form or function is not strictly predictable from its component parts or from other constructions recognized to exist. In addition, patterns are stored as constructions even if they are fully predictable as long as they occur with sufficient frequency. (Goldberg 2006 : 5 ) Hieraus ergibt sich, dass es ein graduelles Kontinuum zwischen Grammatik und Lexikon gibt, die gemeinsam ein „Konstruktikon“ bilden (ibd.). Konstruktionen sind erlernt und basieren auf Generalisierungen, die das individuelle sprachliche Wissen eines jeweiligen Sprechers reflektieren. Ebenso wie es keine strikte Trennung von Grammatik und Lexikon gibt, ist es nicht zwingend notwendig, eine absolute Trennung zwischen Komposition und Derivation vorzunehmen (Booij 2009 , 2010 ); vielmehr lässt sich ein Kontinuum zwischen Wörtern und Affixen annehmen. Dies bietet ganz offensichtlich interessante neue Perspektiven in Bezug auf das zuvor besprochene Material. Konstruktionsmorphologie ist ein outputorientierter und wortbasierter Ansatz, d. h. die minimale Konstruktion ist das Wort. Affixe stellen keine eigenen Konstruktionen dar, da sie nur innerhalb eines Wortbildungsschemas und nicht an sich eine Bedeutung tragen. Das Suffix dt. er kann beispielsweise eine Vielzahl von Funktionen haben (z. B. Pluralbildung, Komparation), aber erst in einem speziellen Wortbildungsschema trägt es eine - freilich abstrakte - Bedeutung, z. B. zur Bildung von nomina agentis. Das Wortbildungsschema in ( 28 ) basiert wiederum auf einer identifizierbaren paradigmatischen Beziehung <?page no="297"?> zwischen Lexemen wie denken und Denker , schwimmen und Schwimmer , fahren und Fahrer : (28) [[x] V er ] N ‚jemand der Vt‘ (nach Booij 2010: 2) Einmal etabliert, kann ein Wortbildungsschema zur Bildung neuer Lexeme dienen. Ebenso problemlos bildbar wie verständlich wäre beispielsweise das Substantiv Skyper , das mit dem rezent ins Deutsche gekommenen Verb skypen zusammenhängt (vgl. Booij 2010 : 2 ). Wortbildungskonstruktionen oder -schemata verfügen über vernetzte Informationen in Bezug auf ihre phonologische Form, ihre morphosyntaktischen Eigenschaften (beide Aspekte ergeben die Form- Seite einer Konstruktion) und ihre Bedeutung, die auch pragmatischen Gehalt haben kann (vgl. Jackendoff 2002 ). Je abstrakter ein Schema, desto abstrakter ist die zugrundeliegende Bedeutung, was sich anhand des im Folgenden relevanten Schemas für Komposita in den germanischen Sprachen illustrieren und dementsprechend auch im Sprachvergleich nutzen lässt: (29) [[ a ] Xk [ b ] Yi ] Yj ↔ [ SEM i mit Relation R zu SEM k ] j (nach Booij 2010: 51) Eine der wichtigsten Annahmen der Konstruktionsmorphologie ist das Konzept eines „hierarchischen Lexikons“: Zwischen den Schemata und ihren Subschemata besteht eine Vererbungsrelation, d. h. konstruktionelle Eigenschaften werden von der abstraktesten Konstruktion bis zur konkreten Realisierung „weitergereicht“. Im Fall der germanischen Komposita geschieht dies u. a. derart, dass immer das Zweitglied die Wortart bestimmt. Dabei kommt es zwangsläufig zu Redundanz: Alle Schemata bis hin zu den einzelnen Wortbildungsprodukten können Teil des Lexikons sein. Wortbildungsschemata können auch teilspezifiziert sein, d. h. über sowohl offene als auch bereits besetzte Positionen verfügen. Dies lässt sich beispielsweise am Präfixoid Haupt darlegen (Leuschner 2010 ; Booij/ Hüning 2014 ; Elsen 2014 ). Als freies Substantiv ist Haupt eine heute archaische Form von Kopf ; diese Bedeutung ist in substantivischen Zusammensetzung sehr unüblich und vielleicht gänzlich auf das Kompositum Haupthaar beschränkt. Sehr frequent (und produktiv) ist Haupt dagegen als Erstglied mit der Semantik ‚von großer Bedeutung, an der Spitze einer Hierarchie‘ ( Haupteingang ). Entscheidend ist, dass diese Bedeutung von Haupt auf Komposita beschränkt ist, d. h. die Gesamtbedeutung des Kompositums ergibt sich erst durch die Existenz eines teilweise gefüllten Schemas: Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 297 <?page no="298"?> 298 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens (30) G. [ Haupt [y] Ni ] Nj ‚N i von großer Bedeutung/ N i an der Spitze einer Hierarchie‘ Bei solchen teilweise instanziierten Wortbildungsschemata kann man mit Langacker ( 1987 ) von „konstruktionellen Idiomen“ sprechen (vgl. Booij 2010 ); wegen der Gefahr der Verwechslung mit dem phraseologischen Idiombegriff spricht Michel ( 2013 ) lieber von „partiell instanziierter Konstruktion“ oder „ PIK “. Essentiell ist hierbei die Feststellung, dass sich kompositionelle und derivationelle Prozesse überlappen können. Genauso wie ein Suffix er erst als Teil eines speziellen Wortbildungsschemas eine Bedeutung trägt, kann Haupt seine heutige Hauptbedeutung , die deutlich von der des freien Lexems Haupt ‚Kopf ‘ abweicht, nur als Teil eines Wortbildungsschemas tragen. Damit sollte auch offensichtlich sein, warum die deskriptive Einordnung solcher Elemente als Affixoide durchaus sinnvoll sein kann, denn wie der Terminus schon andeutet, zeichnen sich diese (ehemals gewöhnlichen) Kompositionsglieder durch eine besondere Nähe zu Affixen aus. In substantivischen Zusammensetzungen mit dem Erstglied Top können wir in unserem Korpusmaterial drei Lesarten feststellen, von denen die zweite und die dritte deutlich dominieren: 1 . physisch mit Bezug auf eine ‚Spitze‘ oder ‚Oberseite‘ (z. B. Topbegehung im Klettersport, Topcase beim Motorrad); 2 . hierarchisch-relativ: ‚Spitze einer Hierachie, hoher/ höchster Grad‘ ( Topspieler , Topmodel , Topqualität ); 3 . qualitativ-absolut: ‚von hoher/ höchster Qualität‘ ( Topwetter , Top - Film , Topwochenende ). Da wir davon ausgehen, dass Top als kompositionelles Erstglied zunächst in Zusammensetzungen ins Deutsche importiert wurde, wurden solche Komposita nicht nach dem abstrakten Schema für Komposita gebildet; ihre Bildeweise ist jedoch transparent und lässt sich mit jenem Schema ohne Weiteres in Verbindung bringen. Als mit der Zeit genug entlehnte Vorbilder mit Top als Erstglied zur Verfügung standen, konnte sich ein konstruktionelles Idiom (bzw. eine PIK ) mit Top als ausgefülltem Slot herausbilden, das inzwischen äußerst produktiv genutzt werden kann. Dieses Schema hat sich semantisch ausdifferenziert, so dass bei einzelnen Bildungen oft Ambiguität vorliegt. <?page no="299"?> Adverbial Attribut  Adverbial  Attribut  Konjunktion Konjunktion  Subjekt/ Objekt (Substantiv)  Subjekt/ Objekt (Pronomen) Subjekt/ Objekt (Pronomen)  Präposition  Prädikat Prädikat Präposition Subjekt/ Objekt (Substantiv) Die Bedeutung von Top in substantivischen Komposita hängt vom Auftreten in einem teilspezifizierten Wortbildungsschema ab. Die Tatsache, dass top inzwischen auch (defektiv) adjektivisch verwendet werden kann, ist somit noch kein Grund zu der Annahme, dass in diesen Fällen AN -Komposita vorlägen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich das freie top aufgrund der sekundären, qualitativ-absoluten Semantik des Erstglieds Top etablieren konnte. Nochmals hingewiesen sei auf die Tatsache, dass man bei Augmentativa bisweilen auf Betonungsmuster stößt, die von der gewöhnlichen Prosodie substantivischer Komposita abweichen (siehe unter 4 ): Nicht das Erstglied, sondern das Zweitglied trägt dann den Hauptakzent. Schlücker ( 2014 : 95 - 99 ) erwägt im Zusammenhang mit adjektivischen und substantivischen Steigerungsbildungen (u. a. Bomben -, Hammer- , Mords- ) die Existenz eines abstrakten Schemas für Komposita mit augmentativem, unbetontem Erstglied (Schlücker 2014 : 98 - 99 ): „Evidenz für das Bestehen der beiden Schemata AUG-EV [N N] N und AUG-EV [N A] A wäre dann gegeben, wenn neue Belege für augmentativ-evaluative N+N- und N+A-Komposita produktiv gebildet werden würden (…)“. Unserer Ansicht nach macht das Fallbeispiel Top(-) / top(-) die Annahme eines solchen abstrakten Unterschemas plausibel: Ein vorangestelltes attributives und unbetontes top zeigt gewöhnlich keine Flexion - auch wenn durchaus denkbar ist, dass top im Laufe der Zeit einen vollständigen Kategorienwechsel zum Adjektiv durchläuft. Nominalphrasen mit unflektiertem Adjektiv (z. B. gut Ding , täglich Brot , ( auf ) gut Glück ) sind jedoch Archaismen und gehen keineswegs auf ein produktives Schema zurück. Die kompositionellen Augmentativbildungen, die oft vom regulären Betonungsmuster abweichen, können hingegen Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 299 <?page no="300"?> 300 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens produktiv genutzt werden. Unterschiedliche abstrakte Wortbildungsschemata hängen dementsprechend mit der - wohlgemerkt identifizierbaren - Schematizität von Zusammensetzungen mit dem Erstglied Top zusammen, strukturelle Ambiguität und Bedeutungsdifferenzierung sind eng miteinander verknüpft. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch das Konzept der „semantischen Fragmentierung“ (Rainer 2003 ), das zuerst im Hinblick auf Derivationsaffixe entwickelt wurde: Aus ursprünglich homogenen Kompositionsparadigmen entstehen unterschiedliche, semantisch in sich jedoch kohärente Unterparadigmen (vgl. Hüning 2012 sowie Hüning/ Schlücker 2010 zum deutsch-niederländischen Wortbildungsvergleich im Allgemeinen). Diese semantische Kohärenz kann auch mit formaler Kohärenz einhergehen, in diesem Fall etwa in Gestalt charakteristischer, deutlich unterscheidbarer Betonungsmuster. Das adjektivische top im Deutschen ist in dem Sinne defektiv, dass es gewöhnlich keine Flexion zeigt, die meist sogar als stark markiert bewertet würde. Bei Belegen wie top Verfassung lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit bestimmen, ob lediglich „fehlerhafte“ Getrenntschreibung eines Kompositums vorliegt, ein attributives unflektiertes Adjektiv oder aber eine Augmentativbildung (dies gilt besonders für das unserer Darstellung zugrunde liegende, tendenziell informelle Sprachmaterial). Für die Entstehung des freien, beispielsweise als Prädikatsnomen gebrauchten top ist ein Prozess plausibel, den man mit Norde ( 2009 ) als „debonding“ bezeichnen kann: Ein gebundenes Morphem in einem spezifischen linguistischen Kontext wird zu einem freien Morphem. Ausgehend vom zunächst (bis auf wenige eher unsystematische Ausnahmen) nur gebunden auftretenden Top lassen sich folgende Schritte auf dem Weg zum freien Lexem annehmen: (31) Topmanager (entlehnt; hierarchisch) > Topqualität (ambig) > Topabend (qualitativ) > top Abend / der Abend war top Während sich Topqualität und Topabend durchaus mit ‚Qualität, die top ist‘ bzw. ‚Abend, der top ist/ war‘ umschreiben lassen, erscheint eine analoge Umschreibung für Topmanager ‚Manager, der top ist‘ vielleicht nicht unmöglich, top würde dann jedoch nicht die übliche qualitative Bedeutung ‚besonders/ sehr gut‘ tragen. Die Semantik des adjektivischen top hängt somit vom Auftreten des Morphems in Komposita ab. <?page no="301"?> 6 ‚top‘ im Sprachvergleich Im Niederländischen und Schwedischen, zwei eng verwandten Schwestersprachen des Deutschen, sind die Kognaten von engl. ‚top‘ nicht entlehnte, sondern native Elemente; deren Gebrauchsweisen weisen jedoch erstaunliche Parallelen zum Deutschen auf. Insbesondere nl. top bereitet bei der kategorialen Einordnung nahezu identische Probleme; die Tatsache, dass es sich dabei auch um ein gewöhnliches Substantiv (‚Spitze‘ usw.) handelt, bestätigt die These einer paradigmatischen Relation zwischen augmentativ-evaluativen Elementen als kompositionelles Erstglied und in prädikativer Position ( 6 . 1 ). Zusätzlich liefert schw. topp bzw. toppen aufgrund formaler Ausdifferenzierung Argumente für die oben vorgenommene Zweiteilung in eine hierarchische und eine qualitative Lesart. 6.1 Niederländisch In zwei Studien zum niederländischen top (Van Goethem 2014 ; Van Goethem/ Hüning im Erscheinen) geht es vor allem um die Frage nach der Herkunft des Adjektivs top , das auch im Niederländischen defektiv ist: Wie im Deutschen gibt es seltene Belege für flektierte Formen des Adjektivs, gewöhnlich trägt ein attributiv gebrauchtes top jedoch keine Deklinationsendung. Anders als im Deutschen ist nl. top jedoch auch ein autochthones Substantiv mit der Bedeutung ‚Spitze‘; deshalb ist die Frage berechtigt, ob, wie im Deutschen, die Ursache für die Existenz eines adjektivischen top in einem „debonding“-Prozess eines Kompositionsglieds (vgl. Norde 2009 ) zu suchen ist oder ob es sich eher um Konversion in der prädikativen Position handelt (vgl. Pittner/ Berman 2006 ; Berman 2009 ). Insgesamt lassen sich für nl. top einige dem Deutschen sehr ähnliche Verwendungsweisen ausmachen: substantivisch wie in ( 32 ), Verbindungen vom Typ Top Ten ( 33 ), in Kombination mit Substantiv ( 34 - 37 ) und mit Adjektiv ( 38 ), in prädikativer Position ( 39 ), adverbial ( 40 ) und parenthetisch bzw. als Interjektion ( 41 ). Die Belege entstammen wieder den COW -Korpora (Unterkorpus NLCOW 2012-00X ): (32) Fantastisch uitzicht en we waren alleen op de top. (22 291 809) ‚Fantastische Aussicht und wir waren allein auf der Spitze .‘ (33) Een paar restaurants moeten de top 100 uit. (162 920 739) ‚Ein paar Restaurant müssen die Top 100 verlassen.‘ (34) Bij de NOS groeide het aantal topverdieners naar acht, drie meer dan het jaar ervoor. (56 178 732) Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 301 <?page no="302"?> 302 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens ‚Beim NOS (Niederländische Rundfunkstiftung) stieg die Anzahl der Topverdiener auf acht, drei mehr als im Jahr zuvor.‘ (35) Klinkt als een topdag! (23 476 044) ‚Klingt wie ein Toptag! ‘ (36) Tegen de absolute Amsterdamse top-prijs zou het dus niet meer dan 2,6 miljoen moeten kosten. (134 225 564) ‚Zum absoluten Amsterdamer Top-Preis müsste es also nicht mehr als 2,6 Millionen kosten.‘ (37) Dan maar een top hypotheek en allebij meer werken. (15 361 829) ‚Dann eben eine top Hypothek und beide mehr arbeiten.‘ (38) Ik heb schoenmaat 36 en mijn zoon was al een halve viking bij geboorte, dus ik was topzwaar als een waterballon die op een golf tee balanceerde. (90 198 203) ‚Ich habe Schuhgröße 36 und mein Sohn war schon ein halber Wikinger bei der Geburt, also war ich topschwer wie ein Wasserballon, der auf einem Golftee balancierte.‘ (39) Dit jaar zal werkelijk helemaal top zijn gezien de hoeveelheden. (105 901 356) ‚Dieses Jahr wird wirklich gänzlich top sein, angesichts der Mengen.‘ (40) Als gevolg van de internationale verontwaardiging werd Alouni, die hartproblemen heeft, op borgtocht losgelaten uit de topbeveiligde gevangenis. (152 317 464) ‚Als Folge der internationalen Entrüstung wurde Alouni, der Herzprobleme hat, gegen Kaution aus dem topgesichterten Gefängnis entlassen.‘ (41) Kortom: TOP . (20 114 283) ‚Kurz gesagt: TOP .‘ Anders als im Deutschen ist das Substantiv top im Niederländischen keineswegs eine marginale Erscheinung. Vielmehr ist es das semantische Äquivalent von ‚Spitze‘: In ( 32 ) ist die Rede von der Spitze eines Berges, ansonsten wird es abstrakt/ metaphorisch verwendet ( hard werken om de top de bereiken ‚hart arbeiten um die Spitze/ höchste Stufe zu erreichen‘). Dementsprechend sind substantivische top -Komposita grundsätzlich auch als NN -Komposita zu betrachten; allerdings finden sich neben nominalen Zusammensetzung, in denen das Erstglied topeine physische ( toplaag ‚oberste Schicht‘) oder hierarchische Bedeutung trägt ( topverdieners ‚Spitzenverdiener‘), auch augmentative Bildungen wie im Deutschen, z. B. in ( 35 ) und ( 37 ). Bemerkenswert ist auch eine ähnliche Vielfalt <?page no="303"?> in der Schreibung sowie die Tatsache, dass man - wenn auch nicht ganz so oft wie im Deutschen - auch auf komplexe Entlehnungen aus dem Englischen stößt (z. B. topact , tophit , topscorer ). Während wir bei der Herkunft des (defektiv) adjektivischen top im Deutschen von „debonding“ ausgehen können, zeigen Van Goethem/ Hüning (im Erscheinen), dass Konversion in prädikativer Position ebenfalls ein gewichtiger Faktor sein muss. Ein Grund hierfür ist, dass top de facto auch Substantiv ist und auch als solches eindeutig eine augmentativ-evaluative Semantik tragen kann: (42) Thailand is ALTIJD gezellig, warm of regen. mij maakt het niet uit, er zijn is de top! ( NLCOW 2012-00X: 58 816; Beispiel aus Van Goethem/ Hüning im Erscheinen) ‚Thailand ist IMMER nett, warm oder Regen. mir macht es nichts aus, dort sein ist top! ‘ Außerdem ist die qualitative Lesart (‚sehr gut‘) im Vergleich zur hierarchischen Lesart bei top in substantivischen Zusammensetzungen vergleichsweise selten. Zusammenfassend gehen Van Goethem/ Hüning (im Erscheinen) davon aus, dass das freie nl. top nicht einer einzigen Konstruktion entstammt, sondern dass eine komplexe Interaktion verschiedener Strukturen die Entstehung dieser Form gefördert hat, d. h. sowohl debonding des Kompositionsglieds als auch Konversion des Substantivs top in der prädikativen Position. Wie für ähnliche Fälle im Deutschen gezeigt wurde ( Bombe / bombe , Hammer / hammer , Spitze / spitze ), lässt sich für nl. top als Prädikatsnomen ebenfalls nicht immer mit Sicherheit bestimmen, ob ein Substantiv oder ein Adjektiv vorliegt, da wir ein Kontinuum annehmen müssen (Berman 2009 ). Ebenso wie man im Deutschen auf Belege stößt, in denen Flexion eindeutig für den Adjektivstatus des betreffenden Elements spricht, lassen sich im Niederländischen derartige Fälle belegen, gleichfalls recht selten. Gemein ist beiden Sprachen damit jedoch die Beobachtung, dass Flexion - und damit vollständiger Kategorienwechsel (besonders im Niederländischen: N > A) - tendenziell möglich ist: (43) Zaten wel toppe plaatjes bij. ( NLCOW 14 AX 01: 679 969 589; Beispiel aus Van Goethem/ Hüning im Erscheinen) ‚(Da) Waren schon toppe Bilder dabei.‘ Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 303 <?page no="304"?> 304 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens 6.2 Schwedisch Auch im Schwedischen (die Beispiele stammen aus einem weiteren Unterkorpus der COW -Korpora: SECOW 2012-01 XS ) ist topp ein natives Substantiv mit der Grundbedeutung ‚Spitze‘ - die ebenso metaphorischer Art sein kann - und auch hier gibt es eine adjektivisch gebrauchte Entsprechung zu dt. top : toppen , wörtlich: ‚die Spitze‘ 7 . Teleman et al. ( 1999 : 232 ) bezeichnen toppen als adjektivisch verwendetes Substantiv, wie im Deutschen und Niederländischen ist der kategoriale Status als Prädikatsnomen jedoch ambig, da es sich sowohl um das Substantiv (mit definitem Artikel) oder ein Adjektiv mit der „neuen“ Bedeutung ‚sehr gut‘ handeln kann: (44) Allt är toppen. (2 271 725) ‚Alles ist top/ Spitze.‘ Modifizierungen mit Adverb ( 45 ), der Gebrauch als Adverb ( 46 ) sowie als Interjektion ( 47 ) legen jedoch nahe, dass auch hier ein Kategorienwechsel zum Adjektiv vorliegt: (45) Vädret är helt toppen! (101 498 694) ‚Das Wetter ist ganz top! ‘ (46) Få höra att det kommer gå bra och att inte hela livet förstörs om det inte går toppen. (31 479 489) ‚Zu hören bekommen, dass alles gut wird und nicht das ganze Leben zerstört wird, wenn es nicht top läuft.‘ (47) Utmärkt skrivet, snyggt uppställd och dessutom tydliga bilder - toppen! (149 650 232) ‚Ausgezeichnet geschrieben, schön geordnet und außerdem deutliche Bilder - top ! ‘ Für den Kategorienwechsel spricht zudem, dass es im Schwedischen bei Komposita eine klare formale Trennung der hierarchisch-relativen Bedeutung auf der einen Seite und der qualitativ-absoluten Bedeutung auf der anderen Seite gibt: Gilt für das Erstglied die hierarchische Lesart, so hat es die Gestalt topp -; ist die Semantik hingegen qualitativ, lautet es toppen -: toppmöte ‚Gipfeltreffen‘, toppklass ‚Spitzenklasse‘, topphastighet ‚Spitzengeschwindigkeit‘; toppendag 7 Der definite Artikel ist im Schwedischen ein Suffix: en topp ‚eine Spitze‘, topp en ‚die Spitze‘. <?page no="305"?> ‚Toptag‘, toppenhelg ‚Topwochenende‘, toppenväder ‚Topwetter‘. Gleichzeitig begegnet, wie in den beiden anderen Sprachen, eine nicht normgerechte Getrenntschreibung - topp kandidat ‚Spitzenkandidat‘ wäre beispielsweise nicht regelkonform. Im Gegensatz dazu ist toppen bil ‚top Auto‘ durchaus akzeptabel, da toppen ebenfalls als attributives Adjektiv verwendet werden kann. In formaler und semantischer Hinsicht bietet das Schwedische somit ein etwas klareres Bild als das Deutsche und das Niederländische: Aufgrund seiner Form muss toppen eine Konversion in prädikativer Position zugrunde liegen und kann es auch als Erstglied in Komposita fungieren - oder eben als attributiv gebrauchtes Adjektiv (mit Getrenntschreibung). Bei Letzterem gibt es allerdings eine Unsicherheit, die im Deutschen und Niederländischen fehlt: Sowohl im Korpus als auch via Google-Suche ist es schwer, aussagekräftige Beispiele für flektierte Adjektive zu finden (etwa in der Form ? ? toppet oder ? ? toppna ). Dies spricht allerdings nicht gegen einen vollständigen Kategorienwechsel N > A, da die Gruppe der unflektierbaren Adjektiven im Schwedischen relativ groß ist und keineswegs nur Lehnwörter umfasst (vgl. Teleman et al. 1999 : 214 - 216 ). 7 Schlussbemerkungen Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, zu zeigen, dass die konstruktionsmorphologische Perspektive für Elemente wie dt. Top(-) / top(-) , die sich auf gewisse Weise in einem Übergangsstadium befinden, d. h. kategoriale Unbestimmtheit aufweisen, als gewinnbringend erweisen kann. Der kategoriale Status der lexikalischen Einheit ist stark vom Auftreten in bestimmten syntaktischen Strukturen oder Wortbildungsschemata abhängig, die sich gleichermaßen als „Konstruktionen“ konzeptualisieren lassen. Ganz gleich, ob ein Substantiv, ein Adjektiv oder ein Präfix vorliegt, die Semantik der jeweiligen Einheit ist an ihr Auftreten in einer bestimmten Konstruktion gebunden, d. h. die konstruktionellen Eigenschaften, die die Gesamtbedeutung einer Wortbildung bedingen, sind entscheidender als die des Wortbildungselements. Die qualitativ-absolute Bedeutung von {top} kann in Komposita auftreten, in Augmentativbildungen mit abweichender Akzentuierung (bzw. als unflektiertes attributives Adjektiv) sowie in prädikativer Position. Die Tatsache, dass andere Lexeme auf die gleiche augmentativ-evaluative Art verwendet werden, legt paradigmatische Relationen zwischen diesen Schemata bzw. Konstruktionen nahe. Das kompositionelle Unterschema, in dem Top über eine qualitative Lesart verfügt, ist dabei im Verhältnis zum Top -, das ein hierarchisches Verhältnis benennt ( Topmanager usw.), relativ eigenständig, was gute Argumente für das Konzept eines „hierarchischen Lexikons“ bietet, wie sie u. a. von Booij ( 2010 ) vertreten wird. Wie auch die Daten aus dem Niederländischen und Schwedischen zeigen, ist bei der Herausbildung eines freien adjektivischen top von einem komplexen Konstruktionsmorphologie-- echt top ? 305 <?page no="306"?> 306 Malte Battefeld, Torsten Leuschner & Gudrun Rawoens Zusammenspiel verschiedener Faktoren auszugehen. Laut Donalies ( 2005 : 130 ) ist eine unvollständige Konversion zum Adjektiv im Deutschen die Regel; zu hinterfragen ist dementsprechend auch der Adjektivstatus der betreffenden Einheiten. Dass adjektivisch gebrauchte Elemente auch Flexion zeigen können, hängt wohl mit ihrem Auftreten in Strukturen zusammen, in denen Flexion der Normalfall ist, was dann zu markierten Fällen wie mit zuem Mund (ibd.) oder eben toppes Wetter (s. o.) führt. Somit ist auch der Grund für die Varianz zwischen der (noch? ) seltenen Flektion oder aber keiner Flexion bei den zugrunde liegenden, unbewusst angewandten Strukturen zu suchen. 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Internationale Neerlandistiek 52: 27-46. Van Goethem, Kristel/ Hüning, Matthias (im Erscheinen): „From Noun to Evaluative Adjective: Conversion or Debonding? Dutch top and its Equivalents in German“. Journal of Germanic Linguistics 27. <?page no="309"?> Das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen mit trennbaren und untrennbaren Präfixen und die Äquivalente im Albanischen Vjosa Hamiti Abstract In comparison with other Indo-European languages, the German language has the so-called „separate“ and „non-separate“ groups of verbs. With their separate or non-separate prefixes, the verbs change their meaning and assume certain morphological and syntactic features in addition. This phenomenon is very difficult for German language learners, especially for those whose mother tongue does not feature this phenomenon. The aim of this paper is to present in a contrastive mode the verb-formation in German and Albanian, depicting similarities and differences. The outcome of this research paper should help students in the acquisition of these categories of verbs. This paper will investigate the verb fahren in possible combinations with both separate and non-separate prefixes, which will be laid down in alphabetical order. A contrastive analysis will conclude this paper. Selected examples will be provided, with the equivalent Albanian translations of them. The corpus is derived from literary texts. The Germans have another kind of parenthesis, which they make by splitting a verb in two and putting half of it at the beginning of an exciting chapter and the other half at the end of it. Can any one conceive of anything more confusing than that? These things are called „separable verbs“. The German grammar is blistered all over with separable verbs; and the wider the two portions of one of them are spread apart, the better the author of the crime is pleased with his performance … MARK TWAIN ( 1880 ): „THE AWFUL GERMAN LANGUAGE“ <?page no="310"?> 310 Vjosa Hamiti 1 Einleitung Im Vergleich zu anderen indoeuropäischen Sprachen verfügt die deutsche Sprache über eine Verbklasse der sogenannten trennbaren und untrennbaren Verben. Mit den Präfixen, die trennbar und/ oder untrennbar sind, verändern diese Verben nicht nur ihre Bedeutung, sondern erhalten damit besondere morphosyntaktische Eigenschaften. Dies ist für Lernende der deutschen Sprache schwierig, besonders für die, die ein solches Phänomen nicht von der Muttersprache kennen. Das Ziel dieses Beitrages ist, die Verbwortbildung des Deutschen und Albanischen kontrastiv darzustellen, um somit mögliche Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede zu erläutern. Die Ergebnisse könnten sicherlich den Erwerb dieser Verbart bei Lernenden der deutschen Sprache erleichtern. In diesem Beitrag wird das Vollverb fahren mit den möglichen Kombinationen mit den trennbaren und/ oder untrennbaren Präfixen alphabetisch dargestellt. Die kontrastive Analyse erfolgt am Schluss dieses Beitrages. Es werden ausgewählte Beispiele dargestellt und die entsprechende albanische Übersetzung dazugeschrieben. Das Korpusmaterial besteht aus literarischen Texten. 2 Wortbildung des Verbs kontrastiv: Deutsch-- Albanisch Die Wortbildung ist im Deutschen im Vergleich mit anderen Sprachen sehr produktiv. Im Vergleich mit dem Albanischen ist besonders die Verbwortbildung viel produktiver. Das „Werkzeug“ des Deutschen zur Verbwortbildung besteht aus Derivation, Konversion, Rückbildung und Komposition (Duden 2009 : 687 ). Als Zentrum der Verbwortbildung wird die Linkserweiterung (vgl. ebd.: 686 ) verbaler Basen durch Präfixe und Verbpartikeln sowie die desubstantivische Konversion betrachtet (vgl. Fleischer/ Barz 2012 : 373 ). Rückbildung, Suffix- und Zirkumfixderivation, 1 deadjektivische Konversion sowie die Präfixderivation und Partikelverbbildung aus substantivischen und adjektivischen Basen werden schwächer ausgebaut (vgl. Duden 2009 : 687 ). Die Komposition ist nach Duden (ebd.: 687 ) nur mit einem Typ und einer geringen Zahl entsprechender Bildungen vertreten. Im Albanischen hingegen ist außer der Derivation ( folje të prejardhura ), Konversion und Komposition ( folje të përbëra ) auch die Zusammensetzung ( folje të përngjitura , vgl. Agalliu et al. 2001 : 342 ) eine Möglichkeit der Verbwortbildung. Hier ist die Rechtserweiterung, also die Suffigierung, stärker ausgebaut als im Deutschen. Auch die Zirkumfixderivation ist produktiver im Albanischen. 1 „Suffixderivation ( lächeln ) und Zirkumfixderivation ( beerdigen ) treten quantitativ gegenüber der Präfixderivation und Partikelverbbildung weit zurück“ (Fleischer/ Barz 2012 : 373 ). <?page no="311"?> Das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen 311 Das Albanische hat noch eine andere kleine Verbgruppe - die sogenannten Verben ohne jegliche Affixe ( pa asnjë ndajshtesë : krip- ‚ salzen‘; vgl. ebd.: 343 ). Diese Verbgruppe hat als Basis hauptsächlich substantivische und adjektivische Basen. Sie teilt sich in zwei Untergruppen auf: 1. in Verben, die eine aktivische Bedeutung haben ( shosh = ‚sieben‘) 2. in Verben, die eine nicht-aktivische Form oder auch ein Passiv angeben ( kujdes-em = ‚sich um etwas kümmern‘, ‚jemanden betreuen‘; vgl. hierzu auch Newmark 1982 : 118 ). Als Basen für die Bildung neuer Verben dienen in beiden Sprachen hauptsächlich Verben, Substantive und Adjektive. Im Deutschen können in einigen Fällen auch Partikeln verwendet werden. Im Albanischen hingegen können Adverbien als Basis dienen, und, wenn auch seltener, kommt es vor, dass auch Numeralia, Pronomen und Partikeln als Basis fungieren. Laut der Duden-Grammatik ( 2009 : 688 ) sind die wichtigsten grammatisch bedingten Charakteristika der verbalen Wortbildung folgende: 1. Ein reicher Bestand an Modellen zur Bildung trennbarer komplexer Verben: Die komplexen Verben mit betontem Erstglied unterwerfen sich im deutschen Satz dem syntaktischen Prinzip der Klammerbildung. Trennbare Verben stützen somit ein wichtiges syntaktisches Strukturprinzip des Deutschen. Das erklärt den differenzierten Ausbau und die hohe Produktivität der meisten Typen der Partikelverbbildung wie auch die Tatsache, dass erstgliedbetonte Verben anderer Bildungsarten nicht massenhaft gebildet werden (vgl. ebd.) 2. Ein geringer Bestand an Suffixen: Im Gegenwartsdeutschen ist die Suffixderivation im Vergleich mit der Präfixderivation weniger vorhanden. Als verbale produktive Suffixtypen gelten nur -ier ( en ) mit den Varianten -isier/ -ifizier ( en ) sowie -( e ) l (n) (vgl. ebd.: 688 f.). 3. Grammatische Veränderung des Basisverbs (Valenzrahmen, Hilfsverb) durch die Wortbildung Die semantische Veränderung eines Verbs durch Präfixderivation oder Partikelverbbildung schließt oft Veränderungen hinsichtlich der syntaktischsemantischen Valenz ( jemanden/ etwas fahren + be → [ eine Staße ] befahren ) und hinsichtlich der zum Verb gehörigen Hilfsverben ( schlafen → einschlafen : schlafen - geschlafen haben vs. einschlafen - eingeschlafen sein , Beispiele nach ebd.: 689 ) mit ein. Diese semantischen und syntaktischen Veränderungen sind eine Folge des Wortbildungsprozesses. 2 2 Der Wechsel des Hilfsverbs für die komplexen Flexionsformen geht mit der Bildung von telischen Verben aus atelischen einher (ausführlich hierzu cf. Duden 2009 : 689 - 890 wie <?page no="312"?> 312 Vjosa Hamiti 4. Unscharfe Grenzen zwischen trennbarem komplexem Verb und syntaktischer Fügung: In diesen Fällen besteht die Schwierigkeit darin, dass die Form und die Reihenfolge der Glieder identisch sein können. Deshalb fällt es oft sehr schwer, die Grenzen zwischen beiden Ausdrucksformen zu bestimmen. In solchen Fällen werden semantische Kriterien zur Unterscheidung herangezogen. Vgl. z. B. (Beispiele nach ebd.: 690 ): frei ' sprechen ‚ohne Manuskript sprechen‘ jmdn. ' freisprechen ‚für nicht schuldig erklären‘ Im Albanischen hingegen erleiden die verbalen Wortbildungen keine grammatikalischen Veränderungen wie im Deutschen. Charakteristisch ist ihre Semantik. Wenn den Verben die Präfixe, Suffixe und Zirkumfixe hinzugefügt werden, bekommen die Verben eine intensivere, frequentative oder kausale Bedeutung. 3 Derivation In beiden Sprachen dienen Präfigierung, Suffigierung und Zirkumfigierung als Mittel der Derivation. Das Deutsche hat zwei Präfigierungsmöglichkeiten, und zwar durch Präfixderivation, die immer untrennbar sind, und die Partikelverbbildung, bei denen das Erstglied abgetrennt werden kann. Die dritte Gruppe der Derivation bilden Verben, die sowohl als Präfixals auch als Partikelverben verwendet werden. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Verwendungsvarianten liegt auf semantischer, phonologischer und morphologischer Ebene, z. B.: Der Fahrer fährt das Schild um . (' umfahren ) Der Fahrer umfährt das Schild . ( um ' fahren ) Im Albanischen ist Präfixderivation nicht sehr produktiv und diese Verben sind immer untrennbar. 3.1 Präfixderivation Charakteristisch für die Präfixderivation (vgl. Fleischer/ Barz 2012 : 380 - 395 ) im Deutschen ist, dass die so gebildeten Verben immer untrennbar sind und das Präfix unbetont. In der deutschen Gegenwartssprache werden die Präfixe in zwei Gruppen untergliedert: auch Zifonun et al. 1997 : 1864 - 1869 ). <?page no="313"?> 1. Präfixe ohne homonyme Verbpartikel (vgl. Duden 2009 : 690 ): be - , ent-, er-, ge-, miss-, ver-, zerz. B.: befahren, zerfahren, verfahren, erfahren 2. Präfixe mit homonymen Verbpartikeln, die unbetont sind (vgl. Fleischer/ Barz 2012 : 57 ): durch-, hinter-, über-, um-, unter-, widerz. B.: durch ’ fahren vs. ’ durchfahren , um ’ fahren vs. ’ umfahren ) usw. Die Partikelverbbildungen (vgl. ebd.: 396 - 427 ) enthalten Verbpartikeln, die Teil syntaktisch und morphologisch trennbarer komplexer Verben sind: Präpositionen ( ab-, an-, auf-, mit-, nach-, über-, zu-, ein usw.), Adverbien ( her-, hin-, herunter-, hinunter-, dahin usw.), Adjektive ( fest-, frei-, hochusw.) Substantive ( Preis : preisgeben, Stand : standhalten, Teil : teilhaben, teilnehmen ) Die syntaktisch trennbaren erstgliedbetonten Verben stützen die für den deutschen Satzbau obligatorische Klammerbildung. Das Albanische kennt keine Partikelverben. Das bedeutet, das Phänomen der trennbaren Verben existiert in dieser Sprache nicht. Jedoch verfügt das Albanische über die Präfixderivation, die immer untrennbar ist. Diese Verbbildungsart ist im Albanischen nicht sehr produktiv. Das Präfix për gilt im Albanischen als das produktivste. Durch dieses Präfix wird im Albanischen eine relativ große Gruppe von neuen Verben gebildet. Auf semantischer Ebene bekommen Verben mit diesem Präfix eine verstärkte (intensivierte) Bedeutung. 3 për-caktoj = për-+V (‚bestimmen, verstärken‘) Weitere Verbpräfixe des Albanischen sind (vgl. Agalliu et al. 2001 : 348 ): sh- ( ç-, zh- ): shkarkoj (‚entladen‘); çarmatos (‚entwaffnen‘); zhvesh (‚ausziehen‘) s- / z- : skuq (‚braten‘), zgjat (‚verlängern‘), zbuloj (‚entdecken‘) n-, m- : ngu (‚pressen‘), mbuloj (‚(be)decken‘) 3 „The prefix për gives to verbs derived from verbs: a) an intensification of the meaning of the non-prefixed form […] b) a new intensive meaning related to the meaning of the source verb […] c) a new meaning more distantly related to the meaning of the source verb […]“ (Newmark et al. 1982 : 114 ). Das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen 313 <?page no="314"?> 314 Vjosa Hamiti më-, mbi-, nën -: mbivlerësoj (‚überbewerten‘), nënvlerësoj (‚unterschätzen‘) stër- : stërmundoj (‚überfordern‘) Ferner kennt das Albanische die folgenden fremdsprachlichen verbalen Präfixe (vgl. hierzu Agalliu et al. 2001 : 63 ): a-, antz-, de-, dez-, dzs-, pro-, pan-, trans-, ultrausw. Jedoch muss hinzugefügt werden, dass nicht nur die Präfixe oder Suffixe entlehnt werden, sondern auch das ganze Wort, so etwa: anormal - normal = anormal - normal dezinfektoj - infektoj = desinfizieren - infizieren 3.2 Suffixderivation Im Vergleich mit den Präfixderivaten und Partikelverben wird im Deutschen die Suffixderivation als eine Randerscheinung beschrieben. Fleischer und Barz ( 2012 : 428 ) begründen die „Suffixarmut“ des Verbs im Deutschen als historisches Phänomen, das sich im Verlauf der Sprachgeschichte noch verstärkt hat. Diese Verbwortbildung ist nicht sehr produktiv. Als zumindest teilweise produktive Suffixe des Deutschen wären zu nennen: -el ( n ) , -l ( n ) , -er ( n ) , -r ( n ) , -ier ( en ) , -isier ( en ), ifizier ( en ) und -ig ( en ) (vgl. Duden 2009 : 708 ; Fleischer/ Barz 2013 : 428 ), z. B.: lächeln, persiflieren, zeitigen usw. Im Albanischen hingegen ist die Suffigierung sehr produktiv. Die Suffigierung wird nach den zwei Konjugationsarten des Verbs eingeteilt (vgl. ähnlich auch Duden 2009 : 708 f.): Erste Konjugation Zweite Konjugation: -o- : bes-o-j (‚glauben‘) os : ajr-os (‚lüften‘) - ( ë ) ro- : lajm-ëro-j (‚verständigen‘) - ( i ) s : arrati-s (‚fliehen‘) - ( ë ) so- : ëmbël-so-j (‚versüßen‘) atos : arm-atos (‚ausrüsten, sich bewaffnen‘) - ( ë ) to- : arsye-to-j (‚rechtfertigen, begründen‘) -it : gjob-it (‚bestrafen, Geldstrafe‘) - ( ë ) zo- : dorë-zo-j (‚aushändigen‘) -llo- : ngazë-llo-j (‚sich freuen‘) <?page no="315"?> Als Basis für Suffigierung stehen der deutschen und albanischen Sprache folgende Wortarten zur Verfügung (Tabelle 1 ): Deutsch Albanisch Verben: - ( e ) l ( n ) und - ( e ) r ( n ) einfache Verben: lachen → lächeln, blinken → blinkern usw. Verben: ndal-o-j = ndal (‚verhindern‘) Substantive: - ( e ) l ( n ) , -ig ( en ) , -ier/ -isier/ -ifizier ( en ) monumentalisieren (‚etw./ jmdn. zu einem Monument machen‘) Substantive: bes-o-j = besë (‚glauben = Glaube‘) Adjektive: - ( e ) l ( n ) , -ier/ -isier ( en ) aktivieren, privatisieren Adjektive: shkur-o-j = shkurt (‚verkürzen = kurz‘) Konfixe: brauchen für die Verbbildung obligatorisch ein Suffix: referieren, zitieren (* refer-en, *zit-en ) usw. Adverbien: shpejt-o-j = shpejt (‚beschleunigen = schnell‘) Tabelle 1 Basiswortarten für Suffigierung Nach der Gegenüberstellung der beiden Sprachen in Bezug auf die Suffixderivation ergibt sich, dass bei der Übersetzung der suffigierten Verben des Albanischen ins Deutsche die Entsprechungen eher bei den untrennbaren Präfixen liegen. Diese Verbwortbildungsart ist produktiver im Albanischen. 3.3 Zirkumfigierung In beiden Sprachen wird eine nominale Basis für die Verbwortbildung mit Zirkumfix verwendet. In dieser Hinsicht kann man von einer eins-zu-eins Äquivalenz der beiden Sprachsysteme sprechen. Die häufigsten Zirkumfixe des Deutschen sind folgende: be-…-ig-en : be-vollmächt-ig-en ver-…-ig-en : ver-gewalt-ig-en ver-…-ier-en : ver-barrikad-ier-en Das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen 315 <?page no="316"?> 316 Vjosa Hamiti Im Albanischen ist die Verbwortbildung durch Zirkumfixe produktiver als im Deutschen. Die wichtigsten und produktivsten Zirkumfixe des Albanischen werden an dieser Stelle genannt: për-…o- : për-fund-o-j (‚beenden‘) për-…-so- : për-faqë-soj (‚vertreten‘) sh-…- ( ë ) zo- : sh-fryt-ëzo-j (‚aus-, benutzen‘) zh-…-o- / - ( ë ) so- : zh-dogan-o-j (‚verzollen‘) sh-/ ç-…-so-/ -o- : sh-pronë-so j (‚enteignen‘) z-… -o- : z-bukur-o-j (‚verschönen‘) 4 Komposition Im Deutschen wird die Komposition als Randphänomen beschrieben. Der Duden Grammatik nach (vgl. Duden 2009 : 710 ) wird es als äußerst selten genutzte Kopulativkomposition zweier Verbstämme beschrieben. Verbale Komposita sind nur vereinzelt belegt, und zwar v. a. in fachsprachlichen Zusammenhängen und in belletristischen Texten (vgl. Fleischer/ Barz 2012 : 441 ), z. B.: drohstarren, grinskeuchen, rührbraten Auch im Albanischen kommt die Verbkomposition sehr selten vor (vgl. Agalliu et al. 2001 : 354 - 355 ): A+V: mirë-kuptoj (‚Verständnis haben‘) keq-kuptoj (‚missverstehen‘) 5 Konversion Durch die Konversion werden in beiden Sprachen aus Substantiven und Adjektiven Verben abgeleitet: Substantive: Schauspieler → schauspielern = aktor → aktroj Adjektive: gleich → gleichen = kuq → kuq ( em ) (‚rot‘ → ‚sich röten, erröten‘) Im Gegensatz zum Albanischen, wo keine anderen Wortarten durch die Konversion zu neuen Verben umgebildet werden können, werden im Deutschen auch <?page no="317"?> andere Wortarten für die Konversion verwendet, aber es muss unterstrichen werden, dass es eher selten vorkommt, z. B.: miau → miauen , ratsch → ratschen Auch im Albanischen können vereinzelte Onomatopöien zu Verben gebildet werden. Sie werden aber nicht durch Konversion, sondern durch das Suffix it , dass durch ein ll erweitert wird, gebildet: miau → mjau ll it (‚miauen‘), dërdë → dërdë ll it (‚plappern, labern‘) 6 Rückbildung Im Deutschen wird unter Rückbildung die Ableitung komplexer Verben aus komplexen Substantiven verstanden, „deren Zweitglied seinerseits bereits von einem Verb stammt“ (Duden 2009 : 710 ; vgl. hierzu auch Fleischer/ Barz 2012 : 441 ), z. B.: land en → Land ung → Bauch land ung → bauch land en Das Albanische hat keine Verbwortbildung durch Rückbildung. Aber es besitzt die Möglichkeit der Zusammensetzung, die hauptsächlich aus Phrasen gebildet wird. Die Anzahl solcher Verben ist sehr klein. z. B. (vgl. Agalliu et al. 2001 : 355 ): vërej (‚an/ merken‘) vs. vë re (‚Anmerkung‘) ngjatjetoj (‚grüßen‘) vs. t’u ngjattë jeta (‚möge dein Leben sich verlängern‘) 7 fahren als Präfix- und Partikelverb Im Folgenden wird das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen mit trennbaren und untrennbaren Präfixen (resp. Verbpartikeln) dargestellt. Diese Liste entstand aus Untersuchungen aus deutschen Grammatikbüchern wie auch aus literarischen Texten. Das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen 317 <?page no="318"?> 318 Vjosa Hamiti Präfixverb abführen, abwärts|fahren, an|fahren, auf|fahren, aufwärts|fahren, auseinander|fahren, aus|fahren, dahin|fahren, darüber|fahren, davon|fahren, dazwischen|fahren, drauflos|fahren, drein|fahren, durch|fahren, ein|fahren, einher|fahren, empor|fahren, entgegen|fahren, entlang|fahren, fest|fahren, fort|fahren, heim|fahren, heran|fahren, herauf|fahren, heraus|fahren, herbei|fahren herein|fahren, her|fahren, herüber|fahren, herum|fahren, herunter|fahren, hinauf|fahren, hinaus|fahren, hinein|fahren, hin|fahren, hinterher|fahren, hinüber|fahren, hinunter|fahren, hoch|fahren, los|fahren, mit|fahren, nach|fahren, nebenher|fahren, nieder|fahren, rein|fahren, schwarz|fahren, tot|fahren, über|fahren, umher|fahren, vorbei|fahren, vor|fahren, vorüber|fahren, wall|fahren, weg|fahren, weiter|fahren, zu|fahren , zurück|fahren, zusammen|fahren Partikelverb befahren, entfahren, erfahren, überfahren, verfahren, willfahren, widerfahren, zerfahren Präfix- und Partikelverb ’ durchfahren, durch ’ fahren, ’ umfahren, um ’ fahren Tabelle 2 Das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen. Die Tabelle bestätigt, dass die Präfixverben im Deutschen viel präsenter sind als die Partikelverben. Diese Liste der möglichen Kombinationen des Vollverbs fahren mit trennbaren und untrennbaren Präfixen ist bestimmt nicht die endgültige. Es wurde versucht, so viele Kombinationen wie möglich darzustellen. 8 Korpusanalyse Bei der Korpusanalyse sollen die Übersetzungsäquivalente im Albanischen erläutert werden. Das Korpusmaterial besteht aus deutschen literarischen Texten, die ins Albanische übersetzt worden sind. Alphabetische Auflistung einiger Beispiele: ab|fahren Seine Meinung vielmehr war gewesen, sie rasch abzutun, weil sie abgetan werden musste, ganz als derselbe zurückzukehren, als der er abgefahren war, und sein Leben genau dort wieder aufzunehmen, wo er es für einen Augenblick hatte liegen lassen müssen. (MANN 2012 : 24 ) Qëllimi i tij kishte qenë më tepër ta bënte atë sa më shpejt, sepse duhej bërë dhe të kthehej po ai njeri që ishte kur u nis dhe ta fillonte jetën pikërisht atje ku kishte qenë i detyruar ta ndërpriste. (MANN BD. I 2009 : 9 ) <?page no="319"?> an|fahren Da hat Behrens ihn angefahren : „Stellen Sie sich gefälligst nicht so an! “ (MANN 2012 : 85 ) Atëherë Berensi i bërtiti : Hajde, mos na bëj numrat tani! (MANN BD. I 2009 : 90 ) auf|fahren „Sehr schöne Zigaretten habe ich übrigens auch noch von ihr, das ist was Extrafeines, wird nur bei erstklassigen Gelegenheiten aufgefahren .“ (MANN 2012 : 340 ) Kam ende nga ato cigaret e saj të mrekulleshme, gjëra të jashtëzakonshme që i nxjerr vetëm për raste të veçanta …! (MANN BD. I 2009 : 429 ) dahin|fahren Aber fast hätte er die Fassung verloren, als Herr Settembrini ihn im letzten Augenblick mit Vornamen, nämlich „Giovanni“ nannte und dabei die im gesitteten Abendland übliche Form der Anrede dahinfahren und das Du walten ließ! (MANN 2012 : 895 ) Por në minutën e fundit kur pothuaj e kishte humbur krejt toruan, zoti Setembrini e thirri më emër, pikërisht „Xhovani“, duke iu drejtuar në njëjës e duke shpërfillur kështu formën e zakonshme të mirësjelljes në Përëndim. (MANN BD. II 2009 : 627 ) ein|fahren Achtzehn Monate, den vollen Jahreszirkel und dann die Hälfte noch einmal durchlaufen hier oben, tief eingelebt; eingefahren in dieses Ordnungsgeleis, diesen unverbrüchlichen Lebensgang, den er in siebenmal siebenzig Tagen zu allen Gezeiten erprobt, - und nun nach Hause in die Fremde, zu den Unwissenden! (MANN 2012 : 534 ) Tetëmdhjetë muaj, një cikël të plotë vjetor dhe pastaj edhe një gjysmë më tepër, zhytur thellë në jetën e këtushme, duke njekur rrjedhën e jetës këtu lart, të kësaj rrjedhe të pa thyeshme jete së cilës ai i ishte nënshtruar shtatë herë shtatdhjetë ditë, daditur. (MANN BD. II, 2009 : 132 ) empor|fahren Denn zweimal hatte sein Träumen und Fabeln eine Wendung genommen, dass er belebt emporgefahren war: einmal vor Grauen und das zweite Mal vor Freude. (MANN 2012 : 627 ) Sepse dy herë me rradhë ëndrrat dhe sajimet e tij kishin marrë kthesën drejt ngjalljes, një herë nga tmerri, një herë nga lumturia. (MANN BD. II 2009 : 259 ) fort|fahren „Es ist zwecklos, daß Sie fortfahren , Ingenieur“, unterbrach ihn Settembrini. (MANN 2012 : 481 ) Nuk ka asnjë kuptim që të vazhdoni më tej, ixhinier,e ndërpreu Setembrini […] (MANN BD. II, 2009 : 61 ) Das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen 319 <?page no="320"?> 320 Vjosa Hamiti hin ( -ab-, -unter-, -ein- ) |fahren „Ja, lieber Gott … Ich fange an, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß ich erst mit meinem Vetter zusammen wieder hinunterfahren werde.“ (MANN 2012 : 315 ) Për atë zot… po filloj dalëngadalë të mësohem me mendimin se me sa duket do të zbres përsëri poshtë vetëm së bashku me tim kushëriri. (MANN BD. I 2009 : 396 ) Hauptsächlich sah er Joachim Ziemssen in sonderbar verrenkter Lage auf einem Bobschlitten eine schräge Bahn hinabfahren. (MANN 2012 : 41 ) Krysisht pa Joahim Cimsenin tek rëshqiste tatëpjetë një piste të pjerrët bobslajti, me trupin çuditerisht të spërdredhur. (MANN BD. I 2009 : 31 ) Das Gehölz, das ihn angezogen hatte, lag jenseits der Schlucht, in die er unversehens hineingefahren. (MANN 2012 : 603 ) Pyelli i halorëve tani ishte anash dhe prapa tij, ai u kthy dhe duke rrëshqitur me shpejtësi, arriti bredhat dëborëmbuluar, bishtin e rralluar të bredhishtës që futej si pykë në phapësirën e lirë nga drurët. (MANN BD. II 2009 : 227 ) vor|fahren […] aber schon beim ersten Frühstück hatte Hans Castorp durch den hinkenden Concierge Order empfangen, sich eine Stunde nach dem Mittagessen zu einer Spazierfahrt bereitzuhalten, ferner, diesen Befehl an die Herren Ferge und Wehsal weiterzugeben, auch Settembrini und Naphta zu benachrichtigen, daß man bei ihnen vorfahren werde, und endlich für die Bestellung zweier Landauer auf drei Uhr Sorge zu tragen. (MANN 2012 : 773 ) Megjithatë pas vaktit të parë Hans Kastorpi mori urdhrin të jetë gati, më tej tua përçoj këtë urdhër edhe zotërinjëve Frege dhe Vezal, të njoftojnë edhe Setembrinin e Naftën se do të kalonin për t’i marrë dhe së fundi të kujdesej që në orën tre para derës të ishin dy pajton. (MANN BD. II 2009 : 460 ) zusammen|fahren Die Brand war in schwerem Chok zusammengefahren . (MANN 2012 : 858 ) Brandi kishte rënë në një gjendje shoku të rëndë (MANN BD. II, 2009 : 575 ) ver|fahren Der Onkel übermittelte darin des Großonkels und seine eigenen Fest- und Genesungswünsche und fügte aus praktischen Gründen gleich die nächstens fälligen Neujahrsgratulationen hinzu, wie übrigens auch Hans Castorp verfahren war, als er rechtzeitig seinen Weihnachtsbrief nebst klinischem Rapport an Konsul Tienappel liegend aufgesetzt hatte. (MANN 2012 : 372 ) Xhaxhai jeptë urimet e xhaxhait të madh dhe të tijat për shërim sa më të shpejtë dhe për motivet praktike, shtonte sakaq edhe urimet e rastit për festën e Vitit të Ri, siç kishte vepruar edhe vetë Hans Kastorpi, kur, gjatë qëndrimit shtrirë në regjim shtrati, kishte <?page no="321"?> shkruar në kohë letrën e Kërshëndellave bashkë edhe me një raport për gjendjen e tij shëndetësore. (MANN BD. I 2009 : 473 ) wider|fahren Bestimmt sind die meisten Leute zu schlaff und unaufmerksam und gewissenlos und innerlich ausgeleiert, um sie ihnen widerfahren zu lassen, so wird es wohl sein. (MANN 2012 : 711 ) Por shumica e njerëzve padyshim janë të plogësht dhe të pavëmendshëm, të pandërgjegjshëm dhe të konsumuar shpirtërisht për t’i vlerësuar ato siç duhet dhe me sa duket kështu edhe ndodhka në botë. (MANN BD. II 2009 : 376 ) Aus der Gegenüberstellung der Beispiele kommt heraus, dass das Vollverb fahren , mit dem trennbaren oder untrennbaren Präfix, die entsprechende Bedeutung im Albanischen besitzt. 9 Zusammenfassung In beiden Sprachen erfolgt die Verbwortbildung durch Derivation, Konversion und Komposition. Das Deutsche hat auch die Rückbildung als Mittel verbaler Wortbildung, was das Albanische nicht hat. Im Albanischen wird die Zusammensetzung als eine weitere Verbwortbildungsmöglichkeit aufgezählt. Im Deutschen ist die Linkserweiterung verbaler Basen durch Präfixe und Verbpartikeln sehr produktiv. Außer den semantischen Veränderungen erfährt diese Verbgruppe auch morphosyntaktische Veränderungen. Die komplexen Verben mit betontem Erstglied sind im deutschen Satz dem syntaktischen Prinzip der Klammerbildung unterworfen. Das Albanische kennt keine trennbaren Verben oder Partikelverben. Die Präfixe sind immer untrennbar im Albanischen. Die Präfixderivation ist im Albanischen nicht so produktiv wie im Deutschen. Die albanische Sprache ist im Bereich der Suffigierung und Zirkumfixderivation produktiver. Auch die Rechtserweiterung ist stärker ausgebaut als im Deutschen. Im Albanischen erfolgen die Veränderungen nicht so stark auf morphosyntaktischer Ebene, sondern betreffen im Wesentlichen nur die semantischen Ebene. Das zeigt auch die Korpusanalyse der Beispiele. Das Problem für nicht deutsche MuttersprachlerInnen bleiben weiterhin die morphosyntaktischen Besonderheiten dieser Verbgruppe. Besonders die Partikelverben (oder auch trennbare Verben) werden weiterhin eine der schwierigsten Verbgruppen des Deutschen bleiben. A favorite one is reiste ab which means, departed. Here is an example which I culled from a novel and reduced to English: „The trunks being now ready, he DE after kissing his mother and sisters, and once more pressing to his bosom his adored Gretchen, who, dressed in simple white muslin, with a single tuberose in the ample folds of her rich brown Das Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen 321 <?page no="322"?> 322 Vjosa Hamiti hair, had tottered feebly down the stairs, still pale from the terror and excitement of the past evening, but longing to lay her poor aching head yet once again upon the breast of him whom she loved more dearly than life itself, PARTED .“ MARK TWAIN ( 1880 ): „THE AWFUL GERMAN LANGUAGE“ Literatur Agalliu, Fatmir et al. (2002): Gramatika e gjuhës shqipe (Vëllimi I: Morfologjia). Tiranë: Maluka. Buchholz, Oda/ Fiedler, Wilfried/ Uhlisch, Gerda (2000): Wörterbuch Albanisch-Deutsch . Berlin/ München: Langenscheidt. Buchholz, Oda/ Fiedler, Wilfried (1987): Albanische Grammatik . Leipzig: Enzyklopädie. Duden (2009): Die Grammatik. 8., überarb. Aufl., Mannheim/ Wien/ Zürich: Dudenverlag. (= Duden 4). Fleischer, Wofgang/ Barz, Irmhild (2012): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache . 8. Auflage. Tübingen: Niemeyer. Mann, Thomas (2009): Mali magjik . Tiranë: Shtëpia Botuese 55. Mann, Thomas (2002): Der Zauberberg . Berlin: Fischer. Newmark, Leonard/ Hubbard, Philip/ Prifti, Peter (1982): Standard Albanian . Stanford: Stanford University Print. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Stecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache . Bde. 1, 2, 3. Berlin/ New York: de Gruyter. <?page no="323"?> Deutsche Substantivkomposita und ihre Entsprechungen im Albanischen 323 * Gleichberechtigte Autorinnen Deutsche Substantivkomposita und ihre Entsprechungen im Albanischen Milote Sadiku & Sadije Rexhepi* Abstract The present paper deals with compounding as a word formation process in German and Albanian. The aim of this paper is to study the Albanian equivalents of German Determinative Compounds. It will focus on the translation features of nominal compounds from German into Albanian. Compounding, with emphasis on nominal compounding and its subtypes, is one of the most productive word formation processes in both languages. In German, the right constituent determines the grammatical features of the determinative compound whereas in Albanian both positions (the right one and the left one) can function as determiner within a determinative compound. 1 Einleitung Im vorliegenden Beitrag wird ein Teil der deutschen Wortbildung mit dem Albanischen kontrastiv untersucht. Der Beitrag setzt sich zum Ziel, deutsche Determinativkomposita und die ihnen entsprechenden albanischen Wortbildungskonstruktionen zu untersuchen. Komposition ist eine stark ausgeprägte Wortbildungsart und stellt eine der wichtigsten Wortbildungsmuster in beiden Sprachen dar, insbesondere im substantivischen Bereich. Aus sprachvergleichender Perspektive wird das Deutsche als eine kompositionsfreudige Sprache beschrieben (cf. Donalies 2007 : 35 ; Schlücker 2012 : 2 ). Substantivkomposita werden sehr häufig auch in literarischen Texten gebraucht. In diesem Beitrag werden die albanischen Übersetzungsentsprechungen der deutschen Nominalkomposita in literarischen Texten verglichen. Es wird untersucht, welche Wortbildungsstrukturen bei der Übersetzung deutscher Determinativkomposita im Albanischen verwendet werden. Das Korpus der vorliegenden Untersuchung umfasst deutsche Substantivkomposita aus dem deutschen Original eines literarischen Textes und ihre albanische Entsprechungen aus der albanischen <?page no="324"?> 324 Milote Sadiku & Sadije Rexhepi Übersetzung des literarischen Textes. Die Ausgangsbasis der Analyse bildet der Roman Die Mittagsfrau von Julia Franck und dessen albanische Übersetzung von Jonila Godole. 2 Substantivkomposita im deutsch-albanischen Vergleich Komposition ist neben der Derivation der produktivste Wortbildungstyp des Deutschen. Dies gilt insbesondere für die nominale Komposition, die als einer der produktivsten Subklassen angesehen wird. Komposita sind „komplexe Lexeme aus zwei wortfähigen unmittelbaren Konstituenten“ (Fleischer/ Barz 2012 : 84 ). Das typische substantivische Kompositum ist grundsätzlich binär strukturiert und prinzipiell durch die Stabilität der Wortstruktur gekennzeichnet (cf. Fleischer/ Barz 2012 : 127 ; Donalies 2007 : 37 ). Die Konstituenten des Kompositums können semantisch gleichgeordnet (Koordination) sein oder sie können in einer Relation der Unterbzw. Überordnung (Subordination) stehen. Die Relation der Gleichordnung besteht zwischen den Konstituenten der Kopulativkomposita (auch Koordinativkomposita), die der gleichen Wortart angehören (cf. Fleischer/ Barz 2012 : 150 ; Donalies 2007 : 62 ; Schlücker 2012 : 7 ). Substantivische Kopulativkomposita werden also aus Substantiven zusammengesetzt, nur sind sie in beiden Sprachen nicht sehr produktiv. Das Verhältnis der Subordination zwischen den unmittelbaren Konstituenten des Kompositums besteht bei den sog. Determinativkomposita, die die weitaus größte Gruppe der Komposita darstellen. Die Determinativkomposita bilden den funktional zentralen Kompositionstyp (cf. Eichinger 2000 : 117 ). Im Deutschen ist die rechte Konstituente eines Determinativkompositums das Determinatum (das Grundwort; der Kopf), das die grammatischen Merkmale und die semantische Klasse des Kompositums festlegt. Auch im Albanischen legt die rechte Konstituente die grammatischen Merkmale und die semantische Klasse des Kompositums fest, aber diese Funktion übernimmt oft auch die linke Konstituente, vor allem bei den Determinativkomposita, die mit einem Bindestrich geschrieben werden. Bei diesen Bildungen werden nur der linken Konstituente Flexions- und Pluralendungen angehängt, wie z. B. vit-dritë / vjet-dritë (wörtl. Jahr-Licht) ‚Lichtjahr‘, kalë-fuqi (wörtl. Pferd-Stärke) ‚Pferdestärke ( PS )‘, qytethero (wörtl. Stadt-Held) ‚Heldenstadt‘ (Agalliu et al. 2002 : 72 ). Deutsche Determinativkomposita sind gewöhnlich aus zwei Grundmorphemen kombiniert, aber häufig sind auch verzweigte Komposita mit vier und mehr Grundmorphemen, „polymorphemische Komposita“ (Fleischer/ Barz 2012 : 138 ), möglich. Das Verstehen und Übersetzen von solchen Komposita bereitet den Albanischsprechenden Schwierigkeiten, vor allem deswegen, weil im Albanischen selten Bildungen aus drei Grundmorphemen anzutreffen sind. Solche Komposita aus mehr als zwei Grundmorphemen sind im Albanischen für Kopu- <?page no="325"?> Deutsche Substantivkomposita und ihre Entsprechungen im Albanischen 325 lativkomposita charakteristisch und sind vor allem als Fachtermini gewöhnlich (cf. Uhlisch 1989 : 25 ). Im Deutschen bestimmt die linke Konstituente, das Determinans (das Bestimmungswort), die Bedeutung der rechten Konstituente näher. „Das Determinatum ist dem Determinans hierarchisch übergeordnet“ (Donalies 2007 : 37 ). Typischer Ausdruck der semantischen Beziehung zwischen dem Bestimmungswort und Grundwort sind „Paraphrasen mit Relativsätzen“ (Motsch 2004 : 378 ). Ein weiterer großer Unterschied zwischen dem Deutschen und Albanischen liegt darin, dass für die deutschen Determinativkomposita das Prinzip der Rechtsköpfigkeit gilt, d. h. das Grundwort steht grundsätzlich rechts, z. B. Apfeltorte ist „eine Torte mit Apfel“ (Donalies 2007 : 36 ). Für das Albanische gilt dagegen sowohl das Prinzip der Rechtsals auch der Linksköpfigkeit. Es existieren also beide Varianten: Determinans (Bestimmungswort) kann die erste Konstituente oder die zweite Konstituente sein. Die Stelle des Bestimmungswortes beim Kompositum ist im Albanischen nicht leicht zu bestimmen, was wiederum Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Deutschen ins Albanische und umgekehrt bereiten könnte, z. B. die rechte Konstituente bestimmt die linke breg det (breg deti - wörtl. Ufer+ Meer ) ‚Meeresufer‘, këmbë kryq (wörtl. Beine+ Kreuz ) ‚im Schneidersitz‘ und die linke Konstituente bestimmt die rechte krye qytet ‚Hauptstadt‘, këpucë bërës ‚Schuhmacher‘. Uhlisch ( 1989 : 28 ) ist der Meinung, dass die „eigentliche“ Reihenfolge der Komponenten des Kompositums im Albanischen folgende ist: Grundwort + Bestimmungswort (Determinatum + Determinans), „weil das die Reihenfolge der Nominalgruppen mit einem Attribut ist“, z. B. zemër e mirë - zemër mirë ‚gutes Herz‘ - ‚gutherzig‘, lule dielli - lule dielli ‚Sonnenblume‘. Das Albanische ist also durch die Postdetermination gekennzeichnet. Deswegen werden deutsche Komposita ins Albanische von rechts nach links übersetzt: Apfel torte → tortë me mollë ‚Torte mit Apfel‘ Finger spitzen → majat e gishtave ‚Spitzen der Finger‘ Rektionskomposita, als Subtypen der Determinativkomposita, haben in beiden Sprachen eine ähnliche Struktur. Ihre Zweitkonstituente ist ein deverbales Derivat (ein Handlungsträger), „das eine Leerstelle eröffnet“ (Klos 2011 : 13 ). Beim Kompositum Obstverkäufer (Alb.: pemëshitës ) eröffnet die Leerstelle das Grundwort Verkäufer , die in beiden Sprachen durch das Bestimmungswort erfüllt wird. Auch bei albanischen Rektionskomposita, die sehr produktiv sind, bestimmt, wie im Deutschen, die linke Konstituente die rechte: bukë pjekës ‚Bäcker‘ (mit der Lesart BÄCKER VON BROT ), pije shitës ‚Getränkeverkäufer‘ (mit der Lesart <?page no="326"?> VERKÄUFER VON GETRÄNKEN ), këpucë bërës ‚Schuhmacher‘ (mit der Lesart MACHER VON SCHUHEN), rroba qepës ‚Schneider‘ (mit der Lesart SCHNEIDER VON KLEIDUNG ) usw. Zu den Substantivkomposita im Albanischen zählen auch einige wenig produktive Komposita mit substantivischem Erstglied und einem adjektivischen Zweitglied, wie z. B. einige Ortsnamen Buzëmadh (wörtl. Lippe+groß) , Gruemirë (wörtl. Frau+gute) , Kryezi (wörtl. Kopf+schwarz) und Gattungsnamen gushëkuq (wörtl. Kehle+rot) ‚Rotkelchen‘, lulëkuqe (wörtl. Blume+rot) ‚Mohn‘ (cf. Agalliu et al. 2002 : 150 ). Im Deutschen dagegen können Komposita mit einem adjektivischen Grundwort nicht zu den Substantivkomposita gehören. 3 Die Entsprechungstypen der deutschen Komposita im Albanischen Die Analyse geht von deutschen substantivischen Determinativkomposita im literarischen Text aus. Bei der Analyse der deutschen substantivischen Determinativkomposita wurde die Paraphrasenmethode verwendet. Paraphrasierung „als wichtigstes methodisches Verfahren“ (Fleischer/ Barz 2012 : 7 ) spielt eine wichtige Rolle bei der Interpretation von einem Kompositum. Durch Paraphrasierung werden die unmittelbaren Konstituenten eines Kompositums ermittelt und die semantische Beziehung zwischen den unmittelbaren Konstituenten aufgedeckt. Das Auflösen der deutschen Substantivkomposita in syntaktische Strukturen erleichterte den Vergleich mit ihren albanischen Entsprechungen. Im ersten Schritt wurden substantivische Determinativkomposita im dt. Originaltext ermittelt, dann wurden sie in syntaktische Strukturen aufgelöst. In unserem Korpus wurden nur analysierbare und nicht idiomatische Komposita mit einem Substantiv als Erstglied einbezogen, und sie wurden dann im nächsten Schritt mit ihren albanischen Entsprechungen verglichen. Das gesamte Korpus machen 170 deutsche Substantivkomposita und ihre albanischen Entsprechungen aus. Im Folgenden werden die wichtigsten albanischen Entsprechungen der deutschen substantivischen Determinativkomposita aufgeführt. Es wurden nur diejenigen Beispiele gewählt, die das sprachliche Phänomen am besten illustrieren. 3.1 Entsprechungstyp I: dt. Substantivkompositum → alb. Wortgruppe im Genitiv Die deutschen Substantivkomposita werden in den meisten Fällen durch eine Wortgruppe im Genitiv ins Albanische übersetzt. Mit 72 Belegen bildet dieser Entsprechungstyp 42 % des gesamten Korpus. Es ist wichtig zu betonen, dass die Mehrheit der Wortgruppen im Genitiv des Albanischen den deutschen Substantivkomposita entsprechen, die sich in eine Wortgruppe im Genitiv auflösen lassen, wobei das Grundwort des Kom- 326 Milote Sadiku & Sadije Rexhepi <?page no="327"?> Deutsche Substantivkomposita und ihre Entsprechungen im Albanischen 327 positums der Kopf der Nominalgruppe ist und das Bestimmungswort in den Genitiv umgeformt wird. Im Albanischen existiert der Genitiv nicht als Kasusobjekt. Nominalgruppen im Genitiv können in prädikativen Funktionen verwendet werden, aber der Genitiv des Albanischen wird vorwiegend als Attribut nach Substantiven verwendet. Das Genitivattribut „charakterisiert bzw. modifiziert jeweils das Denotat des Kernnomens“ (Buchholz/ Fiedler 1987 : 220 ), und es drückt verschiedene inhaltliche Beziehungen aus. Der Genitiv des Albanischen wird mit dem bestimmten vorangestellten Artikel gebildet: Sheshi i Mbretit ‚Platz des Königs‘ . Bsp.: (1) Kirchenregister (Register der Kirche ) → regjistër i kishës (2) Königsplatz (Platz des Königs ) → Sheshi i Mbretit (3) Wohnungstür (Tür der Wohnung ) → dera e apartamentit (4) Bäckersfrau (Frau des Bäckers ) → gruaja e bukëpjekësit In Beispiel ( 4 ) ist das dt. Kompositum Bäckersfrau im Albanischen mit der Wortgruppe im Genitiv: Simplex + Kompositum im Genitiv übersetzt, weil dem dt. Derivat Bäcker im Alb. das Kompositum bukëpjekës ‚Brot-Bäcker‘ entspricht. (5) erster Sirenenton (Ton der Sirene ) → tingulli i parë i sirenës (6) schmalen Sonnenstrahl (Strahl der Sonne ) → rrezen e hollë të diellit (7) ihr Brustkorb (Korb der Brust ) → kafazi i saj i kraharorit Im Unterschied zum Deutschen werden das attributive Adjektiv sowie das Possessivpronomen im Albanischen dem Bezugsnomen nachgestellt. Substantiv + Adjektiv gilt als Normalstellung. Im Albanischen gilt das Prinzip der Rechtsverzweigung der attributiven Adjektive, wie in Beispielen ( 5 )-( 6 ), wo das attributive <?page no="328"?> Adjektiv (erster, schmalen) in der albanischen Übersetzung zwischen Grundwort und Genitiv steht: tingulli i parë 1 i sirenës 2 ; rrezen e hollë të diellit . Eine sehr kleine Gruppe der genitivischen Wortgruppen des Albanischen entsprechen den dt. Komposita, die sich in die syntaktische Struktur Nomen + Präposition + Nomen auflösen lassen: (8) Wäschetopf (Topf für Wäsche ) → kusia e rrobave (9) Kleiderschrank (Schrank für Kleider ) → dollapi i rrobave (10) eine kleine Glasperle (Perle aus Glas ) → një perlë të vogël të xhamit 3.2 Entsprechungstyp II: dt. Substantivkompositum → alb. Ablativ-Wortgruppe Ablativ-Wortgruppen als Entsprechungen der deutschen Determinativkomposita bilden ebenso eine zahlreiche Gruppe, 28 Belege oder 16 % des gesamten Korpus. Wir gehen davon aus, dass die beste Entsprechung eines deutschen substantivischen Determinativkompositums im Albanischen die Wortgruppe: Substantiv + Substantiv im Ablativ ist. Der Albanologe Cipo ( 1949 : 43 ) behauptet sogar, dass die Wortgruppe Substantiv + Substantiv im Ablativ als ein Kompositum „sui generis“ im Albanischen angesehen werden kann. Der Ablativ im Albanischen kann ein Verb, ein Adjektiv und ein Substantiv näher bestimmen. Neben einem Substantiv wird er vorwiegend ohne Präposition verwendet und hat eine ähnliche Funktion wie der Genitiv. Im Unterschied zum Genitiv ist der Ablativ immer unbestimmt und kann als Attribut nur bei einem unbestimmten Substantiv stehen, andernfalls wird Genitiv verwendet. Folgender Beleg bestätigt die Ähnlichkeit mit dem Genitiv: […] in der Hitze des Sommertages […] → […] në atë vapë vere […]. Die deutsche genitivische Wortgruppe Hitze des Sommertages wurde im Albanischen mit der Ablativ-Wortgruppe vapë vere übersetzt. 1 Eine strukturelle Besonderheit der Adjektive des Albanischen, im Vergleich zum Deutschen, besteht darin, dass eine Reihe von Adjektiven mit vorangestelltem Artikel versehen ist. „Der vorangestellte Artikel bildet einen festen (getrennt geschriebenen) morphologischen Bestandteil dieser Adjektive. Er dient dem Ausdruck der Attributivität“ (Buchholz/ Fiedler 1987 : 316 ). Der Artikel macht eine phonetische Ganzheit mit dem Adjektiv aus und muss in allen Umständen auftreten. i steht bei den Adjektiven, die ein Substantiv im Maskulin bestimmen, und e bei weiblichen Substantiven, z. B. i/ e mirë ‚gut‘, i/ e bukur ‚schön‘, i/ e shkurtër ‚kurz‘ usw. 2 Der vorangestellte Artikel ist auch fester morphologischer Bestandteil des Genitivs im Albanischen. Wie bei den Adjektiven, steht i bei den Substantiven im Genitiv, die ein Substantiv im Maskulin näher bestimmen, und e bei weiblichen Substantiven, sowie të bei Substantiven im Plural. 328 Milote Sadiku & Sadije Rexhepi <?page no="329"?> Deutsche Substantivkomposita und ihre Entsprechungen im Albanischen 329 Laut Agalliu ( 1989 : 134 ) haben der Ablativ und der Genitiv des Albanischen die gleiche syntaktische Funktion, also die der Bestimmung. Trotzdem gibt es zwischen ihnen einen wesentlichen Unterschied in der Bedeutung. Das Substantiv im Ablativ hat normalerweise eine abstrakte Bedeutung und eine ähnliche Funktion wie die des Adjektivs. Bezüglich der Bestimmtheit und der Unbestimmtheit ist der Ablativ von der Bedeutung her unbestimmt und von der Form her indeterminiert, wie drejtor shkolle ‚Schuldirektor‘. Dagegen ist das Substantiv im Genitiv bestimmt, und aufgrund der Bestimmtheit hat es eine konkrete Bedeutung, wie drejtori i shkollës ‚der Schuldirektor‘. In einigen Fällen, wenn der Ablativ einen Stoffnamen bezeichnet, hat er laut Agalliu et al. ( 2002 : 111 ) die Funktion des attributiven Adjektivs und kann mit der Präposition prej ‚aus‘ verwendet werden: raki thane - raki prej thane ‚Kornelkirschen-Schnaps - Schnaps aus Kornelkirschen‘. Das Bestimmungswort im Ablativ steht nach dem Grundwort. (11) Sonnenstrahl (Strahl der Sonne ) → rreze dielli (12) Arbeitskollege ( Kollege der Arbeit) → koleg pune (13) Gänsedaunen (Daunen der Gänse ) → pupla pate (14) Stoffservietten (Servietten aus Stoff ) → pecetë stofi (15) Holzwagen (Wagen aus Holz ) → karro prej druri (16) Kleiderstoffe (Stoffe für Kleider ) → stofe rrobash 3.3 Entsprechungstyp III: dt. Substantivkompositum → alb. adjektivische Wortgruppe 23 deutsche Substantivkomposita werden durch eine adjektivische Wortgruppe ins Albanische übersetzt ( 14 %). Das Bestimmungswort des deutschen Kompositums wird als Adjektiv wiedergegeben, und steht, anders als im Deutschen, nach dem Grundwort, denn wie schon oben erwähnt, ist das Albanische durch die Postdeterminiertheit bestimmt. (17) Schaumkronen (Kronen aus Schaum ) → kreshta shkumake (18) Steinboden (Boden aus Stein ) → dyshemeja e ngurtë (19) (den kleinen) Holzsteg (Steg aus Holz ) → shtegun e vogël të drunjtë (20) Bergdorf (Dorf im Berg ) → fshat malor <?page no="330"?> 3.4 Entsprechungstyp IV: dt. Substantivkompositum → alb. Simplex oder Derivat Eine mit 37 Belegen ( 22 %) ebenfalls reich vertretene Gruppe bilden Übersetzungen des dt. Kompositums durch ein Simplex bzw. Derivat. (21) Haarnadeln (Nadeln für Haare ) → karficat (22) Handtuch (Tuch für Hände ) → peshqir (23) Krankenhaus (Haus für Kranke ) → spital (24) Kopfkissen (Kissen für Kopf ) → jastëk (25) Blechdose (Dose aus Blech ) → teneqe (26) Bockwürstchen ( Würstchen zum Bockbier) → salsiçe Manchmal kommt es vor, dass eine Komponente des dt. Kompositums in der albanischen Übersetzung ausgelassen wird, wie in Beispielen ( 24 )-( 26 ), wo Kopf, Dose, Bock ausgelassen wurden. (27) Glücks gefühl (Gefühl des Glücklichseins ) → gëzim/ lumturi Glücksgefühl wurde in einem Kontext mit dem Simplex gëzim und in einem anderen Kontext mit Derivat lumturi übersetzt; beide übersetzten Wörter beziehen sich auf das Bestimmungswort Glück . (28) Meerjungfrau ( Jungfrau des Meeres ) → sirenë Das deutsche Kompositum Meerjungfrau besitzt im Albanischen keine einheimische Entsprechung, deswegen bedient sich das Albanische des Lehnwortes sirenë. (29) Milchladen (Laden, in dem Milch verkauft wird) → bulmetoren 3.5 Entsprechungstyp V: dt. Substantivkompositum → alb. Substantivkompositum Eine kleine Gruppe in unserem Korpus, mit insgesamt 5 Belegen, bilden deutsche Substantivkomposita, die im Albanischen durch Komposita übersetzt wurden: 330 Milote Sadiku & Sadije Rexhepi <?page no="331"?> Deutsche Substantivkomposita und ihre Entsprechungen im Albanischen 331 (30) Fischfrauen (Frauen, die Fisch verkaufen) → peshk shitëset (wörtl. Fisch+Verkäuferinnen) (31) Hutmacher (Macher des Huts) → kapele bërës Im Beispiel ( 31 ) haben wir eine 1 : 1 -Entsprechung sowohl in der Komponentenzahl, als auch in der Reihenfolge des Bestimmungswortes. (32) Kopfschütteln (Schütteln des Kopfes) → kokë tundje Auch im Beispiel ( 32 ) haben wir eine 1 : 1 -Entsprechung zwischen dem dt. und alb. Kompositum. Die Übersetzerin hat hier aber eine Lehnübersetzung des dt. Kopfschütteln verwendet, denn diese Bildung ist im Albanischen nicht üblich. (33) Wochenende (Ende der Woche) → fund javë Das dt. Kompositum Wochenende wurde mit einem Kompositum im Albanischen übersetzt, nur wird die Übersetzung von rechts nach links gemacht. Die erste Konstituente des albanischen Kompositums ist das Grundwort und die rechte das Bestimmungswort: fund javë → fundi i javës ‚Ende der Woche‘. 3.6 Entsprechungstyp VI: dt. Substantivkompositum → alb. präpositionale Wortgruppe Der semantischen Beziehung zwischen dem Bezugswort und Grundwort einiger Substantivkomposita entspricht im Albanischen die Struktur Grundwort + Präposition + Bestimmungswort. Dieser Entsprechungstyp ist in unserem Korpus ebenso mit nur 5 Belegen vertreten: (34) Zeitungskiosk (Kiosk, wo Zeitungen verkauft werden) → Kioskë me gazeta ‚Kiosk mit Zeitungen‘ (35) ganze Zahlenkolonnen (Kolonnen mit Zahlen) → Kolona të tëra me shifra (wörtl. Kolonen + ganze + mit Zahlen) 4 Zusammenfassung Sowohl im Deutschen als auch im Albanischen existieren alle Kompositionstypen, wie Kopulativ-, Determinativkomposita, Possessivkomposita. Im Deutschen sind determinative Substantiv-Substantiv-Komposita am produktivsten. Bei der Kombination von zwei Substantiven in einem Kompositum scheint es <?page no="332"?> „kaum semantische Beschränkungen zu geben“ (Fleischer/ Barz 2012 : 148 ). Da die Zahl der Substantiv-Substantiv-Komposita im Albanischen gering ist, entsprechen den deutschen substantivischen Determinativkomposita selten albanische Komposita. Das Hauptziel der vorliegenden Arbeit bestand darin, die albanischen Entsprechungen der deutschen Determinativkomposita zu ermitteln. In der folgenden Übersicht werden die Ergebnisse der quantitativen Auswertung für die albanischen Übersetzungsentsprechungen der deutschen Nominalkomposita tabellarisch dargestellt: Entsprechungstyp Anzahl der Belege % Wortgruppe im Genitiv 72 42 Ablativ-Wortgruppe 28 16 Adjektivische Wortgruppe 23 14 Simplex/ Derivat 37 22 Kompositum 5 3 Präpositionale Wortgruppe 5 3 Σ 170 100 Tabelle 1 Quantitative Auswertung für die albanischen Übersetzungsentsprechungen der deutschen Nominalkomposita. Wie aus der Übersicht zu entnehmen ist, nur 3 % der untersuchten deutschen substantivischen Determinativkomposita wurden im Albanischen mit einem Kompositum übersetzt. Deutsche Substantivkomposita werden bei der albanischen Übersetzung entweder durch eine nominale Wortgruppe wiedergegeben oder durch ein Syntagma: z. B. Notbremse (S. 25 ) wird paraphrasiert als ‚frenin për rast rreziku ‘ (S. 21 ) (wörtl.*die Bremse für Fall-Gefahr), wobei die elegante Bildung des Deutschen verloren geht. Wir vertreten die Meinung, dass die beste Entsprechung eines deutschen substantivischen Determinativkompositums die Wortgruppe Substantiv + Substantiv im Ablativ ist: Sonnenstrahl (S. 9 ) → rreze dielli (S. 9 ), Arbeitskollegen (S. 11 ) → koleg pune (S. 10 ). Der Albanologe Cipo ( 1949 ) betrachtet sogar die albanische Wortgruppe mit dem Nomen im Ablativ als ein Kompositum, wie z. B. gur kufiri ‚Grenzstein‘, bukë gruri ‚Weizenbrot‘, vaj ullish ‚Olivenöl‘, ve pate ‚Enteneier‘. 332 Milote Sadiku & Sadije Rexhepi <?page no="333"?> Deutsche Substantivkomposita und ihre Entsprechungen im Albanischen 333 Literatur Agalliu, Fatmir et al. (2002): Gramatika e gjuhës shqipe I. Tiranë: ASHSH . Agalliu, Fatmir (1989): „Rrjedhorja si një rasë me vlerë jo të plotë në gjuhën shqipe.“ Studime Filologjike . Nr. 3. Tiranë: ASH e RPSSH : 125-141. Cipo, Kristaq (1949): Gramatika shqipe . Tiranë. Donalies, Elke (2007): Basiswissen Deutsche Wortbildung . Tübingen: Francke. Eichinger, Ludwig M. 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Prof. Dr. Korakoch Attaviriyanupap Silpakorn University Department of German Faculty of Arts 6 Ratchamankhla Nai Nakhon Pathom 73 000 Thailand korakocha@yahoo.com Malte Battefeld Universität Gent Fachgruppe Sprachwissenschaft Institut für deutsche Sprache und Literatur Blandijnberg 2 BE - 9000 Gent Belgien malte.battefeld@ugent.be http: / / research.flw.ugent.be/ nl/ malte.battefeld Maike Edelhoff Universität Luxemburg Institut für luxemburgische Sprach- und Literaturwissenschaft Maison des Sciences Humaines 11 , Porte des Sciences L- 4366 Esch-Belval maike.edelhoff@uni.lu Dr. This Fetzer Schweizerisches Idiotikon Schweizerdeutsches Wörterbuch Auf der Mauer 5 Ch- 8001 Zürich this.fetzer@idiotikon.ch http: / / www.idiotikon.ch/ redaktion/ mitarbeitende/ fetzer David Gerhardt, M. A. Redaktion „Linguistik Online“ Universität Bern Institut für Germanistik Unitobler Länggass-Strasse 49 CH - 3012 Bern Dr. phil. Vjosa Hamiti Universität Prishtina Philologische Fakultät Abteilung für deutsche Sprache und Literatur Rr. Nena Tereze, p.n. 10 000 Prishtine, Kosova vjosa.hamiti@uni-pr.edu Dr. Roland Hofer Universität Bern Institut für Germanistik Forschungsstelle für Namenkunde Ortsnamenbuch des Kantons Bern Länggass-Strasse 49 Postfach CH - 3000 Bern 9 <?page no="335"?> Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 335 roland.hofer@germ.unibe.ch http: / / www.germanistik.unibe.ch/ personen/ roland_hofer/ Jan-Henning Kromminga, M. A. Universität Bern Institut für Germanistik Länggassstrasse 49 Postfach 999 CH - 3000 Bern 9 jan-henning.kromminga@germ. unibe.ch www.germanistik.unibe.ch/ ueber_ uns/ personen/ ma_kromminga_ jan_henning/ index_ger.html Prof. Dr. Torsten Leuschner Universität Gent Fachgruppe Sprachwissenschaft Institut für deutsche Sprache und Literatur Blandijnberg 2 BE - 9000 Gent Torsten.Leuschner@ UG ent.be http: / / research.flw.ugent.be/ nl/ torsten.leuschner Prof. Dr. Rosemarie Lühr Humboldt-Universität zu Berlin Institut für deutsche Sprache und Linguistik Hegelplatz 2 D- 10 099 Berlin rosemarie.luehr@hu-berlin.de http: / / dwee.eu/ Rosemarie_Luehr Grit Nickel, M. A. Universität Erlangen-Nürnberg Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft Bismarckstraße 6 91 054 Erlangen grit.nickel@fau.de http: / / www.sprachwissenschaft. uni-erlangen.de/ personen/ daten/ index.shtml/ grit-nickel.shtml PD Dr. Peter Öhl Ruhr-Universität Bochum Germanistisches Institut | Linguistik Universitätsstraße 150 D- 44 801 Bochum oehl@gesus-info.de http: / / oehl.gesus-info.de/ Nicolaus Janos Raag Uppsala universitet Institutionen för moderna språk Box 636 SE - 751 26 Uppsala Nicolaus.Raag@moderna.uu.se Gudrun Rawoens Lieven de Winnestraat 34 9000 Gent gsm: 0485 - 39 . 63 . 65 Belgien Dr. Sadije Rexhepi Universität Prishtina Philologische Fakultät Abteilung für deutsche Sprache und Literatur Rr. Nena Tereze, p.n. 10 000 Prishtine, Kosova sadije.rexhepi@uni-pr.edu <?page no="336"?> 336 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dr. Milote Sadiku Universität Prishtina Philologische Fakultät Abteilung für deutsche Sprache und Literatur Rr. Nena Tereze, p.n. 10 000 Prishtine, Kosova <?page no="337"?> Stichwortverzeichnis 337 Stichwortverzeichnis Ableitung (siehe auch Derivation) 80, 82, 100, 105, 113 f., 119, 128, 131, 139, 317 Abschwächung 250 f., 262 Abstraktum 105, 111-126, 129, 131, 223 Adjektiv 249 Adjektiv, unflektiertes 290, 300 Affix 82, 206 f., 295 f., 311 Affixoid 281 f., 294 f., 298 agglutinierend 247 Akronym 40-45, 47, 49-58 Albanisch 309-318, 321, 323-332 Althochdeutsch 90 f., 100, 103, 105 f. Ambiguität 287, 298, 300 Apokopierung 237, 240 AQ** 40, 54 Aspektualität 263 Augmentation 281, 294 Äußerungen, satzäquivalente 248 Basis 247 Basismorphem 249 Debonding 285, 300 f., 303 Derivation 78, 90, 100, 222, 272, 295 f., 310, 312, 321, 324 Deutsch 12, 17, 19 f., 24 f., 35, 37, 54, 60, 62, 66, 69, 89 f., 94, 103, 111, 116, 122-125, 142, 167 f., 171, 174, 178 f., 191-194, 197 f., 200, 202-208, 215, 217-222, 224, 229, 280, 282-285, 288 f., 291 f., 294, 296, 300-306, 310 ff., 314-318, 321, 324-329, 331 f. Diminution 262 Diminutiv 35, 191-198, 200-210, 238 f. Diminutivsuffix 31 ff., 199, 237 f. Distribution 251, 259 empathisch 248 Entlehnung 30 f., 139, 284, 289, 303 Entlehnung von Wortbildungsmustern 31 Entsprechung 62, 79, 120, 139, 283, 294, 304, 315, 323, 326, 328, 330 ff. etymologisch 60, 62, 139, 145, 167 f. Expressivität 266 Extra-Intensivierung 251 fahren 284, 297, 309-313, 317-321 Flurname 30 ff., 35, 145, 166, 168, 171 f., 174, 176-180 Flurnamentyp 167, 171, 173 ff., 177-181 Fugenelement 24, 114, 123, 206 f., 214-221, 223 ff., 227 f., 235, 240 Fügung 112, 115 f., 120, 126, 131, 138, 140 f., 143, 145 f., 149, 156 f., 162, 312 Funktionen 248 Gerundium 19 f. Gerundiv 21 Infinitiv 11-14, 16 f., 19 ff., 23 ff., 62, 71, 74 f., 78, 81 ff., 111 ff., 115-126, 129, 131 Intensivierung 250 f., 261 isolierend 247 Iteration 251 Iterativ 264 Kategorienwechsel 293, 299, 303 ff. Kindersprache 249 Komposition 12, 80 ff., 90, 92, 95, 100, 145, 151, 157, 217, 219, 223, 227, 271, 295 f., 310, 316, 321, 323 f. Kompositionsstammform 123, 216-219, 223-237, 239 f. <?page no="338"?> 338 Stichwortverzeichnis Kompositum 24, 44, 55, 80 ff., 90, 92, 94 ff., 98-104, 106 f., 112, 114 f., 119-124, 137-144, 146, 148 f., 151- 154, 156, 159, 161 f., 167, 171-174, 178 f., 202, 215, 217, 219-223, 226 f., 229 ff., 233 ff., 237 ff., 281, 283, 286 ff., 290-293, 296-300, 302, 304 f., 316, 324-332 Kompositum, komplexes 138, 150, 152, 156 Konfix 281 f., 295 Konstruktionsmorphologie 280, 282, 295 ff. Konverb 20-25 Konxif 81, 293 f., 315 Konzeptualisierung 42, 46, 50, 55, 131 Kopie 247 Korpusuntersuchung 237, 240 Kurzwort 41-47, 49, 54 ff. Landwirtschaft 168 ff. lautmalerisch 252 Lehnpräfix 281, 283, 285, 290, 293 Lehnsuffix 29 f. Lehnübersetzung 90 f., 285, 331 Lehnwort 29, 90 f., 139, 168, 173, 283 f., 305, 330 -lich 275 Linksköpfigkeit 149, 154, 163, 325 Luxemburgisch 191 ff., 201, 203 ff., 207 ff. mentales Lexikon 42, 158, 296 Metapher 46, 50 f., 55, 92, 99, 101 Modalität 266 Moselfränkisch 193, 199 f., 202 ff., 208 Nennungshäufigkeit 168 Niederdeutsch 283, 285 f. Niederländisch 282 f., 289, 301-305 Nominalisierung 60 ff., 70, 74 f., 79, 81 ff., 116 f., 125 Notker III. von St. Gallen 89-94, 98-106 Onomatopoetika 252 onymisch 44, 140, 158 Onymisierung 158 Organisation 49-52, 54, 56 Organisationsakronym 56 ff. Ostfränkisch 214 f., 223, 227, 230, 237 Partikelverb 60, 63, 74 f., 77, 82 f., 312 ff., 317 f. Plural 138, 191-210, 239, 251, 328 Pluralisierung 259 Polysemie 295 Postdetermination 149 f., 325 Präfigierung 71, 73, 312 Präfix 62 f., 142, 222, 235, 237, 240, 281, 295, 305, 310, 312 ff., 317 f., 321 Präfixoid 115, 281, 294, 297 pragmatisch 248 Rechtserweiterung 155, 163, 310, 321 rechtsverzweigt 148 Reduplikation 247 ff. complex reduplication 250 emphatic reduplication 250 evocative reduplication 250 negative reduplication 250 semantic reduplication 250 simple reduplication 250 totale und partielle 247 Totalreduplikation 249 f. Reduplikationstypen 247 Reduzierung 262 Referenz 19, 42, 44 f., 48 f., 90, 99, 102, 104, 106, 176 Reimbildung 249 Repetitionen 248 Schema 288, 290, 297 ff. Schematizität 295, 300 Schwedisch 282 f., 289, 301, 304 f. Schweizerdeutsch 29, 31, 139 f., 215 Selbstkomposita 249 <?page no="339"?> Stichwortverzeichnis 339 Siedlungsnamengrundwort 138, 145 Silbenkontakt 35 f. Silbenstruktur 29, 32 f., 35, 204, 208, 221, 235 Simplex 72 f., 79, 82, 105 f., 122, 148, 151, 157, 327, 330, 332 Simplizia 224 f., 228, 233 Sprachkontakt 29, 31 f. Sprachvergleich 21, 282, 297, 301 Standarddeutsch 32, 72, 137, 199 f., 205, 223 Strukturwandel 169 f. Substantiv 249 Substantivierung 15, 21, 24, 112 f., 115 f., 120-126, 129, 131 f., 172 Substantivkomposition 92, 94 Suffixbildung 29 syntaktisch komplexes Prädikat 62 Syntax 60, 111 synthetisch 247 Terrorismus 41 f., 46, 51, 55 textlinguistisch 248 Thailändisch 248 Tonwechsel 250 Topofix 155 Toponomastik 137, 141, 155 toponomastisch 141 f. Toponymizität 138, 157 f. Transposition 257 trennbar 60, 309 ff., 313, 317 f., 321 Türkisch 11, 22 f., 25 Umgangssprache 249 untrennbar 309 f., 312 f., 315, 317 f., 321 Verb 13, 15, 17-21, 24 f., 61, 67, 69 f., 73, 112 ff., 116-119, 123, 126 ff., 131, 172, 284, 297, 310-317, 321, 328 Verbpartikel 62, 66, 69 f., 310, 313, 317, 321 Verfugungsvarianz 227 Vokalkürzung 250 Wissensvermittlung 89, 94, 96-99, 107 Wortakzent 62, 80, 137, 141 Wortbildung 11 ff., 17 ff., 29, 40 f., 61, 90, 92, 96, 111, 123, 282, 305, 310 f., 321, 323 Wortbildungselement 281 ff., 293 ff. Wortbildungsmuster 29, 31, 92, 115, 131, 223, 237, 323 Wortbildungsprodukt 94 Wortbildungsverfahren, universelle 247 Wortdoppelung 250 Zusammensetzung (siehe auch Kompositum) 24, 80, 82, 95 f., 99-104, 106, 138, 140, 142, 148 f., 152, 156, 159, 171 ff., 178 f., 202, 215, 217, 219, 221 ff., 234, 281, 291 f., 294, 297, 300, 302, 310, 317, 321, 324-332 <?page no="340"?> Wortbildung im Deutschen Hentschel (Hrsg.) Wortbildung im Deutschen Elke Hentschel (Hrsg.) Dieser Sammelband gibt einen Überblick über den Stand der Forschung zur deutschen Wortbildung und damit über einen Aspekt der deutschen Grammatik, der in letzter Zeit eher wenig Beachtung gefunden hat. Der Blick auf den Gegenstand erfolgt dabei aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: So finden darin Beiträge zum aktuellen Sprachgebrauch, zum historischen wie zum synchronen Sprachwandel, zum Sprachkontakt und Sprachvergleich mit indoeuropäischen wie nichtindoeuropäischen Sprachen, und auch dialektologische Fragestellungen sowie Untersuchungen zur Rolle der Wortbildung im Bereich der Toponomastik ihren Platz. Die Berücksichtigung dieser höchst unterschiedlichen Gesichtspunkte führt insgesamt zu einem umfassenden Blick auf das Phänomen. ISBN 978-3-8233-8019-1 Aktuelle Perspektiven