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Übersetzen aus dem Lateinischen als Forschungsfeld

Aufgaben, Fragen, Konzepte

0511
2020
978-3-8233-9287-3
978-3-8233-8287-4
Gunter Narr Verlag 
Stefan Freund
Nina Mindt
10.2357/9783823392873
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Das Übersetzen aus dem Lateinischen ist wichtigster Lehr- und Prüfungsgegenstand, und zwar überall dort, wo diese Sprache vermittelt wird. Auch kommt dem Übersetzen aus dem Lateinischen in der Wissenschaft eine immer größere Bedeutung zu: Überhaupt kann nur bei wenigen die Fähigkeit vorausgesetzt werden, das Lateinische flüssig zu lesen. Und vor allem lateinische Quellentexte aus Antike, Mittelalter und Neuzeit werden überwiegend in übersetzter Form rezipiert. Trotz dieser enormen und immer weiter wachsenden Bedeutung der Übersetzung aus dem Lateinischen fehlen moderne translationswissenschaftliche Ansätze für diese Sprache. Der vorliegende Sammelband versucht, dieses Terrain aus unterschiedlichen Richtungen zu erschließen: Zunächst werden translationswissenschaftliche Grundsatzfragen gestellt, dann folgen exemplarische sprach- und literaturwissenschaftliche Annäherungen zu Einzelfragen und didaktische Überlegungen, am Ende stehen übersetzungspraktische Erwägungen über Prosa- und Dichtungstexte sowie zweisprachige Ausgaben.

<?page no="1"?> Übersetzen aus dem Lateinischen als Forschungsfeld <?page no="3"?> Stefan Freund / Nina Mindt (Hrsg.) Übersetzen aus dem Lateinischen als Forschungsfeld Aufgaben, Fragen, Konzepte <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Fotografie des Ponte d’Augusto, Narni © 2018, Gerhard Menzel Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.2357/ 9783823392873 © 2020 · Stefan Freund / Nina Mindt Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https: / / creativecommons.org/ licenses/ by-sa/ 4.0/ ) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/ den ursprünglichen Autor/ innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-8233-8287-4 (Print) ISBN 978-3-8233-9287-3 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0211-7 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Prof. Dr. Stefan Freund Bergische Universität Wuppertal Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften Klassische Philologie Gaußstr. 20 D-42119 Wuppertal https: / / orcid.org/ 0000-0002-2335-4368 PD Dr. Nina Mindt Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät II Institut für Klassische Philologie Unter den Linden 6 D-10099 Berlin https: / / orcid.org/ 000-0002-9765-6908 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung. Übersetzen aus dem Lateinischen als Forschungsfeld - auf dem Weg zu einer lateinischen Translatologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Teil 1: Translationswissenschaftliche Perspektiven Nina Mindt Translation (history) studies: ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive. Standortbestimmung und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Carsten Sinner Ein translatologischer Blick auf die theoretische Auseinandersetzung mit der Übersetzung aus dem Lateinischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Teil 2: Sprach- und literaturwissenschaftliche Perspektiven Alexander Arweiler Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache. Über das Ende der Wörtlichkeit und den Anfang der Sprachreflexion im Hilfsbüchlein des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Roland Hoffmann Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Bianca Liebermann Schnittstellen zwischen Systemlinguistik und Translatologie . . . . . . . . . 175 Bardo Maria Gauly Interkultureller Transfer. Zur Übersetzung spätantiker Texte . . . . . . . . . 189 Stefan Freund Ist Noahs Arche eine Kiste? Zu den Herausforderungen bei der Übersetzung christlicher lateinischer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 <?page no="6"?> 6 Inhaltsverzeichnis Teil 3: Didaktische, schul- und lehrerbildungspraktische Perspektiven Peter Kuhlmann Is’ doch Latein - das klingt eben komisch. Übersetzung aus dem Lateinischen als sprachwissenschaftliches, literaturwissenschaftliches und didaktisches Aufgabenfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Monika Vogel Übersetzungen im digitalen Austausch. Das Internet als Übersetzungsplattform und Reflexionsanlass für den Lateinunterricht . . . . . . . . . . . . 235 Ulf Hamacher „Das Studium erfreut nicht immer.“ Ein Diskurs über Sinn und Zweck von Übersetzungen im Kontext Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Jens Heße Non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu. Leid und Lust des Übersetzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Teil 4: Ü̈bersetzungspraktische Perspektiven Kai Brodersen Glasschrank und Nähkästchen. Übersetzungen aus dem Lateinischen auf dem deutschen Buchmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Niklas Holzberg Schwiegersohn statt Eidam. Metrisches Übersetzen lateinischer Texte zwischen Voß und heutigem Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 <?page no="7"?> Vorwort 7 Vorwort Das vorliegende Buch geht im Wesentlichen auf den Workshop „Übersetzen aus dem Lateinischen. Fragen, Aufgaben, Konzepte“ zurück, der am 29. Juni 2018 an der Bergischen Universität Wuppertal stattfand. Den Impuls für die Veranstaltung und ihre Publikation gab die Fach-Arbeitsgruppe Latein für das Praxissemester. Denn dort stellte sich in den Gesprächen zwischen Vertreterinnen und Vertretern aus Schule und Universität insbesondere ein fachliches Desiderat für die Lehrerbildung heraus, nämlich wissenschaftlich fundiert über das Übersetzen zu reflektieren. Diesem Punkt entspricht eine Leerstelle in der Forschung: Es gibt keine Translatologie in der Klassischen Philologie, allein die Fachdidaktik diskutiert Methodik und geeignete Formen unterrichtlichen Übersetzens. Hier setzen der Workshop und die daraus hervorgegangene Publikation an. Im vorliegenden Buch sollen Sondierungen aus unterschiedlichen Richtungen das Übersetzen aus dem Lateinischen als Forschungsfeld erschließen, nämlich ausgehend von der Translationswissenschaft, von der Sprach- und Literaturwissenschaft, von der Didaktik, des schulisch- und lehrbildungspraktischen Kontextes sowie von der Übersetzungspraxis. Am Anfang des Buches steht eine thematische Einleitung von Nina Mindt: „Übersetzen aus dem Lateinischen als Forschungsfeld - auf dem Weg zu einer lateinischen Translatologie? “. Dieser einführende Beitrag stellt die Notwendigkeit heraus, das Forschungsfeld ‚Übersetzen aus dem Lateinischen‘ zu etablieren und dabei möglichst viele an diesem Vorgang beteiligte Teildisziplinen und Perspektiven zu berücksichtigen. Der aktuelle Forschungsstand wird skizziert, der aufzeigt, auf welchen Gebieten die größten Desiderate vorliegen und welche Wege einzuschlagen wären, um eine lateinische Translatologie zu erstellen. Den ersten thematischen Block bilden die translationswissenschaftlichen Perspektiven. Hier nähert sich zunächst wiederum Nina Mindt unter dem Titel „Translation (history) studies: ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive. Standortbestimmung und Konsequenzen“ dem Thema aus diachroner Perspektive an. Der Beitrag gibt einerseits einen Überblick über Reflexionen, die im Kontext des Übersetzens antiker Texte entstanden sind (von Schleiermacher, Humboldt, Wilamowitz-Moellendorff, Schadewaldt und Fuhrmann), und bietet so einen Einblick in die disziplinäre Übersetzungstheoriegeschichte. Er zeigt andererseits Ansätze und Ergebnisse auf, die aus historisch-deskriptiven Untersuchungen zum Übersetzen aus dem <?page no="8"?> 8 Vorwort Lateinischen gewonnen werden können. Darauf folgt eine grundsätzliche Positionsbestimmung von Carsten Sinner („Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen und die theoretische Auseinandersetzung mit der Übersetzung aus dem Lateinischen“). Der Translatologe versucht eine Systematisierung der Auseinandersetzungen mit der Übersetzung aus dem Lateinischen aus translatologischer Perspektive. Im Mittelpunkt stehen die Analyse der im Zusammenhang mit der Übersetzung aus dem Lateinischen untersuchten Aspekte, die Identifizierung der vorherrschenden Erkenntnisinteressen bei der Auseinandersetzung mit Übersetzungen aus dem Lateinischen, die Analyse der Frage, warum in der Auseinandersetzung manche Strömungen der modernen Translatologie nicht oder nur ausnahmsweise aufgegriffen wurden, sowie die Frage nach dem Verständnis von Übersetzung. Betrachtet wird in diesem Zusammenhang auch, warum bislang der Übersetzung ins Lateinische praktisch keine Aufmerksamkeit zugekommen ist. Ein solcher außerdisziplinäre Blick auf den Umgang mit dem Übersetzen innerhalb der Latinistik macht deutlich, in welche Richtungen zukünftig vertiefter gearbeitet werden sollte. Danach folgen die Beiträge aus der Klassischen Philologie selbst: In einem zweiten Block sind sprach- und literaturwissenschaftliche Perspektiven zusammengestellt. Beide umfassend führt Alexander Arweiler in seinem eigens für die Publikationsfassung erstellten Beitrag „Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache - Über das Ende der Wörtlichkeit und den Anfang der Reflexion im Hilfsbüchlein des 19. Jahrhunderts“ metasprachliche, philologiehistorische und sprachsystematische Aspekte zusammen: Die Untersuchung der bestehenden Beschreibungssprache, also derjenigen Ausdrücke, Bezeichnungen und Wortfelder, die verwendet werden, um über einen jeweiligen Gegenstand, in diesem Fall das Übersetzen aus dem Lateinischen, seine Regeln und Ziele, zu sprechen, zeigt ein Defizit der Lateinischen Philologie auf diesem Gebiet. Am Gebrauch der Bezeichnungen „hier“, „eigentlich“, „wörtlich“, „textnah“ und der Opposition „frei“ versus „treu“ (mit ihren Äquivalenten) ergibt sich, dass die meisten Aussagen, die mit diesen und vergleichbaren Bezeichnungen hantieren, zu wenig differenziert und zu unklar sind, um zur Formulierung sinnvoller Sätze über das Übersetzen zu führen. Im Gegenteil: Gerade dann, wenn Übersetzungen aus dem Lateinischen als „wörtlich“, „textnah“ und „treu gegenüber dem Original“ bezeichnet werden, sind sie nicht selten am weitesten von eben diesem Original entfernt. Übersetzen aus dem Lateinischen ist, so Arweiler, nicht weniger aporetisch als das Übersetzen aus anderen Sprachen. Verstöße gegen die Syntax der Zielsprache, gegen deren Idiomatik oder Konstruktionsweisen sind weder notwendig noch ein geeignetes Mittel, den ‚Geist‘ oder ‚das Fremde‘ eines lateinischen Textes erfahrbar zu machen. Um das Forschungsfeld auf dem Weg <?page no="9"?> Vorwort 9 der Revision der Beschreibungssprache und einer intensiveren Beachtung der Fachgeschichte weiter zu umreißen, zeigt er, welches Potential das bereits vorhandene Instrumentarium besitzt, beginnend mit wertvollen Beobachtungen aus dem 19. Jahrhundert, und wie das von ihm vorgeschlagene dreigliedrige Modell der Relationen zwischen beteiligten Sprachen und Aussage des Originaltextes sich als hilfreich erweisen könnte. Roland Hoffmann stellt seinen Beitrag unter die Überschrift „Der Vorgang des Übersetzens aus dem Lateinischen aus der Perspektive heutiger linguistischer Theorien“: Übersetzen gehört, so Hoffmann, zum unverzichtbaren Alltagsgeschäft der Latinistik hinzu, wird jedoch kaum reflektiert. Da der Übersetzungsvorgang zwei unterschiedliche Sprachsysteme betrifft, liegt es nahe, auch die Linguistik in eine Wissenschaft der Übersetzung miteinzubeziehen, wie dies in der Frühphase der Übersetzungswissenschaft, etwa in J.C. Catfords Buch von 1965, nachdrücklich geschah. Die großen systemlinguistischen Entwürfe zur Syntax eines Noam Chomsky oder Simon C. Dik und die Forschung in der heutigen syntaktischen Sprachtypologie zeigen aber wenig Interesse an der Übersetzung und scheinen deren Theorie und Praxis der kontrastiven und der Textlinguistik zu überlassen. Dennoch kann die heutige Linguistik als Solo- oder Begleitinstrument im vielstimmigen Orchester der Translationswissenschaft einen nicht unwesentlichen Part spielen. Dies wird an drei zentralen linguistischen Bereichen aufgezeigt: in der Syntax an den sogenannten ab urbe condita-Konstruktionen, in der Semantik an den evaluativen Satzadverbialien und der Ambivalenz unterschiedlicher Kasusrollen, in der Pragmatik schließlich an der Verwendung von Konjunktionen als Diskurspartikeln und an der Fokus-markierten lateinischen Wortstellung. Die Linguistik ist und bleibt so eine wichtige Bezugswissenschaft, in der optimale Übersetzungen im syntaktischen, semantischen und pragmatischen Bereich zu finden, zu begründen und gegenüber anderen Lösungen zu bewerten sind. Ebenfalls sprachwissenschaftlich orientiert sind die Überlegungen von Bianca Liebermann („Schnittstellen zwischen Systemlinguistik und Translatologie - Problemorientierte Beispielanalyse“): Die Einteilung der Grammatik nach Subsystemen (Verbalsystem, Präpositionalsystem, Pronominalsystem etc.) und die funktionale Abgrenzung der einzelnen Elemente untereinander bergen in sich die Möglichkeit, semantische Konzepte einzelner Morpheme klarer zu erkennen (z. B. Perfektmorphem vs. Imperfektmorphem, ad vs. apud, (ali)quis vs. unus etc.). Durch Oppositionsbildung innerhalb eines Sprachsystems wird die verbreitete Methode, ein Morphem in der Ausgangssprache in Opposition zu einem Morphem in der Zielsprache zu setzen und es so zu definieren, relativiert. Denn diese Methode ist als alleinige Methode unbefriedigend, da die Differenzqualität der Morpheme häufig diffus bleibt. Die Unklarheit der gedanklichen Konzepte, <?page no="10"?> die mit einem Morphem verknüpft sind, und der daraus resultierende Mangel an Präzision machen eine Übersetzung nicht selten zu einem inkohärenten Text. Liebermann zeigt auf, dass durch den geschärften Blick auf solche linguistischen Phänomene die Genauigkeit und die Richtigkeit der Übersetzung profitieren. Eine literaturwissenschaftliche Annäherung bietet Bardo Gauly unter dem Titel „Interkultureller Transfer? Zur Übersetzung spätantiker Texte“: Die Übersetzung spätantiker Texte ist mit spezifischen Problemen verbunden, etwa dem nicht immer rekonstruierbaren Kommunikationszusammenhang, in dem die Texte stehen (Briefcorpora, Schulunterricht, Intertextualität), der mitunter bis zur Dunkelheit schwierigen Sprache oder den Komplikationen, die sich ergeben, wenn die übersetzten Texte selbst Übersetzungen sind. Zu diesen den Ausgangstexten immanenten Problemen kommt die allenfalls bedingte Vertrautheit des modernen Lesers mit der ihm weitgehend fremden Kultur der Spätantike. Wie weit können durch die Übersetzung zugleich Informationen über die Voraussetzungen des übersetzten Textes vermittelt werden? Muss sich die Übersetzung auf den Anspruch beschränken, den Leser über die Inhalte der Texte, d. h. die Kultur der Zeit, in Kenntnis zu setzen oder lässt sich etwas von der ästhetischen Gestalt des Ausgangstextes bewahren? Der Beitrag diskutiert solche Probleme aus der Praxis des Herausgebers einer Sammlung von Übersetzungen, der zum einen Übersetzern präskriptiv Übersetzungsmodelle oder -verfahren an die Hand geben will, zum anderen eingereichte Übersetzungen zu bewerten und zu redigieren hat. Mit der christlichen Latinität setzt sich Stefan Freund in seinem Beitrag „Ist Noahs Arche eine Kiste? Zu den Herausforderungen bei der Übersetzung christlicher lateinischer Texte“ auseinander: Einen ersten Problemkreis stellt die Terminologie dar. Zwar gibt es Fälle, in denen sich Äquivalente finden lassen, die einen ähnlichen Grad an christlicher Denotation aufweisen (z. B. resurrectio und Auferstehung), in anderen Fällen muss sich, wer übersetzt, für einen christlichen Begriff (Bibel, Sakrament, Bischof, Arche) entscheiden, obwohl das Lateinische (divinae litterae, sacramentum, antistes, arca) weniger eindeutig terminologisch ist und ein nicht-christliches Verständnis (göttliche Schriften, Geheimnis oder Treueeid, Kultvorsteher, Kiste) offenlässt. Eine zweite Herausforderung für eine Übersetzung besteht in der Präsenz der Bibel: Zitate lateinischer Bibelübersetzungen stellen aufgrund deren oft unidiomatischer Wiedergabeweise einen für ein antikes Publikum spürbaren Bruch dar, der beim Übersetzen ins Deutsche höchstens punktuell durch bewusste Anstöße nachgeahmt werden kann. Auch ergeben sich durch Rekurse auf Bibeltexte, die der christliche Leser bemerkt, die dem paganen Leser aber auch ohne Erkennen der Vorlage verständlich erscheinen, Stellen mit doppelter Lesbarkeit, die ebenfalls in einer Übersetzung schwierig herstellbar sind. Die Folgerung daraus muss die klare Unterscheidung 10 Vorwort <?page no="11"?> Vorwort 11 zwischen dokumentarischen Übersetzungen zur Erschließung des Originaltextes mit seinen Facetten und makrotextuell verstehbaren, in Bezug auf den Inhalt wirkungsäquivalenten Leseübersetzungen sein. Der dritte Block nimmt die didaktische Perspektive ein, wobei universitäre Fachdidaktik sowie schul- und lehrerbildungspraktische Perspektiven berücksichtigt werden. Peter Kuhlmann fasst in seinem Beitrag „Is’ doch Latein - das klingt eben komisch: Übersetzung aus dem Lateinischen als sprachwissenschaftliches, literaturwissenschaftliches und didaktisches Aufgabenfeld“ mehrere Perspektiven zusammen: In der Klassischen Philologie hat man sich seit dem Beginn des 19. Jahrhundert vielfach theoretisch mit der Frage des Übersetzens beschäftigt. Dabei spielte besonders die Opposition zwischen zwei Übersetzungsgrundsätzen eine zentrale Rolle: Es gab Forderungen nach einem (eher „wörtlichen“) Übersetzen, das den Rezipienten in das antike Denken versetzen sollte; umgesetzt ist dieses Prinzip etwa in Schleiermachers Platon- oder Schadewaldts Ilias- Übersetzung. Daneben gab und gibt es das Prinzip eines (eher „freien“) Übersetzens, das die Antike in die Gegenwart überträgt und den Rezipienten den Übersetzungscharakter eines Textes vergessen lässt. Später wurden die Übersetzungsprinzipien nach den Grundsätzen der Skopos- und Äquivalenztheorie ausdifferenziert, die in der Klassischen Philologie nur wenig rezipiert wurde, aber neuerdings in den Schulcurricula und der Fachdidaktik eine gewisse Rolle zu spielen beginnt. Der Beitrag stellt Beispiele für die curriculare Umsetzung sowie die praktischen Möglichkeiten und Grenzen einer Anwendung moderner Übersetzungstheorien in den Bereichen Universität und Schule vor. Monika Vogel („Übersetzungen im digitalen Austausch - das Internet als Übersetzungsplattform und Reflexionsanlass für den Lateinunterricht“) betrachtet die Rolle des Internets, das aus der heutigen Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler nicht mehr wegzudenken ist. Dies betrifft auch die Bewältigung schulischer Aufgaben wie das Anfertigen einer Übersetzung für den Lateinunterricht. So wird auf der Suche nach der vermeintlichen Lösung einer Übersetzung vielfach das World Wide Web bemüht. Hier lassen sich zwei Bereiche unterscheiden: zum einen vollständige Übersetzungen eines Textes, die auf verschiedenen Plattformen gesammelt und übersetzungsgeplagten Schülerinnen und Schülern bereitgestellt werden, zum anderen Foren, in denen gezielt Übersetzungen erfragt, Übersetzungsversuche präsentiert und diskutiert werden. Gerade diese Plattformen verdienen eine genauere Analyse, die Aufschluss über die Belange der Schülerinnen und Schüler sowie die von ihnen wahrgenommenen Anforderungen an eine Übersetzung geben kann. Im vorliegenden Beitrag werden auf der Grundlage einer Durchsicht verschiedener Internetforen ausgewählte Diskussionsbeiträge exemplarisch analysiert: einerseits <?page no="12"?> im Hinblick auf dort auftretende Probleme aus Sicht der Lateinlernenden und den „Experten“ der Foren, andererseits im Hinblick auf Reflexionsanlässe, die aus didaktischer Perspektive interessant sind. Aus neuen Erkenntnissen, die sich hieraus ergeben, lassen sich Konsequenzen für die Unterrichtspraxis ableiten. Die Beiträge von Jens Heße und Ulf Hamacher basieren auf ihrem gemeinsamen Vortrag „Non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu - Übersetzen in Schule und Lehrerausbildung“: Das Übersetzen ist ein Proprium des Lateinunterrichts und trägt damit auch zur Legitimation des Lateinischen im Fächerkanon der Schulen bei. Daher sollte in Schule wie Lehrerausbildung auch darüber reflektiert werden, und zwar mit einem Rückgriff auf die Antike selbst. Jens Heße stellt in seinem Teil („Leid und Lust des Übersetzens“) Texte griechischer und römischer Autoren vor, die Schülerinnen und Schülern sowie Referendarinnen und Referendaren Theorie, Probleme und Freuden des Übersetzens nahebringen können. Einige grundlegende fachdidaktische Überlegungen zum Übersetzungsprozess, Gütekriterien schulischen Übersetzens und zum Übersetzungsvertrag schließen sich an. Im zweiten, von Ulf Hamacher verfassten Teil werden vielfältige, sich teils widersprechende Thesen zum Thema „Übersetzung“ auf der Folie von Übersetzungsvarianten kritisch geprüft. Im Fokus stehen Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzertätigkeit in der Schule - auch mit Blick auf den emotional aufgeladenen und divergenten Umgang mit überkommenen und aktuell diskutierten Parametern zur Bewertung von schulischen Übersetzungsleistungen. Der vierte Block schließlich ist der Perspektive aus der Übersetzungspraxis gewidmet. Kai Brodersen fasst seine Erfahrungen zusammen unter der Überschrift „Glasschrank und Nähkästchen: Übersetzungen aus dem Lateinischen auf dem deutschen Buchmarkt“: Der Beitrag reflektiert den Status und die Bedeutung von Übersetzungen innerhalb der Fachwissenschaft und auf dem deutschen Buchmarkt. Er schließt mit einem Appell, dem sich durchaus auch in der Nachfrage im Buchhandel manifestierenden Interesse an lateinischen (Fach-)Texten außerhalb der Altertumswissenschaft nachzukommen, also zu übersetzen. Niklas Holzberg stellt ein Problem bei der Übersetzung antiker Dichtung in den Mittelpunkt: „Schwiegersohn statt Eidam. Metrisches Übersetzen lateinischer Texte zwischen Voß und heutigem Deutsch“. Der Beitrag versucht, Vor- und Nachteile des heute immer weniger praktizierten metrischen Übersetzens aufzuzeigen, und nimmt dabei auf praktische Erfahrungen des Autors Bezug. Ovids erotische Dichtung in elegischen Distichen ist wegen der Thematik für deutsche Verse eher ungeeignet, und das gilt erst recht für die zum Teil sehr obszönen Epigramme Martials. Denn Sexuelles kann in gebundener Sprache 12 Vorwort <?page no="13"?> Vorwort 13 mit ihrer begrenzten Silbenzahl unfreiwillig komisch wirken. Besser geeignet sind dagegen Hexameterdichtungen, vor allem narrative wie Vergils Aeneis und Ovids Metamorphosen; vorausgesetzt werden muss freilich, dass die in Voß’scher Tradition stehende Lexik und Syntax, die sich noch in jüngsten Verdeutschungen findet, unbedingt gemieden werden sollte; eine systematische Übersicht anhand von Textbeispielen zeigt, wie heute nahezu unverständliche bzw. lächerlich wirkende Formulierungen älterer Versübersetzungen durch solche in modernem Deutsch ersetzt werden können. Am Ende der Untersuchung stehen die jambischen Verse des Fabeldichters Phaedrus, die, weil das Deutsche ja auch zum Teil „jambisch“ betont, durchaus geeignet für die metrische Wiedergabe sind. Insgesamt gilt, dass im 21. Jahrhundert, in dem die allgemeine Kenntnis klassischer Metrik auch deutscher Poesie mehr und mehr zurückgeht, Versübersetzungen wenigstens einen gewissen Eindruck vom Original vermitteln können. Die verschiedenen Perspektiven, die auf das Übersetzen aus dem Lateinischen eingenommen werden, führen, so wird deutlich, auch zu unterschiedlichen Gewichtungen der einzelnen zum Übersetzungskomplex gehörenden Problematiken. Da ein Dialog bislang noch viel zu selten unternommen wurde, vermag auch diese Publikation kein geschlossenes Konzept vorzulegen. Sie möge aber gerade dadurch als Anstoß dazu dienen. Wenn nun das Buch fertig vorliegt und, wie wir hoffen, ein neues Forschungsfeld grob kartiert, so haben die Herausgeber vielen zu danken, ohne die das Buch nicht zustande gekommen wäre: Das sind zunächst die Mitglieder der Fach-Arbeitsgruppe Latein für das Praxissemester an der Bergischen Universität Wuppertal (Dr. Ulf Hamacher, Jens Heße, Leoni Janssen, Bernhard Liesen, Bettina Schameitat und Jun.-Prof. Dr. Monika Vogel), von denen der Impuls für den Workshop ausging. Sodann ließen sich alle Eingeladenen als Referentinnen und Referenten und als Beiträgerinnen und Beiträger bereitwillig auf das ungewöhnliche Thema ein. Zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Universität und Schule - stellvertretend genannt sei Herr Dr. Thomas Doepner von der Bezirksregierung Düsseldorf, dem auch für ein ermunterndes Grußwort zu danken ist - unterstrichen durch ihr erfreulich zahlreiches Kommen die Bedeutung des Themas für die Lehrerbildung und ließen durch ihre engagierten Diskussionsbeiträge viele Dinge klarer werden. Herr Ralf Wamser und zahlreiche studentische Hilfskräfte sorgten für eine reibungslose Durchführung der Tagung, Frau Dr. Peggy Leiverkus für eine ansprechende und zügige Publikationsfassung. Das Projekt „Kohärenz in der Lehrerbildung“ (KoLBi) der Bergischen Universität Wuppertal, das im Rahmen der gemeinsamen Qualitätsoffensive Lehrerbildung von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für <?page no="14"?> Bildung und Forschung gefördert wird (Förderkennzeichen: 01JA1507), ermöglichte durch seine finanzielle Unterstützung den Workshop und die vorliegende Veröffentlichung. Wuppertal und Berlin, im März 2020 die Herausgeber 14 Vorwort <?page no="15"?> Einleitung 15 Einleitung Übersetzen aus dem Lateinischen als Forschungsfeld - auf dem Weg zu einer lateinischen Translatologie? 1 Übersetzen aus dem Lateinischen als Forschungsfeld. Aufgaben, Fragen, Konzepte Der von Stefan Freund und der Facharbeitsgruppe Latein der Bergischen Universität Wuppertal initiierte, konzipierte und organisierte Workshop „Übersetzen aus dem Lateinischen als Forschungsfeld. Aufgaben, Fragen, Konzepte“ im Juni 2018 hat erstmals Fragen, Aufgaben und Konzepte dieses Forschungsfeldes skizziert. Zu diesem Zweck kamen Vertreterinnen und Vertreter der Übersetzungsforschung und Translationswissenschaft, der Übersetzungspraxis, der lateinischen Sprachwissenschaft, der lateinischen Literaturwissenschaft und der lateinischen Fachdidaktik zusammen. Es wurden die Grundprobleme einer lateinischen Translationswissenschaft ausgeleuchtet und Richtungen für weitere Forschungsbewegungen in diesem Bereich ermittelt. Es sind einerseits interessante Ansatzpunkte deutlich geworden, gleichzeitig wurde andererseits umso klarer, wie viel auf diesem Gebiet noch zu tun ist, damit der Vorgang des Übersetzens lateinischer Texte aus einer - nach translatologischen Maßgaben - noch „vorwissenschaftlichen“ Behandlung gehoben wird. 2 Zur Bedeutung des Übersetzens und zur Notwendigkeit einer lateinischen Translatologie Das Übersetzen, verstanden als konkretes interlinguales Übersetzen zwischen zwei Sprachen, 1 zwischen Latein und Deutsch, ist zum einen wichtigster Lehr- und Prüfungsgegenstand überall dort, wo diese Sprache vermittelt wird, vom schulischen Anfangsunterricht bis zur universitären Abschlussprüfung. Der 1 Zur Einteilung in interlinguales, intralinguales und intersemiotisches Übersetzen vgl. Jakobson 1974, 154-161. Interlinguales Übersetzen meint die Übertragung einer Sprache in eine andere, also das Übersetzen im landläufigen Sinn, intralinguales Übersetzen (auch rewording) hingegen innersprachliches Übersetzen von einer Sprachstufe in eine andere Sprachstufe, intersemiotisches Übersetzen (auch transmutation) wiederum den Wechsel eines Zeichensystems in ein anderes Zeichensystem. <?page no="16"?> 16 Einleitung Übersetzungsprozess ist eine für das Fach Latein zentrale Arbeitsform und die Übersetzung eine zentrale Prüfungsleistung. Die Prozeduren zu reflektieren, die während des Übersetzens ablaufen und die zu einer Übersetzung führen, ist von didaktischer, auch hochschuldidaktischer Relevanz. Zum anderen kommt dem Übersetzen aus dem Lateinischen in der Wissenschaft eine immer größere Bedeutung zu: Nicht mehr bei allen möglichen Rezipienten von Studien, die im Rahmen der Klassischen Philologie und verwandter Fächer entstehen, kann die Fähigkeit, das Lateinische selbst flüssig zu lesen, vorausgesetzt werden. Und vor allem lateinische Quellentexte aus Antike, Mittelalter und Neuzeit werden überwiegend in übersetzter Form rezipiert. 2 Da zudem bei einem immer größer werdenden, auch breiteren Publikum, welches über die Wissenschaftscommunity hinausgeht und auch eine allgemein interessierte Leserschaft umfasst, die Übersetzung weithin anstelle des lateinischen Originals rezipiert wird, kommt dem Übersetzen aus dem Lateinischen eine enorme Bedeutung und dem Fach Latinistik eine große Verantwortung für die Vermittlung lateinischsprachiger Texte zu. 3 Dieser herausragenden Bedeutung und Aktualität des Übersetzens steht eine unterentwickelte wissenschaftliche Reflexion und Theorie des Vorgangs selbst in der Klassischen Philologie gegenüber, sowohl was das ‚didaktische Übersetzen‘ auf der einen Seite als auch das ‚literarische und/ oder vermittelnde Übersetzen‘ auf der anderen Seite betrifft, wie man das Übersetzen in den beiden eben genannten Felder bezeichnen könnte. 4 Ob und inwiefern zwischen dem Übersetzen von Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden einerseits und dem Übersetzen mit dem Ziel einer gedruckten Fassung andererseits ein genereller Unterschied gemacht werden muss, kann an dieser Stelle nur hinterfragt werden. Denn es sollte eben nicht so sein, dass Schülerinnen und Schüler und Studierende per se möglichst ‚wörtlich‘, 5 Übersetzer aber per se ‚frei‘ übersetzen müssen/ sollen/ dürfen. Das hängt freilich mit dem Ziel der jeweiligen Übersetzungen zusammen, mit ihrem Zweck (zu dieser wichtigen Kategorie s. u. mehr). 2 Vgl. Ludwig 1991, Korenjak 2016, 177 sowie 255. 3 S. auch Mindt 2018. 4 S. Kuhlmann in diesem Band. 5 S. Hamacher in diesem Band. <?page no="17"?> Einleitung 17 3 Forschungsstand zum Übersetzen aus dem Lateinischen 3.1 Allgemeines: zum Forschungsfeld „Übersetzen aus dem Lateinischen“ und zu den Aufgaben einer lateinischen Translatologie Das Übersetzen aus dem Lateinischen ist ein komplexes Forschungsfeld, das eine multidisziplinäre Perspektive und Kompetenzen in verschiedenen Disziplinen verlangt: Übersetzungsforschung und Übersetzungswissenschaft auf der einen Seite, lateinische Sprachwissenschaft (in Anschluss an die Allgemeine Linguistik) und lateinische Literaturwissenschaft auf der anderen. Es müssen auch zielsprachliche (konkret: germanistische) Kompetenzen auf diesen Gebieten vorhanden sein. Hinzu kommt selbstverständlich auch eine (fach-)didaktische Komponente. Die Zusammenführung der für das Übersetzen aus dem Lateinischen relevanten Teildisziplinen ist bisher ausgeblieben. Bei der Frage, woran die Latinistik bisher angeknüpft hat, ist daher lediglich eine selektive Beteiligung des Faches an den Diskussionen der am Übersetzungsprozess beteiligten Disziplinen zu verzeichnen: 6 Zum einen gibt es übersetzungshistorisch ausgerichtete Untersuchungen zum Übersetzen aus dem Lateinischen. 7 Die seit den frühen 2000er-Jahren immer stärker werdende historische Übersetzungsforschung stellt einen deskriptiven und zieltextorientierten Ansatz dar. Sie nimmt häufig eine Makroperspektive auf das Übersetzen und dessen Funktionen ein, insbesondere die Descriptive Translation Studies (DTS) mit Vertretern wie Hermans, Lefevere oder Toury. 8 Die DTS gehen von einer nicht-präskriptiven, historisch ausgerichteten und kontextorientierten Konzeption aus. Sie konzentrieren sich auf das Ergebnis des Übersetzens, die Übersetzung, und tendieren dazu, dem Ausgangstext und dessen Sprache weniger Gewicht zuzumessen als dem Übersetzungsprodukt in der Zielsprache und Zielkultur. Sie gehören damit der auf kulturelle Aspekte ausgerichteten Translatologie an. Schwerpunktmäßiger Gegenstand dieser komparatistischen und historisch perspektivierten Übersetzungsforschung in Deutschland bilden aber oftmals nicht antike Texte und deren Übersetzung ins Deutsche, sondern vor allem Texte der italienischen Renaissance und der französischen Klassik. So hat etwa der überaus produktive Göttinger Sonderforschungsbereich 309 „Die literarische Übersetzung“ die historisch-empirische Erforschung der deutschen Literaturübersetzung mit vielerlei Beiträgen aus zahlreichen Disziplinen bereichert; die Klassische Philologie aber war nicht 6 S. Sinner in diesem Band. 7 S. Mindt in diesem Band. 8 S. etwa Lefevere 1992 (s. auch Bassnett/ Lefevere 1990); Toury 1995; Hermans 2006. <?page no="18"?> vertreten. 9 Die Untersuchungen zu Übersetzungen antiker und somit auch lateinischer Texte hat jedoch durchaus auch einen Aufschwung erlebt, allen voran durch das Teilprojekt B7 „Übersetzung der Antike“ des Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike“ (Berlin, 2005-2016), welches Übersetzungstheorie und Übersetzungspraxis ab etwa 1800 bis in die Gegenwart in den Blick nahm. 10 In der Klassischen Philologie ist es im Vergleich zu anderen Disziplinen dabei meist so, dass die oben genannte Tendenz, den Ausgangstext und dessen Sprache selbst in den Hintergrund treten zu lassen, weniger ausgeprägt ist als bei anderen Philologien - häufig ist noch immer eine gewisse Neigung zu merken, den Ausgangstext als eine Art ‚heiligen Text‘ möglichst unangetastet lassen zu wollen, auch wenn sich dies langsam zu ändern scheint. Neben den Arbeiten aus dem Sonderforschungsbereich 644 zu Übersetzungen antiker Texte sind weitere Einzeluntersuchungen erschienen, welche wichtige Ergebnisse vorweisen können und die vom Ansatz her ebenfalls den translation studies zuzuordnen sind. Sie nehmen meist nicht die Form von Monographien ein, sondern werden eher im Rahmen eines Aufsatzes oder Sammelbandbeitrages präsentiert, 11 was auch viel über die zu geringe Wertschätzung der Übersetzungsthematik in der Fachwissenschaft aussagt. Kritisch ist zudem anzumerken, dass nicht alle übersetzungsgeschichtlichen Untersuchungen zu antiken Texten aus dem Kreis der Klassischen Philologie auch den Anforderungen einer anspruchsvollen Übersetzungsforschung gerecht werden, sondern in den eigenen Fachgrenzen und deren Paradigmen verbleiben. 12 Zum anderen mag man fragen, wie Ergebnisse zu Übersetzungsverfahren etwa aus der Frühen Neuzeit oder aus dem 18. und 19. Jahrhundert, denen sich die komparatistische historisch perspektivierte Übersetzungsforschung zu antiken Texten in Deutschland widmet, für die aktuelle Übersetzungsdiskussion 9 Ein einziger Beitrag der Latinistik ist in einem Sammelband zu verzeichnen, dieser aber sehr empfehlenswert: Blänsdorf 2004. 10 S. v. a. Böhme/ Rapp/ Rösler 2007; Harbsmeier u. a. 2008; Mindt 2008; Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a; Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009b; Kitzbichler 2014; Kitzbichler/ Stephan 2016; Thesz 2017. 11 Ein wichtiger Sammelband zum Thema der Übersetzung antiker Texte ist Kofler/ Schaffenrath/ Töchterle 2009. Interdisziplinär angelegt ist der Sammelband von Toepfer/ Kipf/ Robert 2017 zu humanistischen Antikenübersetzungen und frühneuzeitliche Poetik in Deutschland. 12 So vermerkt Hempel 2018 in seiner Rezension zur an sich lesens- und lobenswerten Untersuchung von Brix 2017: „In diesem Zusammenhang wäre auch eine Anwendung von im Rahmen der so genannten Descriptive Translation Studies für literaturhistorische Übersetzungsvergleiche entwickelten Kategorien, die neben dem kulturellen auch den zeitlichen Abstand zwischen Ausgangstext und Übersetzung thematisieren, oder von Methoden aus der Korpuslinguistik möglich gewesen.“ 18 Einleitung <?page no="19"?> Einleitung 19 genutzt werden können. 13 Eine solche literatur- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Übersetzungsforschung verfährt nämlich in der Regel retrospektivdeskriptiv, während es die Übersetzungsbzw. Translationswissenschaft ist, die neben deskriptiven Untersuchungen auch prospektiv-präskriptiv ausgerichtet ist und nach dem Übersetzen selbst fragt. 14 Übersetzungsforschung und Übersetzungswissenschaft gilt es sinnvoll zu verbinden und für das Lateinische zu konkretisieren. Anders als dies in modernen Fremdsprachen der Fall ist, existieren für das Lateinische kaum sprachspezifische translationswissenschaftliche Entwürfe. Ansätze sind allenfalls in der lateinischen Fachdidaktik seit den 1970er-Jahren vorhanden (v. a. durch Rainer Nickel). 15 Auch derzeit sind es vor allem die Vertreter der Fachdidaktik, die sich intensiv mit den vielfachen Anforderungen beschäftigen, welche das Übersetzen des Lateinischen stellt (s. Nickel 2016, mit einer Betrachtung des Übersetzungsprozesses in Anlehnung an die Generative Grammatik, aber auch in seiner ästhetischen Dimension), und es ist die Fachdidaktik, die Möglichkeiten diskutiert, welche vom herkömmlichen Schema des Übersetzens als doppelte Anforderung der Dekodierung und Rekodierung abweichen (s. etwa Herkendell und Glücklich sowie die fachdidaktischen Beiträge des Workshops) 16 . Die in der lateinischen Fachdidaktik derzeit vielbeachteten Arbeiten von Lena Florian 17 stellen zwar den Übersetzungsvorgang ins Zentrum (mit einem kognitionswissenschaftlichen und empirischen Schwerpunkt), weisen aber methodische Schwächen auf, und es fehlt - bezeichnenderweise! - eine Einführung in die zugrunde gelegte Theorie oder Methodik des Übersetzens. 18 Im deutschen Sprachraum haben sich Vertreter der Klassischen Philologie, also Literaturwissenschaftler, auch solche, die selbst übersetzen, nur sehr vereinzelt explizit auf moderne linguistische und translationswissenschaftliche Theorien berufen (eine Ausnahme ist etwa Manfred Fuhrmann) 19 . Übersetzer antiker Texte, darunter literaturwissenschaftlich profilierte Philologen, geben meist in Vorworten Bemerkungen zur Übersetzung bei, welche das eigene übersetzerische Tun reflektieren und Übersetzungsentscheidungen begründen. Das ist gut und sinnvoll für den Umgang mit der jeweiligen Übersetzung. Eine sys- 13 Dazu s. Mindt in diesem Band. 14 Zur Übersicht über Übersetzungstheorien und mögliche Perspektiven auf das Übersetzen s. Stolze 2017. 15 S. Nickel 1974; Glücklich/ Nickel/ Petersen 1980; s. auch Glücklich 1979. Zur textpragmatischen und linguistischen Phase der Latinistik und Fachdidaktik vgl. Kipf 2006. 16 S. Herkendell 1995 und 2003; Glücklich 2017; s. Hamacher, Heße, Kuhlmann und Vogel in diesem Band. 17 Florian 2015 und 2017. 18 Vgl. auch die Rezension Beyer 2017, 260f. 19 S. v. a. Fuhrmann 1992. Zu Fuhrmann s. den Beitrag von Mindt in diesem Band. <?page no="20"?> tematische Darstellung des Übersetzungsprozesses ist in diesem Rahmen aber nicht geleistet worden und ist auch nicht zu leisten, da sich die Vor- oder Nachworte heutzutage eben auf den konkreten Text beziehen und keinen Raum für umfangreiche Grundsatzuntersuchungen bieten. Kurzum: Aus der Übersetzungspraxis ist also bisher keine Translatologie des Lateinischen hervorgegangen, ebenso wenig hat sich die Übersetzungswissenschaft ihrerseits mit dem Lateinischen auseinandergesetzt, 20 und die Klassische Philologie wiederum betreibt, wenn überhaupt, vornehmlich rezeptionsgeschichtlich ausgerichtete Übersetzungsforschung. Aus dem Bereich der klassisch-philologischen Auseinandersetzung mit der Übersetzungsthematik mag einzig das Instrumentarium zur Analyse von Übersetzungen von Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016 als Ausgangspunkt für ein entsprechendes Vademecum der lateinischen Translatologie dienen können. Dort werden Anwendungsmöglichkeiten der (Text-)Linguistik und Pragmatik mitberücksichtigt und ein ausdifferenziertes Modell linguistisch fundierter, auf den Vergleich von Ausgangstext und Übersetzung gerichteter Analyse vorgeschlagen. Von der Übersetzungsanalyse, also der Analyse vorhandener Übersetzungen, müsste dann der Schritt zu Kriterien des aktuellen Übersetzens selbst vollzogen werden. Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016 bauen auf die anhand moderner Forschungsansätze erarbeiteten Ausführungen von Acatürk-Höß 2010 auf, die einen wichtigen Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Übersetzungsanalyse/ kritik geleistet hat, und wenden diese auf antike Literatur an. Der Beitrag bezieht Sprachwissenschaft, Textlinguistik und Pragmatik mit in literaturwissenschaftliche Fragestellungen ein, konzentriert sich allerdings auf die „literarische Kommunikation“ und somit auf die sog. literarische Übersetzung, vor allem von Poesie. Die vorgeschlagenen Kriterien sind ebenso detailliert für andere lateinische Texte und andere Übersetzungen auszuarbeiten. 21 Daneben ist auch eine zeitliche Beschränkung zu konstatieren: Der Beitrag bezieht sich auf die Übersetzung antiker Texte. Schon spätantikes Latein stellt jedoch bereits besondere Anforderungen. 22 Gerade für das Übersetzen des nachantiken Lateins fehlen translatologische Studien, obwohl insbesondere in diesem Bereich die Menge des Unübersetzten unüberschaubar groß und die Relevanz für nicht-altertumswissenschaftliche Disziplinen oft besonders hoch ist. Doch auch für das antike Latein sind bisher zu wenig fundierte Untersuchungen unternommen worden. Ansätze finden sich bei Glücklich/ Nickel/ Petersen 20 Eine Ausnahme bildet Sinner in diesem Band. 21 Zur Übersetzung von Fachbzw. Wissenstexten s. Immhausen/ Pommenerning 2010 und 2016; s. auch Brodersen in diesem Band. 22 Vgl. Freund und Gauly in diesem Band. 20 Einleitung <?page no="21"?> Einleitung 21 1980 sowie Kienpointner 2010, nützlich sind auch noch immer ältere Stilistiken wie die von Nägelsbach 1870. Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016 behandeln den Punkt „Sprachenpaar“ sehr knapp, 23 obgleich der Rolle der beiden Sprachen beim Übersetzen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt. 24 Dort, wo jetzt schon auf mikrostruktureller Ebene (z. B. in Kommentaren) übersetzerische Fragen angesprochen werden, wird kaum auf die Translatologie und lateinische Linguistik rekurriert. Auf diesen Gebieten, Translatologie und Linguistik, ist die größte Lücke hinsichtlich des Forschungsthemas innerhalb der deutschen Latinistik auszumachen, die es dringend zu schließen gilt. 25 Eine Translationsgrammatik des Lateinischen existiert nicht einmal in Ansätzen 26 - Nützliches und Relevantes ist vereinzelt auf verschiedene Grammatiken oder sprachpraktisch orientierte Publikationen verteilt. Ziel muss es daher sein, in gebündelter und umfassenderer Weise Grundlagen einer lateinischen Translatologie zu entwerfen, die auch eine Translationsgrammatik umfasst. Zur wissenschaftlichen Etablierung des Forschungsfeldes gehört auch die Beschreibung der Übersetzungskompetenz(en) für das Übersetzen aus dem Lateinischen. Für die Übersetzungskompetenzmodelle sind die bisherigen Ausführungen (etwa von Glücklich/ Nickel/ Petersen 1980 und Nickel 2016) deutlich auszubauen. Erste Ansätze bieten Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016, aber eher deskriptiv zu vorhandenen Übersetzungen, nicht auf zukünftige Übersetzungsprozesse selbst bezogen. Die Translationsprozessforschung, ein recht junger Forschungszweig innerhalb der Translationswissenschaft mit ihren Modellen zu Übersetzungsprozess und Übersetzungskompetenz, 27 sieht die zweisprachige Kompetenz (hier: Latein-Deutsch) zu Recht als eine Subkompetenz neben anderen: 28 Außer der zweisprachigen Kompetenz sind außersprachliche Subkompetenz, Subkompetenz Übersetzungskonzeption, instrumentelle Subkompetenz und strategische Subkompetenz nötig. Diese gilt es für das Lateinische zu konkretisieren, um eine Verwissenschaftlichung des Forschungsfeldes „Übersetzen aus dem Lateinischen“ voranzubringen und in der Konsequenz den Übersetzungsvorgang aus dem Lateinischen zu professionalisieren und auch spezifischere Übersetzungen erstellen zu können. 23 Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016, 383. 24 Vgl. Albrecht 2013, 13 f. Zur sprachenpaarbezogenen Übersetzungswissenschaft und stylistique comparée s. Stolze 2017, 71-86. 25 Vgl. Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016, 364: „Diese Lücke lässt sich nun nicht allein mit Schulgrammatik und elementarer rhetorischer Analyse schließen“. 26 Dazu s. Hoffmann in diesem Band. 27 Grundlegend dafür ist Göpferich 2008. 28 S. PACTE 2003. <?page no="22"?> 3.2 Ansätze für eine lateinischen Translationsgrammatik: Linguistische Grundlagen Da, wie oben dargelegt, vor allem auf dem Bereich der lateinischen Sprachwissenschaft und der Translatologie Defizite in der deutschsprachigen Latinistik in der Übersetzungsproblematik zu verzeichnen sind, sei der dortige Forschungsstand an dieser Stelle eingehender berücksichtigt. a) (System-)Linguistik/ linguistische Theorieansätze und ihre Nutzbarkeit für das Übersetzen aus dem Lateinischen Eine Zusammenführung von moderner Linguistik mit translatologischen Fragen ist für das Lateinische bisher nicht unternommen worden. Daher gilt hier auch grundsätzlich zu klären, welche Theorieansätze der (System-)Linguistik geeignet sind, um die sprachlichen Aspekte beim Übersetzen aus dem Lateinischen darzustellen. Generative Grammatik, strukturalistische Grammatik, Dependenzgrammatik und Funktionale Grammatik sind dahingehend zu befragen, welche Rückschlüsse sie auf den verschiedenen Ebenen des Morphems, Wortes, Satzes und Textes für das Übersetzen aus dem Lateinischen bieten können. Aus den verschiedenen Ansätzen sind wichtige Erkenntnisse zu ziehen, die die Übersetzungsgenauigkeit steigern, ohne in theoretische Grabenkämpfe einzusteigen und ohne sich einem Ansatz fest zu verschreiben. Gerade einzelne verschiedenartige Ansätze der Dependenzgrammatik (v. a. Happ) 29 , der Valenztheorie (v. a. Tesnière und Prestel) 30 , der strukturalistischen Grammatik (v. a. Touratier) 31 und der funktionalen Grammatik mit funktional-typologischen und kommunikationstheoretischen Ansätzen (v. a. Pinkster) 32 müssen auf deren übersetzungspraktisch relevanten Erkenntnisse hin untersucht werden. Die Beiträge von Roland Hoffmann und Bianca Liebermann machen deutlich, dass und wo genau die lateinische Sprachwissenschaft für das Übersetzen aus dem Lateinischen noch viel klären kann 33 und dass die linguistische Sprachanalyse durch die Einteilung der Grammatik nach Subsystemen (Präpositionalsystem, Verbalsystem, Pronominalsystem etc.) und die funktionale Abgrenzung der einzelnen Elemente untereinander die Möglichkeit bieten, die semantischen Konzepte der einzelnen Morpheme klarer zu erkennen: Es fängt nicht bei Worten an, sondern der Textsinn ergibt sich aus einem Zusammenspiel verschiedener Subsysteme. 29 Happ 1976, Happ/ Dönnges 1977; Happ 1977. 30 Tesnière 1965 bzw. 1980; Prestel 2016. 31 Touratier 1994; 2008; 2013. 32 S. insbes. Pinkster 1990; 2015; 2016. 33 S. Hoffmann in diesem Band. 22 Einleitung <?page no="23"?> Einleitung 23 Die funktionale Abgrenzung der einzelnen Morpheme kann die Übersetzungsgenauigkeit steigern. 34 Meist jedoch werden sprachwissenschaftliche Untersuchungen zum Lateinischen nicht unter translatologischen Fragestellungen unternommen, so dass dieser Schritt noch zu vollziehen wäre. b) (Lexikalische) Semantik, Morphologie/ Morphosyntax und Syntax des Lateinischen aus translatologischer Perspektive Für das Übersetzen aus dem Lateinischen sind auf der Ebene des Wortes (lexikalische) Semantik und Morphologie/ Morphosyntax zu beachten, auf der Satzebene die Syntax sowie die Informationsverteilung innerhalb eines Satzes (Wortstellung) mit funktionaler Satzperspektive. Linguistik und Translatologie gilt es zu verbinden (Welche sprachlichen Besonderheiten sind beim Übersetzen zu beachten? ) und auf das Lateinische zu konkretisieren: Welche sprachlichen Besonderheiten des Lateinischen gilt es beim Übersetzen ins Deutsche zu berücksichtigen? Wie unterscheiden sich Ausgangs- und Zielsprache in ihrer morphologischen und syntaktischen Struktur (Wortbildung, Kasussystem, Tempusverwendung, Informationsverteilung etc.)? Welche Ersatzformen bietet die Zielsprache? Übersetzungsrelevante Differenzen und deren translatorische Kompensationsmöglichkeiten sind also zu kategorisieren und terminologisch genau für das Sprachenpaar Latein-Deutsch zu bestimmen. Der Ansatz bei Keip/ Doepner 2014 mit „semantischer Modulation“ und „syntaktischer Variation“ 35 ist auszudifferenzieren und zu konkretisieren; Gleiches gilt für die unter §-10 bei Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016 aufgeführten „Techniken der Übersetzung in Anlehnung an Transformationstypen“. Kategorien von Übersetzungsprozeduren aus translationswissenschaftlicher Sicht bieten Wilss 1977 und Jumpelt 1961. 36 Das Lateinische als eine typisch synthetische Sprache unterscheidet sich etwa entscheidend in der Morphemstruktur von analytisch gebauten Sprachen wie dem Deutschen und ist hinsichtlich der grammatikalischen Strukturen kompakter codiert. Die Ausführungen von Glücklich 1979, Glücklich/ Nickel/ Petersen 1980, Blänsdorf 1995, Blänsdorf 2004 und Nickel 2016 zu diesen Zusammenhängen sind zu erweitern und zu aktualisieren. Auf dem Bereich der lateinischen 34 S. Liebermann in diesem Band. S. auch Liebermann 2014, speziell ihre These 3: „Die exemplarische Satzanalyse unter dem Aspekt der Koordination und der Prinzipien der Auslassung (gapping) schafft in besonderem Maße ein Gespür für Textsinn und verbessert somit die Übersetzungsfähigkeit“ (ebd. 161-165). 35 Keip/ Doepner 2014, 88. 36 Vgl. Stolze 2017, 71-86. <?page no="24"?> Sprachwissenschaft sind neue Entwicklungen unbedingt zu rezipieren und auf die Praxis hin zu adaptieren. 37 (Lexikalische) Semantik : In empirischen kognitionswissenschaftlich und lernpsychologisch orientierten Studien zum Übersetzen aus dem Lateinischen (Florian 2015 und 2017; s. auch Kuhlmann 2014, 2015 und 2016) ist die Rolle der lexikalischen Einheiten vor der morphologisch-grammatikalischen Seite der sprachlichen Formen für das Textverstehen herausgestellt worden. Freilich sind Verstehensprozess und Übersetzungsprozess zu trennen, doch ist die Bedeutung der lexikalischen Semantik ebenfalls für die Phase der Rekodierung zentral und daher eine Analyse der ausgangssprachlichen wie zielsprachlichen Wortwahl (auch Bildlichkeit oder Terminologie) nicht zu unterschätzen. Pinkster 1990 behandelt neben der lateinischen Syntax auch die Semantik. Für die lexikalische Semantik sprachenübergreifend bietet Hanks 2013 Grundlegendes zur lexikalischen Analyse. Obgleich Devine/ Stephens 2013 dem Ansatz der formalen Semantik folgen, sind einzelne Beobachtungen für das Übersetzen aus dem Lateinischen gewinnbringend. 38 Es sind etwa Begriffe und Konzepte wie Tempus, Aspekt, Argumentstruktur, Standort, Qualifikation, Pluralität, Modifikation, Verneinung und Modalität zu beachten. 39 Morphologie : Oniga 2014 bietet in seiner auf der Generativen Grammatik fußenden linguistischen Einführung ins Lateinische mit dem zweiten Kapitel zur Morphologie einen wichtigen Beitrag, indem er eine systematische synchrone Analyse der lateinischen Flexion, Derivation und Komposition bietet. Syntax : Die umfangreiche Veröffentlichung von nahezu 1500 Seiten von Pinkster 2015 zur lateinischen Syntax (Oxford Latin Syntax, vol. 1) stellt zusammen mit dem geplanten zweiten Band eine funktionale Grammatik des Lateinischen neben die synchrone Referenzgrammatik von Kühner/ Stegmann 1914. 40 Die Ergebnisse müssen in übersetzungswissenschaftlicher Hinsicht Niederschlag finden. Während sich traditionelle Grammatiken vor allem auf Caesar, Cicero, Livius und die augusteischen Dichter konzentrieren, gewährt Pinkster 2015 neben der lateinischen Komödie auch nicht-literarischen und späteren lateinischen Texten eine größere Aufmerksamkeit. Dies erlaubt eine sprachwissenschaftlich fundiertere Analyse entsprechender lateinischer Autoren und eine 37 Neben den im Folgenden angeführten Werken sei verwiesen auf: Baldi/ Cuzzolin 2011 sowie Oniga/ Iovino/ Giusti 2011. Ein entsprechender Sammelband zu Oniga/ Iovino/ Giusti 2011, welcher den Nutzen aktueller sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse im Bereich der Linguistik auf schulischem und universitärem Bereich diskutiert, ist im deutschsprachigen Raum ein Desiderat. Darin s. v. a. Balbo 2011. 38 Aus germanistischer Sicht ist Lohnstein 2011 zur formalen Semantik ein Standardwerk. 39 Zu Verbalkategorien im Deutschen s. Leiss 1992; s. auch Weinrich 1994. 40 Ein aktuelles Standardwerk zur deutschen Syntax bietet etwa Haider 2010. 24 Einleitung <?page no="25"?> Einleitung 25 ausgewogenere Einschätzung lateinischer Ausdrucksmöglichkeiten. Erst dann ist es möglich, markierte von unmarkierten Formulierungen zu unterscheiden und ggf. wirkungsäquivalent ins Deutsche zu übersetzen. Informationsstruktur : Linguistische Studien zu Spezifika des Lateinischen mit offensichtlicher Übersetzungsrelevanz wie Devine/ Stephens 2006, Spevak 2010, Hoffmann 2010 und Danckaert 2017 zur Wortstellung sind konsequent unter translatologischen Gesichtspunkten auszuwerten. Auch Hoffmann 2018 bietet einzelsprachliche und sprachtypologische Erkenntnisse (u. a. zur lateinischen Wortstellung), die für eine Translatologie des Lateinischen wichtig sind und die es auszuwerten gilt. Konzepte wie ‚Thema-Rhema-Gliederung‘ oder ‚funktionale Satzperspektive‘ (bzw. je nach Verwendung für ‚Thema‘ auch „Topik/ topic“, „Hintergrund“ und „Präsupposition“ und für ‚Rhema‘ auch „Comment/ comment“, „Fokus“, „Kommentar“ und „Prädikation“ in unterschiedlichen Paarungen) aus der funktionalen Grammatik und Textlinguistik sollten für alle, die aus dem Lateinischen übersetzen, ein Begriff sein und berücksichtigt werden. Die übersetzungspraktische Relevanz gilt es herauszustellen. Um linguistische Grundlagen einer lateinischen Translatologie zu erarbeiten, müsste also eine übersetzungsrelevante Sprachenpaarspezifik Latein-Deutsch durch die Untersuchung der (lexikalischen) Semantik, Morphologie/ Morphosyntax und Syntax des Lateinischen aus linguistisch-translatologischer Perspektive (Translationsgrammatik des Lateinischen) unter Anschluss der lateinischen Linguistik in Deutschland an die internationale lateinische Linguistik mit translatorischer Schwerpunktsetzung unternommen werden. In einem zweiten Schritt müssten Kategorisierung und Terminologisierung von übersetzerischen Kompensationsmöglichkeiten bei übersetzungsrelevanten Sprachdifferenzen vorgenommen werden. Dazu gehört auch der Umgang mit speziellen Phänomenen wie Konnotationen (Bedeutungsverengung, Bedeutungsverschiebung, Bedeutungserweiterung, Bedeutungsentstellung oder Bedeutungsabschwächung) und Metaphern im semantischen Bereich sowie mit Wortbildung, Konnektoren, Wortfolge, Periodenbau und Satzglieder im morphosyntaktischen Bereich. Während unter (b) die Wortebene mit Lexik und lexikalischer Semantik sowie die Satzebene mit (Morpho-)Syntax und Informationskodierung anhand der sprachlichen Phänomene behandelt wurden, muss freilich auch die Textebene berücksichtigt werden. Dieser wichtigen Kategorie der Textlinguistik und Pragmatik ist in besonderem Maße Rechnung zu tragen. <?page no="26"?> c) Text(typen)spezifische Anforderungen an das Übersetzen lateinischer Literatur und (text)linguistisch orientierte Methoden der Textanalyse Eine wissenschaftlich fundierte Textanalyse ist die Voraussetzung für translatorische Entscheidungen. 41 Die latinistische translatologische Textanalyse muss Textaufbau/ -struktur (semantischer Rahmen), Textbeschreibung (Wortanalyse, Satzanalyse, Stilanalyse, Inhaltsanalyse; = Textebene) und Texterörterung (pragmatische Ebene) untersuchen und die linguistischen Prinzipien von Textkohäsion und Textkohärenz, funktionaler Satzperspektive, Thema-Rhema-Fokus-Diskussionen sowie Textsemantik berücksichtigen. Katharina Reiß hat in ihren Arbeiten überzeugend dargelegt, in welchem Maße die Textsorte des Ausgangstextes die Invarianzforderungen für die Übersetzung bestimmt. 42 Ihre Arbeiten, die in der sog. Skopostheorie mündeten (Reiß/ Vermeer 1984), stellen den kommunikativen Kontext als eine der wichtigen Bedingungen des Übersetzens heraus. Die Skopostheorie ist trotz einiger Kritikpunkte und Erweiterungen bis heute ein angesehener Ansatz innerhalb der Translationswissenschaft. 43 In ihrer übersetzungsrelevanten Texttypologie geht Reiß vom Organon-Modell Bühlers (welches wiederum auf Aristoteles fußt) und dessen Modell der Sprachzeichen aus, nach dem sprachliche Zeichen drei Funktionen besitzen: Darstellung (bei Gegenständen und Sachverhalten); Ausdruck (in Bezug auf den Sender); Appell (in Bezug auf den Empfänger). Zentral ist die Unterscheidung, zu welchem Texttyp der zu übersetzende Text primär zuzuordnen ist (informativer Text; expressiver Text; operativer Text). Je nach den Kennzeichen (sachorientiert, senderorientiert oder verhaltensorientiert) ist ein anderer Äquivalenzmaßstab anzusetzen (Invarianz auf der Inhaltsebene, Analogie der künstlerischen Gestaltung, Identität des textimmanenten Appells) und eine Übersetzungsmethode zu wählen (bei Reiß: sachgerecht = schlicht-prosaisch; autorgerecht = identifizierend; appellgerecht = adaptierend) - wenn denn die Übersetzung denselben oder zumindest einen ähnlichen Zweck erfüllen soll. Für das Übersetzen nämlich ist die Texttypologie gleichsam zu verdoppeln, da dieselben Kriterien auch für das Übersetzungsprodukt hinterfragt werden müssen. 44 Klar ist zwar, dass ein Text auf der ‚parole‘-Ebene eine individuelle Einheit darstellt, so dass die Texttypen (Ausgangstext und Übersetzung) nie in reiner 41 Vgl. Nord 2004. 42 S. insbes. Reiß 1971. Zur Rezeption der Texttypologie von Reiß s. Mindt in diesem Band mit weiterer Literatur. 43 In der Latinistik wurde Reiß insbesondere von Nickel und Fuhrmann rezipiert, s. Mindt 2008a; Mindt in Kitzchiler/ Lubitz/ Mindt 2009a, 336-342. Eine Diskussion dieses Ansatzes findet sich bei Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016; s. auch Mindt und Sinner in diesem Band. 44 Vgl. Münzberg 2003 und Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016, 369-376. 26 Einleitung <?page no="27"?> Einleitung 27 Form vorliegen, sondern es immer zu Mischformen kommt und dass die Primärfunktion innerhalb ein und desselben Textes für unterschiedliche Passagen verschieden sein kann. Ebenso unleugbar ist es jedoch, dass es Spezifika einzelner Textsorten und Textformen gibt, die mit einer bestimmten Funktion verbunden sind und somit besondere Übersetzungsanforderungen stellen. Für das Übersetzen aus dem Lateinischen kann es ebenso wenig wie für das Übersetzen aus anderen Sprachen keine allgemeingültige Übersetzungstechnik geben, sondern für jeden konkreten Text eine jeweils angemessene Übersetzungsstrategie. In der Translatologie sieht man die Debatte um richtig oder falsch der einen oder anderen Position (etwa ‚verfremdend‘ vs. ‚ein-/ anpassend‘) als ideologischen Streit an, der ohnehin übersieht, dass in der übersetzerischen Praxis in der Regel beide Tendenzen ineinander spielen und in einer Übersetzung beide zur Anwendung kommen können. Diese Diskussion ist als typisches Beispiel für ‚Laiendiskurs‘ über Translation identifiziert worden. 45 Dichotomische Kategorien wie ‚frei-wörtlich‘, ‚zielsprachlich-ausgangssprachlich‘ u. ä. erwecken oftmals den Eindruck, man könne sich für eine Methode entscheiden, was aber die Komplexität der einzelnen Übersetzungsentscheidungen extrem verkürzt. 46 Die o. g. texttypologischen Übersetzungsmethoden der Translatologie gilt es für die lateinische Literatur zu konkretisieren und ggf. zu modifizieren. In welchem Maß ist die Geschichtsschreibung eines Caesar, Livius oder Tacitus dem inhaltsbezogenen Texttyp zuzuordnen? Sind Lyrik, Epigramme und poetische Großformen primär formbetonte Texttypen? Und kann man die Textarten Rede, Satire oder Drama vor allem dem appellbetonten Texttyp zurechnen? Hier ist klar, dass nun die literaturwissenschaftliche Kompetenz ins Spiel kommen muss. Erst wenn die (Primär-)Funktion des Ausgangstextes bestimmt ist, kann man entweder versuchen, die Funktion zu reproduzieren (was aufgrund der zeitlichen Distanz durchaus kompliziert ist), oder aber man legt eine neuen Zweck fest, in vollem Bewusstsein, dass man die ursprüngliche Kommunikationsfunktion des zu übersetzenden Textes ändert - und in welche Richtung, und mit welchen Mitteln. Ohne die linguistischen Grundlagen kann keine Übersetzungskompetenz erreicht werden, ganz gleich, wer übersetzt: Schülerinnen und Schüler, Studierende oder diejenigen, die gedruckte Übersetzungen erstellen. Zur richtigen Einschätzung textlinguistischer Charakteristika des Ausgangstextes ist wiederum dessen literaturwissenschaftliche Analyse notwendig. Erst dann kann über 45 Zu Translatologie im linguistischen Laiendiskurs vgl. Sinner im Druck. 46 Zu dichotomischen Methodendiskussionen im Kontext antiker Texte s. Mindt in diesem Band. <?page no="28"?> Übersetzungsstrategien und Übersetzungsmethoden diskutiert werden. Erst dann kann entschieden werden, wie man übersetzen möchte und warum. Es ist zentral, dass die Komplexität des Übersetzungsvorgangs in der Klassischen Philologie ernstgenommen wird, in der Fachwissenschaft gleichermaßen wie in der Fachdidaktik. Literaturverzeichnis Acartürk-Höß, Miriam (2010), … making the mirror visible …: deutsche Übersetzungen englischer Lyrik (W. H. Auden). Versuch einer Verwissenschaftlichung der Übersetzungskritik, Frankfurt a.M. Albrecht, Jörn ( 2 2013), Übersetzung und Linguistik. Grundlagen der Übersetzungsforschung II, Tübingen. Balbo, Andrea (2011), Pragmatic aspects of teaching translation methods from Latin to Italian, in: Renato Oniga/ Rossella Iovino/ Giuliana Giusti (Hrsg.), Formal linguistics and the teaching of Latin. Theoretical and applied perspectives in Comparative Grammar, Cambridge, 371-392. Baldi, Philip/ Cuzzolin, Pierluigi (Hrsg.) 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Es wird eine Standortbestimmung vorgenommen, wo sich die Klassische Philologie innerhalb historischer Übersetzungs(theorie)forschung und auch in ihrer Rezeption anderer translationswissenschaftlicher Ansätze aktuell befindet. Zudem sollen Forschungsfragen skizziert werden, die es zukünftig zu verfolgen gilt. Historische Übersetzungsforschung und Translatologie gilt es schließlich zu verbinden und für das Lateinische zu konkretisieren. 1 Einleitung: Translationswissenschaft - Übersetzungswissenschaft - Übersetzungsforschung Eine wissenschaftlich fundierte Translatologie des Lateinischen kann nur unter Berücksichtigung der Übersetzungswissenschaft, der Linguistik, der Literaturwissenschaft und der Didaktik erarbeitet werden. Jede Perspektive ist in diesem Band ihrerseits durch mehrere Beiträge vertreten. Für die translatologische Perspektive ist dies besonders wichtig, da sich die Disziplin der Übersetzungsbzw. 1 Zum übersetzungstheoretischen Paradigmenwechsel um 1800 s. Kitzbichler in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a, 15-28. <?page no="36"?> 36 Nina Mindt Translationswissenschaft, etwas vereinfacht dargestellt, (mindestens) zweiteilt in translation science und translation studies: Ein Teil derjenigen, die sich wissenschaftlich mit der Übersetzung beschäftigen, schaut auf die Übersetzungsgeschichte zurück, andere schauen, wie denn übersetzt werden solle, und zwar in Gegenwart und Zukunft. linguistisch ausgerichtete Übersetzungswissenschaft, translatology, translation science historische Übersetzungsforschung translation studies, v. a. descriptive translation studies (DTS) neben deskriptiv auch prospektiv-präskriptiv primär deskriptiv-historisch (v. a. in den Anfängen) linguistisch ausgerichtet vom Ansatz her literatur- und kulturwissenschaftlich ausgerichtet, Rezeptionsforschung fragt nach dem Übersetzen selbst fragt nach der Übersetzung beide Sprachen (das Sprachenpaar) betrachtet Übersetzungsprodukt und dessen Kontext im Vordergrund Abb. 1: Zwei Teildisziplinen bzw. Ausrichtungen der Translationswissenschaft/ Translatologie Die Wissenschaftsgeschichte der Disziplin „Übersetzungswissenschaft“ bzw. „Translationswissenschaft“/ „Translatologie“ kann in diesem Rahmen nicht detailliert dargestellt werden (schon die Bezeichnungen der Disziplin selbst sind nicht einheitlich, s. auch die englischsprachigen Bezeichnungen translation science/ translatology/ translation studies). 2 Translatologie und translation science sind inzwischen die üblichsten Bezeichnungen für die gesamte Disziplin, welche linguistische Translatologie ebenso umfasst wie die auf kulturelle Aspekte ausgerichtete Translatologie. Die hier vorgenommene zweigeteilte Gegenüberstellung deckt also nicht die gesamte Disziplin der Translationswissenschaft ab, 3 sondern hat vielmehr Darstellungsgründe, um zwei verschiedene Ansätze auf das Übersetzen bzw. die Übersetzung deutlich zu machen. Diese beiden Perspektiven sind zudem genau diejenigen, die bisher in der Klassischen Philologie eingenommen wurden. Die historische Übersetzungsforschung stellt also einen deskriptiven und zieltextorientierten Ansatz dar, welche häufig eine Makroperspektive auf das 2 Ein umfassendes dreibändiges Handbuch bieten Kittel u. a. 2004/ 2007/ 2011. 3 Kritisch zur einseitigen Wahrnehmung der Translatologie als „präskriptiv“ s. Sinner in diesem Band. <?page no="37"?> ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive 37 Übersetzen und dessen Funktion einnimmt. Sie geht von einer nicht-präskriptiven, historisch ausgerichteten und kontextsensitiven Konzeption aus. Sie konzentriert sich auf das Ergebnis des Übersetzens, die Übersetzung, das Übersetzungsprodukt in der Zielsprache und Zielkultur. Daher kann es sein, dass die Ausgangssprache bei solchen Studien in den Hintergrund tritt. 4 Der vorliegende Beitrag nimmt seinen Anfangspunkt von dieser historischen Übersetzungsforschung her, und zwar aus der Sicht der Klassischen Philologie, 5 während die Perspektive der Translationswissenschaft selbst durch den nachfolgenden Beitrag des Translationswissenschaftlers Carsten Sinner vertreten ist. 6 Es soll der Nutzen historischer Übersetzungsforschung und der Analyse vorliegender Übersetzungen für Einsichten in das Übersetzen aus dem Lateinischen deutlich werden, wobei Ansätze und Ergebnisse aufgezeigt werden, die aus den historisch-deskriptiven Untersuchungen heraus und darüber hinaus für das aktuelle und zukünftige Übersetzen aus dem Lateinischen gewonnen werden können. 2 Beiträge der Latinistik zur historischen Übersetzungsforschung: Untersuchungen zu Theorie und Praxis des Übersetzens im Kontext der Alten Sprachen a) Historische Untersuchungen zu Theorie und Praxis des Übersetzens aus dem Lateinischen Für das Lateinische liegen bisher keine Grundlagen einer sprachspezifischen Translatologie vor. Dabei müsste die Klassische Philologie, speziell die Latinistik, an sich ein großes Interesse an Übersetzungsprozessen haben, sind solche doch für die lateinische Literatur selbst zentral. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich aufgrund der allgemein wachsenden Aufmerksamkeit für Übersetzungsvorgänge Untersuchungen finden, die das römische Übersetzen, und 4 Diese generelle Beobachtung mag hinsichtlich übersetzungsgeschichtlicher Untersuchungen antiker Texte zutreffen, die aus der Perspektive anderer Philologien oder der Kulturwissenschaft(en) unternommen werden, ist aber weniger häufig bei Analysen zu verzeichnen, die aus der Klassischen Philologie selbst kommen. 5 Die Verfasserin beschäftigt sich als Klassische Philologin seit 2005 mit dem Übersetzen aus den Alten Sprachen als Teil der Transformationsgeschichte der Antike; zum Projekt „Übersetzung der Antike“ des SFB „Transformationen der Antike“ s. u. Zum Konzept der ‚Transformation‘ als analytisches Instrument zur Untersuchung historischer Wandelprozesse s. Bergemann u. a. 2011 sowie Böhme 2011. 6 Carsten Sinner sei an dieser Stelle für seine konstruktive Kritik herzlich gedankt, welche deutlich gemacht hat, auf wie vielen Teilgebieten der Translationswissenschat die Klassische Philologie noch Nachholbedarf hat. <?page no="38"?> 38 Nina Mindt auch Reflexionen dazu, ins Zentrum stellen. 7 Hier können solche Arbeiten zum Übersetzen ins Lateinische nicht näher betrachtet werden, vielmehr geht es um übersetzungsgeschichtliche Untersuchungen zum Übersetzen aus dem Lateinischen ins Deutsche. Die historisch und kulturell ausgerichteten translation studies, allen voran die Descriptive Translation Studies, wurden als Teildisziplin spätestens seit den 2000er-Jahren immer stärker, was auch mit dem ‚translational turn‘ der Kulturwissenschaften zusammenhängt. 8 Das hat zwar einerseits zu einer Ausweitung dessen geführt, was unter ‚Übersetzung‘ bzw. ‚translation‘ gefasst wird, doch auch das Übersetzen an sich, die Sprachmittlung, hat neue Aufmerksamkeit erfahren. Die Untersuchungen zu Übersetzungen antiker und somit auch lateinischer Texte haben in diesem Zusammenhang durchaus einen Aufschwung erlebt: Neben interessanten Einzeluntersuchungen ist die Tagung „Pontes V: Übersetzung als Vermittlerin antiker Literatur“ mit dem gleichnamigen Tagungsband herauszuheben. 9 Und vor allem hat das Teilprojekt „Übersetzung der Antike“ des SFB 644 „Transformationen der Antike“ (2005-2016) in Berlin dort angesetzt: Zunächst wurde ein besonderer Teil der Übersetzungsgeschichte, nämlich die Theoriegeschichte, aufgearbeitet, um darzustellen, welche Überlegungen, Konzepte, Reflexionen im Zusammenhang mit dem Übersetzen aus den Alten Sprachen seit 1800 bis in die Gegenwart formuliert wurden. 10 In einem zweiten Schritt wurden Übersetzungen desselben Zeitraums exemplarisch analysiert. 11 Der ursprünglich geplante letzte Schritt, nämlich die Formulierung von Übersetzungsanleitungen, von präskriptiven Forderungen an eine Übersetzung, welche aus den Ergebnissen der ersten beiden Phasen abgeleitet werden sollten, wurde letztendlich nicht unternommen. Zentral an dem dort zugrunde gelegten Transformationskonzept ist, dass es, als weitergedachte und prononcierte Theorie der Rezeption, alle Formen der Anverwandlung historischer Objekte mit ihren Eigengesetzlichkeiten unter genauer Analyse der Rolle innerhalb der Zielkultur untersucht. Dabei geht es von einer grundsätzlichen Relationalität, Reziprozität und Wechselwirkung zwischen antiker Referenz- und nachantiker Aufnahmekultur aus. Im Prozess der selektiven Aneignung verändert sich der antike Referenzbereich ebenso wie die beteiligte Aufnahmekultur. Diese 7 S. schon Seele 1995; grundlegend: McElduff 2013; s. auch Fuchs/ Reitz 2015 und Nickel 2016. 8 S. etwa Bachmann-Medick 2009. 9 Kofler/ Schaffenrath/ Töchterle 2009. 10 Mindt 2007; Harbsmeier u. a. 2008; Mindt 2008; Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a und b; Mindt 2009; Mindt 2016. 11 Mindt 2008 zu den Übersetzungen Manfred Fuhrmanns (insbes. Cicero und Tacitus); Kitzbichler 2014 zu Droysen; Baillot/ Fantino/ Kitzbichler 2015 zu Voß; Kitzbichler/ Stephan 2016 mit verschiedenen Einzelstudien zu Übersetzungen antiker Literatur. <?page no="39"?> ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive 39 Wechselwirkung wird mit dem neu geprägten Zentralbegriff der ‚Allelopoiese‘ erfasst. 12 Das Konzept interessiert sich somit nicht, oder allenfalls sekundär, für die ‚Richtigkeit‘ und tatsächliche Adäquatheit der verhandelten Antikebilder. In diesem Fall ist also der antike Referenzbereich der lateinische Text, das Transformationsprodukt ist die Übersetzung, die wiederum auf den Ausgangstext zurückwirkt. Über die Konsequenzen für das Übersetzen, die dieses Konzept beinhaltet, soll im abschließenden Teil nachgedacht werden. Zunächst werden konkrete historische Übersetzungsreflexionen schlaglichtartig nachskizziert. 13 Dies geschieht zunächst insbesondere anhand von Friedrich Schleiermachers Ausführungen, einem Grundlagentext zum Übersetzen antiker Literatur, sowie anhand von Wolfgang Schadewaldt, da er innerhalb der Klassischen Philologie eine wichtige Größe und sein Konzept des dokumentarischen Übersetzens innerhalb des Faches bekannt ist. Zudem werden die Überlegungen von Manfred Fuhrmann dargestellt, weil er einer der wenigen Latinisten ist, die sich ausführlich mit dem Thema des Übersetzens auseinandergesetzt haben. Wilhelm von Humboldt und Ulrich von Wilamowitz Moellendorff werden dabei mitberücksichtigt, sind deren Reflexionen doch anhand antiker Texte entstanden und innerhalb des Übersetzungsdiskurses auch außerhalb der Grenzen der Klassischen Philologie bekannt. Aus latinistischer Perspektive ist zunächst zu vermerken, dass es innerhalb - und aufgrund - des untersuchten Zeitraums meist griechische Texte gewesen zu sein scheinen, die zu einflussreichen und/ oder zu auch außerhalb der engen Fachgrenzen bekannten Übersetzungsreflexionen der letzten zweihundert Jahre geführt haben: sei es Friedrich Schleiermacher mit der Akademierede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), die durchaus konkret im Kontext seiner Erfahrungen mit der Übersetzung Platons steht, Wilhelm von Humboldt (1816) mit seiner Vorrede zu Aischylos’ Agamemnon, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Was ist übersetzen? (zuerst 1891) als Vorwort zur Übersetzung des Euripideischen Hippolytos oder Wolfgang Schadewaldts Konzept des „dokumentarischen Übersetzens“, welches Ende der 1950er- und in den 1960er-Jahren anhand von Homer und den griechischen Tragödien entwickelt wurde. 14 Im Zuge des erwachten historischen Bewusstseins und somit des Bewusstseins der Andersartigkeit der Antike auf der einen Seite sowie der Griechen- 12 S. Bergemann u. a. 2011 sowie Böhme 2011. 13 Ausführlicher werden die Reflexionen zum Übersetzen antiker Texte, die zwischen 1800 und 2000 formuliert worden sind, von Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a aufgearbeitet. Zur Problematisierung des Theoriestatus der Reflexionen s. ebd. 1-10. 14 Diese zentralen Quellentexte sind abgedruckt und aufbereitet in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a und im Kontext dargestellt in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009b. <?page no="40"?> 40 Nina Mindt begeisterung und der Vorliebe für als archaisch-ursprünglich Erachtetes auf der anderen Seite wurde dabei nicht selten der „ausgangssprachenorientierte“ Ansatz bevorzugt. Eine Ausnahme, auf die noch zurückzukommen sein wird, war natürlich Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, dessen Übersetzungskonzept der „Metempsychose“ 15 zweifelsohne zielsprachenorientierte Übersetzungen favorisiert. Bei einem Durchgang durch die Übersetzungstheorie-Geschichte muss man freilich aufpassen, bei einer solchen Dichotomisierung wie ‚ausgangssprachenoriert - zielsprachenorientiert‘ nicht ganz unterschiedlich motivierte Ansichten zusammenzufassen, die eigentlich nicht wirklich identisch sind. b) Möglichkeiten, Grenzen und Erweiterungen dichotomischer Methodendiskussion: mehr als ‚wörtlich vs . frei‘, ‚ausgangssprachenvs. zielsprachenorientiert‘ oder ‚dokumentarisch vs. transponierend‘ Die bekannte und einflussreiche Alternative beim Übersetzen, die Friedrich Schleiermacher in seiner vielrezipierten Akademierede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens im Jahre 1813 vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin formulierte, lautet folgendermaßen: 16 Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen. 17 Man hat, durchaus zu Recht, hinter Schleiermachers Ausführungen immer wieder dessen eigene Platon-Übersetzung erkannt. 18 Doch seine Ausführungen sind mehr als nur eine Rechtfertigung seiner eigenen Übersetzungspraxis. Schleiermacher problematisiert die von ihm abgelehnte Methode, das Bewegen des Schriftstellers, durchaus anhand eines lateinischen (! ) Beispiels: Wir können uns in einem gewissen Sinne denken, wie Tacitus würde geredet haben, wenn er ein Deutscher gewesen wäre, das heißt, genauer genommen, wie ein Deutscher reden würde, der unserer Sprache das wäre, was Tacitus der seinigen; und wohl dem, der es sich so lebendig denkt, daß er ihn wirklich kann reden lassen! Aber ob dies nun geschehen könnte, indem er ihn dieselbigen Sachen sagen läßt, die der römische Tacitus in lateinischer Sprache geredet, das ist eine andere und nicht leicht zu bejahende Frage. 19 15 Wilamowitz-Moellendorff 1925, 8. Näheres dazu s.u. 16 Zur Wirkungsmächtigkeit und Rezeption der Schleiermacherschen Methodendiskussion vgl. Seruya/ Miranda 2016. 17 Schleiermacher 1813, 74. 18 S. Kitzbichler in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a, 61. 19 Schleiermacher 1813, 84. <?page no="41"?> ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive 41 Es ist auffällig, dass Schleiermachers eigene Übersetzungsarbeit, seine konkrete Erfahrung mit dem Text Platons, in der Rede unerwähnt bleibt. Vielmehr bleibt er entweder allgemein oder er reflektiert über die verschiedenen Möglichkeiten des Übersetzens anhand von lateinischen Autoren. Daher sollten die komplexen Überlegungen Schleiermachers durchaus von denjenigen, die lateinische Texte übersetzen (wollen), nachvollzogen werden, da Schleiermacher seinen Übersetzungsbegriff sehr genau eingrenzt und viele zentrale Grundsatzfragen des Übersetzens und dessen Funktionen diskutiert. Schließlich ist für Schleiermacher die Übersetzung wirklich eine durchaus pragmatische Dienstleistung für den sprachunkundigen Leser, eine Aufgabe des Übersetzens, die sich heute mehr denn je stellt, durchaus ganz im Sinne der Translatologie von Übersetzung als Sprachmittlung, als Ermöglichung von Kommunikation zwischen zwei Parteien, denen sonst die Kommunikation unmöglich wäre. Schleiermacher entscheidet sich bekanntlich dafür, den Schriftsteller „möglichst in Ruhe zu lassen“ und „den Leser zu bewegen“ und so das Verstehen des fremden Textes durch die Übersetzung spürbar zu machen. Diese Übersetzungsstrategie ist als „verfremdend“ 20 , was richtiger „fremd-belassend“ heißen müsste, oder „anti-illusionistisch“ 21 (also nicht die Illusion erzeugend, es handle sich um einen muttersprachlichen Text) bezeichnet worden. Humboldt spricht davon, eine Übersetzung müsse einfach und treu sein und sie trage „eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich“ 22 , und Schadewaldt wiederum verwendet den Begriff „dokumentarisch“, da der griechische logos dokumentiert werden müsse. Hinter diesen Positionen lassen sich jeweils ganz andere Vorstellungen und Begründungen finden: Hermeneutik bei Schleiermacher 23 , Historismus und Sprachphilosophie bei Humboldt 24 und Heideggersches Seinsgeraune bei Schadewaldt, der durch die Übersetzung das Dasein der Griechen dokumentieren wollte. 25 20 S. etwa Venuti 1995 „foreignizing translation“ als Gegensatz zu „domesticating translation“. 21 Diese Metaphorik lehnt sich an das Bild des sichtbaren vs. unsichtbaren Übersetzers an (s. eben Venuti 1995; vgl. aber schon Levý 1967, der diese Begriffe verwendet, um aufzuzeigen, ob der Leser merke, dass es sich um eine Übersetzung handle oder nicht); s. auch Levý 1969. Einen weiteren wichtigen Beitrag aus Reihen der translation studies zu Schleiermacher bietet Berman 1984 (englisch 1992). 22 Humboldt 1816, XIX. 23 Zur Einordnung Schleiermachers innerhalb der Übersetzungstheoriegeschichte s. Kitzbichler in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a, 53-63, sowie Seruya/ Miranda Justo 2016. S. auch Jantzen 2008 und Käppel 2017. 24 Kitzbichler in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a, 64-73. 25 Zu Schadewaldts Übersetzungsreflexionen vgl. Mindt 2008, 54-61 sowie Mindt in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a, 245-247 u. 277-297. Im Literaturverzeichnis sind die zahlreichen Äußerungen Schadewaldt zur Übersetzungsthematik versammelt. <?page no="42"?> 42 Nina Mindt Da Schadewaldts Konzept des dokumentarischen Übersetzens bis heute häufig von Übersetzern auch lateinischer Literatur angeführt wird (wenngleich es erstaunlich oft eher Lippenbekenntnisse zu sein scheinen, denn die Übersetzungen selbst setzen oft nicht wirklich Schadewaldts Forderungen um), sei seine Argumentation, die letztendlich in die bekannten drei Forderungen an eine dokumentarische Übersetzung mündete, an dieser Stelle kurz dargestellt: Abb. 2: Schadewaldts Definition des dokumentarischen Übersetzens ex negativo Schadewaldt bestimmt das, was er „dokumentarisches Übersetzen“ nennt, in einem Zweischritt und, neben konkreten Forderungen, auch ex negativo. Damit steht er in der Argumentationsstruktur in einer Linie mit Friedrich Schleiermacher - und, wie man im Folgenden deutlich merkt, nicht in Übereinstimmung damit, was die Translationslationswissenschaft viel weniger wertend als verschiedene Übertragungsprozesse von einer Sprache in eine andere behandeln würde: Zunächst trennt Schadewaldt (Ver-)Dolmetschen vom „eigentlichen Übersetzen“ 26 : Während Zwecktexte und „literarische Dutzendware“ problemlos verdolmetscht werden könnten, müsse ernste und hohe Dichtung übersetzt werden, als „Übersetzung des Dichtens und Denkens“. Das Kriterium ‚mündlich‘ versus ‚schriftlich‘ spielt in seiner Auffassung von ‚Dolmetschen‘ vs. ‚Übersetzen‘ keine Rolle bzw. wird bewusst umgekehrt. Schadewaldt knüpft dabei an Schleiermacher an (ohne dies zu markieren): Das Dolmetschen als Übertragen von reinen Informationen wird ausgeschlossen, während dem „eigentliche[n] Übersetzen“ bei Werken „auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst“ die Aufmerksamkeit dient. 27 Bei dem so eingegrenzten Übersetzen gebe es, so Schade- 26 Schleiermacher 1813, 71. 27 S. Schleiermacher 1813, 68. <?page no="43"?> ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive 43 waldt (und auch hier verfährt er argumentativ wie Schleiermacher mit seinen „Maximen des Übersetzens“ und ebenso wie Goethe 28 ), zwei Übersetzungsstrategien: Entweder man transponiere oder man dokumentiere. Wie bei Schleiermacher steht bei Schadewaldt außer Frage, welche Möglichkeit er präferiert: Übersetzen wäre also dann in unserem Sinn zu definieren: nicht als ein Umsetzen eines dortigen Sinninhalts in einen deutschen mit den mir eigenen deutschen Mitteln, sondern erstens: als das möglichst sachgerechte Verstehen und Erfassen und Sichbemächtigen des Logos, des griechischen Logos, und dann: als die Neuverwirklichung dieses Logos in der eigenen Sprache. 29 Diese Neuverwirklichung und Dokumentation des griechischen Logos sollen durch das „dokumentarisches Übersetzen“ geschehen. Schadewaldt hat seine drei Forderungen an eine dokumentarische Übersetzung das erste Mal 1955 im Nachwort zum König Ödipus vorgelegt und verschiedentlich wiederholt: Einmal die Forderung, vollständig zu übersetzen und nichts, was dasteht, wegzulassen, nichts hinzuzufügen. Sodann die Forderung, die ursprünglichen Vorstellungen des Dichters auch in deutscher Zunge in ihrer Reinheit zu bewahren. Und zum dritten, die Folge dieser Vorstellungen, so wie sie dem Dichter in seinem Satz vor Augen kommen, nach Möglichkeit auch im Deutschen einzuhalten. 30 bzw.: Erstens: im Übersetzen das wiederzugeben, was dasteht und so wie es dasteht, nämlich vollständig, ohne Verkürzungen, Hinzufügungen. Zweitens: die originalen Vorstellungen, Begriffe wie Bilder, in ihrer griechischen Eigenart unverändert ohne moderne Übermalungen auch im Deutschen Wortlaut zu bewahren. Und drittens: die Folge dieser Vorstellungen, ihre „Syntax“ - als Abfolge, wie die Dinge und Kräfte der Welt im Nacheinander dem Dichter vor die Augen kommen - bis zur Stellung des einzelnen Wortes in Satz und Vers, soweit irgend möglich, auch im Deutschen einzuhalten. 31 Es geht also, neutraler und den heutigen Begrifflichkeiten entsprechender ausgedrückt, um Vollständigkeit, um Beachtung kultureller Idiomatik und um Informationsverteilung. 32 Das sind durchaus Kriterien, die auch gegenwärtig 28 Zu Goethes Einfluss auf Übersetzungstypologisierungen s. Kitzbichler in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a, 44f. 29 Schadewaldt 1963, 36. 30 Schadewaldt 1958a, 323. 31 S. Schadewaldt im Nachwort zu Sophokles’ Elektra (zuerst 1964): Schadewaldt 1977, 75- 80, hier 77. 32 Vgl. Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016, 368. <?page no="44"?> 44 Nina Mindt bei Übersetzungsprozessen Berücksichtigung finden sollten, 33 wenn eben auch unter stärkerem Abgleich mit translatologischen Fragestellungen und Erkenntnissen. 34 Das von Schadewaldt hingegen abgelehnte, aber natürlich damals wie heute ebenfalls praktizierte Transponieren könne wiederum verschiedene Formen annehmen: konventionelles Übersetzen, d. h. in deutsche Konventionen hineinübersetzen (sowohl inhaltlich wie formal), kompendiarisches/ reduzierendes Übersetzen oder bedichtendes/ frei um- oder überspielendes Übersetzen. 35 Schadewaldt hatte dabei konkret seine Zeitgenossen und deren Dramenübersetzungen im Sinn: Emil Staiger, Walter Jens und Heiner Müller. Die Auseinandersetzung auf dem Artemissymposium zwischen Emil Staiger und Wolfgang Schadewaldt, bei dem deren unterschiedliche Auffassungen sehr pointiert aufeinandertrafen, 36 weist im Übrigen sehr unterschiedliche Einschätzungen des Übersetzens im Lateinunterricht auf, und zwar wird die jeweils abgelehnte Übersetzungsstrategie als die dort bedauerlicherweise vorherrschende Praxis herausgestellt: Staiger kritisiert Übersetzungsdeutsch, Schadewaldt das Auswendiglernen und Anwenden von phraseologischen Wendungen in übliche deutsche Formulierungen. 37 33 S. Einleitung. 34 S. Beitrag Sinner in diesem Band. 35 S. Schadewaldt 1964, 558. In seinen Darlegungen zu Hölderlins Übersetzung des Sophokles aus dem Jahr 1956 stellt Schadewaldt fest, es gebe vier Haupttypen der Übersetzungen des Sophokles, die die letzten hundertfünfzig Jahre gesehen haben: „die klassizistische ausgeglichene (mit ihrer Tendenz, den Ernst der Tragik zu verschönen), die schulmeisterlich gewissenhafte (die gar zu oft zu bürgerlich hausbacken ausfällt), die sprachmeisterlich ziselierende (deren zugeordnete Gefahr die Manieriertheit ist), die ‚frische‘, aktualisierende (mit ihrem Ausgleiten ins Alltägliche)“; s. Schadewaldt 1956, 807. 36 Abgedruckt sind die beiden Beiträge des Artemis-Symposiums in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a, 419-435. 37 Schadewaldt 1963a, 25f.: „Es ist bekannt, daß das transponierende Übersetzen überall und gerade in der Schule propagiert wird. Zum Beispiel erinnere ich mich noch mit einem gewissen Unbehagen, wie ich als Schuljunge vor nun bald fünfzig [26] Jahren Hunderte von lateinischen sogenannten Phrasen mit ihren Transpositionen in gutes Deutsch auswendig lernen mußte, und als ich vor ein paar Jahren das Schulbuch meines Sohnes durchsah, fand ich teilweise die gleichen altbekannten Phrasen wieder, zum Beispiel: „Hekuba flens inquit“ heißt nicht „Hekuba sagte weinend“, sondern es heißt „Hekuba sagte unter Tränen“, „Alexander moriens“ heißt nicht „Alexander, als er starb“ oder „der sterbende Alexander“(„der sterbende Gallier“, sagen wir im Deutschen ganz gewöhnlich), nein, auf deutsch heißt es „Alexander auf dem Totenbett“, und „memento te moriturum esse“ heißt nicht „denke daran, daß du sterben mußt“ oder „sterben sollst“, vielmehr auf gut deutsch, empfohlen von den Pädagogen, „denk an dein letztes Stündlein“. Ich gestehe, daß mich das anfing gegen das transponierende Übersetzen doch mit Verdacht zu erfüllen.“ <?page no="45"?> ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive 45 Während beim Transponieren in Konventionen auf Goethes Begriff „parodistisches Übersetzen“ explizit verwiesen wird, 38 lassen sich hinter dem reduzierenden und bedichtenden Transponieren zwei von Schleiermacher abgelehnte Formen des Übersetzens vermuten: die ‚Paraphrase‘ und die ‚Nachdichtung‘. 39 Kurzum: Schadewaldt ist ganz klar Traditionen um 1800 verhaftet. Dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man sich auf seine Übersetzungsstrategie beruft. Dennoch finden sich in solchen Übersetzungsreflexionen Ansätze, die über eine plakative Dichotomie hinausgehen. Es werden zum einen die Eigenschaften des Ausgangstextes als entscheidendes Kriterium für die Entscheidung der Übersetzungsstrategie angegeben: Konventionelles und Redensartliches sei, so Schadewaldt, sehr wohl zu transponieren. 40 Zum anderen wird der Zweck der Übersetzung als ein weiteres Kriterium durchaus beachtet: Dort, wo es nur um den Inhalt als solchen gehe, reiche das transponierende Übersetzen aus, die „story“ werde auf diese Weise transportiert. 41 Dass Schadewaldts Sprach- und Literaturauffassung zu speziellen Einschätzungen diesbezüglich kommt, welche altsprachliche Literatur zu transponieren oder zu dokumentieren sei, steht auf einem anderen Blatt. Ebenso kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden, inwieweit das dokumentarische Übersetzen aus dem Griechischen ins Deutsche deutlich besser funktioniert als aus dem Lateinischen. Schadewaldts zweigeteilte Darstellung verschiedener Übersetzungsstrategien - gerade sein Begriff des dokumentarischen Übersetzens - war jedenfalls auf dem Gebiet der Klassischen Philologie einflussreich, auch innerhalb der Latinistik. Der einflussreiche und über die Fachgrenzen hinaus bekannte Latinist Manfred Fuhrmann, der sich selbst intensiv mit dem Vorgang des Übersetzens in Theorie und Praxis befasste 42 und damit durchaus eher eine Ausnahme in der Latinistik darstellt, welche allzu oft den Vorgang des Übersetzens entweder der Fachdidaktik oder anderen Philologien und Disziplinen überlässt, hat sich eingehend mit Schadewaldt auseinandergesetzt. Richtig hält Fuhrmann fest: Schadewaldt hat sich also, und zwar, wie mir scheint, mit vollem Recht, in zweifacher Hinsicht gegen die gängige Meinung erklärt: gerade die ‚hohe‘ Literatur muß do- 38 S. Schadewaldt 1955b, 569. 39 S. Schadewaldt 1955b, 569; vgl. Mindt 2009a, 285. 40 Zu den Schwierigkeiten bei Alten Sprachen, den Grad der Sprachüblichkeit feststellen zu können, s. Sinner sowie Einleitung im vorliegenden Band. 41 Schadewaldt 1964, 558. Zur Wichtigkeit des Übersetzungszwecks s. auch das Schlusswort des Artemis-Symposions: Schadewaldt 1963b, 52. 42 Seine wichtigsten Beiträge sind im Literaturverzeichnis aufgeführt. Ausführlich zu Fuhrmanns Leistung auf dem Gebiet der Theorie und Praxis des Übersetzens s. Mindt 2008. <?page no="46"?> 46 Nina Mindt kumentarisch, also möglichst wörtlich, übersetzt werden; gerade bei gewöhnlichen Texten sind Freiheiten erlaubt, ja erwünscht. 43 Doch auch Fuhrmann setzt dokumentarisches Übersetzen, wörtliches Übersetzen und ausgangssprachenorientiertes Übersetzen gleich, 44 wie dies allzu häufig geschieht, etwa jüngst bei Rainer Nickel: „Eine ‚freie‘ ist eine zielsprachenorientierte und transponierende Übersetzung, eine ‚wörtliche oder wortgetreue‘ dagegen eine ausgangssprachenorientierte und dokumentarische Übersetzung“ 45 . Was Fuhrmann bei Schadewaldt richtig erkennt und selbst viel expliziter als andere formulierte, war die Feststellung, dass es auf den Ausgangstext ankomme, welche Übersetzungsmethode zu wählen sei. Fuhrmann knüpfte dabei an die damals noch recht junge Disziplin der Übersetzungswissenschaft an, konkret an die Arbeiten von Katharina Reiß. Das lag sicher daran, dass Fuhrmann auch der Fachdidaktik gegenüber offen war, und innerhalb dieser gab es Ende der 1970er-Jahre eine starke linguistische, konkret textlinguistische und textpragmatische Phase, wie etwa an den Arbeiten Rainer Nickels abzulesen ist, der seinerseits Katharina Reiß rezipierte 46 und der seine damaligen Forderungen auch heute noch, wenn auch in etwas abgemilderter Form, vertritt. 47 Katharina Reiß hat in ihren Arbeiten wiederholt dargelegt, 48 in welchem Maße die Textsorte des Ausgangstextes die Invarianzforderungen für die Übersetzung bestimmt (wenn Schadewaldt das Übersetzen als „Kunst des richtigen Opferns“ bezeichnete, 49 sind Invarianzforderungen das, was nicht geopfert werden darf). Die Arbeiten von Reiß, die zusammen mit denen von Hans Vermeer in der sog. Skopostheorie mündeten, 50 nehmen den kommunikativen Kontext als Bedingung des Übersetzens ernst. Man kann kritisieren, dass die Klassische Philologie vor allem die Reißschen Arbeiten wahrnahm, also die Fragestellungen und Ergebnisse der Translationswissenschaft sehr selektiv rezipiert(e). Dennoch ist positiv zu vermerken, dass wenigstens einige Überlegungen anderer Diszipli- 43 Fuhrmann 1994, 365. 44 Ausgangssprachenorientiertes Übersetzen sei ein Verfahren, „das die Wortwahl, die Wortstellung und die syntaktischen Strukturen des Originals zu kopieren sucht, soweit dies die Zielsprache zuläßt, selbst um den Preis einer ungewohnten oder gar schroffen Diktion“ (Fuhrmann 1992, 9). 45 Nickel 2016, 24. 46 Vgl. Mindt in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a, 336-339. 47 S. Nickel 2015 und ders. 2016. 48 S. v. a. Reiß 1969, 1971 und 1976 (und deren spätere Auflagen); ihr Hauptwerk Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik: Kategorien und Kriterien für eine sachgerechte Beurteilung von Übersetzungen von 1971 ist auch ins Englische übersetzt worden: Reiß 2000. 49 Schadewaldt 1964, 560. 50 Reiß/ Vermeer 1984 und 2 1991. <?page no="47"?> ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive 47 nen wahrgenommen werden, verbleibt doch die Klassische Philologie zu häufig in autoren- oder werkspezifischen Stilanalysen verhaftet. Dass es gerade texttypenspezifische Überlegungen sind und solche, die die Übersetzungsmethode nach dem Zweck der Übersetzung festlegen, ist zudem hilfreich, da nicht oft genug darauf hingewiesen werden kann, dass es für das Übersetzen keine einzig gültige Methode gibt, sondern für jeden Texttyp und jeden konkreten Text (und jede Passage) eine jeweils angemessene Übersetzungsstrategie. Die noch immer zu häufig verwendeten dichotomischen Kategorien bei Übersetzungsstrategien (frei-wörtlich, zielsprachlich-ausgangssprachlich u. ä.) erwecken oftmals den Eindruck einer absoluten Entscheidung der ‚richtigen‘ Übersetzungsmethode, verkürzen aber die Komplexität der Übersetzungsentscheidungen: Je nach verdoppelter Kommunikationssituation, der der „kommunikativen Triade Autor-Ausgangstext-Ausgangstextleser“ und der „paralle[n] Triade Übersetzer- Zieltext-Zieltextleser 51 , muss es eine spezifische Entscheidung geben. An der Übersetzung ist eine ebenso genaue Detailanalyse durchzuführen wie an dem Ausgangstext, so die wissenschaftliche Übersetzungskritik. Eine ebensolche ist dann auch für zukünftiges Übersetzen aus dem Lateinischen zu beachten. In dieser Hinsicht sind also die Ausführungen von Rainer Nickel und Manfred Fuhrmann für Reflexionen über das Übersetzen aus dem Lateinischen auch heute sehr wohl als sinnvoller Gedankenanstoß anzusehen, auch wenn noch lange nicht davon gesprochen werden kann, dass für die lateinische Literatur eine ausbalancierte Texttypologie ausgearbeitet worden wäre. Fuhrmann begann eine Systematisierung in Übersetzungsfragen zu bestimmten Arten von Texten ab den 1980er Jahren, wobei er moderne übersetzungstheoretische Texttypologisierungen mit antiker Poetik und Rhetorik verband. 52 Fuhrmann unterscheidet als übersetzungstheoretische Typologie der Ausgangstexte drei verschiedene „Schreibweisen“ voneinander: die „normale“, die „rhetorische“ und die „poetische Schreibweise“ 53 . Bei der normalen Schreibweise gehe es vorrangig um Inhaltsvermittlung, die rhetorische Schreibweise (Kunstprosa) habe das Ziel, „das Publikum durch Intensität und Mobilisierung von Affekten zu bestimmten Zielen zu lenken“ 54 , während die poetische Schreibweise, an ein Versmaß gebunden, aber freier in Wortwahl und Satzbau, stark auf Wirkung bedacht sei. Es liegt nahe und ist wenig erstaunlich, dass der Cicero-Experte 51 Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016, 373. 52 Zur Bedeutung der Größen ‚Stil‘ und ‚Rhetorik‘ bei latinistischen Diskussionen zum Übersetzen s. Sinner in diesem Band, welcher auch erklärt, warum diese Kategorien in der Latinistik (zu) stark beachtet werden. 53 Fuhrmann 1992, 9. 54 Ebd. <?page no="48"?> 48 Nina Mindt Fuhrmann bei dieser Dreiteilung, angestoßen von der Bühlerschen-Reißchen Dreiteilung, an die drei genera dicendi der antiken Rhetorik anknüpft. 55 Je nach Zuordnung des Ausgangstextes zu einer der drei Schreibweisen sei eine entsprechende Übersetzungsstrategie zu bevorzugen: Im Bereich der „normalen Texte“ sei die zielsprachenorientierte Übersetzung im Allgemeinen die angemessene Lösung: Hier komme es auf die exakte Wiedergabe der Wortstellung oder der syntaktischen Strukturen weniger an als auf eine möglichst eingängige Vermittlung des Inhalts (so auch Schleiermacher und Schadewaldt, die diesen Fall dann nicht weiter untersuchen); in lexikalisch-idiomatischer und in syntaktischer Hinsicht müsse der Übersetzer nach analogen Lösungen im Deutschen suchen. 56 Analoge Lösungen in semantischer und syntaktischer Hinsicht sind Übersetzungsvorgänge, die bei Keip/ Doepner als semantische Modulation und syntaktische Variation bezeichnet werden, 57 bzw. Übersetzungsprozeduren, die in der Übersetzungswissenschaft verschiedentlich kategorisiert worden sind. 58 An dieser Stelle ist aus latinistischer Perspektive sicher noch eine konkretere und linguistisch genauere Kategorisierung der zielsprachlichen Kompensationsmöglichkeiten auszuarbeiten. Zwei wichtige Ergänzungen treten bei Fuhrmann neben die Bestimmung des Ausgangstextes: Sobald sich der Zweck des Zieltextes ändere, d. h. wenn neben dem Inhalt eben doch auf die Ausgangssprache verwiesen werden soll (so vor allem in zweisprachigen Ausgaben), sei auch ein ausgangssprachenorientiertes Übersetzungsprodukt zulässig (das wäre eine Funktionsänderung, weil der Skopos des Translats von dem des Ausgangstextes abweicht), ebenso wenn „ausgangssprachenorientierte Übersetzungen […] bei philosophischen oder stark mit Termini durchsetzten Texten als Hinführung zum Original den Vorzug verdienen.“ 59 Die Übersetzungsentscheidung wird also komplexer, weil auch die Kontexte der Übersetzungsrezeption und somit außersprachliche Faktoren berücksichtigt werden. Für Texte der „rhetorischen Schreibweise“ gilt nach Fuhrmann prinzipiell nur eine Art des Übersetzens als gut und angemessen: Im Bereich der Kunstprosa wiederum ist, insbesondere was die dort verwendeten künstlerischen Mittel angeht, zielsprachenorientiertes Übersetzen nicht einmal als Ausnahme möglich. 60 55 Vgl. Mindt 2008, 63-88. 56 S. Fuhrmann 1992, 9. 57 Keip/ Doepner 2014, 88. 58 S. Catfords „translation shifts“ oder die Übersetzungsprozeduren bzw. übersetzungsprozessuale Paradigmen bei Wilss 1977 und Koller 1997. 59 Fuhrmann 1992, 9. 60 Ebd. <?page no="49"?> ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive 49 Die Stilistika des Originals müssten, so Fuhrmann, auch in der Zielsprache wiedergegeben werden. Fuhrmann vertritt die Überzeugung, daß man auch in der deutschen Wiedergabe wechseln muß; daß für das ursprüngliche antike Publikum gewöhnlich klingende Partien auch für das deutsche Publikum gewöhnlich und nur die schon für das antike Publikum ungewöhnlich klingenden Partien in analoger Weise für das deutsche Publikum ungewöhnlich klingen müssen. 61 Es ist also nicht per se ein gesamter Text mit ein und demselben Verfahren zu übersetzen! Zu Recht spricht Fuhrmann von „Partien“. Die Frage ist freilich, inwieweit denn die Stilmittel des Ausgangstextes im Deutschen wirklich auf dieselbe Weise wirken - und hier ist Fuhrmann in der Praxis auch deutlich flexibler, als diese Forderung vermuten ließe. Fuhrmann diskutiert ausführlich die „rhetorische Schreibweise“, was aus latinistischer Sicht sehr zu begrüßen ist, da damit der große und wichtige Bereich der Kunstprosa abgedeckt ist. Ein weiterer positiver Aspekt der Fuhrmannschen Reflexionen liegt zum anderen darin, dass letzterer eine „Enthronung des heiligen Originals“ eher zulässt und durchaus in Richtung funktionale Translation tendiert. 62 Dabei könnte man gewissermaßen auch sagen, dass wieder ein Schritt in die Zeit vor Schadewaldt gemacht wird: Spätestens in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich ein auf Verständlichkeit und Wirkungsäquivalenz ausgerichteter Übertragungsstil durchgesetzt. Die von Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher aufgeworfenen übersetzungstheoretischen Fragestellungen in Bezug auf den Zusammenhang von Sprache und Denken, auf das Sichtbarmachen des Fremden und der historischen Distanz in der sprachlichen Form sowie auf die Erweiterung der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten auf dem Wege einer sprachmimetischen Übertragung wurden kaum noch diskutiert. 63 Stattdessen richtete sich die Aufmerksamkeit der Übersetzer immer stärker auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Zielgruppe. Die Rücksichtnahme auf Bildungsvoraussetzungen und Erwartungshaltung des Publikums trat neben das Bemühen um eine verständliche, lebendige und möglichst auch unterhaltsame Vermittlung der antiken Werke durch Übersetzungen. Ein bekannter Verfechter von Wirkungsäquivalenz war Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, dessen Ausführungen zwar memorisierbaren Aphorismenwert haben, die aber sicherlich aus translatologischer Sicht als weniger substantiell zu bewerten sind: 61 Fuhrmann 1987, 19f. 62 Zu funktionaler Translation s. Nord 2004; dazu vgl. Stolze 2018, 191-200, wenngleich aus der Perspektive der sog. Hermeneutischen Translatologie, die sie vertritt (s. Stolze 2003 und Stolze 2015). Eine recht ausgeglichene Sicht auf die Entwicklung der Translatologie gibt Prunč 2007. 63 Vgl. Lubitz in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009a, 124-130, v. a. 128. <?page no="50"?> 50 Nina Mindt Es gilt auch hier, den Buchstaben verachten und dem Geiste folgen, nicht Wörter noch Sätze übersetzen, sondern Gedanken und Gefühle aufnehmen und wiedergeben. Das Kleid muß neu werden, sein Inhalt bleiben. Jede rechte Übersetzung ist Travestie. Noch schärfer gesprochen, es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose. 64 Der Übertragungsstil von Wilamowitz hatte sich in der Praxis dann hauptsächlich an der Formensprache der deutschen Klassiker orientiert, und dies ist bis in die 1960er Jahre so geblieben, bis eben Schadewaldt wieder dagegenhielt. Aus heutiger Perspektive würde man ebenso gegen eine Transponierung in deutsche Klassiker argumentieren: Auch diese müssten ja, wenn auch intralingual, für einen Großteil der heutigen Leser wieder übersetzt werden. Zugleich ist auf der anderen Seite zu hinterfragen, ob das dokumentarische Übersetzen wirklich die einzig denkbare Alternative dazu darstellt. Die Aufarbeitung der Übersetzungsreflexionen aus dem Kontext des Übersetzens der Alten Sprachen kann bei allen Vorbehalten also durchaus positive Effekte haben. Es geht nicht darum, eine fertige und anwendbare Übersetzungsanleitung vorfinden zu wollen. Doch auch vorwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Übersetzungsprozess legen wichtige Problematiken frei, und die Auseinandersetzung der Klassischen Philologie mit der modernen Übersetzungswissenschaft, so punktuell sie auch sein mag, kann doch Wege zu einer angemessenen Einschätzung des Übersetzens ebnen. c) Analyse vergangener Übersetzungen und zu erstellender Übersetzungen Theorie und Praxis fallen nur in den seltensten Fällen wirklich ganz in eins. Daher ist eine genaue Aufarbeitung der Übersetzungsgeschichte aus dem Lateinischen sicherlich in vielen Fällen aufschlussreich und kann einige Punkte relativieren und ergänzen. Nachdem deutlich geworden sein sollte, dass ein Blick zurück in die Theoriegeschichte des Übersetzens der eigenen Disziplin durchaus gewinnbringend ist, soll dasselbe für die Analyse von bereits vorliegenden, (mehr oder weniger) älteren Übersetzungen gezeigt werden. Aus dem Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ heraus ist ein beachtenswertes Instrumentarium zur Analyse von Übersetzungen erarbeitet worden, das die Übersetzungsanalyse der Klassischen Philologie auf eine wissenschaftlich fundierte Stufe hebt und mit der Linguistik sowie anderen Philologien und der Übersetzungswissen- 64 Wilamowitz-Moellendorff 1925, 8. <?page no="51"?> ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive 51 schaft ab- und angleicht. 65 Als Typen von Übersetzungen wird hinsichtlich der Form-Inhalt-Dialektik die „ästhetisch-kognitive Übersetzung“ der „transponierenden Übersetzung“ gegenübergestellt: 66 Während es der ersteren um die Darstellung des funktionalen Komplexes Form-Inhalt mit dem Fokus auf der Darstellung der Gestalt des Originals geht (z. B. Schleiermacher, Schadewaldt), sieht die letztere mit dem funktionalen Komplex Inhalt-Form spezifische sprachliche, stilistische und poetische Mittel der Zielsprache für eine adäquate Wirkung vor. Hinsichtlich des Verhältnisses des Übersetzers zum Aufnahmebereich wird die „archaisierend-distanzierende Übersetzung“ der „modernisierend-assimilierenden Übersetzung“ entgegengestellt. Als Techniken der Übersetzung werden in Anlehnung an Transformationstypen einige Translationsverfahren vorgeschlagen: Mimesis; Substitution (mit Überschneidungen zur Kompensation und Modernisierung) als Ersetzung bestimmter Sachverhalte oder Sprachformen durch andere; Kompensation als Ersetzung bestimmter Sachverhalte oder Sprachformen durch zielsprachliche Elemente wegen Wirkungsäquivalenz; Modernisierung als Ersatz durch modernes Pendant; Archaisierung; Elision/ Auslassung; Ergänzung/ Rekonstruktion; Präservierung (von Einzelworten wie virtus, pietas o. ä.); Ignoranz; Ausblendung (z. B. wegen Sexualmoral); Amplifikation; Reduktion; Explikation. Mit diesen an Begriffen des Transformationskonzepts angelehnten Größen lassen sich Übersetzungsentscheidungen kategorisieren: Zudem lässt sich auf der einen Seite der Platz der Übersetzung in der (Übersetzungs-)Kultur der jeweiligen Zeit klarer bestimmen, es können also fundiertere Beiträge der Latinistik zu Untersuchungsfragen der Descriptive Translation Studies gemacht werden (An dieser Stelle soll es nicht um den Nutzen von Übersetzungsanalysen und Übersetzungsvergleich im altsprachlichen Unterricht gehen, der außer Frage steht, sondern um übersetzungshistorische Analysen innerhalb der Fachwissenschaft, die wiederum dann durchaus auch Auswirkungen ausüben mag auf die Qualität der im Unterricht vorgenommenen Analysen.). Auf der anderen Seite ermöglicht eine solche Liste es dem Übersetzer oder der Übersetzerin, sein/ ihr eigenes Tun reflektierter und genauer zu bestimmen als eine einfache Grundsatzfrage zu beantworten, ob man ‚ausgangssprachen-‘ oder ‚zielsprachenorientiert‘ verfahren wolle. 65 Dazu s. ausführlich in der Einleitung. 66 S. Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016, 386f. <?page no="52"?> 52 Nina Mindt 3 Konsequenzen • Bereits vorhandene Reflexionen zum Übersetzen sowie das Wissen um die Übersetzungsgeschichte aus dem Lateinischen sind unerlässliche Voraussetzungen für das Festlegen der eigenen Übersetzungsstrategie und das Erstellen einer eigenen Übersetzung. Die methodische Subkompetenz gehört neben der Sprachkompetenz zu einer zentralen Voraussetzung der Professionalisierung des Übersetzungsvorgangs. • Außersprachliche Faktoren sollten unbedingt bei Übersetzungsentscheidungen beachtet werden, sowohl für den lateinischen Ausgangstext als auch für die Übersetzung und deren Kontexte. Erst wenn die Funktion des Ausgangstextes bestimmt wurde, können die Funktion des Übersetzungstextes und die dazu nötige Übersetzungsstrategie entschieden werden - wobei es freilich dabei auch zu Funktionsveränderungen kommen kann bzw. zu Funktionsverschiebungen kommen muss. Problematisch sind die zeitliche Distanz und das Fehlen von Muttersprachlern, um die vermeintlich ursprüngliche Wirkung und Rolle des Ausgangstextes ausmachen zu können. Dennoch ist die Bestimmung der Funktion der Übersetzung innerhalb des Literatur- und Kultursystems der Zielsprache unerlässlich. Die übersetzungsrelevante Texttypologie von Katharina Reiß und die Skopostheorie von Reiß/ Vermeer sind innerhalb der Latinistik rezipiert und spielen bei übersetzungshistorischen Analysen und eigenen normativen Überlegungen innerhalb der Klassischen Philologie zu Recht eine zentrale Rolle. Sicherlich sollte man nicht bei deren Überlegungen stehen bleiben und/ oder andere zentrale Darlegungen, die ebenso die textpragmatische Dimension des Übersetzens einbeziehen, vernachlässigen. Etwa bei Koller spielen ja die textnormative und die pragmatische Äquivalenz neben denotativer und konnotativer Äquivalenz eine Rolle. Koller übernimmt diese Begriffe (‚Invarianz‘, ‚Varianzforderungen‘ und dergleichen Termini ebenso wie die Äquivalenzkategorien) seinerseits von den Autoren der Leipziger übersetzungswissenschaftlichen Schule (Kade, Jäger, Neubert) 67 . Die Latinistik sollte sich erneut mit translatologischen Überlegungen (auch älteren Datums) auseinandersetzen. • Eine Re-Lektüre von Übersetzungsreflexionen, die im Kontext mit dem Übersetzen aus den Alten Sprachen formuliert worden sind, und eine genaue Analyse historischer Übersetzungen sind lohnenswert, aber um einiges gewinnbringender, wenn man diese Reflexionen in Beziehung setzt mit Überlegungen anderer Disziplinen, in diesem Fall insbesondere solchen der Translationswissenschaft. Schleiermachers Übersetzungsreflexionen bei- 67 Zur (unterschätzten) Bedeutung der Leipziger Schule s. Sinner in diesem Band sowie ders. 2016. <?page no="53"?> ‚Übersetzungstheoriegeschichte‘ und Übersetzungsforschung aus latinistischer Perspektive 53 spielsweise und ganz deutlich auch seine Platon-Übersetzung gehen nach dem Prinzip der formal correspondence vor; Nida/ Taber etwa würden demgegenüber der dynamic equivalence Priorität einräumen, da die formal-ästhetische und sprachmimetische Übersetzung die in der Empfängersprache üblichen grammatischen und stilistischen Strukturen und somit auch die zu übertragende Botschaft störten. 68 Die Latinistik muss über den für ihr Fach so zentralen Vorgang des Übersetzens mit anderen Disziplinen ins Gespräch kommen und genau wahrnehmen, was dort wie verhandelt wird. Fachspezifische Unterschiede mögen (und sollen) dadurch nicht ganz nivelliert werden. So ist ein geschärfter Blick für die Eigenheiten des disziplinären Ansatzes und der fachspezifischen Schwerpunktsetzung möglich. Welche Funktion also das Übersetzen aus dem Lateinischen verfolgt hat, welche Botschaft es übertragen hat und welche Funktionen es zukünftig zu verfolgen wünscht, muss je nach Text und je nach Zeit untersucht und neu gefragt werden. Als Grundlage für historische, aber auch aktuelle Analysen kann dabei das Transformationskonzept hilfreich sein, das die Vertreter der Klassischen Philologie davor schützen mag, zu sehr in geistes- und literaturwissenschaftlichen Kategorien und Traditionen verhaftet zu bleiben. Obgleich das Lateinische eine historische Sprache ist, ist das Übersetzen als eine Form der Transformation aufzufassen, die bis in die Gegenwart und auch in Zukunft vielfältige Ausprägungen annehmen sollte, ohne das ‚Original‘ als etwas Heiliges aufzufassen, aber ebenso ohne die Hoffnung aufzugeben, dass antike Texte es auch heute wert sind, neu übersetzt zu werden. Ergänzt werden muss dies durch dezidiert translationswissenschaftliche und linguistische Fragestellungen. Der Blick zurück mag also die Sicht nach vorn schärfen. Literaturverzeichnis (in Auswahl) Acartürk-Höß, Miriam (2010), … making the mirror visible … Deutsche Übersetzungen englischer Lyrik (W. H. Auden); Versuch einer Verwissenschaftlichung der Übersetzungskritik, Frankfurt a.M. Albrecht, Michael von (1981), Zur vorliegenden Übersetzung, in: Ovid: Metamorphosen. In deutsche Prosa übertragen sowie mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Ovid, Anmerkungen, einem Verzeichnis der Eigennamen und bibliographischen Hinweisen versehen, München, 393-398. — (2003), Brücken zwischen Sprachen. Vom Übersetzen römischer Poesie, in: ders., Literatur als Brücke. Studien zur Rezeptionsgeschichte und Komparatistik, Hildesheim, 327-361. 68 Nida/ Taber 1982. <?page no="54"?> 54 Nina Mindt Apel, Friedmar/ Kopetzki, Annette ( 2 2003), Literarische Übersetzung, Stuttgart. Bachmann-Medick, Doris (2009), Introduction. The translational turn, Translation Studies 2 (1), 2-16. 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Im Mittelpunkt stehen • die Analyse der im Zusammenhang mit der Übersetzung aus dem Lateinischen untersuchten Aspekte und die Identifizierung der dabei vorherrschenden Erkenntnisinteressen (s. 2); • die Frage nach dem Verständnis von Übersetzung in der Auseinandersetzung mit dem Lateinischen oder aus der Perspektive der Latinistik, denn nicht alle der Auseinandersetzungen mit Aspekten, die von den Autoren als Übersetzung identifiziert werden, sind aus der Sicht der Translatologie als solche zu kategorisieren (s. v. a. 2.2.5); • die Analyse der Frage, inwiefern bzw. warum in der Auseinandersetzung manche Strömungen der modernen Translatologie nicht oder nur ausnahmsweise aufgegriffen wurden (s. 3). Betrachtet wird in diesem Zusammenhang auch, warum der Auseinandersetzung mit der Übersetzung ins Lateinische praktisch keine Aufmerksamkeit zugekommen ist. Voranzuschicken ist die Unterscheidung der Translation in Übersetzen und Dolmetschen und der Translatologie in Übersetzungswissenschaft und Dolmetschwissenschaft. Dolmetschen und dolmetschwissenschaftliche Positionen werden hier nicht betrachtet, wenngleich beispielsweise die Erkenntnisse der Dolmetschdidaktik einen sehr relevanten Beitrag zur so genannten Sprachmittlung im Fremdsprachenunterricht leisten können (s. Sinner/ Bahr 2015 und Sinner/ Wieland 2013) und somit prinzipiell auch für den Lateinunterricht nicht ganz ohne Bedeutung sind. Zu Sprachmittlung und Lateinunterricht s. ausführlicher 2.2.1. <?page no="62"?> 62 Carsten Sinner 2 Im Zusammenhang mit der Übersetzung aus dem Lateinischen untersuchte Aspekte und vorherrschendes Erkenntnisinteresse in der Auseinandersetzung damit 2.1 Einführung 2.1.1 Translatologie In der Translatologie hat man sich vorwiegend für das Übersetzen aus dem Lateinischen ab dem Zeitpunkt, als es keine Muttersprachler mehr gab, das Lateinische aber Bildungs- und Verwaltungssprache war, interessiert; vorwiegend hat man sich dabei mit der Rolle des Lateinischen im Hochmittelalter bzw. der Renaissance auseinandergesetzt, als es als Kultursprache Mittlersprache für den Transfer von Wissensbeständen aus Griechenland, den arabischsprachigen Ländern, dem Orient usw. war. Wenn das Lateinische als Brückensprache fungierte, wurde also zuerst ins Lateinische und dann aus dem Lateinischen übersetzt. In der Auseinandersetzung mit dieser Rolle des Lateins wurde aber weniger auf die Art der Übersetzung als auf die Inhalte geachtet; über die Vorgehensweisen der Übersetzer hat man sich nur vereinzelt und relativ spät Gedanken gemacht. Am bekanntesten sind hier sicher die Arbeiten dazu, wie man in Toledo übersetzte, also welche Techniken in der Übersetzung im Team mehrerer Personen mit unterschiedlichen Muttersprachen angewendet wurden. Da eine ganze Reihe von Texten aufgrund der ungünstigen politischen, religiösen und sozialen Lage in einigen europäischen Ländern über die Jahrhunderte verloren ging, waren ursprünglich aus dem Lateinischen in andere Sprachen übersetzte Texte später ins Lateinische zurückübersetzt worden (dies sind sogenannte Rückübersetzungen). Neue Übersetzungen in diversen Abschriften stehen potenziell neben älteren Übersetzungen, Abschriften von Originalen neben Rückübersetzungen. Vielfach ist bei der Arbeit mit Texten in lateinischer Sprache kaum zu ermitteln, ob es sich um von Lateinmuttersprachlern verfasste Originale, von Nichtmuttersprachlern verfasste Originale oder um Übersetzungen bzw. Rückübersetzungen handelt. Damit ist für das Lateinische eine Situation gegeben, die wir erst jetzt in der Moderne mit dem Englischen in vergleichbarer Form wieder vorfinden (s. ausführlicher 3.3). Darüber hinaus spielt das Lateinische in der Translatologie so gut wie keine Rolle, wenn man von seiner Rolle als Werkzeug der Übersetzung zwischen anderen Sprachen absieht, etwa aufgrund der Relevanz lateinischer Nomenklaturen bei Übersetzungen diverser naturwissenschaftlicher Textsorten. <?page no="63"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 63 2.1.2 Latinistik Tatsächlich wird aus Sicht der Translatologie die Frage nach dem Status von Texten in Arbeiten zur Übersetzung oder mit Übersetzungen im Bereich der lateinischen bzw. klassischen Philologie allgemein eher stiefmütterlich behandelt. 1 Dies könnte man als Zeichen dafür ansehen, dass in diesen Disziplinen in der Auseinandersetzung mit Aspekten der Übersetzung manche grundlegende translatologische Annahmen und Erkenntnisse kaum, nicht oder nur sehr selektiv zur Kenntnis genommen wurden (s. 3). Vermeintlich selektive Wahrnehmung von translatologischen Perspektiven kann allerdings auch damit erklärt werden, dass zwar der Versuch unternommen wurde, sich mit Translatologie auseinanderzusetzen, diese Bemühung sich aber auf die Lektüre nur einiger weniger, möglicherweise auch älterer einführender translatologischer Texte beschränkte. Der Umstand, dass beispielsweise in der Ankündigung der Werkstatt „Übersetzen aus dem Lateinischen als Forschungsfeld“ an der Bergischen Universität Wuppertal im Juni 2018 erklärt wurde, die Translatologie sei „prospektiv-präskriptiv ausgerichtet“, zeigt, dass - trotz wesentlicher Bemühungen der Latinistik um eine Annäherung an die Translatologie in jüngster Zeit - bisher noch immer ein Bild von der Translatologie existiert bzw. gezeichnet wird, das dem Selbstverständnis dieser Disziplin nicht entspricht: „Doch eine solche literatur- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Übersetzungsforschung verfährt retrospektiv-deskriptiv, während die Translationswissenschaft prospektiv-präskriptiv ausgerichtet ist, also nach dem Übersetzen selbst fragt“ (Werkstatt 2018). Tatsächlich ist der überwältigende Teil der translatologischen Arbeiten deskriptiv, und selbst wenn bei einigen Translatologen von Regeln oder Normen gesprochen wird, sind damit praktisch durchweg nicht präskriptive Regeln oder präskriptive Normen gemeint, sondern Regelmäßigkeiten im Übersetzungsprozess bzw. in der Lösung von sprachpaarspezifischen oder allgemeinen Übersetzungsproblemen. Allerdings findet man auch in der Translatologie selbst bis heute vereinzelt vergleichbare Aussagen über bestimmte Unterdisziplinen oder Strömungen, etwa, wenn es in manchen Einführungen in die Übersetzungswissenschaft über die Arbeiten der linguistisch ausgerichteten Translatologie (wie über die Leipziger übersetzungswissenschaftliche Schule mit Otto Kade, Albrecht Neubert, Gert Jäger, Gerd Wotjak usw., oder über die Arbeiten von Werner Koller) heißt, sie seien präskriptiv. Die Disziplin per se wird jedoch nie als prospektiv-präskriptiv ausgerichtet angesehen, zumal damit die gesamte historische Translatologie und auch die Disziplingeschichte aus- 1 Mit diesem Umstand setzt sich Mindt auseinander, s. Mindt im vorliegenden Band. <?page no="64"?> 64 Carsten Sinner geklammert würde, die gerade in den letzten Jahren einen starken Aufschwung erlebt haben. 2 Möglicherweise hält sich aufgrund dieser selektiven Rezeption in der Latinistik (und einer gewissen Fixierung auf Textanalyse aus literaturwissenschaftlicher Sicht) hartnäckig der Glaube, man könne ohnehin nicht „gut“ übersetzen, und Unübersetzbarkeit ist noch immer ein Dauerbrenner in Texten zur Übersetzung aus latinistischer Perspektive, 3 während die Debatte über die Übersetzbarkeit in der Translatologie seit langer Zeit als überwunden angesehen wird. Ich sehe in der fehlenden, fehlerhaften oder selektiven Rezeption der Translatologie ein grundsätzliches Problem der klassischen Philologien allgemein im Umgang mit der Übersetzung, das sich allerdings ganz ähnlich auch in anderen Einzelphilologien oder anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen und Teildisziplinen findet. 4 Dazu kommt ein Aspekt, der meines Erachtens am stärksten dafür verantwortlich ist, dass die Auseinandersetzung mit Latein und Übersetzung so ganz anders verlaufen ist als die Auseinandersetzung mit der Übersetzung im Zusammenhang mit anderen Sprachen: Latein ist nicht mehr Muttersprache. Dieser Aspekt wird sich wie ein Roter Faden durch diesen Beitrag ziehen, da damit einerseits spezifische Probleme der Auseinandersetzung mit dem Lateinischen im Allgemeinen und der Übersetzung aus dem Lateinischen im Konkreten zusammenhängen, und da sich damit andererseits die spezifische Positionierung der Latinistik zum Vorgehen mit der Übersetzung und der konkrete Umgang mit translatologischen Erkenntnissen (s. dazu Abschnitt 3) erklären lassen. Die übersetzungs- und später auch dolmetschwissenschaftliche Theorienbildung hat an Instituten stattgefunden, an denen Übersetzer und Dolmetscher ausgebildet wurden. In der Regel war das im Kontext fremdsprachlicher Philologien, und das Lateinische hat (abgesehen vom ggf. verpflichtenden Erwerb durch Studierende romanischer Sprachen) an diesen Instituten normalerweise keine Rolle gespielt. Übersetzungen aus dem Lateinischen waren Untersuchungsobjekt an den Einrichtungen für Klassische Philologien und an den Einrichtungen für das Studium der Muttersprache, in Deutschland also im Kontext der Germanistik. An diesen Einrichtungen lag das Erkenntnisinteresse jedoch nicht auf theoretischen Fragen der Übersetzungswissenschaft, sondern auf eher praktischen 2 Dieser Aufschwung manifestiert sich beispielsweise in der Gründung einer translationshistorischen Fachzeitschrift, Chronotopos, the International Journal for Translation History, herausgegeben am Zentrum für Translationswissenschaft in Wien (Chronotopos 2018). 3 Vgl. exemplarisch Weiß 2007. 4 Vgl. Anmerkung 5 zur Fremdsprachendidaktik und Sinner 2017 zur Romanistik. <?page no="65"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 65 Fragen wie etwa der nach den Auswirkungen der Übersetzung auf die Entwicklung der deutschen Sprache oder nach der Überlieferungsgeschichte (s. 2.2.5). Betrachtet man die im Zusammenhang mit der Übersetzung aus dem Lateinischen untersuchten Aspekte, so zeigt sich schnell, dass im Zentrum der Aufmerksamkeit die nachfolgend dargestellten Fragestellungen stehen. 2.2 Vorherrschende Fragestellungen und Erkenntnisinteressen im Zusammenhang mit der Übersetzung aus dem Lateinischen 2.2.1 Übersetzung im Lateinunterricht Es sind meines Erachtens zwei Ebenen zu unterscheiden: Die Anfertigung von Lehrbuchtexten in lateinischer Sprache, die je nach Lehrwerk auch von deutschen „Musterübersetzungen“ begleitet werden, und die Übersetzung in das Lateinische und aus dem Lateinischen als Werkzeug der Didaktik. Zu Erstgenanntem ist zu sagen, dass Lehrbuchtexte auf Latein, so nicht Originaltexte verwendet werden, praktisch nie als Übersetzungen identifiziert sind. Es sind in der Regel auf das Niveau der Lerner angepasste Texte, also mindestens Bearbeitungen existierender Texte, aber eben auch neu erstellte oder aus anderen Sprachen ins Lateinische übersetzte Texte. Die Übersetzungen der Lehrbuchtexte ins Deutsche dienen didaktischen Zwecken, ebenso wie die deutschen Fassungen von Texten, die in den höheren Klassen für die Textanalyse bereitgestellt werden. Hier ist Übersetzung didaktisches Mittel und wird nicht um der Kommunikation willen praktiziert. Es handelt sich bei den neu erstellten Materialien also um Texte, die niemals für Muttersprachler des Lateins gedacht waren. Was bei diesen Texten zwangsläufig ein inhärentes Problem darstellt, das aber kaum thematisiert wird, ist somit die Frage danach, wie idiomatisch diese Texte eigentlich sind. Dasselbe könnte man zu den Übersetzungen von Texten für lateinische Radiosendungen oder zu Asterix auf Latein sagen, aber dieses Problem kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Tatsächlich ist aber festzustellen, dass die Authentizität, Idiomatizität und letztlich auch die sprachliche Korrektheit von manchen von Nichtmuttersprachlern erstellten Lehrbuchtexten bzw. Lehrbuchinhalten allgemein im Falle anderer, „moderner“ Sprachen mitunter in Frage gestellt oder schlicht bestritten wird. So listet beispielsweise Malinowski Rubio (2000) eine Reihe von häufigen Fehlern in von Nichtmuttersprachlern verfassten Lehrbüchern des Spanischen als Fremdsprache auf und versucht, die Gründe für diese Defekte herzuleiten, die Konsequenzen für den Fremdsprachenerwerb zu ermitteln und die Notwendigkeit der Korrektur hervorzuheben, und Sinner (2016a) untersucht Fehler in Darstellungen des Pronomengebrauchs in spanischen Grammatiken und Lehrbüchern für Spanisch als Fremdsprache, die mit dem Deutschen als <?page no="66"?> 66 Carsten Sinner Mutter- oder Kontaktsprache der Autoren zu erklären sind. Für das Lateinische fehlen derartige Analysen aus muttersprachlicher Perspektive natürlich. Hinsichtlich der Übersetzung im Sprachunterricht - also der Übersetzung durch die Lernenden - ist darauf hinzuweisen, dass diese Übersetzung aus dem Lateinischen ein Sonderfall ist, der aus translatologischer Perspektive aus genau diesem Umstand gerade nicht interessiert. Die Praxis der Übersetzung in die und aus der Fremdsprache im Fremdsprachenunterricht ist als Mittel, das im Wesentlichen der Überprüfung von Sprachfähigkeit bzw. als Mittel der Bestimmung der Beherrschung von sprachlichen Regeln dient, normalerweise nicht der Übersetzungswissenschaft, sondern der Didaktik zugeordnet worden. Und diese Art der Übersetzung ist insbesondere auch nicht relevant für die Translatologie, ist doch ihr Ziel nicht die Ermöglichung von Kommunikation zwischen zwei Parteien, die sonst nicht kommunizieren könnten; genau diese Auffassung von Kommunikation mit dem Translator zwischen Sender und Empfänger und der Mehrsprachigkeit der Kommunikationssituation ist aber grundlegende Voraussetzung, um von Translation sprechen zu können. Daher wird die didaktische Übersetzung nicht in der Translatologie behandelt, bzw. wurde sie aus dem Zuständigkeitsbereich der Übersetzungswissenschaft deshalb explizit ausgeklammert. Daran ändert die Einführung der so genannten Sprachmittlung als eine der zu erwerbenden Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht wenig. Die Sprachmittlung im Fremdsprachenunterricht ist seit ihrer Einführung infolge der Implementierung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GERS) in den letzten Jahren verstärkt diskutiert worden und zweifellos von großer Aktualität. Tatsächlich finden sich aber im Gros der Texte zur Sprachmittlung im Fremdsprachenunterricht zum Teil fragwürdige Aussagen zur Übersetzung und zur Übersetzungswissenschaft, die sich mit manchen der Aussagen decken, die im Kontext der latinistischen Herangehensweise an Übersetzung und Übersetzungswissenschaft zu finden sind. 5 5 So werden die Übersetzungstätigkeit bzw. das (vermeintliche) Berufsbild Übersetzung zur Darstellung der Aufgaben der „sinngemäßen Sprachmittlung“ im Sprachunterricht herangezogen, indem sinngemäße Sprachmittlung gegen das Übersetzen und Dolmetschen als „andere“ Formen der Sprachmittlung abgegrenzt wird. Mit der Darstellung von Übersetzung und Dolmetschen als „textäquivalente“ Sprachmittlung werden jedoch in der Mehrheit der Texte Bilder dieser beiden Berufe in den Vordergrund gestellt, die nicht nur im Selbstverständnis der in diesen Bereichen Tätigen seit Jahrzehnten der Vergangenheit angehören, sondern insbesondere in der einschlägigen translatologischen Literatur seit Jahrzehnten ganz klar anders aufgefasst und dargestellt werden. Die Sicht, wonach Dolmetschen und Übersetzen eine „traditionelle“ Form von Sprachmittlung darstellen, ist möglicherweise damit zu erklären, dass sie nicht auf einer Orientierung an einschlägiger und aktueller Literatur zum Dolmetschen und Übersetzen gründet, sondern lediglich <?page no="67"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 67 Die durch die Lerner zu erwerbenden Fähigkeiten und in diesem Zusammenhang die Frage der Rolle der Sprachmittlung als so genannte fünfte Fertigkeit neben Lesen, Schreiben, Sprechen und Hör[versteh]en sind mit der zunehmenden Beachtung des GERS innerhalb und außerhalb der EU inzwischen ein viel debattiertes Element der Fremdsprachenlehre. Hat man in der Übersetzungswissenschaft traditionell das so genannte philologische Übersetzen aus dem eigenen Zuständigkeitsbereich explizit ausgeklammert, ist umgekehrt die Frage des Nutzens der Übersetzung in der Fremdsprachenlehre seit den Anfängen der traditionellen Grammatik-Übersetzungsmethode im 19. Jahrhundert immer wieder sehr kontrovers diskutiert worden. Mit der Berücksichtigung der Sprachmittlung - im Wesentlichen wohl das informelle, paraphrasierende Dolmetschen und das paraphrasierende Zusammenfassen 6 - im Fremdsprachenunterricht und der zunehmenden Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit der Kombination von Fremdsprachenerwerb und Übersetzen im Zusammenhang mit der Übersetzerausbildung in Sprachen, die parallel noch erworben oder perfektioniert werden müssen, nähern sich gegenwärtig die Perspektiven der Fremdsprachendidaktik und der Translationsdidaktik zumindest partiell aneinander an. So oder so aber ist die Übersetzung in die Fremdsprache und aus der Fremdsprache in der Fremdsprachendidaktik nicht Teil des translatologischen Interesses, während umgekehrt aber die Sprachmittlung aus der Translatologie wichtige Impulse erfahren kann. Für den Lateinunterricht nimmt aber die Sprachmittlung eine andere Rolle ein als für „moderne“, also von Muttersprachlern gesprochene Fremdsprachen. Der GERS berücksichtigt das Lateinische (ebenso wie das Griechische) eigentlich nicht; es werden dort keine auch in der Lehre der klassischen Sprachen sinnvoll anwendbare Bereiche der Sprachmittlung herausgearbeitet. Auch wenn dies im Titel des GERS so nicht gesagt wird, geht es dort ausschließlich um moderne Fremdsprachen, wie dies in den Kapitelüberschriften im Index genau wie im Text selbst sehr deutlich wird. Explizit heißt es beispielsweise: „Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen will helfen, die Barrieren zu überwinden, die aus den Unterschieden zwischen den Bildungssystemen in Europa entstehen und die der Kommunikation unter Personen, die mit der Vermittlung moderner Sprachen befasst sind, im Wege stehen“. 7 Tatsächlich sind nur einige der Konwiedergibt, was in den letzten Jahren in Deutschland in diversen fremdsprachendidaktischen Arbeiten hierzu geschrieben wurde (s. Sinner/ Bahr 2015, 78). Der Umstand, dass auch andere, häufig zitierte Arbeiten ein überholtes Verständnis von Dolmetschen und Übersetzen vertreten (s. ausführlich Sinner/ Wieland 2013), kann dies jedoch nicht entschuldigen. 6 Vgl. Sinner/ Wieland 2013. 7 GERS 2001, 14. <?page no="68"?> 68 Carsten Sinner texte und Sprachmittlungsmodi grundsätzlich denkbar, und wieder ist das im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass es keine Lateinischmuttersprachler gibt, die in die Aufgaben als eine der kommunizierenden Seiten ‚eingeplant‘ werden könnten. Da Lateinisch abgesehen von einigen Ausnahmen wie im Gottesdienst einiger christlicher Religionen oder in Radiosendungen einiger Sender mündlich nicht verwendet wird, gibt es für Sprachmittlungsaufgaben, so sie denn authentisch sein sollen (was ja für Sprachmittlungsaufgaben eigentlich explizit gefordert wird), kaum mündliche Kontexte, in denen Lernende glaubwürdig mit gesprochenem Latein in Kontakt gebracht werden können. Da es in der Regel nicht mündlich verwendet wird, sind praktisch keine Situationen denkbar, in denen Sprachmittlungsaufgaben im Modus ,mündlich zu schriftlich‘ mit geschriebenem Deutsch und gesprochenem Latein denkbar wären, während umgekehrt für geschriebenes Latein zu gesprochenem Deutsch zumindest das Übertragen der Inhalte von Denkmals- oder Grabinschriften für nicht des Lateinischen mächtige Personen denkbar ist. Es gibt nur noch ausnahmsweise lateinischsprachige Radiosendungen (Radio Bremen etwa hat im Dezember 2017 seine lateinischen Nachrichten eingestellt), und auch wenn die Nuntii Latini eines finnischen Radiosenders gern als Beweis der „Lebendigkeit“ des Lateins erwähnt werden, sind doch die Möglichkeiten der Erfindung glaubwürdiger Sprachmittlungsaufgaben, in denen aus dem gesprochenen Latein ins Deutsche gemittelt werden soll, minimal. Da im Horizont der Lateinlehre in Deutschland gesprochenes Latein jedoch ohnehin keine Rolle spielt, müsste sich die Sprachmittlung zwischen Lateinisch und Deutsch im Wesentlichen auf deutsche schriftliche oder mündliche Wiedergabe schriftlicher lateinischer Texte beschränken. Allerdings müsste man sich fragen, wie viele Beispiele von Erklärungen von Grabinschriften u. ä. maximal eingebracht werden können, um noch die im GERS geforderte Glaubwürdigkeit der Kontexte zu gewährleisten. 2.2.2 Ermittlung der Arbeit einzelner Übersetzer und ihres Beitrags zum Wissens- und Kulturtransfer, Untersuchung der Akkuratheit oder Korrektheit von Übersetzungen und Identifizierung von Texten als Originale oder Übersetzungen Die Arbeit einzelner Übersetzerinnen und Übersetzer und die Auswirkungen ihrer Übersetzungstätigkeit gehören zu den in der Übersetzungswissenschaft in den letzten Jahren mit besonderer Aufmerksamkeit analysierten Aspekten. Dabei hat man, gegebenenfalls auch unter Berücksichtigung der Aussagen der Übersetzer selbst zu ihrer Vorgehensweise, analysiert, wie übersetzt wurde, welche Techniken zu welchem Zweck eingesetzt wurden und wie die resultieren- <?page no="69"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 69 den Zieltexte rezipiert wurden bzw. welche Auswirkungen diese Übersetzungen in der Zieltextkultur hatten. Man könnte sich länger mit Arbeiten zu einzelnen Übersetzern auseinandersetzen, die sich zu ihren Übersetzungen aus dem Lateinischen geäußert haben, aber das ist in einigen Arbeiten schon exemplarisch gemacht worden; Mindt (2008) beispielsweise ist mit ihrer Arbeit Manfred Fuhrmann als Vermittler der Antike: Ein Beitrag zu Theorie und Praxis des Übersetzens so vorgegangen und hat damit einen wichtigen Beitrag aus der Perspektive des Lateinischen geleistet. 8 Bemerkenswert ist aber, wie oft Übersetzer sagen, was zu machen ist, de facto selbst dann aber anders vorgehen. Auch die Bände von Kitzbichler, Lubitz und Mindt (2009a und b) zur Theorie der Übersetzung antiker Literatur zeigen, dass hinsichtlich der Frage der Übersetzung aus dem Lateinischen wesentliche Fragestellungen bereits angegangen werden und sich sozusagen ‚etwas bewegt‘ und die „empfindliche Forschungslücke“ (Schneider 2010) gefüllt wird; aus translatologischer Perspektive jedoch könnte man noch auf sehr viel mehr ‚Bewegung‘ hoffen. Die Ermittlung der Akkuratheit bzw. der Korrektheit von Übersetzungen sowie die Analyse der Aussage eines Textes zur Einschätzung der Beziehung mit einem vermeintlichen Zieltext - welche der Identifizierung des Status von Texten als Originale oder Übersetzungen dienen soll - sind ein wesentlicher Antrieb für Übersetzungsanalysen im Kontext des Lateinischen. Diese Motivation ist oft auszumachen, wenn ein Text mit verschiedenen Versionen in anderen Sprachen verglichen wird, um feststellen zu können, wie andere Übersetzer den Ausgangstext interpretierten und ob der Ausgangstext korrekt übersetzt wurde bzw. gar ob ein Text A in einer Sprache A als Ausgangstext eines Textes B in Sprache B in Frage kommt. Ein bekanntes Beispiel wäre - auch wenn es nur teilweise das Lateinische betrifft - der Versuch der Erklärung der Lösungen, die Martin Luther in seiner Bibelübersetzung für Passagen gefunden hat, die in der hebräischen bzw. aramäischen Ausgangsfassung offenbar etwas anderes bedeuteten als in verschiedenen Übersetzungen (und darunter eben auch der Luthers). 2.2.3 Datierung, Textsortenbestimmung, Herleitung von Quellen Die Analyse von Texten zur Datierung und zur Bestimmung der Textsorte ist eine weitere Domäne der Auseinandersetzung mit der Übersetzung aus dem Lateinischen. Untersucht werden Originale oder Übersetzungen, um damit inhaltliche Aussagen bezüglich konkreter Fragestellungen treffen zu können, etwa danach, seit wann und woher Rom selbst oder Völker, die ihre Wissens- 8 Zum Nutzen von Übersetzungsforschung und Übersetzungsanalyse s. Mindt im vorliegenden Band. <?page no="70"?> 70 Carsten Sinner bestände auf lateinische Texte aufbauten oder dadurch bereicherten, welches Wissen hatten. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dabei wissenshistorische, und noch konkreter wissenstransferhistorische Fragestellungen, die in der Regel zugleich die Geschichte von spezifischen Disziplinen betreffen (wie zum Beispiel im Fall der agrarwissenschaftlichen und historischen Einordnung von Texten über Landbau). Transfer, Kulturtransfer und Wissenstransfer sind in den letzten Jahren immer häufiger gebrauchte Schlagworte geworden, Transfer ist als Thema en vogue. Die Frage danach, wie Wissen (und Wissensbestände, die als Kultur aufgefasst werden) horizontal oder vertikal transferiert wird, hat nach und nach alle Disziplinen erfasst, und damit steht auch die Übersetzung plötzlich verstärkt im Blickfeld, denn eng mit der Frage nach Wissensbeständen verknüpft ist die Ermittlung der möglichen Quelle des Wissens, also die konkrete Suche nach der Quelle, aus der das sich in konkreten Texten manifestierende Wissen herrührt. Diese Quellensuche bedient sich im Falle möglicher Übersetzungen unter anderem der Betrachtung offenbar älterer oder im gleichen Zeitraum oder eindeutig später entstandener Texte, weiterhin der Suche nach Referenztexten und seriellen Texten bzw. Textserien, die an diese wiederum anknüpfen. Es geht also um die Ermittlung von möglichen Referenztexten im Sinne von Auroux, d. h. um die Untersuchung von Übersetzungen als Textgesamtheit und das gleichzeitige Inbezugsetzen der Analysen der Einzeltexte zu den Ergebnissen der Untersuchung der Gesamtheit der Texte zu einem bestimmten Thema. Diese Herangehensweise hat die Isolierung von individuellen Gegebenheiten und die Herausarbeitung von textübergreifenden, die einzelne Serie an sich einenden Charakteristika zum Ziel. Dabei können durch eine Analyse der Texte Anzeichen für die bewusste oder unbewusste Orientierung an anderen Autoren und zeitlich vorhergehenden Diskurs- oder Vertextungstraditionen im Sinne des horizon de rétrospection der Autoren herausgearbeitet werden. Dieser „Erinnerungshorizont“ ist im Sinne Auroux’ als Gesamtheit derjenigen Texte und Autoren zu verstehen, die bei der Bearbeitung eines Themas über die Erinnerung aktualisiert werden. 9 „Erinnerungshorizont“ zielt hierbei auf das Vorliegen von Wissen in einem bestimmten historischen Moment und bei einem Autor bzw. Autorin oder einer Gruppe von Autorinnen und Autoren ab; 10 es umfasst aber neben dem „fachlichen“ Wissen bzw. Sachwissen meines Erachtens auch die mit seiner Repräsentation assoziierten oder verknüpften Vertextungsstrategien. Gerda Haßler (2002) unterscheidet zwischen textos de referencia (Referenztexten) und series de texto (Textserien). Für Textserien schlägt sie - als 9 Auroux 1996, 31. 10 Vgl. dazu auch Haßler 2002, 560. <?page no="71"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 71 Arbeitsdefinition und ohne Anspruch auf vollständige Berücksichtigung aller Eigenschaften - eine Definition vor, nach der eine Textserie eine Reihe von individuellen (gedruckten oder handschriftlichen) Texten ist, die dasselbe Thema im selben Wissensbzw. Wissenschaftsgebiet oder ohne erklärte Methode, aber mit demselben Ziel und unter ähnlichen bzw. vergleichbaren Bedingungen behandeln. Letztere seien zu ergänzen um unmittelbare persönliche Beziehungen oder Korrespondenz zwischen den jeweiligen Autoren, akademische Anforderungen und Normen der Textproduktion. Sie unterscheidet zudem methodologische Textserien, die einem gemeinsamen Paradigma folgen und vielfach dieselbe Terminologie verwenden, und pragmatische Textserien, die dieselbe ausreichend differenzierte Fragestellung innerhalb eines weiteren Forschungsfeldes behandeln, ohne dabei dieselbe Methodologie oder einen Prozess der Auswahl der Autoren anzuwenden. 11 Mit vergleichbaren Bedingungen sind dabei die Bedingungen gemeint, unter denen das Thema behandelt wurde, also zum Beispiel Öffentlichkeit vs. Nichtöffentlichkeit, Medium, Antwort auf bestimmte Fragen, Adressatenkreis, die ebenso wie das Ziel der Texte weitgehend gleich sein sollten. 12 Haßler (2002) zeigt anhand einer Untersuchung verschiedener Konzepte in den sprachwissenschaftlichen Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts deutlich auf, dass die Untersuchung von Textserien dazu beitragen kann, die Realität der untersuchten Prozesse hinsichtlich quantitativer, persönlicher, institutioneller und insbesondere argumentativer Aspekte verständlicher zu machen. Dadurch wird nachvollziehbar gemacht, dass beispielsweise Terminologie nicht „aus dem Nichts“ auftritt, sondern in einem historischen Kontext vorbereitet wird und, wenn sie sich erst einmal durchgesetzt hat, über Texte weiterverbreitet. Studien serieller Texte erlauben es beispielsweise zu ermitteln, ob eine Vorstellung oder ein Argument, das über einen bestimmten Referenztext bekannt ist, in die entsprechende Epoche gehört, in der sie oder es erstmals auftritt, oder ob dieser Referenztext zu seiner Zeit eher eine Randerscheinung darstellte und sich seine Bedeutung aus späteren Bedingungen der Rezeption und der Interpretation ergeben hat. 13 Damit ermöglicht es die Untersuchung einer als solche identifizierbaren Textserie zudem, in einzelnen Texten erfasste Erscheinungen wie bestimmte Argumentationen, Auffassungen oder Terminologien dahingehend zu untersuchen, ob es sich um Charakteristika ihrer Zeit handelt, die möglicherweise an frühere Diskurs- und Vertextungstraditionen anknüpfen oder als Grundlage nachfolgender Texte fungiert haben (könnten), und weiterhin kann damit untersucht 11 Vgl. Haßler 2002, 561, ähnlich 2000, 97. 12 Sinner 2012, 46. 13 Haßler 2002, 584. <?page no="72"?> 72 Carsten Sinner werden, ob es sich um Erscheinungen handelt, von deren Auftreten in möglicherweise erst später als zentrale Arbeiten ihrer Zeit verstandenen Texten nicht zwangsläufig auf eine hinsichtlich ihrer Textualisierung, Terminologie usw. tradierende Wirkung geschlossen werden kann. 14 Dies ist nur eine Möglichkeit der Beantwortung der Frage, welche die möglichen Quellen von existierenden Texten (und darunter auch von Übersetzungen) waren, wenn mehrere Texte oder mehrere Versionen von Texten hierfür in Frage kommen. Erkenntnisinteresse ist die Quellenermittlung; die Rolle der übersetzungswissenschaftlichen Techniken ist hier also rein instrumentell, denn wenn nach dem Prozess geschaut wird, dann nur, um dadurch auf die Quellen schließen zu können oder bestimmte Quellen auszuschließen, aber nicht, um Aussagen über die Art der Übersetzung selbst zu treffen. Ein Beispiel hierfür ist Bornkamms Analyse der Übersetzungen des Neuen Testaments durch Luther, um bestimmen zu können, wo sich Luther bei seiner Übersetzung auf den griechischen Text, wo auf die lateinische Vulgata stützte. Erkenntnisinteresse war es dabei, die Entstehung des Translates nachvollziehen zu können - welche Teile wodurch zu erklären sind, beispielsweise, wenn man aufgrund der Vergleiche der Lösungen Luthers feststellen wollte, ob er eine bestimmte Stelle (vielleicht falsch) aus dem Griechischen übersetzte oder aus dem Lateinischen, ob er Kommentaren anderer Autoren (wie dem mehrsprachigen und kommentierten Text Erasmus’) folgte usw. Bornkamm findet acht verschiedene Kombinationen der Verwendung unterschiedlicher Vorlagen, Kommentare und Übersetzungsentscheidungen. 15 Ein weiteres Beispiel ist die langwierige Bestimmung der Ursprache der „famous“ 16 Passio Perpetua et Felicitatis, mit der sich die Forschung schon verschiedentlich auseinandergesetzt hat, 17 wobei Hunink allerdings der Auffassung ist, das Thema sei inzwischen abgeschlossen: „The debate on the Latin and Greek versions seems to have subsided, with general agreement among scholars that the Latin version is the original, and the Greek a very early translation“. 18 Bemerkenswert ist hier beispielsweise, dass in der lateinischen Fassung eine (allerdings umstrittene) grammatikalische Mehrdeutigkeit vorliegt, welche Zweifel hinsichtlich der Urheberschaft der Darstellung der letzten Stunden vor der Hinrichtung Perpetuas nährt, während die entsprechende Stelle der griechischen 14 Sinner 2012, 47. 15 Bornkamm 1975, 66-68. 16 Hunink 2010. 17 Vgl. etwa Bremmer 2003 und die entsprechenden Kapitel zur Frage nach der Ursprache des Textes in Amat 1996 und Heffernan 2012. Ich danke Marcus Deufert, Universität Leipzig, für den Hinweis auf den letztgenannten Text. 18 Hunink 2010, 153. <?page no="73"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 73 Fassung nur eine Lesart erlaubt 19 und somit der Zweifel an Perpetuas „Urheberschaft“ an der Schilderung ihrer Qualen nicht berechtigt erscheint, so man die griechische Version als die Urfassung ansieht. 2.2.4 Analyse zur Nachvollziehung des Übersetzungsprozesses Eine weitere übersetzungswissenschaftliche Herangehensweise, die meines Erachtens die Arbeit mit der Übersetzung aus dem Lateinischen zu prägen scheint, ist die Analyse des Materials, das im Umfeld der Übersetzung eine Rolle gespielt haben könnte, wie etwa Untersuchungen der Handapparate der Übersetzer, der Spuren der Arbeit am Ausgangstext (zum Beispiel in Form von Glossen) usw. So soll nachvollzogen werden, wie die Übersetzer ihre Entscheidungen trafen, ob sie bestimmte Gründe, Motive oder persönliche Präferenzen hatten, ob sie selbst Zweifel hatten an den getroffenen Entscheidungen oder möglichen Lösungen usw. Nicht immer führt diese Arbeit zu belastbaren Ergebnissen, etwa, wenn man eine ganze Bibliothek einer Person oder eines Ortes, an dem eine Person arbeitete, durchforsten muss, weil bei jedem zu Lebenszeiten des Übersetzers vorhandenen Text davon auszugehen ist, dass damit gearbeitet worden sein könnte. Ein Beispiel, wenn auch peripher zum Lateinischen, sind die Aussagen über Luthers Anmerkungen zu seinem hebräischen Handapparat bei Mackert: 20 Die meisten handschriftlichen Einträge Luthers sind lateinisch, wenige deutsch; sie befassen sich mit Übersetzungsproblemen. Es ist aber schwierig, in Luthers Notizen „einen direkten Reflex der Übersetzungsarbeit“ zu sehen. Er hatte den handlichen Band wahrscheinlich immer dabei, seine Einträge darin wirken aber spontan und zufällig. Die unterschiedlichen, in den Punkten 2.2.2 bis 2.2.4 genannten Ansätze werden in der Forschung in unterschiedlicher Intensität und Reihung der Prioritäten miteinander kombiniert. 2.2.5 Untersuchung der Neologie auf Grundlage von Übersetzungen aus dem Lateinischen Ein weiterer wesentlicher Bereich der Auseinandersetzung mit der Übersetzung aus dem Lateinischen, der in der Translatologie so normalerweise nicht gehandhabt wird, ist die Untersuchung von Neologie bzw. Wortschatzerweiterung anhand von Übersetzungen. Dabei wird Neologismenbildung in der Regel mit 19 Ebd. 152-153. 20 Mackert 2014, 71. <?page no="74"?> 74 Carsten Sinner Übersetzung gleichgesetzt. Darum ist bei Lektüre von derartigen Studien jeweils zuerst die sehr wesentliche Frage zu stellen, was konkret unter Übersetzung verstanden wird, denn nicht alle der Auseinandersetzungen mit Aspekten, die von den Autorinnen und Autoren, die sich mit der Übersetzung aus dem Lateinischen auseinandersetzen, als Übersetzung identifiziert werden, sind aus der Sicht der Translatologie als solche zu kategorisieren. Aus Sicht der Übersetzungswissenschaft erinnert es an Laiendiskurs über Übersetzung, wenn beispielsweise angeführt wird, ein bestimmtes Wort sei unübersetzt geblieben, 21 oder wenn die Bildung von Neologismen in Arbeiten zur Übersetzung aus dem Lateinischen als Übersetzung kategorisiert wird, obwohl Neologismenbildung als Mittel der Erweiterung des Wortschatzes, um dadurch ausgangssprachliche Inhalte ausdrücken zu können, dem Übersetzen des Textes chronologisch sozusagen vorangeht. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, ist zwischen der Neubildung von Termini bzw. deren Nachbildung nach dem Vorbild einer anderen Sprache und der Übersetzung klar zu unterscheiden, um dem Umstand gerecht zu werden, dass bei Leerstellen in der Zielsprache (s. u.) die Schaffung von Terminologie in der Zielsprache die Übersetzung aus der Ausgangssprache erst ermöglicht. 22 Die Frage nach dem Füllen von lexikalischen Nullstellen in der Zielsprache stellt sich dem Übersetzer bei der Arbeit zwangsläufig, und so ist dieser Aspekt ein häufig behandeltes Thema in der Übersetzungswissenschaft. In der - in der Translatologie stark rezipierten - Äquivalenzklassifikation Werner Kollers 23 erscheinen als Unterkategorie der denotativen Äquivalenz die folgenden Möglichkeiten der Beziehung zwischen Ausgangs- und Zielsprache: {1 : mehrere}, {mehrere : 1}, {1 : 0}. 24 Es handelt sich hierbei jeweils um lexikalische bzw. terminologische Inkongruenzen oder Leerstellen; aufgrund dieser Beziehungen der Äquivalenz (bzw. Nichtäquivalenz) kann es entsprechend Übersetzungsprobleme 25 geben. Als besonders komplex gilt die Problematik der von Koller als Nulläquivalenz {0 : 1} bezeichneten Relationen, bei denen es tatsächliche Lücken im System der ZS gibt. Diese sind, wie Koller aufzeigt, allerdings 21 Vgl. zur Problematik der Übernahme ausgangssprachlicher Elemente in der Übersetzung ausführlich Sinner 2013a, 263-270. 22 Vgl. Sinner 2008, 156, insbesondere Anmerkung 4. 23 Zur Anwendung der Äquivalenzrelationen Kollers in der latinistischen Diskussion s. Kuhlmann im vorliegenden Band. 24 Koller 2004, 118. Tatsächlich ist die Darstellung der Äquivalenzrelationen durch Koller weitaus stärker rezipiert worden als die Arbeiten der Leipziger übersetzungswissenschaftlichen Schule zu dieser Thematik (wie etwa Jäger 1975; 1976 oder Jäger/ Neubert 1982; s. insbesondere auch die Arbeiten in Wotjak 2006). Dies ist verschiedentlich auf ideologische Motive zurückgeführt worden, s. dazu Wotjak 2006, Jung/ Sinner/ Bastista 2013, Sinner 2016b. 25 Vgl. Nord 1987. <?page no="75"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 75 nur vorläufig, da die Übersetzer durch Verfahren wie Umschreibung usw. oder wortschöpferische Maßnahmen Abhilfe schaffen und eine Übersetzung ermöglichen können. Derartige Leerstellen finden sich besonders häufig bei Realienbezeichnungen, und die Translationswissenschaft linguistischer Prägung hat sich sehr ausführlich mit ihnen und den zu ihrer Übersetzung angewandten Verfahren auseinandergesetzt. Die Vorschläge Kollers kommen denen der Stylistique comparée von Vinay/ Darbelnet (1958) sehr nahe: 26 Gebrauch des Worts der Ausgangssprache als Zitatwort oder als teilweise oder gänzlich an die Normen der Aussprache, Schreibung oder Morphologie der Zielsprache angepasstes Lehnwort, Lehnübersetzung, Verwendung eines in der Zielsprache bereits mit ähnlicher Bedeutung gebrauchten Elementes, Paraphrasierung des ausgangssprachlichen Ausdrucks oder Beschreibung, Kommentierung oder Definition der Bedeutung oder Adaptierung (im Sinne der Stylistique comparée, also Ersatz einer Tatsache in der Ausgangssprache bzw. der ausgangssprachlichen Kultur durch eine Tatsache der Zielsprache bzw. der zielsprachlichen Kultur). Abgesehen vom Paraphrasieren und dem Ersetzen einer Tatsache des Ausgangstexts durch eine Tatsache der Zielsprache stellen die aufgeführten Wege zur Schließung lexikalischer Leerstellen gleich mehrere Möglichkeiten dar, wie man sich eines Elements aus der Sprache des Ausgangstextes bedienen kann, um trotz lexikalischer Leerstellen der Zielsprache am Ende doch eine Übersetzung anfertigen zu können. Die von Koller aufgeführten Möglichkeiten sind noch um die Schaffung neuer Elemente auf Grundlage der Wortbildungsmechanismen der Zielsprache (ohne Rückgriff auf die Übersetzung der Morpheme) zu ergänzen. 27 In der Dolmetschwissenschaft ist das Thema der Neologie bisher eher selten Gegenstand von Untersuchungen gewesen. Eine wesentliche Unterscheidung, die für das Verständnis der hier betrachteten Problematik jedoch sehr hilfreich ist, stammt aus einer dieser wenigen Arbeiten, einer Studie zu Neosemantismen (d. h. existierende lexikalische Elemente werden mit veränderter oder erweiterter Bedeutung gebraucht): 28 In a context of translation and interpreting, it is important to make the distinction between neologisms in the source language (primary neology) and neologisms coined in processes of knowledge transfer between multiple language communities (secondary neology). 26 Vgl. Koller 1992, 231-232; 267-272. 27 Sinner 2013a, 253. 28 Van Obberghen/ Temmerman/ Kerremans 2018, 66. <?page no="76"?> 76 Carsten Sinner Die hier betrachtete Ebene ist also die der sekundären Neologie: wenn in der Zielsprache einer Übersetzung neuer Wortschatz gebildet wird, 29 um dadurch eine Aussage eines Ausgangstextes übersetzen zu können. Bemerkenswert ist nun in Arbeiten zum Lateinischen bzw. zur Übersetzung aus dem Lateinischen, dass im Zusammenhang mit den Neologismen, die aus Lehnübersetzung, Lehnbildung usw. hervorgehen, deren Genese praktisch immer direkt mit dem Prozess der Übersetzung gleichgesetzt oder als in ihn eingebunden - und nicht etwa ihm vorangehend - angesehen wird. Diese Herangehensweise an Übersetzung aus dem Lateinischen hat eine lange Geschichte in Deutschland, und vielleicht ist diese weit zurückreichende Tradition der eigentliche Grund dafür, dass sie, da als Lehrmeinung geltend, nicht in Frage gestellt wird. Ein besonders prominentes und diese lange Tradition gut illustrierendes Beispiel ist der folgende Auszug aus Betz, der sich über den Aufsatz „Studien über Wortbildung und Wortwahl im Althochdeutschen“ von Axel Lindquist äußert: 30 Gerade auf dem für Lehnübersetzungsfragen besonders fruchtbaren Gebiet des Althochdeutschen hat sich Axel Lindquist dieser Erscheinungen angenommen, in seinem Aufsatz ,Studien über Wortbildung und Wortwahl im Althochdeutschen‘, Beitr. 60, 1 ff., 1936. Er unterscheidet drei Arten, auf die ein ahd. [= althochdeutscher] Übersetzer - und man darf ruhig sagen: jeder Übersetzer - seine Aufgabe erledigen konnte, wenn für das zu übersetzende Wort kein treffendes eigenes vorhanden war: Lehnwort, Bedeutungslehnwort, Lehnübersetzung. Und über den Aufsatz selbst schreibt er: „Der Lindquistsche Aufsatz ist für uns hier wichtig, weil er aus einem reichen ahd. Material Fälle der Neubildung nach lateinischem Vorbild zusammenzustellen versucht.“ 31 Hervorzuheben ist, dass beim Zusammentragen dieses Materials, gleich zu welcher Sprache, nur allzu gerne mit Übersetzungen gearbeitet wird, und diese übersetzten Texte mit besonderer Häufigkeit als wichtiges bzw. wichtigstes Einfallstor für Lehnübersetzung oder Neologismen allgemein angesehen werden. Betz spricht hier noch von „das zu übersetzende Wort“; aus Sicht der modernen Translatologie werden nun eben nicht Wörter übersetzt, sondern Texte, die eben nicht Wort für Wort übersetzt werden! Die bis heute vertretene Ansicht, dass Übersetzen zwangsläufig Neologie nach sich zieht oder Neologie und Übersetzen gleichzusetzen sind, beruht auf derartigen Aussagen in allen möglichen 29 Neosemantismen werden aufgrund der veränderten Bedeutung ebenfalls als Neologismen aufgefasst. 30 Betz 1949, 18. 31 Ebd. <?page no="77"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 77 Texten zur Wortbildung und, vor ihnen, in allen möglichen Texten zur Übersetzung aus dem Lateinischen. Der Blick der Autoren ist hinsichtlich des Zusammenhangs von Übersetzung und Neologie gewissermaßen getrübt, wie das folgende Beispiel zeigt, wo es Betz im Zusammenhang mit der Frage nach Neologismen in einer isländischen Übersetzung eines Textes von Nietzsche darum geht, dass im Isländischen normalerweise Neologismen durch Wortbildung und nicht Entlehnung oder Lehnübersetzungen gebildet werden: „Das Isländische übernimmt so gut wie gar keine Fremdwörter, es bildet aus eigenem Sprachstoff die Entsprechungen zu den Wörtern der anderen Sprachen.“ 32 Auch hier wird eine direkte Verbindung zwischen Wortschatzerweiterung allgemein und Neologismengebrauch in Übersetzungen gezogen und somit auch eine Kausalbeziehung hergestellt. Auch wenn es hier nur um einen konkreten Fall geht, entsteht der Eindruck, dass es um die Übersetzung von Texten ins Isländische allgemein geht, obwohl es sich um eine allgemeine Tendenz des Isländischen handelt, die jegliche Form von Textverwendung einbezieht, für die neue Terminologie erforderlich wird, und eben nicht nur im Falle der Übersetzung. Diese reduktionistische Sicht auf Übersetzung ist meines Erachtens ein disziplin(en)historisch erklärbares Charakteristikum der Auseinandersetzung mit der Übersetzung aus dem Lateinischen. 2.2.6 Auswirkungen auf Stil, Rhetorik usw. Der sicher am besten untersuchte Bereich ist die Auswirkung der Übersetzung aus dem Latein ins Deutsche von Textsorten wie Reden, Theater, Gedichte, Fabeln usw., also von Übersetzungen, die wir allgemein als „literarisch“ bezeichnen würden. Eng verknüpft damit ist in der Forschung die Frage danach, wie diese Arbeiten im Deutschen zu Veränderungen der Syntax, zur lateinischen „Imprägnierung“ von stilistischen Aspekten in deutschen Texten usw. geführt haben, wie die Rhetorik beeinflusst wurde usw. In diesem Zusammenhang gibt es sicher die meisten Publikationen, in denen über die Rolle der Übersetzung nachgedacht oder diese untersucht wird. In diesen Arbeiten fällt oft auf, dass davon ausgegangen wird, dass eine spezifische Übersetzung eines konkreten Textes durch einen bestimmten Übersetzer, Übersetzungen bestimmter Konvolute oder Sammlungen von Texten oder Übersetzungen ganzer Textserien in ihrer Gesamtheit wesentliche Veränderungen auslösten. Übersetzung habe Rhetorik, Poesie, fachsprachliche Textsorten usw. geprägt oder verändert, bestimmte Tendenzen der Sprachverwendung wie neue stilistische Aspekte, Präferenzen für besondere sprachliche Ausdrucksformen 32 Ebd. 30. <?page no="78"?> 78 Carsten Sinner oder Nutzung von sprachlichen bzw. stilistischen Ressourcen ausgelöst, die vorher anders oder gar nicht Verwendung fanden bzw. schlicht nicht existierten. Es stellt sich aber die Frage, wie man unterscheiden will, welche dieser Aspekte durch die Übersetzung von lateinischen Texten und ihre Veröffentlichung und anschließende Lektüre durch deutschsprachige Autorinnen und Autoren ins Deutsche gekommen sind und welche beispielsweise durch den Lateinunterricht, durch die dort praktizierten Stilübungen, die Generationen von Gymnasiasten absolvierten, oder gar die Lektüren von lateinischen Texten mit nicht als funktionstüchtige „deutsche Texte“ gedachten Interlinearübersetzungen verursacht wurden. Es hält sich hartnäckig die Sicht, dass Übersetzung für die stilistische Erneuerung von Sprachen verantwortlich ist, Textsorten verändert, Texttraditionen beeinflusst oder initiieren kann - aber es konnte bisher nicht endgültig empirisch bewiesen werden, dass es Übersetzungen oder zumindest nur Übersetzungen waren, die Anteil daran hatten oder solche Entwicklungen auslösten. Diese Problematik ist erst in jüngerer Zeit in Arbeiten aufgezeigt worden, die sich kritisch mit den Lehrmeinungen zur Rolle der Übersetzung in der Sprachplanung auseinandersetzen, wo man von der Erfahrung aus der Rolle der Übersetzung in der Vergangenheit hinsichtlich der Beeinflussung der Volkssprachen durch Übersetzungen aus dem Lateinischen und Griechischen geschlossen hatte, dass derartige Entwicklungen auch geplant in Gang gesetzt werden könnten. 33 Tatsächlich ist aber der Nachweis noch nicht gelungen, dass das Übersetzen per se solche Macht haben kann. Es ist schwer oder gar nicht nachzuweisen, dass bestimmte Strukturen in den Übersetzungen zuerst erschienen und nicht ohnehin schon in der Sprache in Gebrauch waren (was bei der Rolle von Latein als Kulturadstrat ebenfalls naheliegend ist). 34 Es geht hier wohlgemerkt nicht darum, zu behaupten, dass Übersetzungen grundsätzlich keinen derartigen Einfluss hatten oder haben, sondern darum, aufzuzeigen, dass man ohne empirische Belege unter Ausschluss bzw. Berücksichtigung anderer möglicher Faktoren sich verwahren muss, aus dem Erscheinen von bestimmten Elementen in Übersetzungen auf die Übersetzung als „Auslöser“ von Sprachwandel zu schließen. Solange nicht geklärt ist, ob sicher nachgewiesen bzw. ausgeschlossen werden kann, dass entsprechende Phänomene schon vor den Übersetzungen in Originaltexten auf Deutsch oder in der gesprochenen Sprache zirkulierten, kann nicht auf einen unifaktoriellen Kausalbezug zwischen Übersetzung aus dem Lateinischen und Sprachwandel - in unserem konkreten Beispiel: Innovationen im Wortschatz - im Deutschen geschlossen werden. 33 Vgl. Sinner im Druck a. 34 Ebd. <?page no="79"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 79 Es sei angefügt, dass sehr viel über Übersetzungsgeschichte herausgefunden werden könnte, wenn all die Einzelergebnisse zur „Übersetzungssprache“ bestimmter Autoren konsequent zusammengefasst würden, um aus einzelnen Mosaiksteinchen der sprachlichen Phänomene in ihren Übersetzungen oder Texten das Mosaik zusammenzusetzen und dann den Blick auf das Mosaik selbst in den Vordergrund zu rücken. 3 Selektive oder mangelnde Berücksichtigung von Übersetzungstheorien und translatologischen Fragestellungen 3.1 Fokussierung auf die Skopostheorie Wesentlich erscheint die Analyse der Frage, warum in der Auseinandersetzung mit Übersetzungen aus dem Lateinischen manche Strömungen der modernen Translatologie nicht oder nur ausnahmsweise aufgegriffen wurden. Wenn überhaupt mit translatologischen Veröffentlichungen gearbeitet wird, so hat man sich offenbar vor allem mit der Skopostheorie auseinandergesetzt, die nach der Funktion des Zieltextes fragt und diese dann bei der Wahl der Übersetzungsmethode(n) absolut prioritär behandelt. Das ist auf den ersten Blick gut nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass Übersetzungen aus dem Lateinischen in vielen Disziplinen im Wesentlichen aufgrund historischen Interesses und somit mit gegenüber dem Originalkontext stark veränderten Zielfunktionen angefertigt werden. Es liegt auf der Hand, dass die neue Funktion Relevanz hat und nicht die ursprüngliche, und genau das vertritt die Skopostheorie. Beispiel wäre ein 2000 Jahre alter lateinischer Originaltext, der als Fachtext eines bestimmten Wissens oder Wissenschaftsgebietes fungierte und Zeitgenossen beispielsweise innovative Techniken erläuterte, während die Übersetzung des Textes aus dem Jahr 2018 nicht Fachleute über Innovationen ihres Fachs informieren soll, sondern ein historisch interessiertes, vielleicht an der Disziplingeschichte arbeitendes Fachpublikum darüber aufklären soll, welcher Forschungsstand vor 2000 Jahren konstatiert werden kann oder wie die Forschung im entsprechenden Fachgebiet im Jahr 18 nach Christus war. Wegen des Ausbleibens einer Erneuerung des lateinischen Textkorpus durch Abfassung neuer (muttersprachlicher) Texte wird ein Aspekt im Laufe der Geschichte der Erstellung lateinischsprachiger Übersetzungen immer notorischer: Übersetzungen aus dem Lateinischen wurden über die Jahrhunderte hinweg immer weniger zur Erfüllung von Funktionen wie Instruktion oder Unterhaltung angefertigt und immer mehr zu einer Domäne rein dokumentarischer Übersetzungen, in denen es nicht um eine Übersetzung mit Funktionskons- <?page no="80"?> 80 Carsten Sinner tanz geht, sondern um eine Form, in der Zielsprache über den Ausgangstext oder sein Funktionieren in der Ausgangstextkultur zu informieren oder, wie es Prunč ausdrückt, 35 um als Dokument der Situation zu fungieren, in welcher der Verfasser des Ausgangstextes mit seinem Zielpublikum kommunizierte. Übersetzungen aus dem Lateinischen sind heute sehr oft solche dokumentarischen Übersetzungen, für die ganz andere Regeln bzw. Regelmäßigkeiten gelten als für andere Übersetzungstypen. Es geht um das Übersetzen von Texten für ein Publikum, das, aus welchen Gründen auch immer, wissen möchte, was man etwa in Rom oder im frühen Christentum über bestimmte Dinge sagte (bzw. dachte oder schrieb). Dies ist vornehmlich für historische Studien relevant, sei es in der Geschichtswissenschaft selbst, sei es in anderen Disziplinen, in denen die Anfertigung oder Betrachtung von Übersetzungen einen Beitrag zur Disziplingeschichte leisten soll. Für die Auseinandersetzung mit linguistischen Fragestellungen - wie der Frage nach der Beeinflussung der Zielsprache durch Übersetzung - wären eigentlich die linguistischen Ansätze weitaus geeigneter; dies jedoch ist ein Schluss, zu dem man bei Lektüre funktionalistischer Texte, die in der Regel überzogen kritisch gegen die linguistischen Perspektiven ins Feld zogen, ohne weitergehende translatologische Kenntnisse nicht gelangt. Übersehen wird bei der „latinistischen“ Lektüre der Aussagen zur Skopostheorie, dass die Funktionalisten, die diese Ansätze vertreten, sich aus ideologischen Gründen überkritisch und unsachlich gegenüber den linguistischen Ansätzen der Translatologie positionierten und gar darlegten, die funktionalistische Perspektive sei ein Schritt zur Überwindung der linguistischen Ansätze. Tatsächlich finden sich schon in den Texten der Leipziger übersetzungswissenschaftlichen Schule (die klar linguistisch war und ist) Aussagen, die denen der Funktionalisten genau entsprechen. 36 Vielleicht hängt die Tendenz zur Erwähnung der Skopostheorie damit zusammen, dass man in der Auseinandersetzung mit dem Lateinischen, so denn überhaupt ein Interesse an Übersetzungstheorie gegeben war, zur schnellen Einarbeitung in das Thema der Einfachheit halber gängige Einführungen in die Übersetzungswissenschaft konsultierte. In deutschsprachigen Einführungen in die Übersetzungswissenschaft wird die Skopostheorie seit den 1990er-Jahren prominent - aber angesichts des Einführungscharakters derartiger Werke auch stark vereinfacht - dargestellt, und in manchen dieser Werke wird die linguistische Translatologie schlicht als „überwundene“ Tendenz der frühen Translatologie abgetan, obwohl auch in der Translatologie schon länger die „Rückkehr“ 35 Prunč 2007,166. 36 Vgl. Sinner 2017; Jung/ Batista/ Sinner 2013. <?page no="81"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 81 zur linguistischen Betrachtung gefordert wird (obwohl diese beispielsweise in der Leipziger Tradition nie aufgegeben wurde! ). 37 Auffällig ist auch, dass umgekehrt die Kritik an den Funktionalisten - und auch die gab es in der Translatologie nicht zu knapp - offensichtlich bei der Arbeit mit Lateinübersetzung nicht zur Kenntnis genommen wird. Ich nehme also eine gravierende Unkenntnis der Geschichte der Translatologie als Disziplin an, eine Unkenntnis der historischen Abläufe, der Entwicklung der Disziplin, der verschiedenen Strömungen und der Eignung verschiedener Ansätze für verschiedene Übersetzungstypen. Die Zieltextorientierung der Skopostheorie erbost viele, auch im Kontext der Übersetzung aus dem Latein, weil man der Meinung ist, diese sei Verrat am Ausgangstext. Tatsächlich sind aber Ansätze wie die der Leipziger Schule, die fragt, was die Funktion im Ausgangstext ist und wie diese, so Wirkungskonstanz gewünscht ist, im Zieltext zu erreichen ist, zuerst einmal ausgangstextorientiert und dann zieltextorientiert. De facto wirkt es aber in vielen Darstellungen außerhalb der Translatologie so, als werde diese insgesamt als zielttextorientiert angesehen, wohl weil man sie mit dem Skoposansatz gleichsetzt. Das lässt dann zwangsläufig auf fehlende Kenntnis der anderen Perspektiven schließen, was aber wohl nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass man sich mit Darstellungen aus Einführungen für Studierende und stark verkürzenden Darstellungen in Handbüchern der Translatologie begnügt. Dass dies als ausreichend angesehen wird, ist jedoch Symptom eines anderen Problems: dass man sich allgemein in sehr vielen Disziplinen nicht sonderlich dafür zu interessieren scheint, was andere Wissenschaftsbereiche - und darunter die Translatologie - zu sagen haben. Hinzu kommt im Falle der translatologischen Problemstellungen, dass viele meinen, auch ohne eine umfassende Einarbeitung in die Translatologie etwas zu Übersetzungen sagen zu können. Dies ist nicht wirklich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass allen, die im Alltag, im Berufsleben wie in der Freizeit mit Übersetzungen in Kontakt kommen, bei minimaler sprachlicher Sensibilität oder sprachlichem Interesse dann an diesen Übersetzungen auch immer etwas „auffällt“, womit die Hemmschwelle, sich dazu auch im wissenschaftlichen bzw. akademischen Kontext dazu zu äußern, wohl sinkt. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Erkenntnisse der Translationswissenschaft auch oder gerade in ihr fachlich nahestehenden Disziplinen wie Linguistik und Fremdsprachendidaktik je nach Ansatz weitgehend oder vollkommen ignoriert werden und sogar den seit Jahrzehnten gängigen Positionen der Translatologie widersprechende Positionen verbreitet werden. 38 37 Vgl. Sinner/ Hernández Socas/ Hernández Arocha 2014. 38 Sinner 2016b; 2017 im Druck a und b. <?page no="82"?> 82 Carsten Sinner 3.2 Nur ausnahmsweise historiographische Auseinandersetzung mit translatorischen Fragestellungen Während für andere Sprachen und Imperien, etwa das spanische Kolonialreich, seit der kulturellen Wende und mit dem Aufkommen der sogenannten postkolonialen Herangehensweisen versucht wird, aufgrund von Quellenstudien und Suche nach Beschreibungen von Dolmetsch- oder Übersetzungstätigkeiten in historischen Dokumenten herauszufinden, wie Dolmetschen und Übersetzen die Ausbreitung der Spanier und Unterwerfung anderer Völker begleiteten bzw. überhaupt erst ermöglichten, ist das für das Lateinische als Sprache des römischen Reichs bis auf wenige Ausnahmen noch immer ein dringendes Desideratum. In der Regel heißt es aber über den Umgang der Römer mit Fremdsprachen, dass das Erlernen der Fremdsprachen eher außergewöhnlich war, womit anzunehmen ist, dass Dolmetscher oder Übersetzer in der Regel Ausländer waren, die Latein gelernt hatten. Darauf weist Adams in seiner Arbeit Bilingualism and the Latin Language auch explizit hin: „Less commonly, Latin-speaking officers learned a Germanic language through their service and acted as interpreters“. 39 Für das Griechische gilt dies in den späteren Epochen des Römische Reiches allerdings nur bedingt, und so heißt es bei Selden über die späte Römische Republik: 40 „Educated Romans of the period could converse fluently as a rule in Greek as well as Latin“, aber über die Kommunikation zwischen einsprachigen Römern und Griechen mittels Dolmetschern und Übersetzern wissen wir ähnlich wenig wie über die Kommunikation mit Sprechern anderer Sprachen. Es ist daran zu erinnern, dass es beispielsweise in Texten zur Geschichte des Römischen Reiches und zur Expansion Roms nur sehr wenige und, wenn überhaupt, in der Regel nicht sehr tief gehende Aussagen über die Art der Verständigung mit anderen Völkern oder die Präsenz von Sprachkundigen gibt, welche die Kommunikation ermöglicht haben könnten. Somit können wir über die sprachlichen Praktiken im Verlaufe der Expansion Roms und der Romanisierung der eroberten Gebiete (im Sinne der kulturellen Anpassung anderer Völker an römische Sitten und Gepflogenheiten) und ihrer eventuellen Latinisierung (im Sinne der Annahme des Lateins zuerst als Zweit- oder Bildungssprache und dann ihrer Weitergabe als Muttersprache) nicht genug wissen, um uns auch nur entfernt ein Bild davon zu machen, wie wohl die Auswahl von Zweisprachigen für die erforderliche mündliche und schriftliche Kommunikation mit Anderssprachigen oder gar die gezielte Ausbildung von „Sprachexperten“ für den Einsatz als Übersetzer und als Dolmetscher erfolgte. Es ist jedoch anzunehmen, 39 Adams 2003, 267-277. 40 Selden 2014, 175, unter Verweis auf Rawson 1995. <?page no="83"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 83 dass es das Berufsbild des mündlich und schriftlich zwischen anderen Personen mittelnden Sprachkundigen und insbesondere eine Unterscheidung von verschiedenen Berufsbildern für mündlich und schriftlich mittelnde Personen nicht gegeben haben dürfte. Es gibt einige Hinweise auf die Präsenz von Sprachkundigen - meist wohl im Sinne schlicht mehrsprachiger Personen - bzw. darauf, dass mit Dolmetschern gearbeitet wurde und dass man sich dafür zweisprachiger Personen bediente. So finden sich Belege dafür, dass man Sprachkundige zum Teil durch zweisprachige Erziehung bzw. zweisprachiges Aufwachsen von Kindern beispielsweise mit Latein und Griechisch oder Latein und Ägyptisch gezielt „heranzog“. Welche Sprachen dies betraf und inwiefern es auf gezielte politische Entscheidungen zurückging, entzieht sich unserer Kenntnis. Während es aber für andere Sprachen eine breite Palette von Arbeiten zur Rolle des Dolmetschens in ihrer Geschichte gibt, ist dies ein für das Lateinische ein noch immer kaum betrachtetes Feld. Es gibt zwar Hinweise auf Erwähnungen von Dolmetschen und Übersetzung, 41 aber meines Wissens keine detaillierte Untersuchung dazu, was in zeitgenössischen Texten über den genauen Ablauf des Dolmetschens gesagt wurde, welche Hinweise auf die Art und Weise der Verdolmetschungen gegeben wurden, welche verschiedenen Techniken, Probleme, Konsequenzen von Fehlern usw. erwähnt wurden und wie diese nach den Kategorien der modernen Translatologie zu kategorisieren sind, oder wie versucht wurde, das Problem der Treue der Verdolmetschung oder der Loyalität des Dolmetschers zu gewährleisten. Es ist zudem nicht sicher, wann (schriftliches) Übersetzen und wann (mündliches) Dolmetschen gemeint ist. Dies sind nur einige der translatologischen Fragestellungen, die für andere Sprachen im Zusammenhang mit der Historiographie der Translation sehr ausführlich behandelt werden. 42 3.3 Weitere wenig oder nicht berücksichtigte Tendenzen der Translatologie Eine ganze Reihe verschiedener Ansätze der Translatologie, wie die Polysystemtheorie (auch: Descriptive Translation Studies, Manipulation School), die diversen postkolonialen Ansätze, 43 die perzeptive Translatologie 44 oder die varietäten- 41 Vgl. hierzu etwa Edwards 1999, 255; Adams 2002, 2003; Selden 2014. 42 Vgl. beispielsweise Payàs/ Zavala 2012 zur Translation im Rahmen der Kriege zwischen dem spanischen Kolonialreich und der indigenen Bevölkerung in Chile. 43 Vgl. dazu die Übersicht in Prunč 2007. 44 Vgl. Sinner/ Morales 2015; Sinner 2019. <?page no="84"?> 84 Carsten Sinner translatologische Perspektive 45 ist nicht oder fast nicht auf das Lateinische angewendet worden. Der polysystemische Ansatz, in seinen Ursprüngen eher in der Literaturwissenschaft als in der Übersetzungswissenschaft anzusiedeln, fokussiert die Auswirkungen von Übersetzung auf die literarische Zielkultur. Es fehlen bis heute translatologische Positionierungen oder Studien dazu, welchen Platz ins Lateinische übersetzte Texte innerhalb der Gesamtheit der Texte in lateinischer Sprache haben, und ebenso dazu, welche Rolle das Übersetzen aus dem Lateinischen im literarischen Polysystem der Zielsprache der Übersetzungen jeweils hat. Allerdings ist gerade die erste Leerstelle gewissermaßen nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass zu diesem lateinischen Polysystem keine Sprechergemeinschaft im engeren Sinne mehr gehört, in der das Lateinische als Kommunikationsmittel dient, die auf das System Einfluss nimmt und es beispielsweise durch Übersetzungen aus anderen Sprachen verändert. 46 Auch der Umstand des Fehlens von Muttersprachlern selbst wäre dahingehend zu betrachten, welche Relevanz er für den polysystemischen Ansatz und welche methodologischen Konsequenzen dies haben könnte. Obwohl es, wie gesehen, keine Muttersprachler mehr gibt, gibt es bis in die Gegenwart Übersetzungen ins Lateinische, 47 dieser Umstand ist aber meines Wissens in der Latinistik nicht aus translatologischer Perspektive untersucht 45 Vgl. Sinner 2009, 2014. 46 Eine derartige Rolle kann man den (immer nichtmuttersprachlichen) modernen Verwendern des Lateinischen kaum zugestehen, auch wenn sich im globalisierten Sprachgebrauch über das englische community das Konzept der mehr oder weniger virtuellen Gemeinschaft etabliert hat und man als solche die Gesamtheit der Personen ansehen könnte, die weltweit das Latein in bestimmten Formen, kontextuell und hinsichtlich der Gebrauchsdomänen extrem begrenzt zur Kommunikation verwenden. Der Umstand aber, dass Personen bewusst Kontexte schaffen müssen, um eine Sprache verwenden zu können, die sonst in ihrem Alltag nicht mehr verwendet wird, wird in der Soziolinguistik nun gerade als Indiz dafür angesehen, dass eine Sprache aufgehört hat, von einer Sprechergemeinschaft verwendet zu werden. Ein Beispiel hierfür ist der Niedergang des Judenspanischen (Ladino) bei den sephardischen Juden wegen der Aufgabe der Sprache durch ihre Sprecher und die Auflösung der Sprechergemeinschaft u. a. durch Emigration und Genozid, wie sie von Schmid 2006, 11-22 beschrieben wird, die auch davon spricht, dass „die judenspanische Sprache ihre Sprachgemeinschaft verloren“ habe und lediglich noch eine virtuelle Gemeinschaft von Sprechern existiere, aber keine Kommunikationsgemeinschaft mehr: „Man spricht nicht einfach Ladino, sondern man trifft sich, um Ladino zu sprechen“. 47 Dazu gehören auch Texte, die als Lehrbuchtexte originale lateinische Texte ergänzen oder ersetzen sollen, wie etwa auch die Reihe Asterix auf Latein, über die es in der Werbung heißt, sie solle „für Schüler und Lehrer eine tolle Alternative zu den typischen, staubigen Lateinbüchern“ (Egmont 2018) oder „für Schüler und Lehre eine tolle Alternative zu De bello gallico“ (bücher.de 2018) sein. <?page no="85"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 85 worden. Dies sagt sehr viel über die Relevanz der Übersetzungsrichtung aus. Aus Sicht der postkolonialen Ansätze ist es auch Ausdruck des besonderen Status des Lateinischen und seiner bemerkenswerten Dominanzrolle - und zwar trotz des Fehlens einer muttersprachlichen Gemeinschaft mit kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Macht, was für das Erlangen internationaler Bedeutung von Sprachen in der Regel wesentliche Faktoren sind. 48 Herangehensweisen an das Lateinische wie an das Englische als internationale Sprache, die für einen Großteil der Verwender nicht Muttersprachler ist, stehen aus translatologischer Sicht noch aus. Für das Englische etwa existieren Studien dazu, wie Nichtmuttersprachler Inhalte in einer Sprache verbalisieren, von der sie nicht immer wissen, wie andere Verwender des Englischen sie verstehen würden, und in der sie insbesondere nicht einschätzen können, wie Nichtmuttersprachler sie verstehen würden. Ich denke hier auch an Studien, in denen es darum geht, inwiefern Nichtmuttersprachler des Englischen besser mit anderen Nichtmuttersprachlern als mit Muttersprachlern kommunizieren oder in denen beispielsweise hinterfragt wird, ob „Nichtmuttersprachler besser nachvollziehbar für andere Nichtmuttersprachler schreiben können“. 49 Der Umstand, dass das Lateinische eine nicht mehr muttersprachlich und insbesondere nicht mehr von einer geographisch mehr oder weniger klar umrissenen Sprachgemeinschaft gesprochene und geschriebene Sprache ist und dass das Lateinische mit dem Verschwinden von Lateinischmuttersprachlern nicht mehr an „die“ römische Kultur gebunden ist, hat aus varietätenlinguistischer und -translatologischer Perspektive großes Gewicht. Über Jahrhunderte hinweg wurden trotz des Fehlens von Muttersprachlern aufgrund der besonderen Rolle des Lateins als Kultursprache oder als internationale Sprache immer auch Texte ins Lateinische übersetzt, und die lateinischen Texte, die in den Jahrhunderten seit der Verdrängung des Lateinischen als Muttersprache durch andere Sprachen bzw. seit dem „Übergang“ des Lateinischen durch Sprachwandel in seine romanischen Nachfolgesprachen entstanden sind, werden dennoch in der Regel genauso behandelt wie die Texte von Muttersprachlern, ganz so, als seien all die lateinisch schreibenden Autoren und all die ins Lateinische übersetzenden Übersetzer Lateinischmuttersprachler. Der Umstand, dass man es seit Ende der an Latein gebundenen Sprachgemeinschaft mit einer (massenhaften) Produktion von nichtmuttersprachlichen Texten zu tun hat, wird kaum problematisiert, obwohl sich in der Translatologie (und in der Varietätenlinguistik) zunehmend die Ansicht durchsetzt, dass über- 48 Vgl. Sinner 2013b für eine Übersicht über die Kriterien, die für die Begründung des Status einer Sprache als Weltsprache oder internationale Sprache in der Regel angeführt werden. 49 Rabe 2016, 216. <?page no="86"?> 86 Carsten Sinner setzte Texte eigene Varietäten von Sprachen darstellen, die nachweisbare Besonderheiten aufweisen und entsprechend unbedingt gesondert zu betrachten sind. 50 Werden in der Varietätenlinguistik und in der darauf Bezug nehmenden Translatologie von Nichtmuttersprachlern verfasste Texte und Übersetzungen bereits als eigene und entsprechend gesondert zu behandelnde Varietäten von Sprachen gesehen, 51 steht dies für die Auseinandersetzung mit der Übersetzung im Kontext des Lateinischen noch aus. Nichtmuttersprachlerlatein wird also nicht als solches betrachtet bzw. ist nicht vordergründiges Forschungsinteresse. Natürlich hat man sich in der Latinistik (ebenso wie in der Romanistik) mit der spätlateinischen geschriebenen Hochsprache, wie sie von Schriftstellern und Männern der Kirche verwendet wurde, und mit ihrer Kontinuität im Mittelalter auseinandergesetzt, aber der nichtmuttersprachliche Status per se war dabei kein eigenes Erkenntnisinteresse. Man hat sich also zwar mit dem Schriftlatein auseinandergesetzt, aber meist, ohne sich viele Gedanken darüber zu machen, dass es Nichtmuttersprachlerlatein war; dieser Umstand war natürlich bekannt, wurde aber vor allem für die Frage der Übersetzung ins Lateinische nicht als Problem der Forschung identifiziert. Während man in der Übersetzungswissenschaft in den letzten Jahrzehnten sehr viel zu der Frage gearbeitet hat, welche Aspekte abgesehen von Interferenzen der Ausgangssprachen einen übersetzten Text noch charakterisieren, ist dies für das Lateinische noch ein praktisch unbearbeitetes Feld. Es wird im Bereich der Translatologie nicht mehr daran gezweifelt, dass es Unterschiede zwischen muttersprachlich verfassten Texten, nichtmuttersprachlich verfassten Texten und Texten als Resultat von Übersetzungen gibt. Bei Letzterem kommt im Fall der veröffentlichten Übersetzungen noch das Lektorat dazu, d. h. der Umstand, dass diese Texte Charakteristika aufweisen, die nicht mit Interferenzen erklärbar sind, aber mit dem Prozess der Übersetzung und Edition bzw. Editierung von Texten zu tun haben (beispielsweise geringere Variation, höhere Normnähe usw.). Mittlerweile mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, dass übersetzte Texte nicht nur eigene Varietäten von Sprachen konstituieren müssen, sondern dass es mindestens drei Ebenen von Übersetzungsvarietäten einer Sprache, also der in übersetzten Texten verwendeten Sprache geben müsste: Übersetzungen in die eigene Muttersprache, Übersetzungen von Nichtmuttersprachlern in die Fremdsprache, Übersetzungen von Personen, die weder Zielnoch Ausgangssprache muttersprachlich beherrschen. Tatsächlich kann, wie zuvor schon dargelegt, in der Arbeit mit lateinischen Texten aus diversen 50 Vgl. hierzu Sinner 2014, 255-256. 51 Vgl. ebd., 249-252; 255-256. <?page no="87"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 87 Epochen oft nicht einmal immer klar festgestellt werden, ob es sich um Originale (oder gar Originale von Nichtmuttersprachlern? ) oder Übersetzungen (von Muttersprachlern oder Nichtmuttersprachlern) oder bearbeitete Versionen handelt, womit sich eine Klassifizierung der unterschiedlichen Übersetzungsvarietäten noch schwieriger gestaltet als im Kontext anderer Sprachen. Infolge der fehlenden Unterscheidung der Varietäten, deren Notwendigkeit von der Varietätenlinguistik längst deutlich aufgezeigt worden ist, ist eine lange Reihe von Herangehensweisen an Übersetzungen in die lateinische Sprache und aus der lateinischen Sprache aus Sicht der Translatologie per se fragwürdig. Insbesondere aber hat man sich aus diesem Grund weniger mit einigen Fragen auseinandergesetzt, die in der Translatologie im Zusammenhang mit anderen Sprachen in der Regel eine Rolle spielen. Darauf soll nachfolgend genauer eingegangen werden. Eine Auseinandersetzung mit theoretischen Aspekten der Übersetzung, den Entscheidungen während des Übersetzungsprozesses, der Bewertung der Übersetzung, der möglichen Rezeption und somit implizit auch mit der Qualität hat sich im Lauf der Geschichte - im Zusammenhang mit Übersetzungen in die Muttersprache - immer wieder ergeben. Zumindest sind die überlieferten metatranslatologischen bzw. theoretisierenden Texte meist Vorworte oder Nachworte zu Übersetzungen, vielfach Rechtfertigungen der eigenen Übersetzungsentscheidungen, die - wie etwa die Aussagen Luthers zu seiner Bibelübersetzung 52 - im historischen Kontext zu verstehen sind. Mir sind bis in die Moderne fast keine derartigen Vorworte oder theoretischen Auseinandersetzungen in Übersetzungen in die Fremdsprache bekannt, und tatsächlich finden sich diese offenbar erst mit der Normalisierung von Klein- und Kleinstsprachen, da es für diese Sprachen zum Teil schlicht nicht genügend fähige Übersetzerinnen und Übersetzer gibt, die aus bestimmten Ausgangssprachen arbeiten (könnten). 53 Damit fallen auch manche Aspekte, die in anderen Übersetzungskontexten relevant sind, weg, oder man kann sie - wie in anderen historischen Kontexten - nur aufgrund schriftlicher Zeugnisse rekonstruieren. Dies betrifft etwa Untersuchungen zur Perzeption der Texte, zu den Erwartungen der Zieltextleser und - eng mit diesen beiden Aspekten verbunden - zum Qualitätsempfinden. Ein bemerkenswerter Aspekt des Fehlens von Muttersprachlern, der vor allem im Zusammenhang mit dem hohen Alter vieler Texte zu sehen ist, ist von besonderer Relevanz für das Verständnis des Umfelds der Übersetzung aus 52 Vgl. Luther 1530. 53 Beispiel für eine solche Ausnahmeerscheinung ist die Arbeit von Heike von Lawick, die neben Übersetzungen in die Muttersprache Deutsch auch zahlreiche literarische Übersetzungen deutschsprachiger Texte ins Katalanische angefertigt und publiziert hat (s. visat 2018). <?page no="88"?> 88 Carsten Sinner dem Lateinischen: Man kann niemanden fragen, was der Autor mit einem bestimmten Wort, einem Satz, einem Text sagen wollte, sondern muss dies auf Grundlage von Repertorien wie Wortlisten, Grammatiken oder durch Paralleltextvergleich ermitteln. Eva Wöckener-Gade referierte auf dem Leipziger Kongress zur Digitalen Geisteswissenschaft im Frühjahr 2018 über Probleme bei der Interpretation griechischer Originaltexte, die daher rühren, dass man keine Muttersprachler befragen könne und somit aus dem Kontext erschließen müsse, was bestimmte Textstellen bedeuten. Kompliziert sei dies jedoch insbesondere bei Paraphrasen, Metaphern und Ironie. Um zu erschließen, wie zeitgenössische Leser antike Texte verstanden, schlägt Wöckener-Gade vor, durch eine Korpusanalyse zur Ähnlichkeit von Texten vergleichbare Stellen in anderen Schriften zu suchen, die von Zeitgenossen kommentiert wurden oder von denen wir beispielsweise aufgrund von zeitgenössischen Übersetzungen in andere Sprachen (wie Griechisch) herleiten können, wie die entsprechenden Stellen verstanden worden sein könnten. Das Übersetzen auf Grundlage von schriftlichen Texten nur mithilfe von Wörterbüchern, Glossaren und Paralleltexten und ohne wirkliche Sicherheit, wie bestimmte Elemente des Textes wirklich gemeint waren, kennt man in anderen einzelsprachbezogenen (bzw. sprachpaarbezogenen) Übersetzungswissenschaften nur aus einem Bereich, der in der Regel als „Spezialfall der Übersetzung“ oder gar als „Spezialproblem der Übersetzung“ angesehen wird: das Übersetzen von historischen Texten, also solchen aus früheren bzw. älteren Sprachstufen. Für diese älteren Sprachstufen - und das gilt insbesondere für all jene, für die wir keine zeitgenössischen Aufzeichnungen, Aufnahmen und Beschreibungen haben - haben wir normalerweise keinen Überblick über die gesamte Architektur der Sprache, also kein komplettes Bild der diatopischen, diastratischen und diaphasischen Strukturierung, und aus diesem Grund gelten Übersetzungen solcher Texte als besondere Herausforderung und gewissermaßen auch als Wagnis, weil man bei vielen Aspekten nur vermuten kann. Man hat Probleme bei der Bedeutungsermittlung, der Interpretationsspielraum ist entweder zu groß oder - in einem bestimmten Kontext - zu klein, oder aber die bekannten Bedeutungen werden immer wieder angenommen, weil mögliche Polysemie oder Teilsynonymie nicht notwendigerweise erkannt wurde, entsprechend nicht unbedingt Eingang in die gängigen Wortlisten bzw. Wörterbücher gefunden hat und somit manche Elemente ein ums andere Mal gleich interpretiert werden, wo möglicherweise größere Interpretationsbreite möglich gewesen wäre. Für die Übersetzung aus dem Lateinischen ist dies pauschal grundsätzlich anzunehmen, und wie problematisch die Deutung von bestimmten Teilen der Ausgangstexte sein kann, zeigt sich, wenn man verschiedene moderne Über- <?page no="89"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 89 setzungen oder auch nur Deutungen eines Ausgangstextes vergleicht, deren Urheber offensichtlich die Ausgangstextstellen völlig unterschiedlich interpretierten. 54 Ist das Hinzuziehen von Paralleltexten oder Vergleichstexten in der Zielsprache in der Übersetzungswissenschaft in der Regel ein gefragtes Arbeitswerkzeug zur Erstellung von Übersetzungen, 55 so ist für die Übersetzung aus dem Lateinischen vor allem die Analyse von Parallel- und Vergleichstexten in der Ausgangssprache von Bedeutung. Dasselbe Problem ergibt sich bei all den Aspekten, die ich unter dem Schlagwort individuelle Kreativität zusammenfassen möchte: Ad-hoc-Kreationen, Wortspiele, absichtliche ‚Übertretungen‘ der Regeln von Syntax und Morphologie, Spiel mit Zitaten oder fremden Stimmen usw. Eine weitere besondere Herausforderung der Übersetzung sind idiolektale Erscheinungen, aber der in der Translatologie als spezifisches Übersetzungsproblem erkannte Idiolekt ist vor allem deshalb ein Stolperstein für Übersetzer, weil die eigentliche Problematik darin liegt, idiolektale Aspekte als solche überhaupt erst einmal zu identifizieren. In klassischen Texten sind idiolektale Aspekte aus zwei Gründen besonders kompliziert. Zum einen liegt es zwar erst einmal nahe, Aspekte, die in keinem Text anderer Autoren zu finden sind, als möglicherweise idiolektale Erscheinungen zu identifizieren. In der Korpuslinguistik wird jedoch immer wieder daran erinnert, dass fehlende Belege in einem Korpus nicht per se als Beweis dafür angesehen dürfen, dass eine Erscheinung nicht doch in anderen Texten gefunden werden könnte, wenn die Textgrundlage größer wäre. 56 Für lateinische Texte jedoch, und insbesondere lateinische Texte aus bestimmten Epochen, ist der Textfundus nun einmal limitiert. Im Bereich der Wortbildung etwa ist es aus eben diesem Grund praktisch unmöglich, einen Hapax legomenon - also einen Einzelbeleg in einem einzigen Text eines einzigen Autors - als solchen zu identifizieren, denn selbst wenn eine bestimmte Erscheinung nur in einem Text eines einzigen Autors belegt ist, muss dies nicht bedeuten, dass andere Sprecher des Lateinischen nicht diese oder vergleichbare Formen realisiert haben könnten, die uns lediglich nicht überliefert sind bzw. in dem zur Verfügung stehenden Textkorpus nicht nachweisbar sind. Zudem ist die Ermittlung der möglichen Bedeutung solcher nur einmalig belegten Formen oder Strukturen, deren Bedeutung 54 Ein fast schon klassisches Beispiel dieser Art ist die Existenz zweier diametral unterschiedlicher Auslegungen des griechischen Originals von Platons Phaidros-Dialog; nach Schleiermachers Auffassung sei nach Platon Schrift die Erinnerung an das Gespräch, und die Nachahmung des mündlichen Dialogs in der Schrift könne dasselbe leisten wie der mündliche Dialog, während die Tübinger philosophische Schule Schleiermacher widerspricht, da die eigentliche Auffassung der Philosophie Platons die Zurückweisung der Schrift gewesen sei, welche nur eine Erinnerung der Rede darstelle (s. Sinner 2014, 209). 55 Vgl. Sinner/ Hernández Socas 2012. 56 Vgl. in diesem Sinn Levin/ Song/ Atkins 1997, 25. <?page no="90"?> 90 Carsten Sinner entsprechend aus keinen anderen Kontexten erschlossen werden könnte, aus naheliegenden Gründen ein Vabanquespiel: Auf muttersprachliche Intuition, sei es die eigene, sei es die anderer Personen, kann nicht zurückgegriffen werden. Bei Übersetzungen ins Lateinische ebenso wie aus dem Lateinischen hat also die Tatsache, dass seit Jahrhunderten lateinische Texte von Nichtmuttersprachlern für Nichtmuttersprachler verfasst und auch in andere Sprachen übersetzt werden und man aus anderen Sprachen ins Lateinische übersetzt, einen im Vergleich zur Translation im Kontext moderner wesentlichen Unterschied zur Folge, nämlich, dass man schlecht Antworten auf Fragen nach der Idiomatik, der lateinischen bzw. römischen Idiosynkrasie und Probleme wie das Ausmaß vom Kulturtransfer bekommen kann. Man vermisst, eng verknüpft mit der Frage danach, wie sich das Fehlen von Muttersprachlern auf die Ermittlung von Bedeutung auswirkt, die Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich das Fehlen von Muttersprachlern auf die Bewertung der Qualität von Übersetzungen auswirkt. Die umfassenden Debatten zur Evaluierung von Übersetzungsqualität scheinen die latinistische Auseinandersetzung zur Übersetzung kaum berührt zu haben. Einziger generalisierbarer Maßstab ist die grammatikalische Korrektheit, während Akzeptabilität, die eng mit kontextbezogener Üblichkeit verknüpft ist, praktisch keine Rolle spielt. Das Fehlen von Muttersprachlern hat somit für die Handhabung der Frage der Übersetzung aus praktischer ebenso wie aus wissenschaftlicher Sicht und für die grundsätzliche Auseinandersetzung mit Translationsprozess und Translat (als Ergebnis des Translationsprozesses) sehr weit reichende Konsequenzen: Bei der Übersetzung ins Lateinische gibt es keine kontrollierende Instanz durch Personen mit muttersprachlicher Kompetenz - der Abgleich von Übersetzungen ins Lateinische beschränkte sich seit Verschwinden einer muttersprachlichen Kommunikationsgemeinschaft auf den Vergleich mit - dann immer mehr gealterten - lateinischen Originaltexten, ein Blick auf zeitgenössische muttersprachliche lateinische Texte zur Ermittlung der Qualität lateinischer Zieltexte ist dagegen nicht möglich. Gerade diese Perspektive ist es jedoch, die über die Jahrzehnte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Übersetzung geprägt hat, etwa wenn über die Frage der Treue einer Übersetzung, über Wirkung oder über Loyalität gegenüber dem Autor bzw. der von ihm beabsichtigten Wirkung gesprochen wurde. 57 Zudem spielen Übersetzungen aus dem Lateinischen auf dem Buchmarkt ohnehin keine Rolle, daher gibt es auch keine Notwendigkeit, gelungene und gut verkaufbare Übersetzungen zu produzieren. Es wurde schon hervorgehoben, dass lateinische Texte meist nicht um der Inhalte wegen übersetzt bzw. nicht 57 Vgl. dazu ausführlich Sinner/ Morales 2015. <?page no="91"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 91 übersetzt werden, um sie in der Funktion zu nutzen, die sie im Original hatten, sondern im Sprachunterricht entweder zur Überprüfung des Lernfortschrittes oder in Form von Musterübersetzungen zur Überprüfung der „Korrektheit“ des eigenen, an einer Übersetzung festgemachten Textverständnisses sowie im Wissenschaftskontext z. B. um sprachwissenschaftlicher Fragestellungen willen oder aus historischem Interesse, d. h. vielfach, um sie als Quellen zugänglich zu machen, als welche sie nicht einmal ansprechend oder gut lesbar sein müssen. Und damit haben wir einen Teufelskreis: Texte werden von Historikern, von Literaturwissenschaftlern usw. übersetzt, die Übersetzungen werden von Historikern oder Literaturwissenschaftlern gelesen und analysiert. Das Erkenntnisinteresse ist dann nicht die Übersetzung selbst, und dies sicher auch, weil die Übersetzungen nicht aufgrund wirtschaftlichen Interesses entstehen. Die Übersetzungen haben kaum Verbreitung, und damit fällt auch das Interesse an der Rezeption der modernen Übersetzungen aus, welches es für andere Sprachen in der Regel gibt. Dies ist sicherlich ein wichtiger Grund dafür, dass es keine entwickelte perzeptive Übersetzungswissenschaft zum Lateinischen gibt. Selbst wenn man aber nun die Qualität bewerten wollte, so ist dies nur bedingt realisierbar. Im Hinblick auf das Problem der Bewertung der Wirkung von Texten stellt sich in der aktuellen Translatologie mehr als je zuvor die Frage, wie bei der Einschätzung von Übersetzungen, die über die Bestimmung von offensichtlichen (grammatikalischen, lexikalischen) Fehlern hinausgehen soll, vorzugehen ist. Bei der Einschätzung von Adäquatheit, Natürlichkeit, Authentizität von Übersetzungen - und somit genau genommen der Qualität bezüglich ihrer Wirkung - stellt sich über die bereits wiederholt genannten Probleme der fehlenden Instanz der Muttersprachlichkeit hinausgehend genau wie bei Einschätzungen sprachlicher Äußerungen per se die Frage, inwiefern ein einzelnes Urteil aussagekräftig sein kann. Vertrauen auf - normalerweise einzelne - Sprecherurteile war der Hauptkritikpunkt an der generativen Sprachwissenschaft, die sprachliche Variation als vernachlässigenswert erachtete und entsprechend beiseiteließ bzw. in vereinfachender Weise von einem idealen Sprecher und einem idealen - und das bedeutet: variationsfreien - Sprachsystem ausging. Tatsächlich wurde die fehlende Berücksichtigung der diasystematischen Varietäten sehr früh als Schwachpunkt des generativen Ansatzes angesehen, denn die generativen Grammatiken von Einzelsprachen differenzieren weder verschiedene Niveaus der Sprache noch berücksichtigen sie Registerunterschiede oder Unterschiede im Raum, die sich im Sprachgebrauch widerspiegeln und Konsequenz des sprachlichen Wissens bzw. der sprachlichen Kompetenz sind. 58 Wie Klein schon in den 1970er-Jahren anmerkte, deklariert die starke Homogenitäts- 58 Vgl. ausführlicher Bondzio u. a. 1980, 139; Martín Zorraquino 1988, 438. <?page no="92"?> 92 Carsten Sinner annahme der Generativisten ebenso wie die Annahme eines idealen Sprecher- Hörers wesentliche und z.T. gut erforschte Bereiche des sprachlichen Verhaltens als zweitrangig. Klein zufolge führt sie auch zu erheblichen Schwierigkeiten in der empirischen Arbeit, was man, wie er darlegt, „z.B. symptomatisch an den stark schwankenden Urteilen über Grammatikalität, Synonymie und dergleichen sieht“ 59 . In der Praxis führe dies dazu, dass jeder Linguist seinen Idiolekt beschreibt, besser gesagt das, was er dafür hält. Dieser Mechanismus ist nun im Falle des Lateinischen ausgehebelt, weil keine muttersprachlichen Urteile mehr möglich sind. Im Fall des Lateins und der Übersetzungen in diese Sprache haben wir die Herausforderung der Einschätzung der sprachlichen Form und Bedeutung somit in verschärfter Form. Dieses Problem wird ohnehin noch zugespitzt, wenn nur eine Person sowohl über die Wirkung eines Ausgangstextes als auch über die Wirkung der Übersetzung dieses Ausgangstextes urteilt. Eine Person, die beider Sprachen eines Übersetzungspaares von (moderner) Ausgangs- und Zielsprache mächtig ist, ist aufgrund ihrer Sprachkenntnisse weder mit dem durchschnittlichen Rezipienten des Ausgangstextes noch mit dem des Zieltextes zu vergleichen; 60 das trifft besonders für Übersetzerinnen und Übersetzer sowie Übersetzungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zu, denn Kenntnisse über Übersetzung sind im Bevölkerungsdurchschnitt die Ausnahme, in vielen Gesellschaften ist zudem auch Mehrsprachigkeit nicht verbreitet. Im Falle des Lateinischen als einer der beiden Sprachen einer „Übersetzungsbeziehung“ ist der genannte Umstand der Nichtmuttersprachlichkeit als zusätzlich problematisch anzusehen. Das mag banal klingen, weil Latein nun mal - abgesehen von ein paar durchgängig zwei- oder dreisprachigen „Experimentkindern“ - keine Muttersprachler mehr hat. Aber viele der aktuellen Fragen der Translatologie drehen sich genau darum, um das textproduzierende Individuum, seinen Idiolekt, seine Einbettung in einen Soziolekt, der wiederum in einer diatopischen Varietät fußt. Für das Lateinische sind dies nur begrenzt analysierbare Aspekte, weil wir nur die Retrospektive haben. Sie sind dennoch für eine lateinische Übersetzungswissenschaft von ungeheurer Bedeutung und ihre Betrachtung stellt somit ein eindeutiges Desideratum dar. 4 Schluss Es wurde aufgezeigt, dass sich eine eigene lateinische Translatologie im engeren Sinne aus verschiedenen Gründen nicht herausgebildet hat und dass das 59 Klein 1976, 30. 60 Sinner 2014 passim; Sinner 2017, 10-11. <?page no="93"?> Ein translatologischer Blick auf die Übersetzung aus dem Lateinischen 93 Interesse der Latinistik an Übersetzung sich auf einige wenige Fragestellungen konzentriert, dabei aber translatologische Erkenntnisse nur bedingt zur Kenntnis genommen wurden. Die Bedingungen für eine lateinische Translatologie sind aufgrund des Fehlens von Gemeinschaften mit muttersprachlicher Kompetenz sehr spezifisch - und insgesamt ungünstig -, und darin sind auch die Hauptunterschiede zwischen der Auseinandersetzung mit der Übersetzung im Kontext des Lateinischen oder im Kontext der modernen Sprachen zu sehen. Es gibt eine lange Reihe von Aspekten, die aus Sicht der Translatologie als Grundprobleme oder Kernfragen erkannt sind, die im Kontext der latinistischen Auseinandersetzung mit Übersetzung bisher aber aus verschiedenen Gründen noch nicht aufgegriffen wurden. Literaturverzeichnis Adams, James N. (2003), Bilingualism and the Latin language, Cambridge. — / Janse, Mark/ Swain, Simon (Hrsg.) (2002), Bilingualism in ancient society. Language contact and the written text, Oxford. Amat, Jacqueline (1996), Passion de Perpétue et de Félicité suivi des Actes. Introduction, texte critique, traduction commentaire et index par Jacqueline Amat, Paris. 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Die Arbeit an der Sprache spätantiker Literatur und ihrer Übersetzung muss mit verhältnismäßig wenigen zuverlässigen Instrumenten und eher älteren Vorarbeiten auskommen. Die Dokumente der lateinischen Übersetzungstradition in Deutschland, die von Nina Mindt, Josefine Kitzbichler und anderen umfassend aufgearbeitet wurden, legen aber nahe, dass es sich nicht nur um ein Problem der Spätantike handelt: Das Übersetzen als Synthese und Dokumentation der Erkenntnisse, die aus der philologischen Untersuchung gewonnen wurden, ist kein Gegenstand des Faches und gehört auch nicht zu seinen anerkannten Darstellungsformen. Abgesehen von wenigen Fachangehörigen, die deutschsprachige Wiedergaben in ihre Fachbeiträge integrieren oder selbständig publizieren, dominiert eine von philologischen Komponenten weitgehend befreite Übung der Verdeutschung als Mittel der Leistungsmessung in Schule und Studium. Die Schule muss dabei eigenen Regeln folgen, die Situation an der Universität ist eine andere. Weil es an fachlichen Standards fehlt, reicht manchen in der universitären Lehre Tätigen anscheinend eine irgendwie aus einer Wortkunde und einer Schulgrammatik ableitbare Wiedergabe von Einzelteilen, selbst wenn sie deutschen Syntaxregeln 1 Den Bandherausgebern danke ich herzlich für ihre große Geduld und die Aufnahme meiner vorläufigen Überlegungen, die sich aus dem ursprünglichen Plan, einige Beispiele aus der Arbeit an der „Bibliothek der lateinischen Literatur der Spätantike“ vorzustellen, entwickelt haben. Dankbar möchte ich hier auch Heinz-Lothar Barth nennen, der die deutsch-lateinischen Übersetzungsübungen in meiner Bonner Studienzeit zu einem Zentrum der Sprachreflexion gemacht hat. 2 Macrobius Ambrosius Theodosius. Kommentar zum Somnium Scipionis, herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Friedrich Heberlein, Steiner Verlag, Stuttgart 2019. <?page no="102"?> 102 Alexander Arweiler widerspricht und keine verständliche Aussage bildet. 3 Übersetzungsfähigkeit als Studienziel wird hier entweder gar nicht oder in einem wunderlichen Verständnis von Übersetzen verfolgt, gemäß dem das Verstehen der Textaussagen und sprachanalytische Fähigkeiten von deutschsprachiger Wiedergabe getrennt werden können und letztere selbst in rudimentärer Form für den Studienabschluss ausreicht. Auch aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Frage, was Übersetzen von solchen Wiedergaben grundsätzlich unterscheidet, gibt es kaum Unterstützung. Manchen fehlt vielleicht das Interesse an eigenen latinistischen Ansätzen, an den Ergebnissen anderer Fächer 4 oder an einer terminologischen und methodologischen Auseinandersetzung mit den Grundfragen des Übersetzens. 5 Nicht zufällig reichen viele der (auch im Folgenden) oft herangezogenen Ausführungen in die 1960er zurück und sind selbst wieder aus sehr viel älterem Material aufbereitet, und das, obwohl es sich beim Übersetzen um ein philologisches Grundanliegen handelt, die Sprache den Hauptgegenstand des Faches bildet und Sprach- und Übersetzungsreflexion einander wechselseitig bedingen. Angesichts der umfassenden Wandlung des Sprachverständnisses in allen Disziplinen scheint es ein vielversprechendes Anliegen, zukünftig die begründete Übersetzung als Abschluss philologischer Arbeit zu etablieren, so wie früher einmal die höhere Textkritik als ihr Abschluss gedacht wurde. Das gilt umso mehr, als eine universitäre Lehre, die den Studierenden die Fähigkeiten zum 3 Hier und im Folgenden geht es nicht um allgemeingültige Feststellungen, sondern um einzelne Beispiele, die aus der eigenen, notwendigerweise begrenzten Erfahrung stammen. Sie sollen nur dazu dienen, mögliche Folgen bestimmter Auffassungen und Haltungen zu illustrieren. Einzelne Nachweise meinte ich mir ersparen zu können, weil es um zukünftige Möglichkeiten des Faches geht, nicht um verpasste der Gegenwart und Vergangenheit. 4 Wie viel die Latinistik für die eigene Übersetzungsreflexion von anderen lernen kann, zeigt Apel 1982 mit seiner problemgeschichtlichen Studie (zum Begriff ebd. 31 f.). Die universitäre Lehre mag von Ort zu Ort unterschiedlich viel aus Linguistik, Sprachphilosophie und Semiotik der letzten eineinhalb Jahrhunderte aufgenommen haben (z. B. wenigstens aus populären Einführungen wie Bünting 1972 oder Volmert 1999 [Kap. Grundbegriffe, Syntax, Semantik]), ein dem aktuellen Sprachwissen entsprechender Konsens im Fach lässt sich nicht erkennen. 5 Eine anregende Auseinandersetzung, wie sie Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015 bieten, ist eine Ausnahme. Was man in der älteren Fachgeschichte von Ritschl (in den Opuscula philologica) bis Norden, Klingner oder Friedländer findet, ist meist explizit als Beiwerk gekennzeichnet, auch Publikationsorte wie zum Beispiel ‚Die Antike‘, Bd. 1, 1925, 98 f. markieren diese Randstellung. Abneigung gegen das Übersetzen als Weg ins Populäre begleitet oder verursacht dann auch die paradoxe Annahme, Übersetzung sei keine philologische Aufgabe. Nachhall findet solche Fehleinschätzung in Vorgaben für Seminararbeiten, in denen eine Übertragung vor der Textanalyse stehen soll, was beide Teile sinnlos macht. <?page no="103"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 103 Übersetzen und verstehenden Erklärenkönnen der Textgestalt vorenthält, die veränderten Rahmenbedingungen übersieht: Lateinische Literatur kann wohl nur noch auf dem Weg der Übersetzung in den geisteswissenschaftlichen Diskurs eingebracht werden kann - begnügt man sich mit Hilfskonstrukten, die weder das Lateinische noch das Deutsche als Sprachen ernstnehmen, ist das gleichbedeutend mit ihrem Ausschluss. Von der zweisprachigen Ausgabe für ein Publikum, das den lateinischen Text nicht brauchen soll, um den deutschen mit Gewinn zu lesen - wie es in der „Bibliothek der lateinischen Literatur der Spätantike“ angestrebt wird -, ist neben der genannten Wiedergabe zur Leistungsmessung auch eine andere Erscheinungsform des Übersetzens zu unterscheiden, nämlich diejenige, die sich im Verein mit Kommentaren, Erklärungen und Interpretation als Teil des erschließenden Begleitmaterials versteht. Hier können vorläufige Wiedergaben stehen, die das in der Untersuchung erreichte Textverständnis dokumentieren und eine Zwischenstufe zur Übersetzung und weiteren Erläuterung darstellen. 6 Die legitimen Ziele der Wiedergabe zur schulischen Leistungsmessung und die der Wiedergabe zur Dokumentation philologischen Textverständnisses, die sich nicht als Übersetzung verstehen muss, sollen im Folgenden weitgehend ausgeklammert werden, um die genannte dritte Variante, die selbständige Übersetzung, und deren Vorbereitung durch universitäre Lehre in den Blick zu nehmen. Die selbständige ist die tatsächliche Übersetzung, sie ist keinem der Ziele der beiden anderen verpflichtet, kann daher aber auch nicht auf deren Sekundärfunktionen verweisen, wenn literarisch interessierte Leserinnen und Leser die deutschen Wiedergaben als sprachlich unbeholfen, kaum verständlich und irrelevant im intellektuellen Diskurs beiseite legen. 7 An die Stelle der alten Kritik und Hermeneutik, die derzeit als Ziel und Methode des Fachstudiums ersatzlos entfallen sind, könnte, so das Leitmotiv im Folgenden, die philologisch begründete Übersetzung treten und damit die universitäre Lehre wieder mit den Belangen der Ausbildung von Lehrkräften für die Schule (worin sich erstere nie hätte erschöpfen dürfen) versöhnen. 6 Diese Aufgabe weist ihnen auch Boeckh 1886, 162 zu: „Uebersetzungen und Umschreibungen sind also für das Studium die Grundlage der weiteren Erklärung, des Commentierens.“ 7 Einerseits erscheint lateinische Literatur in der (internationalen) Forschung zu Recht als intellektuell anspruchsvolle Kunstform, die aktuelle Fragen geradezu herausfordert. Andererseits gewinnt man bei der Lektüre von deutschen Wiedergaben, Begleittexten und populären Darstellungen den Eindruck, es handele sich um mittelmäßiges, sprachlich unzulängliches Schrifttum, dem Zeit zu widmen kaum gerechtfertigt wäre. <?page no="104"?> 104 Alexander Arweiler 1 Sonderstellung des Lateinischen oder seiner Vermittlung? In der gegenwärtigen universitären Sprachausbildung sind auch einige für das Gymnasium des 19. Jahrhunderts entworfene oder aus dessen Umfeld stammende Lehrwerke in Gebrauch, was für sich genommen bemerkenswert, aber nicht problematisch ist (im Gegenteil, wie ich weiter unten behaupten möchte). Problematisch ist hingegen der sorglose Umgang mit der Heterogenität des Tradierten, in dem Falsches neben Richtigem steht und Vorannahmen transportiert werden, die wegen ihrer fachlichen oder ideologischen Implikate dringend ersetzt werden müssten. 8 Solcher unwillkommene Beifang prägt dann die Sprache und Begriffe der Lehre, ergänzt von aus der Schul- und Studienzeit Erinnertem, das ebenfalls selten überprüft wurde. Kommt dazu eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Versuchen, die aus dem eigenen Lateinunterricht übernommenen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen - man denke nur an die übliche Beschreibungssprache der Grammatiklehre, die weder antik noch 8 Weil sich in Ansätzen, Fachsprache, Stoffauswahl und ‚Sitz im Leben‘ so viel geändert hat, bedürfen auch Teile der Standardwerke mittlerweile einer präzisen Einordnung in die Fachgeschichte, vor allem, weil sie nie für die lateinisch-deutsche Übersetzung gedacht waren. Die Langlebigkeit der Unterrichtswerke ist genauso faszinierend wie der Aufstieg, der den Grammatikstoff des Anfangsunterrichtes mittlerweile zum Gegenstand fakultativer Lerntätigkeit nach dem Examen im Fach Latein befördert hat. Die weitverbreitete Schulgrammatik „für untere Schulklassen“ von Ellendt (später in der Bearbeitung von Seyffert) erlebte zwischen 1835 und 1917 nicht weniger als 61 Auflagen und bietet mehr oder weniger in Ansatz und Umfang das, was jetzt die universitäre Lehre bis zum Abschluss beschäftigt. 1928 erschien die „Lateinische Grammatik auf sprachwissenschaftlicher Grundlage“ von Rubenbauer und Hofmann, sie wurde 1948 „im Wesentlichen unverändert“ nachgedruckt, in der achten Auflage 1968 minimal angepasst (mittlerweile unter dem Titel „Lectiones Latinae. Grammatik“ wieder deutlicher als das Schulbuch erkennbar, als das sie gedacht war), danach von Heine für die universitäre Lehre „nur in seltenen Fällen ernsthaft angetastet“, mit dt. Übersetzungen versehen und seitdem belassen. Ähnliche Pietät waltete bei den Bearbeitungen der Lateinischen Grammatik von Kühner (geb. 1802) durch Stegmann (geb. 1852). Aus Stolz/ Schmalz, „Lateinische Grammatik“ mit vier Auflagen (1885-1910) wurde Leumann/ Hofmann 1928, „Lateinische Grammatik“ (mit neuem historischem Schwerpunkt), dann Leumann/ Hofmann/ Szantyr 1965. Alle sind herausragende Werke herausragender Latinisten, aber sie alle sind notwendigerweise begrenzt von Auffassungen, Wissen und Interessen der einzelnen genauso wie vom zur Kenntnis genommenen Wissensstand der jeweiligen Zeit - es wäre interessant zu sehen, was aus selbst ja schon gealterten Bemerkungen wie der von Kroll 1917, 21 über Kühner-Stegmann (zur Kasuslehre) geworden ist: „Wie rückständig Kühners Grammatik auch in der neueren Bearbeitung ist, mag der Umstand zeigen, daß […]“. Vor allem aber sind sie eben nicht für die lateinisch-deutsche, sprachvergleichend arbeitende Übersetzung von Texten unterschiedlichster Zeiten, Sprachstände und Textsorten gedacht und transportieren Missverständnisse von ‚hoch‘ und ‚niedrig‘, ‚klassisch‘ und ‚unklassisch‘, ‚richtig‘ und ‚dekadent‘, oft im Verein mit fragwürdigen organologischen Begriffen des frühen 20. Jahrhunderts. <?page no="105"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 105 modern ist -, scheint es fast, als hätten manche Lehrende den recitator des eigenen Schulwissens freiwillig als Leitbild gewählt. 9 Verbinden wir nun diese mögliche Bedingung der Lehre, nämlich die sorglose Nachnutzung tradierter Fachelemente in einem veränderten wissenschaftlichen Umfeld, das Revision und Methodologie doch dringend erforderlich machen würde, mit zwei verbreiteten apologetischen Motiven: Auf den Einwand, dass die deutsche Wiedergabe eines lateinischen Textes so gar nicht literarisch, ja nicht einmal deutsch klinge und sich nicht wie die Übersetzung eines gleichrangigen Werkes der Weltliteratur aus anderen Sprachen überhaupt ‚normal‘ lesen lasse, bemühen Latinistinnen und Latinisten gerne zum einen den Hinweis auf die spezielle Komplexität der Texte, die Dichte des Ausdrucks und die Unübersetzbarkeit der literarischen Kunstwerke, zum anderen den Vermerk, dass die Antike von der jeweiligen Gegenwart ja zeitlich weit entfernt und kulturell fremd sei, das Lateinische als solches also keine andere Wiedergabe zulasse. 10 Steht aber nun hinter solchen Verweisen auf die Besonderheit des Lateinischen nicht doch eine Verwechslung der Bedingungen der Fachlehre mit dem Gegenstand des Faches? Ist weniger die Sprache als der Umgang mit ihr das Problem? Kaum lesbar wären manche Übertragungen dann nicht aufgrund von Besonderheiten des Lateinischen, sondern aufgrund einer fragwürdigen Auffassung desselben und einer ebenso fragwürdigen Auffassung von der deutschen Schriftsprache. Für die Annahme einer solchen Verwechslung spricht, dass die Argumentation, die von den genannten Hinweisen ausgehen soll, gar nicht schlüssig wird: Die Selbstverständlichkeit, dass Literatur immer unter bestimmten Gesichtspunkten unübersetzbar ist, expliziert nur eine Tautologie, die für alle Sprachen gilt, und es mag, etwa was den zeitlichen Abstand, Unwissen über die sprachliche und kulturelle Umgebung oder Überlieferungslücken betrifft, zwar in einigen Sprachen besser bestellt sein als im Lateinischen der Antike, dem auch wegen der Abgeschlossenheit seiner Textcorpora der Zuwachs für die Datenbanken fehlt, aber es sind doch immer nur graduelle, keine kategorialen 9 Nicht umsonst beginnen Devine/ Stephens 2013, 3 ihre große Studie zur lateinischen Semantik ganz ähnlich mit dem Hinweis, dass auch neuere Fachbeiträge fest in der Tradition des 19. Jahrhunderts wurzelten, was wohl in kaum einer anderen Disziplin möglich wäre, und das tatsächliche Problem darin liege, dass der ganze Rahmen mit Begriffen und Ansätzen der grammatischen Erklärungen lange überholt ist („the theoretical framework of the grammatical explanations themselves is also very dated“). 10 Die Verbreitung der Motive zeigen die Dokumente in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009. Zu einem jüngeren Beispiel der Berufung auf das Motiv der Unübersetzbarkeit bei Ovid s. Schmitzer 2016, 216. <?page no="106"?> 106 Alexander Arweiler Unterschiede. 11 Was die Leserschaft deutschsprachiger Wiedergaben nicht selten ertragen muss (ungelenker Ausdruck, falsche Bezüge, Konstruktionen und Wortstellung, die Abwesenheit von Stil [im antiken Sinn des Begriffs]), würde sich nicht aus dem Lateinischen und seinen Eigenheiten herleiten, sondern daraus, wie es in der Lehre präsentiert wird. Das passt dazu, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert einer Sprachreflexion war, die jetzt in und neben zahlreichen Fächern eine eigenständige Disziplin bildet, weite Forschungsfelder prägt und mit ihren theoretischen und methodologischen Prinzipien zu einer selbstverständlichen Dimension in den Geisteswissenschaften geworden ist, es der lateinischen Philologie aber nicht gelungen ist, ihre reiche Tradition der Sprachanalyse einzubringen oder umgekehrt, ihre Positionen mit den überall verfügbaren Erkenntnissen zu überarbeiten. 12 Das bleibt auch dann fatal, wenn man sich darauf beriefe, dass, wie es die antike Rhetorik für das Reden annahm, auch das Übersetzen so sehr vom Einzelfall abhänge, dass allgemeine Regeln immer gefährlich seien - ein non liquet im Ganzen. Der Ausgangsbefund könnte nun folgendermaßen lauten: Die ungeprüfte Übernahme heterogener Traditionsbestände bei gleichzeitigem Übersehen relevanten früheren und aktuellen Wissens hat Mängel hervorgerufen und dazu geführt, dass öfter Privatmeinungen zur eigenen Übersetzungserfahrung an Stelle von terminologisch und sachlich fundierten Argumenten geäußert werden. Deshalb besteht der doppelte Nachholbedarf des Faches darin, vergessene philologische Tradition zurückzugewinnen und eigene Begriffsbildung im Kontext aktueller Sprachforschung so zu betreiben, dass das Übersetzen als legitimes Studienziel und Dokumentation philologischer Expertise neu bestimmt werden kann. Beginnen wir bei der Beschreibungssprache des Übersetzens und einem der traditionellen Hinweise dazu, wie man aus dem Lateinischen übersetzen solle, nämlich ‚so wörtlich wie möglich, so frei wie nötig‘, manchmal auch umgekehrt. 13 Eine solche Wendung weg von den üblicherweise behandelten 11 Die erstaunliche Persistenz der Behauptung, sprachlich falsche Wiedergabe könne ein angeblich Besonderes des Ausgangstextes abbilden, illustriert die Diskussion über die deutsche Wiedergabe von Lawrence Norfolk, Lemprières Dictionary, dokumentiert in: ‚Der Übersetzer‘ 2/ 1993 (z. B. 10, 13 u. ö.), abrufbar unter https: / / zsue.de/ wp-content/ uploads/ 2018/ 05/ DerUebersetzer-1993-02.pdf [Stand: 1.11.2019]. 12 Eindringlicher formuliert: Die Revision der Fachsprache ist ein aktuelles Desiderat, das die Identifikation alltagssprachlicher und damit unzuverlässiger Bezeichnungen genauso betrifft wie die Prüfung und Integration sprach- und literaturwissenschaftlicher Begriffe. Sorglosigkeit gegenüber methodologischen Prämissen, der historischen Herkunft von Bezeichnungen und falschen Konnotationen gefährdet schnell die Fundamente des Faches. 13 Auf dem Feld der Einführungen ins Fach informiert immer zuverlässig Gerhard Jäger, Einführung in die Klassische Philologie 1980 ( 3 1990), der, wenn auch in Ansatz und Diktion einem älteren Stand verhaftet, späteren Konkurrenten überlegen bleibt. Seine <?page no="107"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 107 Gegenständen eines Faches hin zu seiner Beschreibungssprache, dazu, wie die Gegenstände sprachlich konstruiert und damit zu Fragen gemacht werden, ist erfolgreich in anderen Disziplinen wie der Philosophie geübt worden und könnte ein Modell für die Latinistik sein, das aber hier höchstens angedeutet sei. 14 2 How are you = Wie bist du? Über ‚wörtlich‘, ‚treu‘, ‚lesbar‘, ‚frei‘ und ‚zeitgemäß‘ Es soll also hier zunächst nicht um prominente Begriffe und schon fertig entworfene Forschungsfelder gehen, sondern um unscheinbare, kaum je erklärte Alltagswörter wie ‚eigentlich‘, ‚wörtlich‘, ‚frei‘, ‚hier‘ oder ‚Grundbedeutung‘. 15 Das Fundament jeder Übersetzung ist die Wortgruppe, nicht das Einzelwort und auch nicht der Satz, der selbstverständlich noch trotz notorischer Definiknappen Ausführungen zum Übersetzen motiviert Jäger mit der „alten Schulregel, man solle ‚so wörtlich wie möglich, so frei wie nötig‘ übersetzen“ (100). Daraus macht er eine Opposition, die er als „grundsätzliche Alternative“ (ebd.) präsentiert, zwischen Wörter übersetzen, Ausdrucksweise an das Fremde angleichen und zu den Eigenheiten der fremden Sprache hinführen auf der einen und Gedanken wiedergeben, eine Übersetzung wie ein deutsches Original geben, Sprache dem Inhalt und der Wirkung unterordnen, lesbarem Deutsch den Vorzug geben auf der anderen Seite (die er 101 u. a. mit „Versuch“ und „scheint legitim“ der ersten unterordnet). Ganz richtig wird festgehalten, dass es Wortgruppen, nicht Einzelworte zu beachten gilt, der Gesamtsinn vor der kleineren Einheit Vorrang hat und zwischen den vielen Textsorten und Stilen auch große Unterschiede in der Übersetzungspraxis bestehen. Mit Freude liest man Hauptfehler Nr. 6 (102): „Scheu vor der Benutzung der jeweils erlaubten Hilfsmittel“. 14 Dass die Latinistik bis auf wenige Ausnahmen, die in jüngster Zeit kräftige Impulse gesetzt haben, weder über eine wissenschaftstheoretische Diskussion noch über eine entwickelte Fachsprache verfügt, mag weniger verwunderlich erscheinen, wenn man sich erinnert, dass die lange Tradition der Auseinandersetzung mit antiker Literatur vor allem von Intellektuellen und Schriftstellern getragen wurde, nicht von Fachangehörigen im engeren Sinn. Die für die Gegenwart prägende Phase der Fachentwicklung fällt in das 19. Jahrhundert, und aus der Umklammerung der preußischen Altertumswissenschaft hat die deutschsprachige Philologie sich bis heute immer nur partiell lösen können. Ein Teil ihres Vokabulars stammt aus dem Gymnasial- und Verwaltungsjargon oder dem altertumskundlichen Betrieb der Zeit zwischen den 1860er- und 1930er-Jahren, anderes ist aus Nachbardisziplinen eingesickert, der größte Teil aber ist alltagssprachlich, ohne Festlegung und, jedenfalls an meinem Institut, dem persönlichen Geschmack der jeweiligen Lehrkraft anheimgestellt. 15 Explizit ausgeschlossen wird hier die schulische Fachdidaktik, die andere Voraussetzungen hat, gemeint ist die universitäre Lehre in einigen ihrer Ausprägungen: Statt auf Defizite am Studienbeginn hinzuweisen, sollte sie nach deren Ursache am Studienende fragen. Wenn Abschlussklausuren unter dem Niveau von Abiturklausuren liegen und mündliche Prüfungen im Master als gemeinsame Suche nach Subjekt, Prädikat und Objekt gestaltet werden, sollten Verantwortliche die Frage stellen, ob die Lehrpraxis und ihre Kontrolle bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich als Erfolg gewertet werden können. <?page no="108"?> 108 Alexander Arweiler tionsprobleme einen hilfreichen Rahmen abgibt. In der Wortgruppe erhalten die Elemente eine identifizierbare Funktion: Je nach fachdidaktischem Ansatz mag eine lineare Zuordnung dreier Wörter ‚how are you‘ zu drei anderen ‚wie bist du‘ als Zwischenschritt in der sprachlichen Erschließung legitim sein, eine Übersetzung ist es nicht. Während aber mittlerweile auch die computergestützte Übertragung Idiomatisches, Redewendungen oder Phraseologismen erkennt, werden sich in der Latinistik leicht Menschen finden lassen, die eine dem ‚wie bist du‘ entsprechende Übertragung aus einem lateinischen Text für ihre abbildende Genauigkeit loben und mit Bezeichnungen wie ‚wortgetreu‘ oder ‚wörtlich‘ gleich zur fertigen Übersetzung erklären, während sie ‚wie geht es dir‘ paradoxerweise als ‚frei‘ bezeichnen würden. Aber im englischen Text steht genau das, was im deutschen als ‚wie geht es dir? ‘ begegnet und allein den Anspruch erfüllt, eine Übersetzung zu sein: Die Zeichenfolge im Ausgangstext bedeutet das, was die Zeichenfolge im Zieltext bedeutet. Die Merkwürdigkeit besteht darin, dass selbstverständliche sprachliche Tatsachen wie die der Redewendungen so übersehen werden können, dass ein ganz untaugliches Wortpaar wie ‚frei‘ und ‚wörtlich‘ überhaupt Eingang in die Alltagssprache des Faches findet. Man braucht keine Energie für die Verteidigung der einen oder anderen Seite als legitimer Position aufzuwenden, sondern kann sich von den Bezeichnungen ganz verabschieden. 16 Beginnen wir mit einem Blick in das Deutsche Wörterbuch, begründet von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, woraus uns die dort unter Nr. 5, 6 und 7 gegebenen Gebrauchsweisen zum Lemma ‚wörtlich‘ interessieren. 17 Das seit dem 18. Jahrhundert vermehrt belegte Wort tritt in den unter 5-6 verzeichneten Be- 16 Wir sind also nicht bei einem Plädoyer für ‚freie‘, sondern für richtige Übersetzung. Wie ich es hier im Beitrag versuche, könnte man unterscheiden zwischen der Übersetzung, die im Vollsinn des Begriffs gedacht ist und alle Kriterien der Richtigkeit erfüllt, und dem, was man als Wiedergabe bezeichnen kann, die auch richtig sein kann, aber vor allem der schulischen Leistungsmessung dient, sich als Hilfestellung zur Erschließung des lateinischen Textes versteht und z. B. in Begleit- und Lehrmaterialien auftritt. So könnte man die unbequeme Etikettierung einer Übersetzung als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ vermeiden. 17 Zitiert wird nach der digitalen Version der Gesamtausgabe der 1854-1871 erschienenen Bände, wie sie unter http: / / dwb.uni-trier.de/ de/ [Stand: 1.1.2019] erreichbar ist. Unter dem Lemma „Wörtlichkeit“ (Bd. 30, 1604) findet sich in der Formulierung des Philologen Friedrich August Wolf von 1802 der Beleg „aber freilich möchte ein Übersetzer dieser Wörtlichkeit nicht immer getreu bleiben können“, was sich auf die Beobachtung Wolfs bezieht, dass man zwar gr. ‚philos‘, auch wenn es nicht wie lat. carus, sondern wie lat. suus gebraucht werde, trotzdem im von ihm betrachteten Fall mit ‚mein liebes‘ wiedergeben könne, es aber doch nicht immer ratsam sei, um nicht durch zu häufige Setzung dem Beiwort seine Kraft zu nehmen. Diese ‚Wörtlichkeit‘ wäre also Direktheit in der Wiedergabe eines Einzelwortes durch ein anderes, die sich zwar darauf berufen kann, dass doch im Ausgangstext eine Entsprechung stehe, deshalb aber laut Wolf noch nicht ausreichend gerechtfertigt ist. <?page no="109"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 109 legen in Konkurrenz zu „Wort für Wort“, auch „wortgetreu“ auf und meint das Verhältnis zweier sprachlicher Äußerungen in derselben Sprache, es geht um genaue Wiederholung genau derselben Worte (z. B. in Zitaten oder beim Auswendiglernen). 18 Erst Nummer 7 führt uns zu Übersetzungsfragen: 7) komplexer in einer Verbindung von 5 und 6, in der Anwendung auf die Übersetzung fremdsprachlicher Worte und Texte, sofern sie im Unterschied zu freierer Übertragung von Wort zu Wort […] erfolgt und ihr der am Wortlaut haftende eigentliche Sinn zugrunde gelegt wird. Die Erklärung enthält die Unklarheit, die der Opposition zugrunde liegt: gegen eine „freiere Übertragung“ steht „der am Wortlaut haftende eigentliche Sinn“, aber was könnte das bei der Übersetzung sein? Eine Möglichkeit wäre, unter ‚eigentlich‘ das zu vermuten, was nicht übertragen ist, aber der Wortlaut ist wiederum nicht das Einzelwort. Was wäre dann mit der Rückübersetzung unseres Beispiels oben - aus ‚wie geht es dir? ‘ ein ‚how goes it you? ‘ - doch wohl hoffentlich nicht. Die Unterscheidung des Wortlautes vom Sinn zeigt, dass unklar zwischen Lautbzw. Schriftgestalt und Zeicheninhalt bzw. Bedeutung geschwankt wird, so dass die Erklärung für eine konkrete Übersetzungsvorstellung nichts hilft. Die darunter versammelten Belege sind gemessen am ganzen Lemma nur wenige und in der Mehrzahl ebenfalls nicht zur Klärung der Probleme geeignet. 19 Der letzte der vier Belege illustriert gut, worum es in der Übersetzung gerade nicht geht: „mie fiero ardor sagt er, was eher noch zu mild übersetzt worden. wörtlicher genommen lautet der letzte gedanke: welche qual aber hat mein wild glühendes wesen zu erwarten“. Es ist der Gedanke, der „wörtlicher genommen“ werden soll, und das bedeutet: besser in allen semantischen Aspekten des ausgangssprachlichen Wortlautes wiederzugeben ist. Es geht um eine umfassendere Aufnahme der Aussage, nicht um das Verrechnen von Einzelwörtern, also um ‚Gehalt, nicht ,Gestalt‘. Entsprechend ist die vor- 18 Nummer 5 gibt den Gebrauch in Fällen, in denen etwas vollständig im genauen Wortlaut zitiert wird („textgenau“); das Wiederholen von Text im Zitat, die buchstäbliche Übereinstimmung und das Auswendiglernen sind die Zusammenhänge, in denen das Wort seinen Platz hat (b-d); in Erweiterung kann es um Inhaltsdetails gehen (unter g). Nummer 6 versammelt Stellen, an denen die Gegenüberstellung Wortlaut und Aussage bzw. Buchstabe und Geist eine Rolle spielt; unter 6b-c findet sich Ähnliches, zum Beispiel als Äquivalent zu ‚im buchstäblichen Sinn‘ - jeweils ist der Bezugsrahmen der Sinn, nicht das Wort, das Bezeichnete, nicht die äußere Gestalt. 19 Im Beleg aus Gottsched ist die Wiedergabe eines in der deutschen Sprache nicht gebräuchlichen, fremdsprachlichen „Kunstwortes“ in Einzelteile und -silben aufgreifender Weise gemeint, die Sonderform eines Neologismus. Im folgenden Beleg von Hippel ist offen, ob die Bezeichnung nicht die Paraphrase als Gegenbegriff voraussetzt, lediglich im Herderzitat ist recht eindeutig ‚wörtlich‘ in dem uns interessierenden Sinn des Nachbildens gebraucht. <?page no="110"?> 110 Alexander Arweiler geschlagene Übertragung zielsprachlich korrekt und darauf ausgerichtet, durch eine andere Verteilung der Aspekte auf Wortarten (z. B. ‚ardor‘) Dichte und Passung der Aussage besser aufzugreifen. Sonst bleibt es in dem Lemma bei einer dürftigen Ausbeute. Der überwiegende Teil der Belege bezieht sich auf Beziehungen innerhalb einer Sprache, nicht auf solche zwischen Sprachen. Es geht um genaue Wiederholung, um Wort für Wort, dass genau dieselbe Buchstabenfolge als dasselbe Wort wiederholt ist, weder nur Teile davon noch gar ein Wort aus einer anderen Sprache. Suchen wir weiter. Für die Berechtigung der Annahme, es gebe eine sinnvolle Entsprechung für ein ‚wörtliches‘ Übersetzungsverfahren, wird auch auf eine Gruppe von römischen Texten verwiesen, in denen von verbum pro verbo oder verbum de verbo die Rede ist, einem interpres oder fidus interpres und dem gegenüber von sensus de sensu, genus verborum vimque oder sententiis iisdem et earum formis tamquam figuris. 20 Nun wird nicht nur in keinem der Texte eine Gleichrangigkeit zweier Möglichkeiten, vielmehr eine klare Distanzierung markiert, weil zu den Aufgaben des interpres gerade nicht die Übersetzung gezählt wird, es ist auch viel weniger Unklarheit als in den deutschen Bezeichnungen und ihrem Gebrauch zu finden. Denn verbum de verbo ist ein Ausdruck nach dem Muster manus manum lavat, entspricht also dem deutschen „ein Wort durch ein anderes“. Weil die Wiederholung des Substantivs keine attributive oder pronominale Ergänzung erlaubt, steht hier, was im Deutschen eine Entsprechung in ‚ein einzelnes Wort durch ein anderes einzelnes‘ hat, es geht jeweils um die Ablehnung einzelwörtlicher Verrechnung. 21 Sprachlich und gedanklich hat die Opposition ‚wörtlich‘ versus ‚frei‘ weder bei Cicero noch bei Hieronymus einen Rückhalt. 22 In sensus bzw. sententia ist auch kein Aspekt impliziert, der 20 Brock 1979, 69 f. listet die einschlägigen Passagen. 21 Was manche Leserinnen und Leser zu übersehen scheinen, ist, dass Hieronymus der einzige ist, der das Prinzip der Einzelwörtlichkeit ausnahmsweise einmal überhaupt affirmativ verwendet, und das auch nicht in der generell formulierten Gegenüberstellung, sondern ausschließlich im Nachsatz über die Sonderstellung der biblischen Bücher. Alle anderen Stellen enthalten keine auch noch so geringfügige Wertschätzung eines solchen Ansatzes. Auch die gar nicht ikonoklastisch motivierte Darlegung, die Brock 1979 bietet, zeigt das auf das Deutlichste. 22 In der unter Ciceros Namen überlieferten Schrift De optimo genere oratorum §- 14 heißt es: Converti enim ex Atticis duorum eloquentissimorum nobilissimas orationes inter seque contrarias, Aeschinis et Demosthenis; nec converti ut interpres, sed ut orator, sententiis isdem et earum formis tamquam figuris, verbis ad nostram consuetudinem aptis. In quibus non verbum pro verbo necesse habui reddere, sed genus omne verborum vimque servavi. Die Analyse dieser spannenden Ausführungen kann hier nicht angegangen werden, es sei nur darauf verwiesen, dass die Wortgruppe genus verborum vimque gerade nichts mit Wortarten im grammatischen Sinn zu tun hat, dass der Plural hier und bei verbis aptis auf den Zusammenhang von Wörtern geht und dass das Bewahren (dazu unten) in <?page no="111"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 111 das metaphorische ‚frei‘ auf das Verhältnis zwischen Wörtern anzuwenden erlaubte. Gemeint sind Aussagen von Sätzen und Texten, die durch das Zusammenwirken verschiedener Ausdrucksmöglichkeiten, von denen einzelne Wörter nur eine von vielen bilden, realisiert sind. 23 Die von Brock 1979 überzeugend dargestellte Bindung der Karriere des ‚Wort-für-Wort‘-Ansatzes sowohl an die Existenz von Erklärern, die den Sinn mündlich nachzuliefern hatten, als auch an das spezifisch theologische Problem eines inspirierten Textes zeigt, dass bei der Übernahme in den gänzlich anderen Zusammenhang der Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche mit den Rahmenbedingungen auch der Sinn der begrifflichen Differenzierung verloren gegangen ist. Die Opposition von ‚wörtlich‘, ‚wortgetreu‘ oder ‚textnah‘ versus ‚frei‘ oder ‚sinngemäß‘ (mit ihren Varianten) ist also nicht nur unklar, weil in der Praxis schnell Dissens darüber auftritt, in welcher Hinsicht die Regeln eingehalten sind oder nicht. 24 Sie ist es auch, weil sie undifferenziert bloß das Einzelwörtliche ohne Rücksicht auf vielleicht wichtigere Träger von Bedeutung in den Vordergrund rückt. Notwendige Aussagen des Textes werden übersehen, marginale Elemente überhöht, es entstehen Missverhältnisse zwischen Sache und Ausdruck, kurzum: Die Regel ist untauglich, wenn es an die Anwendung geht. 25 servavi offenbar auf den Gehalt und die Bedeutungsrelationen geht, was in sententiis et earum formis tamquam figuris ja noch weiter entfaltet war. Die Oppositionen erinnern nur scheinbar an das, was mittlerweile unter ‚wörtlich‘ versus ‚frei‘ behauptet wird, und teilen auch nicht dessen Ambivalenz und Unklarheit, wie ich an anderer Stelle vorführen möchte. 23 Dass die Begriffe sensus und sententia nichts enthalten, das mit dem Sein, der Nähe des Dichterwortes zum Seinsursprung und der Einfühlung in den Geist des Autors, die Schadewaldt mit Anleihen bei Schleiermacher und Heidegger vorschwebt, zu tun hat, sollte nach der Lektüre der Stellen selbstverständlich sein (zu Schadewaldt in diesem Kontext s. Mindt in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009b, 280 f.). 24 Die von Schmitzer 2016, hier 208 f., diskutierte Übersetzung Suchiers bietet einen ähnlichen Gegensatz von allgemeiner Absichtserklärung und Wirklichkeit: So konsensfähigen Erklärungen wie „Das erste Erfordernis einer guten Übersetzung ist also Sprachrichtigkeit. Satzfügung, Wortstellung, Ausdruck müssen dem deutschen Sprachgebrauche entsprechen“ folgen so skurrile Ausführungen wie (Schmitzer ebd. Anm. 341 aus Suchier [1968] IV): „Bux für Buxbaum, Bims für Bimsstein, Eben für Ebenholz, Wal für Walfisch haben dieselbe Berechtigung wie Tanne für Tannenbaum, Ur für Auerochs, Bambus für Bambusrohr; Beding, Gewähr, Eigner, gedenk, genehm, verlässig sind hinlänglich bezeichnet ohne den dehnenden Zuwachs. Die Form Eingeweide, die oft im Verse störend gewesen wäre, glaubte ich durch Geweide ersetzen zu können; sagt doch auch der Jäger ausweiden. Für das unbequeme elfenbeinern schien mir das alterthümliche elfen genügend, genüber für gegenüber hat die Analogie von gen für gegen für sich; zweiflig, unzweiflig läßt sich durch adlig, eklig, untadlig, runzlig, knorpelig, schwindlig rechtfertigen.“ 25 Ein interessanter Fall ist in dieser Hinsicht Emil Staiger (zu seinem „Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung“ von 1963 s. Mindt in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009b, <?page no="112"?> 112 Alexander Arweiler Daher kommt es wohl, dass ‚wörtlich‘ oft im beschriebenen Sinn als ‚einzelwörtlich‘ und ‚ein einzelnes (Wort) für genau ein anderes (Wort)‘ gedacht wird, obwohl gerade dagegen schon alles in der Elementargrammatik gesagt ist. Wie sollte ein Text, in dem ‚er hat es gesagt‘ als dixit begegnet, dieses nach Wortlaut oder -stellung, -art und -reihenfolge, nach Klang und vollständig bewahren? 26 Bewahren hieße, Buchstaben und deren Folge aufzugreifen, also dixit in den Zieltext zu schreiben. Wir setzen im deutschen Text aber selbstverständlich Personalpronomina mit Verbform zur Wiedergabe des Prädikats, die Artikel zu Substantiven, wir trennen Wortgruppen nach den Notwendigkeiten des Deutschen, setzen Prädikate dorthin, wo es die deutsche Syntax erfordert, erstellen Konjunktional- und Relativsätze, Adverbien oder Präpositionalausdrücke, die eine Partizipialkonstruktion oder einen Akkusativ mit Infinitiv wiedergeben, ersetzen Präpositionen und Suffixe, Modi und Tempora, Numeri und Genera wie immer es passt - damit es Deutsch wird. Schon auf der Ebene der Schulgrammatik lassen sich also weder ‚Wörtlichkeit‘ noch ‚Textnähe‘ zuverlässig explizieren, umso willkürlicher ist es, wenn auf der Ebene der zusammengesetzten Aussagen der aus dem Kontext bestimmten Semantik der Wortgruppen und Konstruktionen so verfahren wird, als könnte das Zerlegen in die Einzelteile Bedeutung abbilden. Der unbegründeten Vorliebe für die wörtliche Seite entspricht eine ebenso fragwürdige Abneigung gegen die andere: Bei ‚zeitgemäß‘, ‚gegenwartsbezogen‘, ‚lesbar‘ oder ‚frei‘ arbeiten nicht wenige Latinistinnen und Latinisten mit der Engführung in malam partem. ,Zeitgemäß‘ und ,an der Gegenwartssprache ausgerichtet‘ sind aber dem Übersetzungsbegriff inhärent, denn richtig übersetzt werden kann nur in die jeweilige Gegenwart der Zielsprache. Sprachen sind Zusammenhänge, in denen einzelne Äußerungen ihren Platz durch Relation zu anderen Äußerungen erhalten, und eine Übersetzung sucht für ihren Text einen solchen Platz, der nur innerhalb des jetzt existierenden Sprachzustandes 275 f.). Einerseits bleibt er durchgängig bei den Begriffen der Textnähe und Treue, andererseits sind seine Aussagen klar und im Gegensatz zu denen seiner Gegner unideologisch. Staiger formuliert das selbstverständliche Gebot (vgl. Mindt ebd.), „dass der Übersetzer die eigene Sprache beherrscht“, „dass eine Übersetzung ins Deutsche in erster Linie deutsch sein muss“ und: „Nicht Wortstellungen und Konstruktionen also gilt es nachzuahmen, sondern einen dem Griechischen analogen Effekt hervorzubringen, und zwar mit deutschen Äquivalenten, mit Mitteln, die durch und durch nur deutsch sind.“ 26 Man halte dagegen den von Mindt in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009b, 289 f. vorgestellten Anspruch „höherer Wörtlichkeit“ Schadewaldts und das ebd. gegebene Zitat aus dessen Bemerkungen zu seiner Pindarübersetzung: „Im besonderen wollte das Wort Pindars nach Wort-Art, Wort-Form, Wort-Zusammensetzung, Bildhaftigkeit des Worts, Wort- Folge so weit nur irgend möglich bewahrt werden.“ Eine Anleitung zum Unglücklichsein für Übersetzende und Lesende gleichermaßen. <?page no="113"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 113 zu finden ist. Niemand sollte versuchen, jetzt Texte in den deutschen Sprachstand des 19. Jahrhunderts oder in die gymnasiale Sondersprache desselben Jahrhunderts zu übertragen, weil ihm die aus eben dieser Zeit stammenden Hilfsmittel dementsprechende Äquivalente vorschlagen. Übersetzungen sind ja auch für den Moment, sie haben ihr Verfallsdatum schon eingeschrieben und werden ersetzt werden müssen. 27 Der jeweils gegenwärtige Stand des zielsprachlichen Systems bildet den notwendigen Referenzrahmen des Übersetzens. Wer daher hinter dem Postulat der Lesbarkeit einer deutschen Wiedergabe einen Abfall im literarischen Anspruch vermutet, eine unangemessene Anbiederung, versteht das Wort falsch, pflegt Dünkel an der falschen Stelle oder handelt polemisch. Alles, was die antike Rhetorik zum aptum und zur selbstverständlichen Ausrichtung der Sprache an Situation, Publikum, Anliegen und Gegenstand zu sagen hat, gilt ja auch für das Übersetzen. Lesbarkeit ist eine relationale Größe, die nicht absolut gebunden ist, weder an anachronistische oder ungrammatische Wendungen und mangelndes deutsches Sprachgefühl auf der einen noch an ein falsches umgangssprachliches Register auf der anderen Seite. Sie ist gegeben, wenn der Text ausgerichtet ist auf diejenige sprachliche Umgebung, für die er gedacht ist, seien das Traktate, Lyrik, Gebrauchsanweisungen, Rezepte oder Kurzmitteilungen. Ist ein Text sprachlich und gedanklich anspruchsvoll, gilt es das aufzugreifen, ist er banal, frivol oder nachdenklich, muss auch das bleiben. Missgriffe einer gegenwartssprachlich ausgerichteten Wiedergabe bei Einzelwörtern und -ausdrücken, die als Modernismen oder Barbarismen nach dem antiken Modell der Sprachkritik (z. B. der Latinitas) beschrieben werden können, sind Verstöße gegen die anvisierte sprachliche Umgebung, sie haben nichts mit der Lesbarkeit oder Gegenwärtigkeit der Zielsprache zu tun. 28 Die Übersetzungskritik wie das Übersetzen selbst leiden darunter, wenn ‚aktualisieren‘ oder ‚in die Gegenwart bringen‘ ideologisch verzerrt werden und man sich dafür auf einen unzulänglichen Begriff von der deutschen Literatursprache beruft. 29 27 Cauer 1909 oder Hofmann 1914 ( 2 1921) haben vor allem solche Wiedergaben im Blick, die noch nie aktuell, sondern immer bloß im Lateinunterricht existierten. 28 Interessant durchgeführt z. B. in Manfred Fuhrmanns Rezension der Odyssee-Übertragung von Christoph Martin, F.A.Z. vom 1.10.1996. Er stellt Lesbarkeit gegen die Künstlichkeit des Originals, klassifiziert als „herabstilisiert“, Wendungen sind „weit martialischer“ oder „respektlos“; gegen die postulierte „gehobene Diktion“ setze der Übersetzer „grelle Lichter auf“; „heterogene Herkunft des Vokabulars“ meint wohl Register, Codes, sozio- oder varietätenlinguistische Kategorien; schließlich auch „Modernismen aus der Bürokratie und Mediendeutsch“. Ähnliche Rubriken im Anschluss an die Antibarbarus- Traditionen auch bei Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015, 368 (Kolloquialismen). 29 Die Reduktion von ‚dokumentarisch‘ auf ‚wörtlich‘ oder ‚ausgangssprachenorientiert‘ beschreibt richtig Mindt in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009b, 297; zum „Seinsschaffenden“ <?page no="114"?> 114 Alexander Arweiler 3 Ein Zusatz: Über die ‚Grundbedeutung‘ und ‚eigentlich‘ Die Rede von einer ‚Grundbedeutung‘ meint manchmal chronologische oder etymologische Aspekte, manchmal Konkretes im Unterschied zu Übertragenem 30 oder befördert das Missverständnis, dass es eine erste vorläufige, aber dennoch richtige Zuordnung eines Einzelwortes zu einem anderen oder einer Funktion zu einem grammatischen Element gebe (Konjunktiv, Tempus, Kasus etc.). 31 Es ist aber immer falsch, mit ‚Grundbedeutung‘ die zufällig erlernte Wiedergabe des erst- (oder einzig) genannten deutschen Wortes aus einem Vokabelverzeichnis zu bezeichnen, und hier hat mancherorts das schulische Vokabelmodell das hilfreiche Wissen von elementaren Funktionsweisen aus der universitären Lehre verdrängt. Wörter erhalten über ihren Gebrauch Bezeichnungsfunktionen, sie haben Gebrauchsweisen in dem Sinn, dass sie in bestimmten Funktionen gebraucht werden, aber sie besitzen keine Bedeutungen. Sie nehmen im Gebrauch Bezeichnungsfunktionen wahr, die sich aus dem Zusammenhang ergeben, als Ergebnis eines Vergleichs mit den Funktionen der übrigen Elemente, die im jeweiligen Text auftreten. Damit ist auch die Verbindung zwischen Element und Funktion relational, nämlich abhängig von den übrigen involvierten Elementen. Streng genommen beruhen Vokabellisten deshalb ja auf einem Irrtum, denn ein isoliert aufgelistetes Wort wird nicht gebraucht und bedeutet nichts. 32 Von der Vorstellung einer ersten gegenüber späteren oder abweichenden Bedeutungen sind auch Zusätze wie ‚sonst‘ oder ‚hier‘ geprägt, wenn sie eine Wiedergabe und der erhofften Nähe der griechischen Dichtung zum Seinsursprung und Heidegger s. Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015, 365, die ebd. auch den glücklichen Wurf Schadewaldts in der Bezeichnung seines Übersetzungsansatzes als ‚dokumentarisch‘ vermerken. Anleihen bei Erhabenheitsmodellen, diffuse Vorstellungen von der einfachen Schönheit der Prosa unserer Vorfahren oder gefühliger Gymnasiastenpoesie und eine höchstens widerwillige Zurkenntnisnahme der Literatur von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart bilden keinen Maßstab, und einen literarischen Text aus der Antike im 21. Jahrhundert in das Deutsch des 19. zu aktualisieren, sollte keine echte Option bleiben. 30 So sind manche Beispiele in Cauers gleichnamigem Kapitel zu verstehen (1909, 19-32), der zwar einiges anders ansetzt, als es in diesem Beitrag gedacht ist, aber immer Anregendes überlegt (ebd. 28-32). 31 Vgl. aus anderer Perspektive dazu Kroll 1917, 9. 32 Die sprachtheoretische Position ‚Bedeutung ist Gebrauch‘ ist übersetzungspraktisch die zunächst einzig relevante (‚für das Verständnis einer Textstelle benötige ich Informationen über den hier vorliegenden Gebrauch eines Wortes, das nur in dieser Hinsicht und nicht hinsichtlich seiner möglicherweise anderenorts realisierten Bedeutung relevant ist‘). Sie erklärt zudem am besten, warum Wörterbücher die Listen der Gebrauchsweisen nicht mit ursprünglichen Bedeutungen im Sinne einer ersten oder gar natürlichen Verknüpfung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem beginnen, sondern unterschiedliche lexikographische Kriterien anlegen, vielleicht die Chronologie der Belege, Häufigkeit einer Gebrauchsweise in einem gewählten Corpus oder die Gliederung des Lemmas nach eigentlichen und übertragenen Gebrauchsweisen. <?page no="115"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 115 oder einen Vorschlag dazu rechtfertigen sollen. Zur schulischen Leistungsmessung vielleicht geeignet, haben sie anderenorts keine Berechtigung, denn kein Element muss erst seine Grundbedeutung abschütteln, um die richtige anzunehmen. 33 Die Gebrauchsweise eines Elementes ist immer nur ‚hier‘. Auch ‚eigentlich‘ ist nur hilfreich als Kennzeichnung eines Gebrauches, der dem übertragenen gegenübersteht, es kann nicht für etymologisch oder sprachhistorisch gedachtes ‚ursprünglich‘ stehen oder eine Grundbedeutung von sprachlichen Elementen meinen. 34 Als Erklärung zu einer Übersetzung „eigentlich: Plural“ (oder: Konjunktiv, Passiv, eine Bedeutung x) zu stellen, heißt, die Form mit ihren Funktionen zu verwechseln. Der lateinischen Pluralendung entspricht ihren Gebrauchsregeln gemäß mal ein deutsches abstraktes Neutrum Singular, mal eine Menge konkreter Gegen- oder Zustände, mal „Leute wie“ oder anderes, sie bedeutet dann dies und eben nicht eigentlich eine Mehrzahl. 35 4 ‚Treu‘, ‚bewahren‘, ‚abbilden‘ und ‚Fremdheit‘ Anders als ‚wörtlich‘ und ‚frei‘, die sich schnell als sinnlos oder höchstens unter großem Erklärungsaufwand als benutzbar erweisen, lassen sich einige andere 33 Das zu meinen ist ein alter Fehler: Kroll (1917) hat das vorgeführt, Hoffmann (1921, 141) Probleme damit begründet, dass „die Sache nicht zum Verständnis gebracht, sondern mechanisch eingepaukt ist“. Der schulischen Übersetzungspraxis widmet sich Maier 1977 in seiner „Version aus dem Lateinischen“. Sie trägt entsprechend auch alle Last, die sich daraus ergibt, dass Verantwortliche (irgendwann) zu der Überzeugung gelangt sind, dass Lateinlernen ohne Sprachverständnis möglich sei. Das umständliche Verrechnen bei Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen (149-159) oder Vergleichbares ist jedenfalls mittlerweile, zumindest in meinem Umfeld, ein übliches Prinzip auch der universitären Lehre geworden - zum Schaden der lerninteressierten Studierenden. Unter „Was bedeutet das Übersetzen antiker Texte? “ (191-193) versteht Maier eher den erhofften Gewinn („Anlaß zu analytischem und logischem Denken“, „Anregung zu geistiger Kombination und Kontrolle“, und: „wird in seinen anspruchsvollen Formen zu einer Art von Kunst“), aber aus dem guten Ansatz, Sprache als ein Zeichen- und Funktionssystem anzunehmen (192), folgt nicht mehr viel. 34 Nur gegenüber ‚übertragen‘ (= ‚bildlich‘) wird ‚eigentlich‘ sinnvoll gebraucht. Gebrauchsweisen sind immer bedingt von der konkreten Relation, die ein sprachliches Element mit den anderen im selben Kontext eingeht. Man kann sie richtig oder falsch bestimmen, aber sicher nicht in der Annahme, es gäbe eigentlich gegebene und dazu noch uneigentlich veränderte Bedeutungen. Daraus entstehen die meisten Probleme in der lateinischdeutschen Übersetzung, denn es wäre ebenso sprachwissenschaftlich unsinnig zu sagen, ‚how are you‘ bedeute eigentlich ‚wie bist du‘. 35 Die universitäre Lehre mag versucht sein, sich als schulische zu geben, muss dann aber auch zugeben, dass sie die Aufgabe, dem Stand der Sprach- und Textwissenschaften gemäß Fähigkeiten zur (tatsächlichen) Übersetzung zu vermitteln, nicht mehr nachkommen möchte. Das wäre ehrlicher, als die Marginalisierung des Fachlichen unter dem Banner seiner Verteidigung zu betreiben. <?page no="116"?> 116 Alexander Arweiler beliebte Bezeichnungen schwerer fassen, weil sie mit moralischen und ideologischen Konnotationen eingesetzt werden und mit fachlich besonders schädlichen Verhaltensweisen einhergehen. Beginnen wir mit dem Phänomen der Hyperkorrektheit, die im üblichen Sinn verstanden als Fehlerhaftigkeit, die aus dem Eifer entsteht, etwas besonders richtig und ganz im Einklang mit dem Gelernten zu machen, weder neu noch schlimmer ist als andere Defizite. 36 Problematisch ist sie aber, wenn sie mit dem Eifer verbunden auftritt, das Fach auf Verwaltung des einst Gelernten zu reduzieren und das als solide Philologie zu bezeichnen, obwohl eine solche Haltung gerade das Zuverlässige und damit das Akademische aus dem Fach tilgt. 37 Ein Beispiel: Studierende wurden mit der Behauptung „Der Georges ist nicht zitierfähig“ traktiert. Die merkwürdige Diktion, selbst schon verdächtig aus der Zeit hinaus- und ins Manierierte hineingefallen, verweist auf einen tatsächlichen Zusammenhang im universitären Unterricht vor einigen Jahrzehnten, in dem allerdings lediglich mit Blick auf textkritische Fragen dazu geraten wurde, Stellen zu prüfen, um zwischenzeitlich erfolgte Änderungen in neueren Ausgaben zu entdecken. Aus seinem Kontext gerissen warnt der Satz sinnlos vor einem unverzichtbaren Instrument lateinisch-deutscher Übersetzungsarbeit und sollte als Erinnerung daran dienen, dass halberinnertes Schul- und Studienwissen keine Grundlage für zuverlässige Arbeit im Fach abgibt. 38 36 Ein Beispiel für die Behauptung eines Anspruchs, der mit Autoritätsargument begründet, aber nicht eingelöst wird, führt Schmitzer 2016, 220 vor. 37 Für den Bereich des Übersetzens sei Schmitzers (2016, 215) eindrückliche Beobachtung zur Konstruktion eines ahistorisch-konservativen Ovid zitiert: „Damit zeichnen die Übersetzungen unwillkürlich, aber unverkennbar, die als Abwehrkampf empfundene Haltung der schulischen wie universitären Klassischen Philologie seit dem 19. Jahrhundert nach.“ Die Folgen solchermaßen verdrängter Prägungen des eigenen Denkens lassen sich am besten an Gegenpositionen studieren, wie hier am Aphorismus einer reaktionären Figur (Nicolás Gómez-Dávila, Scholia to an implicit text. Bilingual selected edition, Villegas editores: Bogotá 2013, 120): „,Pureza‘, ‚poesía‘, ‚autenticidad‘, ‚dignidad‘, son las voces claves del actual léxico técnico para hablar de cualquier relato pornográfico.“ 38 Der Mangel an Respekt, mit dem hier eine herausragende Leistung der Fachgeschichte verächtlich gemacht wird, geht einher mit Gleichgültigkeit gegenüber den Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens, denn allein die Form des Satzes zeigt ja, dass er ohne Kontext fachlich unzulässig sein muss. Aussichtslos scheint es, wenn, wie jüngst in einer digital publizierten Rezension aus demselben Umfeld zu beobachten, Hyperkorrektheit und Unwissen so hermetisch miteinander verbunden sind, dass eine Forschungsarbeit, deren Ertrag weit über die Ovidexegese hinaus- und in die aktuelle Theoriediskussion hineinreicht, nicht nur nicht erkannt, sondern auch unbelastet von Kenntnis der Zusammenhänge wie die nicht ins Reine geschriebene Hausaufgabe eines ungelehrigen Schülers benotet wird - gegen die Übersetzung der antiken Texte in die Diskussion der Gegenwart spricht hier die von ihren Lehrerinnen und Lehrern geförderte, in der deutschsprachigen Latinistik schon verbreitete Aggression derjenigen, die sich dem Denken widersetzen, gegen die Texte, die ihnen Denken zumuten. <?page no="117"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 117 Eine solche Gleichgültigkeit gegenüber dem, was man selbst sagt, begegnet nun auch, wenn der erklärte Wille, etwas ‚textnah‘ und ‚wortgetreu‘ bewahren zu wollen, sich nicht darin äußert, dass man die Vagheit der Bezeichnungen, die von moralischen Imperativen getragen sind, angeht und danach fragt, was denn überhaupt mit welcher Begründung und anstelle welcher anderen Elemente, die nicht aufgenommen werden können, bewahrt werden soll, und was ‚bewahren‘ meint, wenn es sich um zwei Sprachen und zwei Texte handelt. 39 Stattdessen bleibt es bei den unerklärten Metaphern, und Bezeichnendes, bezeichnende Verfahren und Bezeichnetes werden durcheinandergeworfen: Wie im Georges-Fall hält man eventuell nur treu an einer bloßen Äußerlichkeit fest und verzerrt im Willen, es besonders gut zu machen, das Gesagte bis ins Gegenteil. Wenn zentrale Aussagen und Gestaltungsaspekte in der Zielsprache nicht von den äußerlich nachgeahmten Ausdrucksweisen des Ausgangstextes bezeichnet werden können, ist der treu gedachte Zieltext, weil er den falschen Elementen treu ist, weitestmöglich entfernt von der Nähe, die er abbilden sollte, und er ist dies, weil es an Rechenschaft darüber fehlte, was Entfernungsbilder sprachtheoretisch überhaupt meinen sollen. Ohne Analyse der Aussagefunktionen sprachlicher Elemente und ihre Hierarchisierung ist Übersetzung nicht möglich. Die Wortstellung, verstanden als lineare Reihenfolge von Einzelwörtern, ist so ein Gebiet, auf dem der Verzicht auf sachlich begründbare Auswahl dessen, was nachzubilden sei, zu skurrilen Ergebnissen führt. Mit der äußerlichen Übernahme einer Reihenfolge von Einzelwörtern ist nicht deren mögliche Aussage im Ausgangstext mit übernommen, sie ist im besten Fall wirkungslos, im häufigeren entstellt sie den zielsprachlichen Text und entfernt ihn vom Ausgangstext. Man ahmt nichts nach mit der bloßen Reihenfolge und ermöglicht keine Erfahrung des Ausgangstextes, man verstößt bloß gegen die Regeln der Zielsprache, ein magerer Erfolg. Sollte eine plausible Vermutung über die Bedeutung einer spezifischen Wortstellung im Lateinischen gemacht werden können, beginnt die Suche nach eventuell wirkungsäquivalenten Ausdrucksmöglichkeiten. Das sind dann vielleicht Satzbau, Wortwahl, die Ergänzung von Adverbien, der Gebrauch von Satzzeichen, aber in den seltensten Fällen ebenfalls Möglichkeiten der Wortreihenfolge, denn sprachliche Elemente sind nur innerhalb eines sprachlichen Systems mit Aussagemöglichkeiten verknüpft. Was im Lateinischen vielleicht eine Juxtaposition 39 Das gilt für ‚originalgetreu‘ und ‚textnah‘, aber auch vorgeblich neutrale Wörter wie ‚solide‘ oder ‚gut philologisch‘, die häufig gerade nicht Philologisches, sondern dessen missglückte Nachahmung bezeichnen. Sehr informativ Mindt in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009b, 283 f. über Schadewaldts „Sakralisierung“ der frühen griechischen Dichtung, Analogien zur Heiligen Schrift, das Entbergen des Seins und den emphatischen Begriff des ‚Originals‘, aus dem auch der Treueanspruch resultiert. <?page no="118"?> 118 Alexander Arweiler aussagt, könnte im Deutschen eine adversative Partikel an ganz anderer Textstelle aussagen, während das Nachahmen der Juxtaposition im Deutschen zu nichts führte und die Aussage verloren wäre. Die Beispiele illustrieren, dass man nicht irgendwie irgendetwas ‚bewahren‘ kann, sondern erst eine Klärung des Begriffs, vor allem seiner bildhaften Komponenten und seines Bezuges auf ein Handeln zwischen zwei Sprachen, bewerkstelligen und Kriterien benennen muss, nach denen Elemente zur Bewahrung ausgewählt und in eine Hierarchie gebracht werden. ‚Texttreue‘ oder ‚Textnähe‘ sind unklare Imperative, eine begründbare Übersetzung setzt dagegen die philologische Definition der Textelemente, ihrer Hierarchie und der angesetzten Auswahlkriterien voraus. 40 Die Aussagen eines Ausgangstextes beruhen auf verschiedenen Elementen, die zu Kategorien geordnet, auf Funktionen geprüft und anschließend mit anderen Elementen mit gleichen Funktionen in der Zielsprache abgeglichen werden. Wenn im Ausgangstext ein einzelnes Wort, eine Position oder Reihung, ein Bild oder eine Konstruktion Aussagefunktionen wahrnehmen, die durch andere Elemente in der Zielsprache besser aufgegriffen werden können, sind nicht sie als Ausdrucksformen, sondern die zielsprachlich äquivalenten, also eine entsprechende Aussage generierenden 40 Die Bewahrungsrede mit ihrem hohen ideologischen Gehalt verdeckt methodische und philologische Defizite. Beispielhaft sei eine der ‚Schadewaldtschen Listen‘ (übernommen aus Schmitzer 2016, 215) kommentiert: „Erstens: im Übersetzen das wiederzugeben, was dasteht und so wie es dasteht, nämlich vollständig, ohne Verkürzungen, Hinzufügungen. Zweitens: die originalen Vorstellungen, Begriffe wie Bilder, in ihrer griechischen Eigenart unverändert ohne moderne Übermalungen auch im deutschen Wortlaut zu bewahren. Und drittens: die Folge dieser Vorstellungen, ihre ‚Syntax‘ - als Abfolge, wie die Dinge und Kräfte der Welt im Nacheinander dem Dichter vor die Augen kommen - bis zur Stellung des einzelnen Wortes in Satz und Vers, soweit irgend möglich, auch im Deutschen einzuhalten.“ Der klug formulierte Text kann nicht halten, was er verspricht, denn umsetzbare Übersetzungsregeln gibt er nicht. Die Referenz schwankt zwischen Textoberfläche und erdachtem Gehalt (der vom Interpreten dank welcher Einsichten und Verfahren festgestellt wird? ). Was heißt, „das, was dasteht“? Das setzt eine Analyse der beteiligten Elemente und eine Auswahl der zur Aufnahme in den Zieltext geeigneten voraus - nach welchen Kriterien? Für „Vorstellungen, Begriffe und Bilder“ gilt dasselbe, „im deutschen Wortlaut bewahren“ legt nahe, dass das Bedeutungskonzept zu einfach ist (das schöne lateinische transfundere für „übersetzen“ scheint es abzudecken), „in ihrer griechischen Eigenart unverändert ohne moderne Übermalungen“ - statt Methodenreflexion doch eher ein wohliges Glaubensbekenntnis, die Missverständnisse in der Berufung auf das „Dokumentarische“ könnten das illustrieren. Eine „Abfolge, wie die Dinge und Kräfte der Welt im Nacheinander dem Dichter vor die Augen kommen“ - Einfühlung in die Psyche des Dichters statt Analyse der sprachlichen Verfahren, dem Übersetzer unmittelbar zuteil gewordene Präsenz des Autors anstelle rationaler Kontrolle? Nimmt man alle Bewahrungsimperative zusammen, einschließlich der „Stellung des einzelnen Wortes in Satz und Vers“, sehen wir das Bild der bestmöglichen Übersetzung deutlich vor Augen: es ist der Originaltext. <?page no="119"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 119 vorzuziehen. Verschiedene Textelemente (von Pausen, Wortgrenzen, Moduskennzeichen, Satzzeichen und Buchstaben zu Silben, Wortgruppen etc.) wirken so zusammen, dass keines isoliert übernommen etwas oder gar Gleiches wie im Ausgangstext bedeutet, es sei denn, die übrigen Elemente in der zielsprachlichen Umgebung erlaubten gleiche Funktionen. 41 Was abgebildet, übernommen, nachgeahmt oder aufgegriffen wird, ist also kein Einzelnes (eine Wortart, ein Satzbau, ein Klang), sondern ein Verhältnis zwischen Ausdrucksmöglichkeit und Aussage, eine Relation. Das wird noch deutlicher, wenn wir die Differenzierung lateinischer Literatur nach Stilebenen, Registern, genera dicendi und sermones, nach Textsorten und -traditionen nicht am Ende des Übersetzungsvorganges (oder überhaupt nicht) in Erinnerung rufen, sondern an seinem Anfang: In jeder Textpassage zeigen Stilebene und Register die Auswahl von Ausdrucksweisen an, die als angemessene in Betracht kommen, und diese Auswahl ist je nach Sprache anders gefüllt. 42 Wenn wir also etwas abbilden, übernehmen oder aufgreifen wollen, suchen wir nicht nach dem Einzelnen, sondern einem Äquivalent zur Verbindung von Ausdruck und Aussage, von Zeichen und Funktion in der Zielsprache und gestalten diese Verbindung analog. Schon die Wahl eines Registers, der Anschluss an eine Texttradition oder der Bruch mit ihr sind Ausdruck einer Bezugnahme und haben selbstreferentielle Aussagefunktionen. Zu bewahren sind, wenn überhaupt der Begriff zu etwas führen soll (dazu unten), die Relationen und Aussagefunktionen, nicht willkürlich isolierte Einzelteile, die dann mit einem fachlich unbegründbaren ‚erst einmal‘, ‚nahe an‘ und ‚originalgetreu‘ immunisiert werden müssen. So ist auch der Imperativ ‚Nichts hinzufügen! ‘ als Unterkategorie des Bewahrens im besten Fall ungenau, denn nicht das Verrechnen der Einzelteile, sondern die Bestimmung des Aussageumfangs in Ausgangs- und Zieltext gibt Antwort auf die Frage, was im einen oder anderen mehr oder weniger enthalten ist. Wo viele schon behaupten, eine Hinzufügung im Zieltext zu sehen, handelt es sich um die regelgerechte Aufnahme einer Aussage des Ausgangstextes mit den Mitteln der Zielsprache - oder wird ein ‚er, sie, es‘ zum Prädikat oder der 41 Erhellend dazu Schmitzer 2016, 215: „Alle Übersetzer [sc. der Metamorphosen Ovids zwischen Voß und der Mitte des 20. Jahrhunderts] kämpfen mit der Verteilung des Gedankengangs auf das Metrum. Sie wählen eine oftmals künstlich archaisierende Sprache, die weder dem Stand der zeitgenössischen deutschen Literatursprache nahekommt, noch die Tatsache wirklich berücksichtigt, dass Ovids Dichtersprache bei allem Traditionsbezug innovativ war“. Mir scheint der Hauptfehler dieser Wiedergaben in einer verfehlten Hierarchie zu liegen, in die die Elemente eingeordnet werden und die den Ausgangstext im Zieltext nicht mehr sichtbar werden lassen. 42 Aufschlussreich und sehr zurückhaltend Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015, 366-369. <?page no="120"?> 120 Alexander Arweiler Artikel in ‚das Weinfass‘ als Hinzufügung verstanden? 43 Aber das findet sich auch schon in den alten Lehrbüchern: Was zum richtigen Ausdruck der Aussage des Ausgangstextes im Zieltext notwendig oder geeignet ist, steht auch im Ausgangstext, was dort ohne Worte gesagt ist, braucht vielleicht hier eines oder gleich mehrere Wörter. Wenn etwa eine aus zielsprachlicher Sicht wahrgenommene Umständlichkeit mit mehreren Verbalausdrücken übereinander gerade nicht Umständlichkeit, sondern Genauigkeit oder bloße Übernahme alltäglicher Ausdrucksweise markiert, darf der zielsprachliche Ausdruck nicht umständlich sein, nicht einfach Stück für Stück aneinanderreihen, sondern muss das mögliche Äquivalent suchen, das in der Zielsprache genau diese Genauigkeit oder Alltäglichkeit markiert. Schließlich hilft der Ansatz bei der Relation und ihrer analogen Gestaltung auch gegen die bereits genannte, so verbreitete wie merkwürdige Ansicht, lateinischer Ausdruck, Satzbau und Text seien richtig in fehlerhaftes Deutsch übertragen, weil das die Fremdheit des Ausgangstextes abbilde. Fehlerhaftigkeit ist aber nicht dasselbe wie Fremdheit oder Eigenheit eines anderen Textes, und sie kann deshalb auch nicht auf jene verweisen. Der fehlerhafte Text verweist nur auf sich selbst, denn seine Fehler sind nur in seinem eigenen sprachlichen Zusammenhang, hier des zielsprachlichen, überhaupt als solche wahrnehmbar. Fehler im deutschen Text sagen nur aus, dass auch im Ausgangstext Fehler vorliegen, Brüche mit der jeweiligen sprachlichen Umgebung. Die Absicht, Fremdheit durch zielsprachliche Verstöße zu markieren, führt zu einem missglückten Zeichen, bei dem das Bezeichnende nicht das (gedachte) Bezeichnete trifft. Auch der implizierte Begriff von ‚Fremdheit‘ ist hier ganz unzureichend. 44 Wie bei 43 In ihrer informationsdichten Synthese zur Übersetzungspraxis kommen Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015 zu ähnlichen Ansätzen der Beschreibung, siehe auch ihr Referat zu Gerzymisch-Arbogast (ebd. 365). Allerdings setzt dort das Modell der Übersetzungskritik bei Aspekten als sprachwissenschaftlich bereits analysierten Elementen an, die dann in beiden Texten auf Erscheinungsweise und Anzahl verglichen werden („z.B. Konnotationsgehalt, Informationsmenge, Verfremdungseffekte, Textkohärenz, Thema-Rhema-Gliederung, sprachliche Bilder“). 44 Berechtigte Markierungen einer Abweichung betrifft das selbstverständlich nicht (Parodie, Stilbruch, signifikant eingesetzte Umgangssprache etc.). Unberechtigt ist die Markierung, wenn die Abweichung nur gegenüber dem von Übersetzenden erinnerten Studien- oder Schulwissen besteht. Es ist so verbreitet wie sinnlos, jedem lateinischen Werk implizit vorzuhalten, dass es sich nicht an die Regeln der Schulgrammatik halte, obwohl diese nicht einmal nur einen kleinen Ausschnitt aus der Sprach- und Literaturgeschichte beschreiben soll, nämlich ein bisschen Cicero (doch wohl ohne Briefe und Philosophica) und Caesar, sondern noch weniger Ambitionen hat, nämlich nur dazu ausreichen soll, das zu erläutern, was sich in der Textauswahl für den Unterricht tatsächlich findet. Der Ansatz der Sprachlehre bei einer umfassenden Reduktion, dem auch Burkard/ Schauer in ihrem Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik unter Berufung auf eine etwas unorthodox verstandene Größe namens ‚Schulgrammatik‘ verpflichtet sind, erschwert das <?page no="121"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 121 der Wortstellung oder verwandten Phänomenen beruht das Missverständnis darauf, dass man Äußerlichkeiten statt Aussagen übernehmen will und dabei Ausdrucksweisen verwechselt mit ihren Funktionen. 5 ‚Frei‘ ist nicht frei, sondern richtig (und ein Appell zur Neubetrachtung der deutsch-lateinischen Übersetzungspraxis des 19. Jahrhunderts) Gehen wir also davon aus, dass die Kennzeichnung als ‚wörtlich‘ sachlich nicht begründbar ist, sodass wir auf sie verzichten können; dass Übersetzungen, die mit dem Gegenbegriff ‚frei‘ bezeichnet werden, nicht frei, sondern richtig sein müssen, sodass wir auch auf diese zweite Kennzeichnung verzichten können; dass Treue keine philologische Kategorie ist und stattdessen die fachlich begründete Relation zwischen Ausdrucksmöglichkeit und Aussage als Kriterium für Richtigkeit gilt: Dann reicht uns als Leitlinie für das Übersetzen ein einfaches ‚so richtig wie möglich‘. Die Verteilung von Elementen gemäß der alten Opposition auf einen Form- und einen Inhaltspol ist damit ebenfalls obsolet: Eine Äußerlichkeit des Ausdrucks gegen den Gedanken zu stellen, im schematischen Nachbilden der Ersten Zuverlässigkeit und im Beachten des Zweiten Freiheit mit zweifelhafter Berechtigung anzunehmen, ist wieder ein Ausdruck von Hyperkorrektheit, also falsch. Was ein Text sagt, besteht aus der Verbindung der Aussagen, die als Gedanke, Proposition und Gegenstand beschrieben werden können, mit den Aussagen, die aus dem Wie der Darstellung gewonnen werden, wie sich auch leicht an allen textreferentiellen Elementen ablesen lässt. Textaussagen beruhen auf sensus/ sententia und verba zugleich, und der Numerus meint hier nicht einen Plural von Einzelwörtern, sondern das Ganze als textum: Kasus- oder Tempusendungen nehmen Aussagefunktionen im selben Maß wahr wie referentielle Ausdrücke, Modus- und Genuskennzeichen können die Gesamtaussage so verändern wie Eigennamen, Adverbien des Hoffens oder der punktuelle Bruch eines in einem Passus regierenden sermo. 45 Verständnis für das Lateinische als einer vielfältigen und ebenso wie andere individuell gehandhabten Sprache. 45 Die Beschränkung universitärer Lehre auf schulgrammatische Elemente, die isoliert gelernt werden, oder auf Einzelwörter, die mit Einzelwiedergaben versehen werden sollen, hilft den Lernenden nicht, sondern verhindert die Wahrnehmung der den ganzen Text leitenden Aussagen, der Zugehörigkeit einzelner Phänomene zu Kapiteln und Regeln und der Vielfalt der Möglichkeiten, die richtige Aussage zu treffen. Um so dankbarer ist man für Kapitel wie das von Landfester 1997, 146-165 über die Stilformen auf der Ebene <?page no="122"?> 122 Alexander Arweiler Eine der Ursachen für falsche Vorstellungen besteht darin, dass Äußerlichkeit mit Form verwechselt wird. Das Nachahmen von Äußerlichkeit statt der Form führt zu Aussagenverlust. 46 Die anklagende Ironie in einer Rede Ciceros vor Caesar oder die nachdenkliche in den epistulae und sermones des Horaz sind keine Zugaben und erst wichtig, wenn man den lateinischen Satz mit deutschen Einzelwörtern in gleicher Reihenfolge umgeschrieben hat, sondern bevor die Entscheidungen zur Übersetzung fallen. Ein erzählender Text soll in beiden Sprachen erzählen, ein beschreibender beschreiben, ein leidenschaftlich klagender leidenschaftlich klagend, ein nachdenklicher nachdenklich und ein spöttischer spöttisch sein. Solche Eigenschaften sind nicht sekundär und kommen nicht verschönernd hinzu, wenn ‚erst einmal‘ ‚die Grundbedeutung‘ ‚wörtlich‘ erfasst ist. 47 Es ist gleichgültig, ob ein lateinisches Wort in einer Vokabelliste mit einem einzelnen deutschen Wort gekoppelt und in einem solchen Gespann gelernt worden ist - nur das konkrete Zusammenwirken der sprachlichen Elemente an einer Stelle stellt Bedeutung her, eine willkürlich gesetzte ist falsch, ob sie anderenorts richtig sein mag oder nicht. Der Ansatz bei Funktionen, Wortgruppen und syntaktisch-gedanklichen Verbindungen statt bei Einzelwörtern ist fachgeschichtlich tatsächlich in der gymnasialen Lehrbuchtradition fester verankert, als es die gegenwärtige Selbstverständlichkeit einzelwörtlicher Methoden in der universitären Lehre vermuten lässt. Die professionalisierte deutsch-lateinische Übung, selbst erst eine Frucht der Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, als selbstverständliches Lateinlesen zurückgegangen und das Erarbeiten des Sprachverständnisses aus der eigenen Sprache heraus notwendig geworden war, lässt sich trotz des konventionellen Vokabulars (‚Treue‘, ‚Bewahren‘, ‚Nähe‘ etc.) gerade nicht für die jüngeren Positionen reklamieren. Sie steht gegen die Reduktion auf Grundbedeutungen und schematische Zuordnung, gegen Fragmentierung und für Sprachvergleich. 48 des Textes, für Seyfferts Scholae Latinae oder die Schlussparagraphen Menges (535-545) und seinen Anhang zum lateinischen Schulaufsatz. 46 Übersichten wie die von Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015 helfen, ein jeweils aktivierbares Wissen von den Kategorien, die abgefragt werden können, aufzubauen. 47 Zum traditionellen Übersetzungsdeutsch auch Cauer 1909, 5. 48 Zu den wenigen Beiträgen, die sich der Bewährung an konkreten Fragen zu Grammatik und Syntax mit Erfolg aussetzen, gehört Blänsdorf 2004 (vgl. dazu auch Mindt in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009b, 349). Zukünftige Übersetzungspraxis wird von gestärkter Detailanalyse profitieren. Komplexe Begriffe sind dabei weniger interessant als unscheinbare Wörter wie Adverbien, Pronomina und Partikel (dazu auch, mit Schwerpunkt auf dem Griechischen, Cauer 1909, 57-73). Wenn schematisch quidam mit „ein gewisser“, ille mit „jene, jener“, autem mit „aber“, nam mit „nämlich“ oder tamen mit „dennoch“ wiedergegeben sind, ist das ein Indiz dafür, dass erinnertes Schul- und Studienwissen von ‚Grundbedeutungen‘ das Richtige verhindert - die sprachlich und stilistisch sichere Übersetzung eines sprachlich und stilistisch sicheren Ausgangstextes. <?page no="123"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 123 Die Beispielsätze bei Nägelsbach oder Menge und (aus umgekehrter Warte) Cauer oder Hoffmann dokumentieren ein Sprachverständnis, das die Übersetzung nicht auf der Übernahme von Äußerlichkeiten, sondern der Wahrnehmung der zielsprachlichen Aussagefunktionen gründet. Dieselben Verfahren führen in zwei unterschiedlichen Sprachen zu unterschiedlichen Ergebnissen, weil sie unterschiedlichen Funktionen dienen, umgekehrt können dieselben Funktionen von unterschiedlichen Verfahren wahrgenommen werden. Vor allem der sprachvergleichende Ansatz Nägelsbachs, durchgeführt unter anderem nach Wortarten, die in der Zielsprache nicht dem entsprechen, was zu suchen ist, ist der aktuellen universitären Lehre an manchen Orten überlegen. Die semantische Entsprechung zwischen den Sprachen gründet nicht auf äußerlicher Ähnlichkeit, sondern auf der Analogie der Relationen, die ein Element mit den umgebenden eingeht, um Funktionen wahrnehmen zu können. Für das lateinisch-deutsche Übersetzen haben die deutsch-lateinischen Unterrichtswerke des 19. Jahrhunderts genauso wie die auf das Umgekehrte hin formulierten Vorbildfunktion darin, dass sie lebendige Sprachwirklichkeit, Äquivalenzen und Analogien zugrunde legen und anschlussfähig an die neueren Sprach- und Textwissenschaften sind. 49 Ihr Zugang zur Übersetzung setzt Analogie voraus, verstanden als erkennbar ähnliche Valenz unterschiedlicher Elemente in Bezug auf die umgebenden Elemente, als Verhältnis einander vergleichbarer Funktionen bei unterschiedlicher syntaktischer und lexikalischer Gestalt. Sie listen nicht, wie jetzt wieder in Veranstaltungen verbreitet, Semester für Semester Einzelteile, die gewusst statt verstanden werden sollen und in ihrer Summe noch nach vielen Jahren des Spracherwerbs selbst interessierten Studierenden nicht erlauben, eine Zusammenfassung des Handlungs- oder Gedankengangs eines wiedergegebenen Textes zu bieten oder gar eine Übersetzung, die Verständnis dokumentiert. Die Verfasser der Betrachtungen zur Übersetzungspraxis sehen dabei gerade wegen ihres Interesses an der Lehre die Geistes- und Fachgeschichte, Literatur- und Philosophiekenntnisse nicht als lässliches Nebenbei, sondern als hilfreiches Instrument dafür an, das Sprachverständnis zu verbessern und damit das Übersetzen zu erleichtern. Ihre Sprachauffassung entspricht dabei manchen sprachwissenschaftlichen Grundannahmen des späteren 20. Jahrhunderts, ihre Hinweise richten sich gegen den Schematismus, der auch jetzt die Wiedergaben 49 Wohlgemerkt sollte weder Cauer 1909 noch einer der anderen genannten als Lehrbuch benutzt werden, dem Einzelwissen entnommen wird. Sachliches, zeitbedingte pädagogische Absichten oder Prämissen müssen nicht geteilt werden, um von der Haltung zu profitieren. <?page no="124"?> 124 Alexander Arweiler aus dem Lateinischen prägt. 50 Und welches Hilfsbüchlein für den Unterricht in den oberen Klassen man auch immer nimmt, es dokumentiert die Suche nach richtigen Übersetzungsweisen, die nicht als frei missverstanden sind, sondern als im Lateinischen angelegte und solche, die gemessen am jeweils zeitgenössischen Stand der deutschen Literatursprache als richtig, lesbar und angemessen gedacht sind. 51 6 Prämissen für das analoge Übersetzen nach Aussagefunktionen Nach diesem Appell dazu, die Fachtradition weniger selektiv zu nutzen und etwas genauer zu lesen, wäre es gemäß dem oben vorgeschlagenen Weg nun an der Zeit, Vorschläge zur Integration der sprachwissenschaftlichen Standards zu unterbreiten, zumal diese ja in der genannten Tradition gut begründet sind. Allerdings soll das hier nicht nur unterbleiben, weil Anlass und Umfang dieses Beitrages und die linguistische Kompetenz des Beiträgers das nicht erlauben und mit Pinkster 2015, Devine/ Stephens 2013 und anderen schon manches der 50 Einige beliebige Beispiele aus Schnee 1903, 69 über Korrelativa (et - et, neque - neque, aut - aut etc.): manchmal zwar wie gelehrt als Doppelausdrücke („sowohl - als auch“, „entweder - oder“ etc.), aber in der Regel („meistens“) fällt erstes et, aut oder cum weg, zweites ist einfaches „und“ und neque „nicht“; aus einem lateinischen Partizip wird eine Präposition (Schnee 68), adductus, commotus, impulsus zu „aus“, „für“, „mit“, „unter“, pretio adductus = „für Geld“, Livius tradit = „nach Livius ist“, memoriae traditum est = „der Überlieferung nach“; im Lateinischen nichts, im Deutschen hinweisende Partikel im Ausdruck des Hauptgedankens, um Zeit, Ort, Ursache, Einschränkung oder andere Angaben bezeichnende Sätze und Satzteile zu verbinden: „inzwischen“, „so“, „sondern“, „in diesem Fall“ etc. (ebd. 72 f.); zusammengesetzte Substantiva gloria = „Geltungssucht“, venenum = „Giftmord“, officium = „Pflichtgefühl“; äquivalente Konstruktionen auf allen Satzebenen, foedus quod ne fieret impediverunt = „ein Vertrag, dessen Zustandekommen sie zu verhindern wussten“, qui praetor fuit = „der frühere Prätor“ uvm. Das Studium muss hier von der Betrachtung der Kategorien des Übersetzens ausgehen, nicht vom Erlernen einer Phraseologie (im alten Sinn Ostermanns oder anderer), denn das führte nur zur Wiederholung derselben Fehler. 51 Dem hyperkorrekten Zugang, der in der Nachahmung Nähe vermutet, entspricht der skurrile Anspruch, poetisch zu sein, indem man (schlechte) Beispiele aus dem schulischen Umfeld des 19. Jahrhunderts imitiert. Beide laufen auf ein Gleiches hinaus: Aus literarischen Texten werden ortlose (zum Beispiel in der hexametrischen Dichtung, für die immer noch auf deutsche Hexameter oder gar Reime plädiert wird, obwohl deren umfassend belegter Misserfolg die Diskussion überflüssig macht). Wilamowitz und Boeckh hatten ja schon mit anderer Zielsetzung festgehalten, dass philologische Kompetenz nicht notwendig mit schriftstellerischer übereinkomme. <?page no="125"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 125 Berücksichtigung harrt. 52 Es soll auch in berufenere Hände gelegt werden, um hier das Anliegen zu verfolgen, dass es mehr noch als um die Auswahl besser tauglicher Begriffe um eine Haltung, ein Grundverständnis gehen muss, das das Übersetzungshandeln prinzipiell von den Wiedergaben zum Zweck der Leistungsmessung und der hilfreichen Dokumentation im Kontext einander stützender Begleitmaterialien zu unterscheiden und auf eigene Fundamente zu stellen hilft. Man wird ja auf jeden Fall versuchen wollen, der unheilvollen Idee einer universitären Lehre zu entkommen, die meint, dass aus Reduktion auf Schulinhalte und aus dem Verzicht auf Sprachreflexion ein leichterer Zugang zum Übersetzen zu gewinnen sei, obwohl das Gegenteil der Fall ist. 53 Dass gegen die Hartnäckigkeit, mit der sich manche gegen Anfragen an ihr erinnertes Schulwissen sträuben, nicht anzuschreiben ist, soll dabei nicht davon abhalten, das von Nägelsbach bis Devine/ Stephens Erkannte genauso wie das, was in den Nachbarfächern der ehemaligen Philosophischen Fakultät (und in juristischer oder theologischer Hermeneutik) an unmittelbar philologisch Relevantem erfolgreich verhandelt wird, zu empfehlen und zu studieren. Die Übersetzung als Forschungsfeld könnte sich so auch als geeignet erweisen, eine Rephilologisierung des Faches in weiterem Rahmen zu befördern. 54 52 Zu den wenigen Ausnahmen, die linguistische Erkenntnisse in ein deutschsprachiges Übersichtswerk einarbeiten, gehört Manfred Landfesters (durchaus zurückhaltende) Monographie zu den lateinischen und griechischen Literatursprachen (1997). Es sei daran erinnert, dass der oben als Macrobiusübersetzer genannte Friedrich Heberlein nicht nur selbst für die linguistisch fundierte deutsch-lateinische Übersetzung steht, sondern auch Pinkster 1988 aus dem Niederländischen übersetzt und damit Entscheidendes für die deutschsprachige Latinistik getan hat. 53 Als Teil einer umfassenderen Bewegung hin zur Reduktion der Lehre auf Einzelphänomene, die gelernt statt verstanden werden sollen, erschwert die Angleichung universitärer an schulische Vermittlungsweisen das Sprachverständnis. Wo das Verrechnen von Einzelwörtern gelobt und die Wiedergabe von bedeutungstragenden Elementen des Ausgangstextes als Hinzufügen getadelt wird, wird man sich weder auf die antike noch die gegenwärtige Rhetorik, nicht auf die antike Sprachwissenschaft und -philosophie noch den aktuellen Stand berufen können, nicht einmal auf Alltagsverstand. 54 Wie schwer das in der Praxis sein könnte, mag die Fiktion eines Ortes veranschaulichen, an dem ‚wörtliche‘ Wiedergabe als vorgebliches (und alleiniges) Studienziel gepflegt würde: Den Gegenstand des Faches identifizierte man dort mit der Wiederholung der Schulgrammatik, Hauptwären Referatsseminare mit Bestehensgarantie, statt Hausarbeiten gäbe es verschriftlichte Referate mit einstelligem Seitenumfang, Regeln zur Formulierung fachlich zuverlässiger Aussagen gäbe es keine, relevante Fachpublikationen gälten als fakultative Ergänzung, in Studienordnungen aufgezählte Kenntnisse würden weder vermittelt noch abgefragt, das Veranstaltungsangebot wäre nach administrativen Belangen und versorgungsorientierten Interessen gestaltet, Wissenschaftliches als überflüssig verächtlich gemacht. Wie sollte die Fähigkeit zur philologisch zuverlässigen Übersetzung aus einer solchen Fachwirklichkeit entstehen? <?page no="126"?> 126 Alexander Arweiler Hier soll also ein anderer Weg gewählt werden. Das gesuchte Grundverständnis kann nämlich vielleicht auch so umschrieben werden, dass man in einfachen, wiederum terminologisch unbestimmten Worten eine Vorstellung versprachlicht, mit der es sich übersetzend leben ließe und die das alltägliche Unternehmen vor Irrtümern bewahrt und erleichtert. Beginnen wir daher mit einer Sammlung bereits genannter Aspekte, die wir später auf möglicherweise hilfreiche Modelle erweitern können. Die Relationen zwischen Textelementen und Aussagefunktionen, die bereits mehrfach als wichtigste Größe in der Übersetzungspraxis genannt wurden, lassen sich mit dem üblichen Prinzip der Konventionalität und Arbitrarität der Zeichen noch einmal veranschaulichen. 55 Die Verbindung von sprachlichen Elementen mit der Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu bedeuten, ist nicht notwendig, natürlich oder ‚eigentlich‘, sie ist konventionell und variabel. Der Umfang des Elementes ist dabei irrelevant, sei es eine kleinste differenzierende Lauteinheit oder das Konglomerat der lateinischen Textsorten, in denen wie in elegischem oder epischem Text, politischer Rede, Geschichtsschreibung oder Traktat neue Aussagemöglichkeiten nicht so sehr durch Abweichung von bestehenden als durch Schaffung neuer Konventionen entstehen. Die jeweiligen Elemente und ihre möglichen Funktionen sind unterschiedlich und situativ miteinander verknüpfbar, z. B. nach gewählter Stilebene, gedachter Konvention oder Werkkontext. Gibt es die Verbindung gleichartiger Elemente mit gleichen Aussagefunktionen in beiden beteiligten Sprachen einer Übersetzung, können sie in den Zieltext integriert werden, aber es ist nicht einmal sicher, dass aus einer zufälligen Übereinstimmung in den Funktionen folgt, dass die Wahl derselben Mittel auch die beste sein muss. Halten wir daher fest: 1. Sprachliche Äußerungen in einem Text sind auf Aussagen gerichtet. Sie sind in einer bestimmten Situation, aus einer bestimmten Perspektive, unter spezifischen Bedingungen auf etwas gerichtet. Äußerungen können wir als gerichtet verstehen, indem wir ihre innere Struktur beschreiben als eine, in der die sprachlichen Elemente auf Aussagen ausgerichtet sind. Die sprachlichen Elemente sind auf Aussagen gerichtet, nicht auf Welt. Aussagen sind Vorstellungen von Welt, nicht diese selbst. Der Text ist ein Zusammenhang von Äußerungen, er bezieht sich also ebenfalls nur auf Vorstellungen von Sachverhalten, nicht auf die Sachverhalte selbst. Gerichtetheit meint, dass eine sprachliche Äußerung oder ein Zusammenhang sprachlicher Äußerungen nicht beliebig ist, sondern diskursiv (= 55 Was hier aus nach-Saussureschen sprachwissenschaftlichen Zeichenkonzeptionen benutzt wird, hat Walter Benjamin nicht geteilt (Apel 1982, 173), beide Positionen sind für die Philologie aber selbstverständlich gleichermaßen wichtig. An anderer Stelle (etwa bei der Lukrezinterpretation) wäre wohl eher Benjamin der richtige Ausgangspunkt. <?page no="127"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 127 in einem Diskurs regel- und verhandelbar), möglicherweise für Mitteilungsfunktionen geeignet, mit Instrumenten, die die jeweilige Interpretationsgemeinschaft anerkennt, beschreibbar. Gerichtetheit ermöglicht eine Bezugnahme. Die Summe der Aussagemöglichkeiten eines Textes ist ein Effekt seiner Bezugnahmen, sie sind begrenzt. Die Gerichtetheit der Texte ermöglicht ihnen, etwas zu bedeuten, und nicht alles. 2. Wirkungsäquivalenz ist für das Lateinische schlechter zu bestimmen und empirisch abzusichern als für die Sprachen mit besserer Datenlage (d. h. mehr Zeugnisse in kürzeren Zeiträumen und damit mehr Vergleichbares), aber sie ist ein hilfreicher Begriff, ähnlich dem der Funktionsäquivalenz oder den Begriffen, die Pinkster 1988 und andere einführen. 56 Ein wichtiger Fundus im literarischen Bereich ist die Gerichtetheit von Aussagen auf eine Konvention, eine Vorbildstelle oder einen Typus von Aussageweisen: Wenn Sidonius Apollinaris ein elegisches Motiv oder Augustinus eine theologische Vokabel aus einem Disput aufgreift, ist es plausibel, dass die Aussage, auf die die Äußerung gerichtet ist, auf der Hinzunahme der vergleichbaren Stellen aufbaut. 57 3. Unsere anfängliche Vorstellung vom Übersetzen lässt den Ausgangspunkt in der Zielsprache unbeachtet, so als beginne der Übersetzende schon in der Welt der Ausgangssprache. Tatsächlich aber konstruieren wir aus dem zielsprachlichen Kontext heraus unsere erste Auffassung vom Ausgangstext, wir greifen aus dem Zielkontext hinaus und verlassen ihn nie. Die Kenntnis der Ausgangssprache bedeutet nicht, dass jemand ortlos über dem Geschehen steht. Die Wahrnehmung des Lateinischen ist bedingt von der zielsprachlichen Prägung des Denkens und Sprechens der Übersetzenden. Jede Verkürzung in der alltäglichen Lehre und jede nachlässige Äußerung muss auf Residuen eines Missverständnisses wie des folgenden geprüft werden: „Verständnis ereignet sich wie das Pfingstwunder: der 56 Ein beliebiges Beispiel: Wenn an einem Ort zum Beispiel trotz der Ergänzungen zur Kasuslehre von Pinkster 1988, 57-111 Valenzen von Verben so unbekannt wären wie der Unterschied zwischen Prädikation und Prädikat, dürften Lehre und Fach bald Schaden nehmen. 57 Das ist kein Verfahren, mit dem auf die außertextuelle Wirklichkeit geschlossen werden kann. Es ist zunächst nur der Hinweis, dass wir die Ausrichtung der Textaussage auf die Kenntnis eines solchen Elementes hin bestimmen können. Es heißt nicht, dass wir zu weitergehenden Vermutungen über Existenz und Lebenswirklichkeit einer solchen Leserschaft berechtigt sind - es gibt ja nicht umsonst Ecos Unterscheidung zwischen realer, vorgestellter und möglicher/ idealer Leserschaft. <?page no="128"?> 128 Alexander Arweiler ‚Geist des Dichters‘ […] kommt über den Philologen und redet in dessen Worten.“ 58 4. Die Zielsprache der Übersetzung ist unsere Ausgangssprache. Die Bewegung ist eine doppelte, vom Deutschen ins Lateinische und zurück, aber: Wir sind nicht unsere eigene Sprache, wir kennen nur wenige der Möglichkeiten, die in ihr realisiert wurden. Auf dem Rückweg tun wir so, als kämen wir vom Lateinischen und blickten auf das Deutsche. Aber wir haben das Deutsche die ganze Zeit nicht verlassen. Es sind nicht zwei Sprachen beteiligt, sondern zwei ausschnitthafte Bilder von (den Möglichkeiten der) Sprachen, gerahmt nur von unserer eigenen Sprache. Dennoch gilt: Deutsche Wortwahl und Ausdruck müssen fachlich begründbar sein, persönliches Sprachempfinden ist irrelevant. 5. Die bildliche Komponente der Beschreibungssprache ist irreführend. Übersetzen erscheint als etwas Transitives, als solle man etwas von einem Ort zu einem anderen physisch hinübertragen, es transportieren. 59 Daher kommt die Rede vom ‚Bewahren‘ und ‚Erhalten‘. Sie ist falsch, weil es kein Objekt zu tragen und keinen Weg zu gehen gibt, nichts aus dem Ausgangstext wandert in den Zieltext. Das Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext ist das einer kontaktlosen Analogie. Zwei Ausdruckssysteme stehen unverbunden nebeneinander, in ihnen existieren Abteilungen, die aus einem Gefüge sprachlicher Äußerungen gebildet und aus ihrer Relation zu den möglichen und realisierten anderen Äußerungen in derselben Sprache Bedeutung erlangen. Dass der Zieltext zeitlich nach dem Ausgangstext entsteht und mit Blick auf diesen, begründet keinen direkten Kontakt, nur mögliche Analogie. Es gibt keinen direkten Kontakt, keine Brücke. 60 Man kann in der Übersetzung nichts bewahren. Bewahren ohne Differenzierung bedeutet, das Original zu zitieren. 58 Apel 1982, 156 über Wilamowitz, siehe auch ebd.: „Kein Wort über die historischen und individuellen Bedingungen des Verstehens […] das Problem der Übersetzung ganz in seinen alten Stand zurückversetzt […]: ‚Die neuen Verse sollen auf ihre Leser dieselbe Wirkung tun wie die alten zu ihrer Zeit auf ihr Volk […]‘,“ eine „Fiktion, an der die nachfolgende Philologie […], z.T. bis in die Gegenwart hinein, festgehalten hat.“ 59 Das Bild eines Transportes von Gegenständen von A nach B, auch auf Boot und Ladung bezogen, vielleicht auch der Übersetzer als Lastenträger oder heiliger Christophorus? Zu Schleiermacher und Schrott siehe Mindt in Kitzbichler/ Lubitz/ Mindt 2009b, 352-353. Eine Zusammenstellung von Bildern bietet Josefine Kitzbichler, Travestie, Flussüberquerung, Lichtbild. Beobachtungen zur Metaphorik des Übersetzens. In: Ulrich Schmitzer (Hrsg.), Enzyklopädie der Philologie. Themen und Methoden der Klassischen Philologie, 235-258. 60 Eines der Bilder für das Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext übernimmt der Philologe Boeckh 1886, 160 vom Schriftsteller Cervantes (nicht ohne sich gegen den Tadel zu verteidigen, das habe doch Wolf auch schon getan, ebd. 161), und erweitert es (Kenntnis <?page no="129"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 129 6. Die Übersetzung ist kein Hybrid und keine Doppelung, nichts, das gleichzeitig ausgangs- und zielsprachlich sein kann. Die Übersetzung weist aus dem Kontext der Zielsprache auf einen Ort im Kontext der Ausgangssprache hin, an dem sich der Ausgangstext befindet. Ob Ciceros De oratore oder Tacitus’ Annales oder Prudentius’ Peristephanon: Ein lateinischer Text hat immer nur einen einzigen Platz, und der befindet sich im lateinischen Sprachsystem. Die Übersetzung markiert einen möglichen Ort innerhalb des zielsprachlichen Systems. Die Übersetzung enthält nicht Teile des Ausgangstextes, sie ist nicht zugleich identisch und nicht-identisch, nichts gibt es jetzt zwei Mal und nichts fehlt im Ausgangstext, weil es in den Zieltext getragen worden wäre. 7. Die Übersetzung ist ein Avatar. Der Ausgangstext nimmt einen Platz ein, die Übersetzung markiert einen Ort. Einen Ort zu markieren gleicht einem Hinweis, einer Bekanntmachung. Die Übersetzung macht bekannt, dass an vergleichbarer Stelle in der Ausgangssprache ein solcher Text zu finden ist. Ihr Modus ist irreal: Wäre unsere Sprache die Ausgangssprache, stünde an dieser Stelle der Ausgangstext. Wenn die Wiedergabe nicht gemäß zielsprachlichen Funktionsregeln verfasst ist, kann sie die Stelle des Ausgangstextes nicht bekannt machen. Sie ist ein Fehler und verweist nur auf sich selbst. 7 Erste Skizzen zu einem Modell analogen Übersetzens Modelle sind wie die allgemeinen Übersetzungsprinzipien in der Praxis nur bedingt hilfreich. 61 Aber sie veranschaulichen ein leitendes Verständnis, eine Ausgangsposition, von der aus wie mit einer vorgeschalteten Haltung (Grundannahme, Prinzip) das konkrete Übersetzungshandeln eine Ausrichtung an Parametern gewinnt, unabhängig von den Einzelentscheidungen. Die Arbeit an der „Bibliothek der lateinischen Literatur der Spätantike“ zeigt dabei, dass von der Stelle habe ich über Apel 1982, 150 mit Anm. 15 erlangt): War bei Cervantes die Übersetzung verglichen mit der Rückseite eines flämischen Wandteppichs (oder: Tapete), auf der das Bild der Vorderseite noch erkennbar, aber „durch die zusammenlaufenden Fäden sehr entstellt“, ist für Boeckh die Übersetzung „nicht die Kehrseite des Originals, sondern des Bildes, welches der Uebersetzer vom Original gewonnen hat.“ Weil aber die philologische Arbeit auf eben dieses Bild eingewirkt habe, die philologischen Feinheiten auf dieser Rückseite mit verwirrten Fäden nicht sichtbar, gehöre das Übersetzen eben nicht zur Philologie: „würde ich abrathen sich ohne besonderen Beruf viel damit zu befassen“. Cauer 1909, 5 f. kennt es übrigens auch, sagt aber nicht, woher (der Bezug auf das Künstlerische am Ende seines Absatzes lässt Boeckh vermuten). 61 Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015, 392 f. erwägen ebenfalls ein dreigliedriges Modell, das sich durch den Bezug auf den gestalteten Text von dem hier gedachten unterscheidet. <?page no="130"?> 130 Alexander Arweiler allgemein formulierte Regeln immer leichter Konsens finden als die Wiedergaben, die nach eben diesen Regeln angefertigt sein sollen. 62 Die Konsensfähigkeit ist trügerisch: Wer wollte nicht, dass eine Wiedergabe gut sei, elegant, vergnüglich oder schön? Die Attribute suggerieren ein Surplus der guten Übersetzung, etwas, das zu erreichen erfreulich, aber nicht notwendig sei. In der so gezogenen Grenze zwischen dem Möglichen und dem Wünschenswerten, dem, was doch schon einmal eine hilfreiche Wiedergabe sei, und dem, was zusätzlich in einer besseren Welt dazukommen könnte, um sie schöner zu machen, liegt ein Missverständnis, das leicht zu überwinden ist. 63 An die Stelle der Meinungen, die auf privaten Spracheindrücken beruhen, könnte eine philologische Haltung treten, die die eigenen Prämissen mit dem Anspruch auf Verbesserung kritisch prüft. In unserem Fall könnte dies beim wahrscheinlich einfachsten Modell der Übersetzungshandlung beginnen, das diese als direkte horizontale Linie vom Ausgangszum Zieltext vorstellt: Diese horizontale Linie, die einen unmittelbaren Kontakt suggeriert, liegt sowohl den Transportmetaphern zugrunde als auch den oben behandelten Schlagworten (‚nahe‘, ‚wörtlich‘, ‚treu‘, ‚bewahren‘, ‚erhalten‘, ‚den Autor sprechen lassen‘, ‚das Original nicht verfälschen‘ 64 ). Das lineare Modell ist aber ohne Integration der wichtigsten Instanzen des Übersetzungshandelns ebenso untauglich wie die Rede von ‚wörtlich‘ oder ‚bewahren‘: Der Pfeil ‚→‘ ist gar nicht sprachlich wiederzugeben: Soll er für ‚wird zu‘ stehen (was sachlich unmöglich ist) oder für ‚nähert sich an‘ (sachlich ebenfalls unsinnig)? Wenn er für ‚ist ähnlich zu‘, ‚ist gleich‘ oder ‚entspricht‘ stünde, müsste ein entsprechendes Zeichen eingefügt werden, dann wäre aber die ganze Vorstellung von einer Handlung, einem Umsetzen und einer aktiv hergestellten Verbindung zwischen einem vorhandenen und einem zu erstellenden Produkt verloren. Zu den fehlenden 62 So beobachtet Schmitzer 2016, 218 zu von Albrechts Metamorphosen-Übersetzung: „Die Übersetzung an sich ist durchaus transparent und sprachrichtig, aber bemerkenswert ist doch, wie folgenlos an dieser exponierten Stelle des Textes die ausdrücklichen Maximen des Übersetzers bleiben“ (die Maximen beriefen sich auf Schadewaldt, s. Schmitzer ebd. 216). 63 Wie es ja auch in einer universitären Prüfung irrig ist, die Wiedergabe von converti orationes (s. o. aus Cic. [? ] opt. gen. 14) mit „umgedreht werden die Sprachen“ zu kommentieren als „ja, aber das geht vielleicht noch schöner“ statt „nein, das ist falsch“. ‚Schön‘ ist eine Kategorie, die nichts mit ‚richtig‘ zu tun hat. 64 Zum romantischen Begriff des Originals und seiner Auswirkung auf spezifisch deutsche Ausgangssprachenorientierung zum Beispiel in der Shakespeare-Übersetzung siehe die Hinweise in Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015, 364, Anm. 16. <?page no="131"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 131 Instanzen gehören die Systeme der Ausgangs- und Zielsprache, die möglichen Referenztexte, aus denen auf Aussagen für einzelne Ausdrucksweisen geschlossen wird, die behauptete Aussage eines Textes als Ergebnis der interpretatio, deren Abhängigkeit von den sprachlichen und geistigen Voraussetzungen der Übersetzenden und jeder Bezug darauf, was einander auf den beiden Seiten entsprechen soll. Eine erste Veränderung muss deshalb die Aussage berücksichtigen, die als Funktion der sprachlichen Elemente des einen und des anderen Textes erst gefunden und plausibel gemacht werden muss. Konzeptionen sprachlicher Zeichen berücksichtigen ja den Unterschied zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite, zwischen Buchstaben- und Lautgestalt auf der einen, damit verbundener (geistiger) Vorstellung auf der anderen. Wie oben angedeutet, sind Texte am besten beschreibbar als Formationen von sprachlichen Elementen, deren Zusammenspiel im Prozess des Lesens (als eines bedeutungszuweisenden Handelns) die möglichen Aussagen ergibt. Einschreiben lässt sich die Instanz der (möglichen) Aussagen (Funktionen, Vorstellungen) 65 zunächst als ein Drittes, auf das sich sowohl der Ausgangswie der Zieltext, der lateinische und der deutschsprachige, ausrichten. Die unscheinbare Einfügung eines Dritten ändert alles. Die direkte Linie zwischen Ausgangs- und Zieltext ist verschwunden, zugleich alle Probleme der Wörtlichkeit, Nähe oder Treue. An deren Stelle sind zwei unabhängige Bewegungen getreten, eine vom Ausgangstext aus auf die Vorstellung, die er zum Ausdruck bringt, und eine vom Zieltext aus auf die Vorstellung, die er zum Ausdruck bringt und die als dieselbe gedacht ist wie die, die vom Ausgangstext aus getroffen werden soll. Das, worauf sich A und Z richten, nenne ich hier Vorstellung (V). 66 ‚Funktion‘, ‚Vorstellung‘ oder ‚Aussage‘ sollen aber zur Bezeichnung 65 Zur pragmatischen Offenheit der Bezeichnungen hier siehe den nächsten Absatz. Wie gesehen, ist das noch keine feste Begrifflichkeit. Auch ‚Funktion‘, ‚Aussage‘ oder (in Kombination) ‚Aussagefunktion‘ sind geeignete Kandidaten. Problematisch sind alle, insofern sie eine aus der umgangssprachlichen Verwendung stammende, zu starke Neigung zur Inhaltsseite haben - bei Kandidaten wie ‚Information‘, ‚Inhalt‘, ‚Gedanke‘, ‚Gehalt‘, ‚Sachverhalt‘ oder ‚Proposition‘ gilt das noch mehr. 66 Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015, 393 f. erläutern Franziska Münzbergs Modell, in dem viele der hier und im Folgenden zu findenden Parameter ebenfalls berücksichtigt sind. Dort <?page no="132"?> 132 Alexander Arweiler dessen gebraucht sein, was alle bedeutungstragenden Elemente des Textes zusammen ergeben. Das ist dann nicht bloß eine Botschaft oder Mitteilung, worin ja ein folgenreiches Missverständnis liegt, 67 sondern ein Konglomerat auch widersprüchlicher Verweise, Äußerungen, Bewegungen und Hinsichten, insofern sich die Aussage aus dem Gebrauch auch aller Satz-, Leer- oder Moduszeichen bis hin zur Gesamtkomposition und den aus anderen Texten aufgegriffenen Interpretamenten ergibt. 68 In die Aussage gehören also auch Bedeutungen, die zum Beispiel aus dem Einsatz textreferentieller Elemente stammen (die Wahl einer Textsorte, eines Registers, einer Form). Der Pfeil → steht für ‚bringt zum Ausdruck‘ oder ‚richtet sich auf‘ oder ‚erlaubt den Rezipienten, plausibel aufzurufen‘. Damit wird nicht, wie im anfangs zitierten Modell, eine nicht beschreibbare Bewegung des Hinüberbringens von einem zum anderen Ort oder eine Art Metamorphose bezeichnet. Der Text als Zeichenfolge, als Zusammenhang sprachlicher Elemente, richtet sich auf eine Vorstellung, auf einen Gedanken, den er zum Ausdruck bringt. Damit ist ‚A → V‘ die Bezeichnung dessen, was im Ausgangstext geschieht oder ist. Allerdings ist die Vorstellung nicht einfach da, so wie ihr Ausdruck da ist. Sie als eigene Instanz zu denken, ist notwendig, weil sonst kein Bedeuten des Textes möglich wäre (und das ist unabhängig von den theoretischen Prämissen, die man wählen kann). Damit stehen wir vor einer entscheidenden Einschränkung: Übersetzen ist hier nur dann als möglich gedacht, wenn man die Gerichtetheit des Ausgangstextes als gegeben annimmt, oder besser: wenn man die Behauptung, es sei gewinnbringend, den Text als einen gerichteten zu behandeln, als Voraussetzung anerkennt. Man kann auch das Gegenteil voraussetzen, nur wäre es dann nicht möglich, das Übersetzen in der hier gedachten Weise zu beschreiben. Was wir als im ersten modifizierten Modell sehen, ist nicht (mehr) ein Bild des Übersetzungshandelns, sondern des Bedeutungsgeschehens in zwei getrennten Texten. Es handelt sich um zwei voneinander getrennte Ereignisse: Es gibt ein (behauptetes) Bedeutungsgeschehen im Ausgangstext, bei dem sich dessen Ausdrucksseite auf eine Aussagefunktion hin ausrichtet, und ein paralleles im Zieltext. ist die gesuchte Instanz als „gedanklicher Gehalt“ bezeichnet. 67 Dazu einige vorläufige Beobachtungen in Arweiler 2010, What is a literary speech act? Quintilian, John Searle, and the notion of ‘constatives’, in: Acting with words. Communication, rhetorical performance and performative acts in Latin literature, edited by Damian Nelis, Heidelberg, 197-240. 68 Treffend schildert Apel 1982, 155-167 die Haltung und Ansichten Wilamowitz-Moellendorfs, der anders als einige Epigonen neben Überheblichkeit und Borniertheit eben auch Souveränität und überragendes Wissen besaß (ebd. 157), ansonsten wie Schadewaldt zu individuell ist, um sich bei ihm etwa für eine Sprachauffassung zu legitimieren, „in der Form und Inhalt getrennt sind“, „als ob es Herder, Schlegel, Schleiermacher und Humboldt, bzw. ihre Schriften nie gegeben hätte“ (155). <?page no="133"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 133 Wenn wir nun von der übertragenen Redeweise lassen, dass der Text handelt, oder der passiven, dass etwas geschieht, die beide bequem, aber verkürzend sind, und die Akteure einbeziehen, ist die Doppelung des Geschehens nicht mehr erstaunlich. Jemand liest Text A und bezieht ihn auf die gefundenen Aussagefunktionen, ein Akt der interpretatio (= Deuten), und jemand schreibt Text Z und bezieht ihn auf die gefundenen Aussagefunktionen aus A, ein weiterer Akt der interpretatio (= Übersetzen). 69 Die Gestalt des Textes muss erst verbunden werden mit einer Vorstellung von den Aussagefunktionen, um daneben noch einmal in einer anderen Sprache so entworfen zu werden, dass er dieselben Aussagefunktionen trifft - wie zwei Werferinnen von zwei Stellen aus versuchen könnten, mit jeweils ihrem Ball dieselbe Formation übereinander gestapelter Dosen zu treffen. Akteure im Ausgangstext sind die Rezipienten nicht der Verfasser, worin ein Kategorienfehler läge. Rezipienten bestimmen (möglicherweise auch falsch) aus dem vorliegenden Text dessen Ausrichtung auf eine Aussagenfunktion hin, das Bedeutungsgeschehen während der Textproduktion ist davon logisch strikt getrennt. 70 Also gilt es, sprachliche und textuelle Verfahren auszumachen, zu benennen, ihre Funktionen zu bestimmen und auf der Grundlage der Gemeinsamkeit dieser Funktionen geeignete Verfahren aus zwei Sprachsystemen einander zuzuordnen, z. B. ein Tempuskennzeichen wie ‚-ba-‘ mit dem Aspekt ‚versuchend‘ oder ‚wiederholend‘ und Wiedergabe wie ‚versuchsweise‘, ‚versuchte‘, ‚bei dem Versuch‘, ‚immer wieder‘ oder Äquivalentem zusammenzubringen, oder einer Inversion das Setzen eines Artikels, einem Ausrufezeichen in der einen Sprache eine idiomatische Wendung eingebunden in einen Subjunktionalsatz in der anderen oder ein beliebiges anderes Verfahren. Die Nachbildung betrifft die Zuordnung von Verfahren zu Funktionen, in der Annahme (Hoffnung), dass das in der Zielsprache gewählte Verfahren die Funktion ausübt, also diejenige Vorstellung hervorruft, die ein (meist ganz anderes) Verfahren im Ausgangstext hervorruft. 69 Um die Berechtigung von vorgeblich ‚ersten‘ Erschließungen auszuschließen, wird in dem von Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015, 394 diskutierten Ansatz von Acartürk-Höß ganz einsichtig nur auf das analytische Instrumentarium zugegriffen, auch wenn die Verfasser der Studie zu Recht darauf hinweisen, dass ein mehrfaches Abgleichen eigener Vorstellungen von den Textaussagen mit den jeweils erreichten sprachlichen Wiedergaben Teil des Korrekturprozesses sein kann - das eine ist der Konzentration auf die Theorie, das andere der Konzentration auf die Praxis verpflichtet. 70 Der gleiche Kategorienfehler begründet die Verwechslung der Welt des Textes mit der Welt, in der der Text geschrieben wurde. Er entspricht der Verwechslung des Entdeckungskontextes mit der Erkenntnis selbst (nach Salmon). Die Gerichtetheit eines Textes ist Gegenstand philologischer Analyse, die die Kontexte erschließt, auf die der Text verweist. Diese Kontexte sind ausschließlich philologisch begründbare Relationen, mentale Zustände außerhalb der Texte gehören nicht dazu („die Römer meinten“ oder „der Verfasser wollte“). <?page no="134"?> 134 Alexander Arweiler Wir sind damit aber noch nicht am Ende der notwendigen Modifikationen. Das parallele Geschehen - das Lesen des Ausgangs- und das Entwerfen des Zieltextes - soll auf eine gemeinsame Vorstellung hin ausgerichtet sein. Aber in welcher Sprache und welcher Welt wäre diese gemeinsame Vorstellung anzusiedeln? Im Modell sieht es schlüssig aus, aber die Wirklichkeit verlangt eine Entscheidung, weil der Platz, an dem jetzt diese gemeinsame Vorstellung, diese Aussagefunktion, auf die von beiden Positionen aus die Bälle geworfen werden, nur virtuell existiert. Wir haben gesehen, dass alle sprachlichen Verfahren, die zur Bedeutungsgebung angewendet werden können, an das sie umgebende sprachliche System gebunden sind. Der Effekt einer Figur im Lateinischen ist nicht derselbe wie der derselben Figur im Deutschen. Umgekehrt kann eine Periphrase im einen und ein Satzzeichen im anderen auf denselben Effekt, dieselbe Aussagefunktion, abzielen. Es scheint also, dass wir dem Begriff der Analogie noch nicht ausreichend gerecht werden. Analog sind bereits die beiden Bewegungen der interpretatio, also das Ausrichten des Ausgangstextes durch verstehendes Lesen auf der einen und das Ausrichten des Zieltextes durch Schreiben der Übersetzung auf der anderen Seite, aber das Verhältnis zwischen den beiden Fluchtpunkten der Ausrichtung im Modell ist noch nicht analog. Das wird es, indem wir den letzten Schritt der Trennung durchführen. An die Stelle der Annäherung zwischen den Texten ist die Annäherung bzw. Analogie zwischen Relationen getreten, die Relation des Ausgangstextes zu seiner Aussage und die des Zieltextes zu der ihm eigenen. Mit der hochgestellten ‚ 1 ‘ markieren wir jetzt deutlicher als zuvor den Akteur, der seine Vorstellung vom Ausgangstext auf seine Vorstellung von dessen Aussage bezieht und dasselbe auch beim Entwurf des Zieltextes tut. Das geborgte und nicht wie in der Mathematik verwendete Symbol ‚≈‘ mag als ‚ungefähr gleich‘, als abgeschwächte Proportionalität, verstanden sein, es wäre auch möglich ein ‚entspricht‘ oder ein asymptotisch gedachtes ‚nähert sich an‘ mit entsprechenden Zeichen zu markieren. Um aus dem Modell die nützliche Form einer Überprüfungsfrage zu gewinnen, ließe sich über dem Symbol ‚≈‘ ein Fragezeichen ‚? ‘ einfügen. Möglich ist jetzt auch, falsche Wiedergaben abzubilden und nach ihren Ursachen zu unterscheiden: <?page no="135"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 135 Es kann zum Beispiel der Fall eintreten, dass aus einer zutreffenden Konstruktion des Ausgangstextes eine zutreffende Aussage entworfen worden ist, auf die der Ausgangstext gerichtet sein kann. Der in vermeintlicher Analogie erstellte Zieltext führt nun aber zu einer irrigen Aussage iV 1z , die nicht mit V 1a übereinstimmt. Dann haben wir den einfachen Fall V a ≠ V z , eine falsche Wiedergabe. Die Kennzeichnung als irrig kann zu allen vier beteiligten Instanzen treten und damit jedes Mal in Kombination mit den anderen einen anderen Fall abdecken. Ist das erstellte Bild des Ausgangstextes irrig iA 1 , kann die gedachte Aussage falsch oder richtig sein, aus einem irrig erstellten Zieltext kann eine richtige oder falsche Aussage entstehen. 71 Nach wie vor sind aber die Akteure und deren Sprache zu wenig berücksichtigt. Sie sind diejenigen, die den Ausgangstext auf eine Aussage ausrichten, indem sie aus ihrer eigenen Sprache auf die Ausgangssprache schauen, und sie können den Zieltext nur in dem Maß auf eine Aussage ausrichten, in dem sie mit der Sprachwirklichkeit der eigenen Sprache vertraut sind. 72 Was wissen sie von den Möglichkeiten der eigenen und der anderen Sprache, kennen sie ihre eigene Literatur, die historische Entwicklung, die Stratifizierung ihrer eigenen Sprache in viele Register, sozio- oder varietätenlinguistisch beschreibbare Differenzen, die Stillehren, diachrone und synchrone Differenzierungen des Deutschen? 73 71 Für ‚irrig‘, ‚richtig‘ und ‚falsch‘ muss selbstverständlich gelten, dass sie nicht als zeitlose Größen die in der Latinistik zwar noch präsente, aber sonst verabschiedete Vorstellung zurückbringen, dass Texte eine richtige Bedeutung hätten, nämlich die von einfühlenden Interpreten als die vom Verfasser gedachte rekonstruierte. Umgekehrt ist selbstverständlich auch nichts damit gewonnen, nachzureden, die ‚Autorintention‘ gebe es nicht, denn das löst bekanntlich das Problem nicht. 72 Ist ihre Sprache vielleicht informiert durch poetische Verfahren deutscher Prosa aus Friederike Mayröcker, Syntax aus der Lyrik Thomas Klings oder Jan Wagners oder der Sprache Thomas Bernhards oder Ödön von Horvaths? 73 Der reiche Überblick von Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2015 kann als Leitfaden dienen. Empfehlenswert wäre, die Reihenfolge im Kriterienkatalog (381-384) praxis- und sachorientiert umzukehren, also vom Text auszugehen (hier: 6b) und den missverständlichen Anfang beim Außertextuellen zu vermeiden. <?page no="136"?> 136 Alexander Arweiler Aus seiner individuellen, zielsprachlich geprägten Auffassung von der Ausgangssprache zSpr 1 (a) konstruiert der Akteur ein Bild des Ausgangstextes A 1 , das er auf die Vorstellung V 1a gerichtet sieht. Wiederum aus seiner individuellen Auffassung von der eigenen Ausgangssprache zSpr 1 (z) entwirft der Akteur unter beständiger Rücksicht auf sein gewonnenes Bild von Ausgangstext und dessen Vorstellung (A 1 → V 1a ) sein Bild des zielsprachlichen Textes Z1, das er auf die Vorstellung V 1z ausrichtet. 74 Während beim Übersetzen der Vergleich zwischen A 1 und Z 1 irrelevant ist (er ist auch selten möglich), bildet V 1z den zentralen Maßstab. Von der erschlossenen Vorstellung V 1z blickt der Übersetzer jeweils zu V 1a , um Übereinstimmungen zu prüfen, als auch zu Z 1 , um die Textgestalt so anzugleichen, dass V 1z auch tatsächlich von Z 1 erreicht werden kann. A 1 und Z 1 bringen selbstverständlich bei Rezeption durch andere Akteure andere Vorstellungen hervor, durchaus auch in einem Effekt der Emergenz, also nicht als Ergebnis eines als richtig oder falsch beurteilbaren Deutungshandelns, sondern in der üblichen Weise, wie sprachliche Äußerungen in der Interaktion mit den Akteuren realisiert werden. Den letzten Schritt dazu, die beiden Bezugssysteme und das ihnen zugrundeliegende Handeln auch in der Abbildung zu trennen, können wir noch anfügen: Mit dem Entsprechungs- oder Annäherungszeichen ‚≈‘ haben wir auch das letzte verbindende Element gelöscht. Was bleibt, sind zwei Bezugssysteme, die beide 74 Eine zeitliche Dimension einzubauen würde helfen, das Parallele des Vollzugs als eines beständigen Wechsels zwischen den Handlungen der Bedeutungszuweisung für A und deren analoger Bildung in Z abzubilden. Wir müssen ja davon ausgehen, dass dieselbe Person Akteur im Geschehen A (Ausrichtung des Ausgangstextes auf seine Aussagefunktionen) und im Geschehen Z (Ausrichtung des Zieltextes auf analoge Aussagefunktionen) ist. <?page no="137"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 137 allein von den Fähigkeiten und dem Willen des Akteurs bedingt in Gang gesetzt werden. Das individuelle und idiosynkratische Moment des Übersetzungshandelns ist notwendig, aber weil es unternommen wird mit dem Anliegen, im Gefüge der Zielsprache einen Platz zu markieren, der dem des Ausgangstextes im Gefüge der Ausgangssprache entspricht, muss es verteidigt werden können, müssen Beobachter Verfahren der Plausibilisierung und ihrer Begründung anwenden können und zu Ergebnissen kommen. Die Rolle der Kenntnis der Zielsprache ist in unserem Modell um einiges bedeutender geworden. Den Erfolg einer Übersetzung bedingt die Kenntnis der Zielsprache. Wird ein Zieltext bloß aus Erfahrungen mit der üblichen Wiedergabepraxis aus dem Lateinischen, mit Fachjargon und der Sprache universitärer Lehre gespeist, ist er nur für einen solchen Kontext geeignet. Basieren die Erfahrungen aber auf der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der Prosa und Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts, wird mit jedem weiteren Gebiet auch die Dichte möglicher Relationen der Übersetzung im Zielkontext erweitert. Erst wenn der Zieltext als Übersetzung eigene Relationen mit dem Kontext der Zielsprache eingeht, ist er nicht mehr wie die bloße Wiedergabe isoliert oder auf das Archiv beschränkt und kann zum Gegenstand gegenwärtiger Reflexion werden. 8 Ausblick Deutet man latinistische Beißreflexe richtig, werden nach dem oben Gesagten schnell Menschen auftreten, die sich zur Verteidigung des Liebgewonnenen auf die Zerlegung vorhandener Übersetzungen stürzen und nachweisen, dass doch selbst in den noch so ambitioniert angelegten Übersetzungen der Bilderstürmer zahlreiche Fehler zu finden seien, oder vorsichtiger, dass es doch bei solchen Ansprüchen eine allzu schwierige Aufgabe sei, weshalb man sich mit dem ersten Möglichen bescheiden müsse - womit wir zurück bei der ‚ersten‘, ‚hilfreichen‘ und ‚zunächst einmal das Wichtigste‘ präsentierenden Wiedergabe wären. Letzteres können wir nun leicht zurückweisen, denn das Wichtigste sind Aussagen, nicht Äußerlichkeiten. Dann gilt es aber auch zu sehen, dass wir mit Quintilian und Plato den Ammenmärchen gegenüber skeptisch bleiben müssen, denn im Übersetzen führt aus dem einmal angelernten ‚wörtlich‘ gegen ‚frei‘ und ‚treu‘ gegen ‚lesbar‘ nur ein mühsamer Weg zurück. Es gibt keine falschen Zwischenstufen, die notwendig wären, um zum Richtigen zu gelangen. Schließlich wird man den Fehlerjägerinnen entgegenhalten können, dass man zielsprachliche Fehler sehr wohl von Fehlern im Verständnis des Ausgangstextes unterscheiden und erstere grundsätzlich vermeiden kann, während man bei letzteren teils tadelnd eingreifen wird, weil es Belege und Argumente gibt, teils aber auch anerkennen, dass die Übersetzungsleistung eine immense ist, die, <?page no="138"?> 138 Alexander Arweiler wie oben gesagt, zwangsläufig weniger und anderes zum Ausdruck bringt als der Ausgangstext, auf den ihr Produkt hinweist. Und mit der vorgeschlagenen Haltung, die immer um Revision des Eigenen und Abwehr des Hyperkorrekten bemüht ist, ist auch eine Absicherung verbunden, die Missverständnisse zwar nicht ausschließt, aber die Übersetzung in ihrer Aufgabe als Vorschlag und Ausgangspunkt für besseres Verständnis stärkt. In diesem Sinn ist es ein großer Erfolg einer Übersetzung, wenn sie ihre Leserinnen und Leser dazu bringt, über Dinge nachzudenken und zu eigenen Urteilen zu gelangen, auf die sie ohne die Übersetzungsleistung anderer gar nicht gestoßen wären. Insofern wäre eine erneuerte Beschäftigung mit dem Übersetzen aus dem Lateinischen auch ein Anstoß zur Pflege der Umgangsformen im Fach. Oben wurde gesagt, dass nichts von dem hier Angedeuteten neu sei. Es ist sogar in vielen Punkten banal, wenn man den Erkenntnisstand zum Übersetzen in anderen Disziplinen und das Wissen der Schriftstellerinnen und Übersetzer vergleicht (man denke an Seamus Heaney, Erich Fried und viele andere). Es ist aber vielleicht geeignet, der Gleichgültigkeit entgegenzutreten und die an der Zukunft des Faches Interessierten zu ermutigen, auf eine Neupositionierung des Übersetzens als Ergebnis philologischer Erschließung hinzuarbeiten. Das setzt eine Revision der Beschreibungssprache voraus, eine Haltung, die sich nicht im Wiederholen des Überholten und ohne Interesse an fachlicher Begründbarkeit der eigenen universitären Lehre immunisiert, und den Abschied von dem Irrtum, man gewänne durch bequeme Reduktion des universitären auf ein schulisches Sprachverständnis eine Grundlage für Übersetzungsfähigkeit. 75 Der Weg wird über konkrete, werk- und phänomenzentrierte Textanalysen führen, Wortverbindungen, Textsyntax sowie antike und neuere Stilistik stärker berücksichtigen und nicht im Allgemeinen, sondern in textsorten- und situationsspezifisch untersuchter Sprache beginnen müssen. 76 75 Es ist ja auch erstaunlich, dass die Reflexionstiefe gegenwärtig mehr aus den wenigen Seiten bei Apel 1982, 136-152 zu Schleiermacher, Humboldt und Boeckh oder 153-167 zu Wilamowitz gewinnt als von eigenen Beiträgen zum Thema. Dagegen könnten intensive Lektüre und sprachliche Analyse, die auf Verstehen abzielen, gegen die zweifache Mimikry in der universitären Lehre mancher Orte gestärkt werden: gegen die kosmetischen Übernahmen der alten und die der neueren Verfahren (zu letzteren vergleiche man die zahlreichen Publikationen von Therese Fuhrer). Nur so wird auch das Übersetzen aus dem Lateinischen seine kulturelle und literarische Relevanz in angemessenen Dimensionen sichtbar, sei es in Transferprozessen, wie sie Eric Gruen untersucht hat, in epochaler Hinsicht wie bei Greene, Thomas (1982, Nachdruck 2016), The Light in Troy. Imitation and Discovery in Renaissance Poetry, Yale University Press, oder erkenntnisorientiert wie bei Ellerbrock, Karl Philipp (2014), Ästhetische Differenz. Zur Originalität von Baudelaires Poe-Übersetzungen, Paderborn. 76 Siehe die anregenden, aber notwendigerweise nur skizzenhaften Beobachtungen von Landfester 1997, 30-37 zu den Subsystemen der Sprache. Die Tradition des lateinischen <?page no="139"?> Übersetzungspraxis und Beschreibungssprache 139 Für den Abschied von der Reduktionsgläubigkeit der jüngeren und jüngsten Zeit empfiehlt sich die Erneuerung des Übersetzungsverständnisses im Ausgang von sprachvergleichenden Ansätzen wie dem Nägelsbachs, von den Stellungnahmen zur gymnasialen Übersetzungspraxis des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und von den ehemals selbstverständlichen philosophischen, literatur- und sprachtheoretischen Dimensionen der Philologie, die zum Schaden, nicht zum Nutzen der Elementarausbildung (an einigen Instituten konsequenter als an anderen) aus Fach und Übersetzungspraxis ausgeschieden werden. Wenn die Hoffnung begründet sein sollte, dass das oben skeptisch angelegte Bild gegenwärtiger Fachlehre bloß Einzelfällen verpflichtet und im Fach als Ganzem unzutreffend ist, wäre es gut vorstellbar, dass Mimikry und antiquarische Verwaltung überwunden und die vorhandenen Instrumente der Sprachanalyse zu einer Übersetzungspraxis entwickelt werden, die das Philologische nicht mehr als fakultatives Beiwerk ansieht. 77 Anderenfalls wäre wohl einer erneuerten Sprachreflexion mit dem Ziel, Übersetzungen als wissenschaftlich zuverlässigen Beitrag zum transdisziplinären Dialog anzugehen, nicht das Schicksal zu ersparen, das die neuere Literaturwissenschaft in der deutschsprachigen Latinistik ereilt hat. 78 Aufsatzes bietet ebenfalls reiches Material für die stiltheoretische und sprachpragmatische Erfassung des antiken Materials, man blicke nur in Seyfferts Scholae latinae. Schließlich sei an das epochale „Archiv für Lateinische Lexikographie und Grammatik unter Einschluss des älteren Mittellateins“ (herausgegeben von Eduard Wölfflin, 15 Bde, Leipzig 1884-1908) erinnert, das nach wie vor eine Fundgrube an Anregungen bildet. 77 Den Sprach- und Literaturwissenschaften des 20. Jahrhunderts ging es ja nicht um bloße Bereicherung des Vokabulars, sondern um die wissenschaftliche Prüfung eigener Voraussetzungen, die sich vor allem in der unbedacht benutzten Alltagssprache eines Faches äußern. Die Rephilologisierung der Latinistik könnte von der Ernsthaftigkeit, mit der andere ihre eigenen Begriffe geprüft haben, durchweg profitieren (de te fabula narratur), zumal wenn weniger fremde Federn folgenlos angesteckt würden. 78 Von exquisiten Ausnahmen abgesehen, dürfte in der deutschsprachigen Latinistik der Eindruck herrschen, man habe die Literaturwissenschaft und -theorie ebenso erfolgreich überdauert wie die Philosophie des 20. Jahrhunderts oder die eigene Vergangenheit der höheren Kritik und Hermeneutik - so als sei das Fach von der intellektuellen Fundierung, die andere zu leisten haben, dispensiert, weil es lediglich die in den 1950er-Jahren verstetigten und seither gleichbleibenden Kenntnisse zu verwalten habe, zumal das für zukünftige Lehrkräfte doch wohl reichen müsste. So wird man auch das schon etwas angestaubte Buch von Thomas Schmitz (2002), Moderne Literaturtheorie und antike Texte, Darmstadt, rückblickend einordnen müssen: Auf den ersten Blick schien es anregend wirken zu sollen, hat aber zu einem gleichgültigen ‚non omnia possumus omnes‘ ermuntert, nicht zuletzt, weil es im Gegensatz zu den seit den 1960er-Jahren durchgeführten Untersuchungen, die sich von intensiver Lektüre der verfügbaren Literatur informiert an die Analyse der antiken Texte machten, einen eher interessefreien, antiquarisch-biographischen Ansatz verfolgte. <?page no="140"?> 140 Alexander Arweiler Verzeichnis der abgekürzt zitierten und empfohlenen Publikationen Apel, Friedmar (1982), Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg. Apel, Friedmar (Hrsg.) (1989), Ein Shakespeare für alle. Begleitbuch zu den Shakespeare-Übersetzungen von Erich Fried, Berlin. 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Welchen Beitrag können dazu heutige sprachwissenschaftliche Theorien leisten? 1.1 Übersetzung in der neueren lateinischen Grammatik Welche Rolle die Übersetzung in der lateinischen Grammatik spielt, soll am Beispiel einer neueren Syntax kurz betrachtet werden. Schaut man sich den vor wenigen Jahren erschienenen ersten Band der „Oxford Latin Syntax“ von Harm Pinkster an, der bekanntlich von neueren linguistischen Ansätzen her konzipiert ist, so ist darin wiederholt von der Übersetzung die Rede. Genau genommen kommen das Nomen translation und das Verb to translate, das oft auch abgekürzt verwendet wird, insgesamt 135-mal vor, abgesehen von fünf Titeln im Literaturverzeichnis. 1 Im Vergleich dazu werden die Wörter pragmatic und pragmatically, Kernbegriffe dieser u. a. von der Funktionalen Grammatik Simon C. Diks her konzipierten Syntax, im Text - einschließlich von vier Seitentiteln - nur 74-mal verwendet. 2 In dem vorletzten Punkt der „Introduction“ bemerkt Pinkster ausdrücklich zur Übersetzung: (1) I have used existing English translations wherever possible. 3 1 Davon 67-mal das Nomen, 18-mal das Verb und 50x in der abgekürzten Form „tr.“. Darüber hinaus findet sich das Nomen 5-mal im Literaturverzeichnis. Das sonst ebenfalls 5-mal belegte lateinische Nomen translatio scheidet meist wegen anderer Bedeutungen aus: 3-mal in Cic. off. 1,43 (conveyance, S. 1040 [2-mal], S. 1044f.), 1-mal in Cic. top. 32 (metaphor, S. 979); jedoch 1-mal in Tert. Nat. 2,12 (S. 483) in der Bedeutung ‚Übersetzung‘ („huius translationis ratio“). 2 In dem umfangreichen Literaturverzeichnis erscheint auch das Nomen pragmatics, zum Teil in anderen Sprachen, insgesamt 19-mal. 3 Pinkster 2015a, 9. <?page no="144"?> 144 Roland Hoffmann Der Autor verweist außerdem auf eine bekannte von ihm benutzte englischsprachige Übersetzungsreihe, bemerkt aber auch, dass er diese literarischen Übersetzungen gelegentlich verändert habe, wo sie nicht genügend der lateinischen Struktur der Belege entsprochen hätten oder zu wenig die linguistische Analyse widerspiegelten. 4 Übersetzungen haben also in diesem Werk eine nicht unwichtige illustrierende, ja heuristische Funktion für die Leserinnen und Leser der linguistischen Analysen. An anderer Stelle hat sich Pinkster auch über die Verwendung von Übersetzungen im Unterschied zum Kühner-Stegmann geäußert, wo die Belege bekanntlich nur selten übersetzt sind. Damalige Gymnasialschüler hätten viel mehr lateinische Autoren schon in der Schulzeit gelesen, als heutzutage im ganzen Universitätsstudium geschafft werden könnten. 5 Die Konsequenz, die Pinkster wie auch andere Linguisten 6 aus dieser Lage ziehen, 7 besteht darin, das Hauptbelegmaterial um der besseren Verständlichkeit willen durch Übersetzungen zu erläutern. Diese scheinen so in heutigen Arbeiten der lateinischen Linguistik unentbehrlich geworden zu sein. Leisten aber heutige linguistische Theorien auch etwas für das Verständnis der Übersetzung, des eigentlichen Übersetzungsvorgangs? Dazu muss zunächst unter anderem kurz der Terminus der Systemlinguistik erläutert werden. 1.2 Zu einigen Grundbegriffen (Systemlinguistik, Übersetzung) Wenn im Zusammenhang mit Übersetzungstheorie von Linguistik die Rede ist, erscheint oft der Begriff ,Systemlinguistik‘, der in der sonstigen Diskussion eher ungebräuchlich ist. Was ist damit gemeint? Bezeichnete dieser Terminus ursprünglich eine strukturalistische, vom Systemgedanken der Sprache ausgehende Sprachwissenschaft, so bekam der Begriff später, seit der sog. pragmatischen Wende, eine negative Konnotation, eine Abwertung all derjenigen Beschäftigungen mit Sprache, die das Sprachsystem analysierten, ohne auf semantische und pragmatische Bedingungen, aber auch psychologische und soziologische Faktoren zu achten. 8 Ein interessanter Vergleich wurde zwischen der antiken Grammatik und Rhetorik angestellt, wobei die Grammatik für die Systemlingu- 4 „The main source for translations is the Loeb editions. However, I have modified existing translations when in my view they do not correspond precisely enough to the Latin structure and/ or when they do not reflect the linguistic analysis of the Latin text.“ (9). 5 Pinkster 2015b, 174. 6 Wie etwa G. Haverling, L. Danckaert und die Herausgeberinnen und Herausgeber vieler Kongressbeiträge. 7 Haverling 2000 und Danckaert 2012. Zu beiden Untersuchungen habe ich Rezensionen verfasst: Zu Haverling 2000 in: Gymnasium 111, 2004, 199-201; zu Danckaert 2012 in: Kratylos 59, 2014, 232-237. 8 Bußmann 2008, 677, s.v. Systemlinguistik. <?page no="145"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 145 istik stehe, während die zweite, ältere Disziplin, die Rhetorik, die „die Sprache in ihrem Umfeld [betrachtet] und […] sie in Abhängigkeit von den Bedingungen und Umständen ihres Gebrauchs“ untersuche, 9 die um die Pragmatik erweiterte Linguistik repräsentiere. Da es heute längst Ansätze in Form der funktionalen Theorien gibt, die von dieser Analyse deutlich abweichen und die Semantik und Pragmatik fest integrieren, soll im Folgenden nicht in diesem abwertenden Sinne die Linguistik betrachtet werden, auch wenn es um Theorien gehen wird, in denen der Systemgedanke vorherrscht. Nach Roman Jakobson (1981) wird zwischen „interlingualer“, „intralingualer“ und „intersemiotischer Übersetzung“ unterschieden, d. h. zwischen der Übertragung von einer in eine andere Sprache, der eigentlichen Übersetzung, der Umformung innerhalb ein und derselben Sprache (durch Kommentierung, Zusammenfassung, Interpretation usw.) und der Transposition von der Sprache in ein anderes Medium wie in die Malerei oder die Musik. 10 In diesem Zusammenhang geht es nur um die interlinguale Übersetzung, d. h. die Umformung von Inhalten aus der Ausgangssprache des Lateinischen in die Zielsprache des Deutschen. Nicht überflüssig ist es daran zu erinnern, dass es im Falle des Lateinischen bekanntlich keine muttersprachlichen Informanten gibt, dass also der Übersetzende ganz auf seine eigene Intuition angewiesen ist, ohne sich bei Muttersprachlern rückversichern zu können. Zweitens ist hier hauptsächlich die philologische Übersetzung gemeint, die genauestens darauf achtet, den Sinn ausgangssprachlicher Texte zu erkennen und ihn angemessen wiederzugeben. 11 Und drittens ist wichtig für die Übersetzung „[a]ls grundlegender übersetzungskonstituierender Begriff“ 12 die Äquivalenz, nämlich die Entsprechung, die zwischen Original und Übersetzung, zwischen Ausgangssprachen- und Zielsprachentext besteht, gerade wenn der Sinn des Originaltextes weitgehend gewahrt werden soll. 1.3 Zum Vorgehen Wir werden in unserer Darstellung folgendermaßen vorgehen: Ausgehend von einem forschungsgeschichtlichen Überblick zum Verhältnis von Linguistik und Übersetzung seit etwa den letzten fünf Jahrzehnten werden zweitens Beiträge 9 Albrecht 2013, 77. 10 Jakobson 1981, 190. 11 Auch von daher, nicht nur wegen des Fehlens von Muttersprachlern, kann die Übersetzung aus dem Lateinischen nie Dolmetschen sein. In umgekehrter Richtung könnte dies bei entsprechender Kompetenz der Übersetzer zum Spaß praktiziert werden. Der Hauptunterschied ist bekanntlich, dass der literarische Übersetzer beliebig lange seine Übersetzung bearbeiten kann. 12 Koller 2004b, 187. <?page no="146"?> 146 Roland Hoffmann der Systemlinguistik herangezogen, nämlich die Theorien von Noam Chomsky, Simon C. Dik und der Ansatz der heutigen Sprachtypologie nach Joseph H. Greenberg, um zu sehen, wie sich in diesen Theorien das Verhältnis zur Übersetzung darstellt. Nach dieser theoretischen Perspektive betrachten wir aus einer eher praktischen Perspektive zunächst den Systembereich der kontrastiven Linguistik in seiner Bedeutung für die Übersetzungstheorie und anschließend die einzelnen linguistischen Kernbereiche der Syntax, Semantik und Pragmatik und fragen dabei, welche Bedeutung die Erkenntnisse aus diesen Teilbereichen für die Übersetzung haben können. 2 Forschungsgeschichtliche Skizze Bei dem Versuch, die Forschungsgeschichte zum Verhältnis von Linguistik und Übersetzung zu skizzieren, 13 zeigt sich, dass es keine einfache gradlinige Entwicklung gibt. Dennoch lassen sich grob einzelne Phasen unterscheiden. 2.1 Die Zeit vor den 1950er-Jahren Lange Zeit, bis etwa in die 1950er-Jahre, gab es gar keine Zusammenarbeit beider Disziplinen. Linguisten und Übersetzungswissenschaftler arbeiteten in dieser ersten Phase nebeneinander, um nicht zu sagen: aneinander vorbei. Die zweite Gruppe besteht, wie Albrecht schreibt, aus „hommes de lettres, Schriftsteller[n] und Gelehrte[n] im weitesten Sinne“. 14 Es gibt eine Reihe von Aufsätzen literarischer Übersetzer, etwa von Wolfgang Schadewaldt (1960), 15 aber nur selten äußern sich Sprachwissenschaftler wie der Junggrammatiker Hermann Paul zu Übersetzungsfragen. 16 Erst seit den 1950er-Jahren sollte sich diese Situation ändern. 2.2 Die Frühphase der 1950er- und 1960er-Jahre Eine zweite Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass mehrere Linguisten - zwei Londoner Sprachwissenschaftler und Vertreter des britischen Kontextualis- 13 Dazu u. a. Albrecht 2013, 18-21; Baker 2004, Koller 2004a; 2011 und Stolze 2011, 65-84. 14 Albrecht 2013, 18. 15 Schadewaldt in: Störig 1973, 223-241. Ursprüngliche bibliographische Angaben: „Das Problem des Übersetzens“, in: Die Antike, Bd. 3, 1927. Später abgedruckt in: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur. Zum 60. Geburtstag von Wolfgang Schadewaldt am 15. März 1960. Zürich 1960, 523-537. 16 Albrecht 2013, 18f. <?page no="147"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 147 mus 17 John R. Firth (1956) 18 und John C. Catford (1965), der französische Strukturalist Georges Mounin (1963) und der von der Bibelübersetzung her kommende Missionar Eugene A. Nida (1964; 1969) - etwa gleichzeitig davon überzeugt waren, „dass Sprache das Rohmaterial für Übersetzung“ 19 sei und die Linguistik den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis des Übersetzungsvorgangs bereithalte. Nach Baker kam auch der enorme Aufwärtstrend der Linguistik als einer Wissenschaft hinzu 20 und sogar die Erwartung, dass eine linguistisch definierte Übersetzungswissenschaft eine maschinelle Übersetzung begründen könne. 21 Typisch für das linguistische Übersetzungsverständnis ist das folgende Zitat von Catford, das den ersten Absatz in seinem Buch bildet: (2) Translation is an operation performed on languages: a process on substituting a text in one language for a text in another. Clearly, then, any theory of translation must draw upon a theory of language--a general linguistic theory. 22 Übersetzung ist also zunächst eine sprachliche Angelegenheit, nämlich nach Catford „the replacement of textual material in one language (SL [Source Language, R.H.]) by equivalent textual material in another language (TL [Target Language, R.H.])“ 23 und ist daher ohne eine linguistische Theorie überhaupt nicht zu verstehen, wobei Catford die Theorie von Michael A.K. Halliday (1978) seinem Buch zugrunde legte. Äquivalenz wird dabei so definiert, dass es zwar keine gleiche Bedeutung zwischen Original und Übersetzung gebe, dennoch aber die gleiche Situation sprachlich bewältigt werden könne. 17 Zu dieser linguistischen Forschergruppe s. den englischen Wikipedia-Artikel „London School of Linguistics“. 18 Kennzeichnend für diesen Aufsatz sind die letzten Sätze: „Traduttore, traditore, is only too often true of linguists who constantly make use of translation in linguistic analysis, generally without systematic statement of the nature and function of the translation methods used. There have been long discussions on meta-languages and clashes of opinion on the technical languages of linguistics, but the place of translation in linguistics has not been adequately studied. The achievement of translation is a main challenge to linguistic theory and philosophy. Do we know how we translate? Do we even know what we translate? If we could answer these questions in technical terms we should be on the way to the formulation of a new and comprehensive general theory of language and firmer foundations in philosophy.“ (1956: 139, letztes Kursiv R.H.). 19 Baker 2004, 287, übers.: „There is […] the obvious fact that language is the raw material of translation, and it is therefore reasonable to assume that a discipline engaged in accounting for linguistic behaviour will have much to offer scholars interested in studying translation.“ 20 Ebd. 21 Für eine kritische Einschätzung der Möglichkeiten der Computer-Übersetzung vgl. Hauenschild 2004. 22 Catford 1965, 1. 23 Ebd. 20. <?page no="148"?> 148 Roland Hoffmann (3) The SL and TL items rarely have the same meaning in the linguistic sense; but they can function in the same situation. In total translation, SL and TL texts or items are translation equivalents when they are interchangeable in a given situation. 24 Wichtig ist ferner, dass zur Wahrung der situativen Äquivalenz auch sprachliche Strukturen geändert werden müssen, was Catford „translation shifts“ nennt, die er definiert als „departures from formal correspondence in the process of going from the SL to the TL“ 25 . Es werden „level shifts“ 26 und „category shifts“ 27 und als Untergruppe „structure-shifts“ unterschieden, z. B. engl. John loves Mary im Vergleich zur gälischen Struktur is love at John on Mary. 28 Weitere Beispiele für translation shifts sind Umstellungen von Adjektiv und Nomen (a white house = une maison blanche) 29 oder der Ersatz eines Adjektivs durch eine Präpositionalphrase (a medical student = un étudiant en médicine). 30 Intra-system shifts sind z. B. Plural statt Singular (in einem Beispiel von Stolze 31 „Liebt eure Nächsten“ in Sprachen, in denen kein generischer Singular vorkomme). Schließlich ist noch interessant die Unterscheidung von „freier“, „wörtlicher“ und „Wort-für-Wort- Übersetzung“ (free, literal, word for word translation), die ein Kontinuum von links nach rechts bilden. 32 Die sprachliche Seite manifestiere sich in allen klassischen Bereichen: der Phonologie (Kap. 8), der Orthographie (Kap. 9+10), der Grammatik und dem Lexikon (Kap. 11+12) und ferner der „Situation“ (Kap. 5). Außer dem Buch von Catford, das bis heute das bekannteste, ja populärste, aber auch angreifbarste 33 geblieben ist, entstanden in dieser Phase zwei andere Bücher von Nida (1964; 1969). Für die damalige linguistische Forschung war die Analyse innerhalb des Satzes typisch. Der Text selbst war noch kein Unter- 24 Ebd. 49, SL = Source Language, TL = Target Language. 25 Ebd. 73. 26 Ebd. 73-75. 27 Ebd. 75. 28 Ebd. 77, gälisch: Tha gradh aig Iain air Mairi. 29 Ebd. 78f. 30 Ebd.79. Man könnte hier als lateinische und deutsche Form ein Genitivverhältnis (studiosus medicinae) oder eine Univerbierung (Medizinstudent) nennen. 31 Stolze 2011, 57. 32 Catford 1965, 25. 33 Vgl. Baker 2004, 286: „Catford’s is in fact the best known linguistic theory and the one that has been widely cited to discredit linguistically-oriented discussions of translation. Even among linguists, it is now generally agreed that ,Catford’s ‘theory of translation’ stands as an allegory of the limitations of linguistics at that time‘ (de Beaugrande 1978, 11).“ <?page no="149"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 149 suchungsgegenstand. Nach Catford kommt er nur bei einer freien Übersetzung in den Blickpunkt. 34 2.3 Die Entwicklung einer Translationswissenschaft In einer dritten Phase versuchten Übersetzungswissenschaftler, sich von der Linguistik loszulösen und aus ihrem Bereich eine eigene Wissenschaft zu machen. Albrecht erklärt die Situation der Übersetzungswissenschaftler psychologisch mit einem „Bedürfnis nach Emanzipation“ und gebraucht dazu die Metapher einer Firmenneugründung: (4) Dieses Bedürfnis ist wohl für die bedenkliche Spezialisierung im gesamten Wissenschaftsbereich verantwortlich zu machen. Wer möchte schon Leiter einer kleinen Abteilung eines Betriebs sein, wenn sich die Chance bietet, eine eigene Firma aufzumachen? Ein Großteil der neueren Übersetzungsforscher hat das Bedürfnis nach Emanzipation „verinnerlicht“, wie man im soziologischen Jargon sagt. 35 Dass diese Spezialisierungstendenz nicht automatisch eine komplette Loslösung von der Linguistik bedeutete, zeigt die wohl wichtigste ,Firmengründung‘, die Leipziger kommunikationstheoretische Schule. 36 Zunächst entwickelte diese Schule ein bestimmtes Verständnis des Übersetzungsvorgangs mit Hilfe eines erweiterten, aus Sender und Empfänger bestehenden nachrichtentechnischen Kommunikationsmodells. Nach Kade steht in diesem Modell der Nachrichtenübermittlung der Übersetzer oder „Translator“ im Mittelpunkt. Dessen Aufgabe bestehe darin, ein code switching, einen Kodierungswechsel vorzunehmen. Er ist Empfänger und Sender zugleich: Im Kode des ursprünglichen Senders muss er die Nachricht empfangen, sie also dekodieren und sie im Kode des Empfängers rekodieren bzw. „enkodieren“, wie es die folgende Graphik zeigt: 37 34 Catford 1965, 25. 35 Albrecht 2013, 20. 36 Otto Kade, Albrecht Neubert, Gert Jäger, Gerd Wotjak; Stolze 2011, 50. Albrecht skizziert die Begründung der Leipziger Schule mit den folgenden Worten: „In den späten sechziger und in den frühen siebziger Jahren beginnt sich die Übersetzungswissenschaft zu etablieren, zunächst als Unterdisziplin der angewandten Sprachwissenschaft. Besonders eindrucksvoll manifestiert sich die damalige Entwicklungsphase der Disziplin in den Arbeiten der Leipziger Schule, insbesondere in denen des früh verstorbenen Übersetzungswissenschaftlers Otto Kade. Kade scheint überzeugt gewesen zu sein, dass sich alle wesentlichen Probleme mit den Mitteln der Linguistik lösen lassen“, Albrecht 2013, 20. 37 Graphik nach Stolze 2011, 53. <?page no="150"?> 150 Roland Hoffmann Abb. 1: Das Sender-und-Empfänger-Modell bei der Übersetzung 38 Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die Information der Nachricht unverändert bleibt. Dieses Kriterium wird als ,funktionelle Äquivalenz‘ bezeichnet. Das Fernziel der Leipziger Schule war die Erstellung von Übersetzungsgrammatiken. Sie sollten bei bestimmten zweisprachigen Übersetzungen alle wichtigen Regeln der Umformung enthalten. So wären in einer lateinisch-deutschen Übersetzungsgrammatik die Regeln dafür anzugeben, mit welchen deutschen äquivalenten Konstruktionen ein lateinischer Ablativus absolutus wiedergegeben werden kann. In anderer Übersetzungsrichtung, bei der deutsch-lateinischen Übersetzung, wird man unweigerlich an das Repetitorium von Menge (1961; 2012) erinnert. Die Leipziger Schule hat viel über die Theorie der Übersetzung nachgedacht und z.T. eigene Begriffe geprägt wie ,Sprachmittlung‘ als Oberbegriff für ,Übersetzen‘ und ,Dolmetschen‘. Die Sprache steht eindeutig im Mittelpunkt der Überlegungen: Übersetzungswissenschaft gilt als Zweig der Sprachwissenschaft. 39 G. Jäger stellt diese Disziplin in den Bereich der vergleichenden Sprachwissenschaften, zu der die geschichtlich-vergleichende Sprachwissenschaft, die Areallinguistik, die Sprachtypologie und die kontrastive Linguistik gehörten, wobei die Translationswissenschaft die Äquivalenzbeziehungen zwischen zwei Sprachen beschreibe. 40 38 Die Abkürzungen bedeuten: E = (Erster) Empfänger (in der Ausgangssprache); E’ = Zweiter Empfänger (in der Zielsprache); L 1 , L 2 : Quellbzw. Ausgangssprache und Zielsprache; S = (Erster) Sender (in der Ausgangssprache); S’ = Zweiter Sender (in der Zielsprache); U = Umformung. 39 Koller 2011, 131. 40 Jäger 1975, 192-202; Koller 2011, 130. <?page no="151"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 151 2.4 Die pragmatische Wende und die Skopostheorie In den 1970er- und 1980er-Jahren setzte innerhalb der Linguistik ein Trend ein, der die Sprache weniger als ein abstraktes Zeichensystem, sondern als Ausdruck der parole betrachtete. Gerhard Helbig beschreibt diese Trendwende folgendermaßen: (5) Seit etwa 1970 ist in der Sprachwissenschaft international eine „kommunikativ-pragmatische Wende“ zu beobachten, d. h. eine Abwendung von einer systemorientierten bzw. -zentrierten Linguistik und einer Zuwendung zu einer kommunikationsorientierten Linguistik. Das zentrale Interesse der Sprachwissenschaft verlagerte sich von den internen (syntaktischen und semantischen) Eigenschaften des Sprachsystems auf die Funktion der Sprache im komplexen Gefüge der (gesellschaftlichen) Kommunikation. 41 Diese Entwicklung bedeutete, dass die Systemlinguistik an Einfluss auch im Bereich der Übersetzung verlor. Gleichzeitig übernahmen einige Autoren Mischpositionen der Linguistik mit anderen Faktoren der Übersetzung. Daher „sehen wir, dass viele Wissenschaftler, die regen Gebrauch von linguistischen Analyseinstrumenten machen, ebenso auf literaturwissenschaftliche Forschung, auf Arbeiten zu Ideologiekritik, Kulturtheorien und vieles mehr zurückgreifen, was es schwer macht (um nicht zu sagen: unergiebig), ihr Werk als ,linguistisch‘ oder ,nicht-linguistisch‘ einzuordnen.“ 42 In dieser letzten Phase gibt es also keine rein linguistische Analyse des Übersetzungsvorgangs mehr. Eine typische Translationstheorie, die erst von der pragmatischen Wende her verständlich wird, ist die sog. Skopostheorie von Katharina Reiß und Hans J. Vermeer (1984). Für diese Theorie ist der Begriff des Skopos ganz wesentlich, der aus dem Altgriechischen kommend, so viel wie ,Zweck‘, ,Ziel‘, ,Funktion‘ oder ,Intention‘ bedeutet. Für jede Übersetzung sei ganz wesentlich, wozu sie angefertigt werde: etwa für die Schule bzw. das Erlernen einer Fremdsprache, für die internationale wissenschaftliche Verständigung oder für die Kommunikation 41 Helbig 1988, 13. Erläuternd fährt Helbig nach den im Text zitierten Sätzen fort: „Diese komplexen Zusammenhänge hatte die vorangehende Linguistik (vor allem De Saussure bis Chomsky) kaum gesehen: Sie hatte sich fast ausschließlich auf das interne Sprachsystem beschränkt, hatte weitgehend die Fragen der Verwendung des Sprachsystems in konkreten Kommunikationsprozessen (als ,parole‘) aus der Linguistik ausgeklammert und folglich mit reinem abstrahierten, isolierten und reduzierten Objekt gearbeitet, ohne daß man sich immer dessen bewußt gewesen wäre, daß, warum und wovon man abstrahiert hat […].“, Helbig 1988, 13. 42 Baker 2004, 290, übers.: „And yet we find that many scholars who draw heavily on linguistic tools of analysis also draw on literary theory, critical norms, theory of cultural planning, and much more, which make it difficult (not to say unproductive) to classify their work as ‚linguistically-‘ or ‚non-linguistically-oriented‘.“ <?page no="152"?> 152 Roland Hoffmann mit Angehörigen eines fernen Landes und damit verbunden einer fremden anderen Kultur. Dabei wird der Begriff der Äquivalenz dynamisch verwendet, der sich im Blick auf die Entstehungszeit des Ausgangstextes, aber auch im Blick auf die Translationssituation ändern kann. Dadurch entstehen die folgenden Axiome bzw. Variablen: 43 1. Jedes Übersetzungsprodukt („Translat“) ist skoposbedingt. 2. Ein Translat ist ein Angebot von Informationen in einer Zielkultur und Zielsprache über ein Informationsangebot in einer Ausgangskultur und Ausgangssprache. 3. Ein Translat bildet ein Informationsangebot unumkehrbar eindeutig ab. 4. Ein Translat muss in sich kohärent sein. 5. Ein Translat muss mit dem Ausgangstext kohärent sein. 6. Diese Regeln sind untereinander in dieser Reihenfolge hierarchisch angeordnet. Man sieht, dass zwar die Ausgangs- und Zielsprache an zentraler Stelle stehen, aber auch andere Komponenten wie die Information, die Kohärenz und die Unumkehrbarkeit der Übersetzung 44 wichtige Komponenten sind. 2.5 Die gegenwärtige Situation Die gegenwärtige Situation ist durch folgende Aspekte gekennzeichnet: 1. Es gibt keine enge Kooperation mehr zwischen der Linguistik und der Übersetzungswissenschaft, die sich von jener emanzipiert hat. 2. Von Seiten der Übersetzungswissenschaft wird die Linguistik oft einseitig als ,Systemlinguistik‘ apostrophiert, die für die konkrete Übersetzung, die sich nicht auf die langue, sondern die parole beziehe, kaum etwas erbringen könne. 3. Auf Seiten der Systemlinguistik wird innerhalb der großen Theorien, wie wir später sehen werden, der Bereich Übersetzung fast völlig ausgeblendet. Bewertet man diese Aspekte, so ist die fehlende Kooperation im ersten Falle für Sprachen wie das Lateinische, die primär auf die Übersetzung angewiesen sind, besonders bedauerlich. Auch im Falle der Sprachtypologie, wo Übersetzungen eine wichtige Rolle spielen, ist eine mangelnde Zusammenarbeit nur wenig 43 Reiß/ Vermeer 1984, 119; Stolze 2011, 181. 44 Man erkennt an diesem Punkt, dass ein Idealziel früherer Stilübungen, einen von einem Dozenten ins Deutsche übersetzten Cicero-Text möglichst nah an Cicero zurück zu übersetzen, eigentlich eine Illusion war. <?page no="153"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 153 nachvollziehbar. Zum zweiten Punkt lässt sich grundsätzlich bemerken, dass Polemik wenig weiterhilft. Zum letzten Punkt ist jedoch anzumerken, dass sich die Systemlinguistik durch dieses Desinteresse eigentlich um ein wichtiges Anwendungsfeld bringt und sich so letztlich selbst schadet. Dass diese Situation aber nicht bedeuten muss, dass man sich diesem Trend anschließen und die Linguistik aus der Übersetzungsthematik ganz ausblenden muss, soll der vierte Teil zeigen. Hier wird aufzuzeigen versucht, welchen Nutzen die Linguistik auf ihrem heutigen Stand in zentralen Bereichen für eine reflektierte Übersetzung haben kann. 3 Die theoretische Perspektive der Systemlinguistik Eine grobe Einteilung heutiger Grammatiktheorien ist die Unterscheidung nach formal und funktional. Als formal gelten diejenigen Theorien, bei denen die Syntax als autonomer Bereich fungiert, der keinen unmittelbaren Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit hat. Funktionale Theorien sind dagegen Erklärungsmodelle, in denen die außersprachliche Wirklichkeit eine große Rolle spielt. In solchen Theorien sind die Semantik und Pragmatik fest mit der syntaktischen Ebene verbunden. Als Beispiel für den ersten Typ mit autonomer Syntax soll die generative Theorie Noam Chomskys dienen, als Beispiel für den zweiten Typus wählen wir hier Simon C. Diks sog. Funktionale Grammatik. 45 3.1 Formale Syntaxtheorien Die generative Theorie Noam Chomskys erfuhr mehrere nicht unwesentliche Revisionen. Obwohl bereits 1957 in den „Syntactic Structures“ entwickelt, gilt als die bekannteste und populärste Variante die „Theory of the Aspects of Syntax“, die 1965 erschien und auch in Deutschland ein breites Echo im Linguistik- Boom der späten 1960er- und 1970er-Jahre erlebte. 3.1.1 Der Stand von Chomskys Aspekte-Theorie von 1965 Nach der Aspekte-Version besteht Sprache aus einer Oberflächen- und einer Tiefenstruktur. Der Übersetzungsvorgang betrifft die Wahl unterschiedlicher Oberflächenstrukturen und dürfte von daher kein größeres Problem sein. Wenn man die Tiefenstruktur eines Satzes erfasst hat, müsste dazu leicht eine Version in einer anderen Sprache möglich sein. 45 Ein weiterer sehr bekannter funktionaler Ansatz ist die Role and Reference-Grammatik, die in den beiden Büchern von Foley und van Valin (1984) und van Valin und Lapolla (1997) veröffentlicht ist. <?page no="154"?> 154 Roland Hoffmann Nach Chomsky selbst ist dies allerdings weniger einfach. Er schreibt dazu in den „Aspekten“: (6) Die Existenz profunder formaler Universalien […] impliziert, daß alle Sprachen nach demselben Muster angelegt sind, aber sie impliziert nicht, daß es eine Punkt-für-Punkt-Entsprechung zwischen einzelnen Sprachen gibt. So impliziert sie z. B. nicht, daß es irgendeine vernünftige Prozedur 46 für die Übersetzung zwischen Sprachen geben muß. 47 Erläuternd heißt es dazu in einer Anmerkung: (7) Unter einer „vernünftigen Prozedur“ verstehe ich hier ein Verfahren, das keine außerlinguistischen Informationen involviert, das also zum Beispiel keine „Enzyklopädie“ enthält. […] Die Möglichkeit einer vernünftigen Prozedur 48 für die Übersetzung zwischen beliebigen Sprachen hängt von der ausreichenden Menge substantieller Universalien ab. Gewiß bestehen viele gute Gründe für die Annahme, daß bestimmte Sprachen über weite Strecken nach demselben Muster funktionieren, aber es gibt nur wenig Grund zu vermuten, daß vernünftige Übersetzungsprozeduren generell möglich sind. 49 In diesem Zitat behauptet Chomsky also, dass zwar aufgrund der von der generativen Theorie angenommenen Universalien alle Sprachen „nach demselben Muster angelegt“ seien. Da es aber keine 1: 1-Entsprechung gebe, könne es keine „vernünftige Prozedur“ für die Übersetzung geben. In der Anmerkung erläutert Chomsky diese Ausführungen dahingehend, dass für eine einfache Übersetzungsmöglichkeit, bei der nur sprachliches Material beteiligt sei, ausschließlich die Zahl sog. substantieller Universalien ausschlaggebend sein könne. Je mehr, umso wahrscheinlicher sei diese Möglichkeit. Im letzten Satz der in (7) wiedergegebenen Anmerkung konzediert Chomsky zwar, dass es „viele gute Gründe“ für ein Funktionieren vieler Sprachen nach demselben Muster gebe. Seiner Meinung nach gebe es aber „nur wenig Grund“ für die Vermutung, dass „vernünftige“ Übersetzungsvorgänge möglich seien. „Vernünftig“ bedeutet dabei so viel wie ,für die Kategorien des menschlichen Verstandes zugänglich‘, also 46 So muss es hier richtig im Anklang an die Anmerkung 17 in (7) heißen. Im Text der Übersetzung steht jedoch „irgendeine effektive Prozedur“, während die originale Formulierung „some reasonable procedure“ lautet. Eine solche Abweichung zwischen dem Wortlaut in (2) und (3), wo eine klare anaphorische Beziehung besteht, die auch das Original zeigt, ist übrigens ein eindeutiger Übersetzungsfehler. Dieser scheint hier jedoch durch mangelnde Kooperation des Übersetzungs-„Kollektivs“ (s. die bibliographischen Angaben) zustande gekommen sein. 47 Chomsky 1978, 46 f.; kursiv R.H. 48 Vgl. Anm. 46. 49 Chomsky 1978, 251, Anm. 17. <?page no="155"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 155 ,kognitiv erkennbar‘ und daher auch ,operationalisierbar‘. Eine, wenn auch hier nicht offen ausgesprochene Konsequenz lautet, dass einfache computergestützte Übersetzungsprogramme nicht möglich seien. 50 Um Chomskys Argumentation voll zu verstehen, sind hier zwei Voraussetzungen zu klären. 1. Was sind „substantielle Universalien“ aus generativer Perspektive? 2. Was bedeutet es genau, dass es keine 1: 1-Entsprechung gibt? Im vorausgehenden Zusammenhang erläutert der Autor selber, was er unter substantiellen und formalen Universalien versteht. Chomsky geht von der These aus, dass ein Kind zum Spracherwerb mit einem gewissen Apparat ausgestattet sein müsse, der es ihm ermögliche, in relativ kurzer Zeit jede beliebige Sprache zu erlernen, was Chomsky an anderer Stelle eine „language faculty“, eine Sprachfähigkeit, nennt. 51 Daher müsse es linguistische Universalien geben, von denen jedes Kind eine „intuitive Kenntnis“ 52 habe. Mit diesem Apparat ausgestattet, müsse das Kind nur die jeweilige Einzelsprache erkennen, die in seiner Umgebung gesprochen werde, und es würde so relativ schnell diese erlernen. Universalien beziehen sich auf drei Ebenen der Sprache und „können entweder die syntaktische, semantische oder phonologische Komponente betreffen oder auch wechselseitige Beziehungen unter den drei Komponenten.“ 53 Chomsky unterscheidet dann zwischen substantiellen („substantive“) und formalen („formal“) Universalien und gibt Beispiele für beide Arten. Während sich die einen auf eine der drei Komponenten beziehen, bestimmen die anderen die Eigenschaften der angeborenen Universal-Grammatik. Ein substantielles Universal ist etwa die Eigenschaft, dass alle Phonemsysteme mithilfe weniger distinktiver Merkmale beschrieben werden können. 54 So bestehe ein formales Universal darin, „daß die syntaktische Komponente einer Grammatik Transformationsgesetze enthalten muß (Operationen ganz spezieller Art), die semantisch interpretierte Tiefenstrukturen auf phonetisch interpretierte Oberflächenstrukturen abbilden.“ 55 Dieses sog. „Universal“ wurde aber in späteren Versionen wieder aufgegeben. 50 Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die generative Grammatik, wie man etwa den „Syntactic Structures“ von 1957 entnehmen kann, ursprünglich vom Militär subventioniert wurde. Dieses verband damit die Erwartung, eine Theorie zu fördern, die die maschinelle Übersetzung ermöglichen würde, die - zu Zeiten des Kalten Krieges - zur militärischen Abwehr verwendet werden könne. 51 Cook/ Newson 1996, 30-33. 52 Ebd. 43. 53 Ebd. 44. 54 Knobloch 1993, 665. 55 Chomsky 1978, 45f. <?page no="156"?> 156 Roland Hoffmann 3.1.2 Die neo-generative Government and Binding-Theorie Bekanntlich hat sich die generative Theorie im Laufe der Jahre nicht unerheblich weiterentwickelt. Es wäre daher unsachgemäß, um nicht zu sagen: naiv und töricht, auf der Stufe der Aspekte-Version stehenzubleiben und nicht von späteren Fassungen her das Verhältnis zur Übersetzung zu beleuchten. Die neueste Fassung ist wohl die Government and Binding- oder Rektions-und-Bindungs- Theorie, die etwa in Renato Onigas Einführung für Latinisten (2014) vorgestellt und beispielsweise der Untersuchung von Lieven Danckaert zum sog. Left edge fronting (2012) zugrunde liegt. Ich habe dazu in einem Brief den Autor der gerade erwähnten Untersuchung, Lieven Danckaert, einen Experten der generativen Theorie und ehemaligen Doktoranden von Liliane Haegemann, befragt. In seiner Antwort schrieb Danckaert zunächst, was man auch anderen Ortes liest, 56 dass in den letzten Jahrzehnten wenig, wenn überhaupt ein Interesse unter generativen Linguisten an Übersetzung vorhanden sei. 57 Er zieht außerdem eine Interview-Äußerung Chomskys aus dem Internet 58 heran und begründet dieses Desinteresse damit, dass das primäre Ziel generativer Forschung darin bestehe, etwas über den menschlichen Geist zu verstehen, dessen Sprachzentrum ein wichtiger Teil sei, und dass praktische Anwendungen wie die Übersetzung diesem Ziel zuwider laufen würden. 59 Zweitens wüssten wir nach Chomsky noch nicht genug über menschliche Sprache, um eine regelbasierte Übersetzung zu erreichen und bekanntlich bestehe die generative Grammatik wesentlich in der Beschreibung der Sprache in Regeln. 60 Hinzu komme als ein weiterer Gesichtspunkt, der in der heutigen Diskussion sehr wichtig geworden sei, der Begriff der ,strukturellen Ambivalenz‘, d. h. der Möglichkeit, dass eine lineare Abfolge von Wörtern mehr als einer wohlgeformten strukturellen Wiedergabe entspreche. Der Input eines Übersetzungsprozesses sei aber immer eine lineare Abfolge von Wörtern oder Sätzen, die uns nicht direkt über die hierarchische Struktur der wichtigen Äußerungen informierten. 56 Z.B. Baker 2004, 285: „Generative linguistics such as Noam Chomsky have never shown much interest in translation.“ 57 „[…] there has been very little - if any - attention for translation studies among generative linguists over the past decades.“ 58 Https: / / www.youtube.com/ watch? v=BZB5oVSRmKQ [Abrufdatum: 01.02.2019]. 59 „[…] first of all […] the goal of generative grammar is to understand something about the nature of the human mind (of which the faculty of language is an integral part), and […] practical applications (such as translating texts) are strictly speaking orthogonal to this goal.“ 60 „Second, he [sc. Chomsky] also hints at the fact that there is at present still not enough we know about human language to allow for rule-based translation (and generative grammar is of course all about describing human languages in terms of rules).“ <?page no="157"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 157 Generative Regelsysteme operierten jedoch nicht an linearen Folgen, sondern eher an hierarchischen Strukturen, die - optional - linearisiert werden könnten. 61 Die vorausgehenden Ausführungen belegen also deutlich, dass es große theoretische Vorbehalte seitens der generativen Theorie gegenüber der Beschäftigung mit der Problematik der Übersetzung gibt. 3.2 Übersetzung aus der Sicht einer funktionalen Syntax Eine ganz andere Art sprachwissenschaftlicher Theorien sind die funktionalen Modelle, die die Semantik und Pragmatik fest in die syntaktische Analyse einbeziehen. Es ist von daher interessant zu sehen, wie in solchen Modellen das Verhältnis zur Übersetzung beschrieben wird. Eine typisch funktionale Theorie ist die sog. Funktionale Grammatik von Simon C. Dik. Dik spricht im Zusammenhang mit einem Beschreibungsproblem im ersten Band seiner „Theorie der Funktionalen Syntax“ auch von Übersetzung: 62 (8) Eine Eigenschaft des hier vorgeschlagenen Ansatzes besteht darin, dass das ,Definieren von Bedeutung‘ eine sprach-interne Angelegenheit ist, die sich mit einem Netzwerk implikativer Beziehungen zu der Aussage der Sprache beschäftigt. Eine Frage, die von selbst aufkommt, lautet: Wie können wir die Übersetzung von einer in eine andere Sprache verstehen, wenn eine solche Übersetzung nicht vermittelt wird durch einen Bausatz („set“) von sprach-unabhängigen semantischen Repräsentationen? Die Antwort darauf lautet, dass Übersetzung in ähnlicher Weise rekonstruiert werden muss, wie dies in einem zweisprachigen Wörterbuch geschieht. Ein solches Wörterbuch legt (teilweise) Entsprechungen zwischen den Aussagen von zwei verschiedenen Sprachen fest. Manchmal sind diese Entsprechungen sehr eng, manchmal sind sie nur Annäherungen und manchmal gibt es überhaupt keine Entsprechungen. Typischerweise wird die Stellung einiger Aussagen im Netz („network“) der semantischen Entsprechungen der Zielsprache nicht genau dieselbe sein wie in der Ausgangssprache. 63 Dieser Mangel an Entsprechungen wird aber keineswegs diejenigen überraschen, die Erfahrungen im Umgang mit dem Übersetzen haben. 64 61 „One major recurrent issue is the one of ,structural ambiguity‘, i.e. the possibility for a linear string of words to correspond to more than one well-formed structural representation. The input for a translation process is always a linear series of words/ sentences, which do not directly inform us about the hierarchical structure of the relevant utterances. Crucially, generative rule-systems do not produce/ operate on linear strings of words, but rather hierarchical structures (which can - optionally - be linearized).“ 62 Dik 1989, 102 f., übers. 63 Ein System für eine genaue Beschreibung möglicher Unterschiede zwischen den lexikalischen Netzwerken zweier Sprachen wurde von Van Leuven-Zwart 1984 entwickelt. 64 Der englische Originaltext lautet: „One property of the approach suggested here is that ,defining meaning‘ is a language-internal affair, dealing with a network of implicational <?page no="158"?> 158 Roland Hoffmann Dik geht hier also davon aus, dass sprachliche Bedeutung eine „sprachinterne Angelegenheit“ („a language-internal affair“) sei. Daraus ergebe sich aber die Frage, warum dann Übersetzung aus einer in eine andere Sprache überhaupt möglich sei, wenn es kein Set von einzelsprachlich-unabhängigen semantischen Repräsentationen gebe. Nach Dik sei dies aber einem zweisprachigen Wörterbuch vergleichbar. Dieses stelle einerseits teilweise Entsprechungen zwischen Aussagen bereit, die manchmal eng, manchmal weniger eng und manchmal überhaupt nicht vorhanden seien. Von daher würde die Position von einigen der Aussagen in der Zielsprache nicht genau die gleiche sein wie in der Ausgangssprache. 65 An dieser Äußerung wird deutlich, dass Dik, der in Amsterdam auch Latein studiert hatte und später ein Gutachter von Harm Pinksters Dissertation über lateinische Adverbien war, 66 keine wissenschaftlichen Hypothesen für den Bereich der Übersetzung hatte, sondern an relativ nahe liegenden Erklärungen festhielt. 3.3 Die neuere Sprachtypologie und Übersetzung Ein wesentlicher Anwendungsbereich der neueren Linguistik ist die heutige Sprachtypologie. Dieser Forschungszweig der Linguistik versucht, in der Fülle der verschiedenartigsten Sprachen unabhängig von ihren genetischen und räumlichen Zusammenhängen strukturelle Typen zu bestimmen. Als eine Pilotstudie, die den Beginn, um nicht zu sagen: das Geburtsjahr der modernen syntaktischen Typologie markiert, gilt eine Untersuchung des Amerikaners relations between the predicates of language. One question which naturally arises is: how can we understand translation from one language to another, if such translation is not mediated through a set of language-independent semantic representations? The answer to this is that translation will have to be reconstructed in much the same way as is done in a bilingual dictionary. Such a dictionary establishes (partial) correspondences between the predication of two distinct languages. Sometimes these correspondences are quite close, sometimes they are only approximations, and sometimes there are no corres pondences at all. Typically, the position of some predicate in the network of semantic relations of the target language will not be precisely the same as in the source language network. [A system for precisely describing the possible differences between the lexical networks of two languages was developed by van Leuven-Zwart (1984).] But this lack of correspondences will come as no surprise to those who have experience in the matter of translation.“ 65 In diesem Zusammenhang weist Dik auch auf eine (nach einem Hinweis von H. Pinkster, Amsterdam, von ihm betreute) Untersuchung von Kitty van Leuven-Zwart hin (van Leuven-Zwart 1984; 1989 f.), die anhand der niederländischen Übersetzungen spanischer Erzähltexte eine vergleichende Beschreibungsmethode entwickelt habe. 66 Harm Pinkster (1972), On Latin adverbs, Amsterdam. <?page no="159"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 159 Joseph H. Greenbergs an 30 Sprachen 67 im Bereich der Wortstellung. Im Jahre 1961 wurde sie auf einer Universalien-Konferenz von Debbs Ferry bei New York in einem Vortrag vorgestellt und 1963, in zweiter Auflage 1966 , veröffentlicht. 3.3.1 Übersetzung als ein heuristisches Mittel Klar ist, dass schon in dieser Studie von 30 Einzelsprachen und erst recht angesichts der Größe heutiger Stichproben von mindestens 50 bis zu mehreren hundert Sprachen aufwärts 68 der Typologe nur einen Bruchteil der ausgewerteten Sprachen verstehen kann und immer auf Übersetzungen angewiesen bleibt. Häufig sind solche Übersetzungen zweiteilig. In einer Interlinearversion werden die lexikalischen Bedeutungen und die grammatischen Morpheme angegeben und in der nächsten Zeile folgt eine normale Übersetzung, die möglichst viel noch von der grammatischen Struktur erkennen lässt. Beides ist in dem folgenden Beleg aus der Amazonassprache Tariana in (9) gut zu erkennen: (9) diha warikiri-pidana [diha ha-niri ha-do ART young.man-REM.P.REP he parent-MAdvsubC parent-FEM di-yâmi-kayami] kherunikana di-rena di-yâ-pidana 3sgnf-die-AFTER: DS unhappy 3sgnf-feel 3sgnf-cry-REM.P.REP ,The young man after his father and mother had died felt unhappy and cried.‘ 69 Bei diesem Verfahren haben die Interlinearversion und die Übersetzung eine wichtige Funktion. Beide ermöglichen es, das grammatische Phänomen - wie 67 Diese 30 Sprachen waren: „Basque, Serbian, Welsh, Norwegian, Modern Greek, Italian, Finnish (Europe); Yoruba, Nubian, Swahili, Fulani, Masai, Songhai, Berber (Africa); Turkish, Hebrew, Burushaski, Hindi, Kannada, Japanese, Thai, Burmese, Malay (Asia); Maori, Loritja (Oceania), Maya, Zapotec, Quechua, Chibcha, Guarani (American Indian).“, Greenberg 1966, 59. 68 Eines der größten Samples wurde von Matthew S. Dryer für „The World Atlas of Language Structures“ (hrsg. v. Martin Haspelmath u. a., Oxford 2005) ausgewertet, nämlich 1.370 Sprachen, während die durchschnittliche Größe der Sprachen-Sample in diesem Atlas, wie ich anlässlich einer Rezension für den „Kratylos“ (54, 2010, 37-40) berechnet habe, bei etwa 950 Sprachen liegt. 69 Aikhenvald 2003, 518, Beleg (22.9). Die morphologischen Abkürzungen bedeuten: AdvSub: adverbial subordinator; ART: article; C: clause; DS: different subject; M: masculine; nf: non-feminine; REM.P: remote past; REP: reported; sg: singular; 3: third person. <?page no="160"?> 160 Roland Hoffmann in (9) den Adverbialsatz mit anderem Subjekt als der Matrixsatz, dessen Subordinator enklitisch am Subjekt hängt (-niri) - genauer zu erkennen. 70 3.3.2 Die Frage nach Universalien in der Übersetzung Ein wichtiges Forschungsziel der neueren Sprachtypologie ist bekanntlich die Suche nach Universalien, wobei es weniger um direkte, sondern mehr um implikative Aussagen geht, etwa in folgender Weise: (10) If a language has dominant SOV order and the genitive follows the governing noun, then the adjective likewise follows the noun. 71 Die Frage, die sich im Blick auf das Übersetzen stellt, lautet, ob es auch dort Universalien gibt, ob es also Erscheinungen beim Übersetzungsvorgang gibt - möglicherweise linguistischer Natur - die beim Übersetzen von und in allen Sprachen auftreten oder zumindest bei sehr vielen (Greenberg benutzt dafür die Formulierung „with overwhelmingly greater than chance frequency“). 72 Tatsächlich hat es einige Forschung in dieser Richtung gegeben. 73 Doch gibt es hier ernsthafte Vorbehalte, die im Folgenden im Anschluss an Juliane House 74 vorgetragen werden sollen: • Greenbergs Universalien seien rein linguistischer Natur und würden sich auf sprachliche Phänomene beziehen. Sie seien daher keine Universalien der Übersetzung, sondern lediglich sprachliche Universalien, die sich auch auf die Übersetzung bezögen. • Nach House sind zweisprachige Übersetzungen vom Französischen ins Schwedische oder vom Englischen ins Arabische oder, wie man ergänzen könnte, vom Lateinischen ins Deutsche, immer einzelsprachlich und selbst Korpus-Untersuchungen blieben nur Ansammlungen solcher heterogener Sprachen-Paare. Begriffe wie „explicitness“, „explicitation“, „simplification“ und „conventionalization“ seien viel zu allgemein, um aussagekräftig zu sein. • Ferner weist die Autorin darauf hin, dass die Richtung der Übersetzung zu unterschiedlichen Resultaten führen könne. So seien Züge wie „explicitation“ 70 Zu den Interlinea rversionen s. Lehmann 1982 und exemplarisch Croft 2006, XIX-XXV. Für das Lateinische vgl. außerdem die Leipzig Glossing Rules (https: / / www.eva.mpg.de/ lingua/ pdf/ Glossing-Rules.pdf): Rule 4, Beleg (7); Rule 4B, Beleg (13); Rule 6, Beleg (22); Rule 9, Beleg (28). 71 Greenberg 1966, 62, universal 5. 72 Z.B. in Universal 4: „With overwhelmingly greater than chance frequency, languages with normal SOV order are postpositional.“, Greenberg 1966, 62, universal 5. 73 Z.B. Laviosa-Braithwaite 1998 und Mauranen/ Kujamäki 2004. 74 House 2018, 76f. <?page no="161"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 161 bei Übersetzungen von Kinderbüchern vom Englischen ins Deutsche nachweisbar gewesen, jedoch nicht umgekehrt, vom Deutschen ins Englische. • House nennt Untersuchungen, die belegen würden, dass bestimmte Erscheinungen sich in deutschen populärwissenschaftlichen Texten finden, sich aber nicht im gleichen Ausmaß in Texten der Wirtschaftswissenschaften („economic texts“) derselben Sprache nachweisen ließen. Es gibt also Unterschiede allein zwischen verschiedenen Textsorten innerhalb einer Sprache. Von daher lassen sich begründete Vorbehalte gegenüber der These formulieren, dass auch Universalien beim Übersetzungsvorgang nachweisbar seien. 3.3.3 Mangel an Reflexion zur Übersetzung in der Typologie Es fragt sich auch grundsätzlich, ob in den praktischen Analysen der Typologie immer ein klares Bewusstsein für die Übersetzungs-Problematik vorhanden ist, da fast nie die Übersetzung thematisiert, 75 geschweige denn problematisiert wird. Dabei ist außerdem zu bedenken, dass es häufig um Syntagmen geht, die so nicht in der Zielsprache, die oft Englisch ist, vorhanden sind. 4 Die praktische Perspektive der Systemlinguistik für die Übersetzung In der folgenden pragmatischen Perspektive soll es um eine praktische Anwendung der Linguistik auf die interlinguale Übersetzung aus dem Lateinischen gehen. Wie bereits gezeigt wurde, ist Übersetzung ein interdisziplinäres Phänomen, bei dem die Linguistik nur ein Gesichtspunkt neben anderen ist, etwa dem kulturellen Kontext, der Soziologie und der Psychologie. Richtig angewandt kann aber die Linguistik als die Wissenschaft von den Einsichten in das System Sprache dazu beitragen, dass Übersetzungsschwierigkeiten bewusst gemacht, Fehler der Übersetzung leichter erkannt und daher vermieden werden und bestimmte, sonst intuitiv getroffene freiere Übersetzungsentscheidungen auch explizit begründet werden können. In diesem Sinne sollen im Folgenden innerhalb der heute wichtigeren linguistischen Disziplinen der Syntax, Semantik und Pragmatik typische Schwierigkeiten, die bei der Übersetzung vom Lateinischen ins Deutsche auftreten, und ihre Lösung und Erklärung mithilfe der heutigen Systemlinguistik aufgezeigt werden. 75 Z.B. nicht in den Einführungen von Comrie 1989 und Croft 2006. <?page no="162"?> 162 Roland Hoffmann 4.1 Kontrastive Linguistik und Textwissenschaft als Bezugswissenschaften Unter kontrastiver Linguistik versteht man denjenigen Teilbereich der Linguistik, der einen synchron arbeitenden Sprachvergleich zwischen zwei Sprachen unabhängig von deren genetischer Verwandtschaft erarbeitet, um strukturelle Unterschiede aufzudecken. 76 Kontrastive Arbeiten haben im Lateinischen eine lange Tradition, da sie vor allem für die Herübersetzung wichtig waren und im ,Menge‘ ein bekanntes Standardwerk gefunden haben. Ein neueres Werk zu einem kontrastiven Vergleich des Lateinischen und Deutschen bildet das Buch von M. Kienpointner (2011). 77 Im Gegensatz zu einer kontrastiven Übersetzungstheorie beschreibt die kontrastive Linguistik systematisch Unterschiede zwischen zwei Sprachen, während die Übersetzungstheorie vor allem diejenigen Unterschiede heraussucht, deren Übersetzung besondere Schwierigkeiten macht. In der Regel hat Übersetzung mit fertigen Texten zu tun und nicht unmittelbar mit dem sprachlichen System. Textlinguistik ist daher derjenige linguistische Teilbereich, der den Text in den Blick nimmt und alle sprachlichen Phänomene beschreibt, die jenseits der Satzgrenzen nur im ganzen Text zu beobachten sind. Hierbei ist zunächst eine Typologie von Texten zu erstellen, weil beispielsweise ein dialogischer Text andere sprachliche Profile hat als ein monologischer. Dennoch spielen auch binnensatzmäßige Erscheinungen eine Rolle bei der Übersetzung. 4.2 Die Bedeutung der Systemlinguistik für die praktische Übersetzung aus dem Lateinischen Im Folgenden sollen mit der Syntax, Semantik und Pragmatik drei zentrale Bereiche betrachtet werden, in denen die Linguistik einen deutlichen Beitrag zur Übersetzung leisten kann. 78 Weniger eignen sich hierfür die Phonologie und die Morphologie, da es in diesen Bereichen nicht so sehr um die inhaltliche als um die formale Seite der Sprache geht. 79 Der Beitrag der Linguistik wird hier darin bestehen, dass diese in den linguistischen Kernbereichen über die lateinische Schulgrammatik hinausgehende Erkenntnisse ermöglicht, die dazu beitragen, die richtige Übersetzung zu finden und diese auch begründen zu können. 76 Albrecht 2013, 77f. 77 Vgl. dazu die Rezension von Liebermann in: Gymnasium 118, 2011, 291f. 78 Vgl. Kvam 1998; Kußmaul 1998; Neubert 1998. 79 Immerhin könnte man innerhalb der Phonologie Klangphänomene und das Versmaß beschreiben. <?page no="163"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 163 4.2.1 Syntax Typische syntaktische Schwierigkeiten für die Übersetzung sind solche Passagen, in denen strukturelle Unterschiede zwischen beiden Sprachen auftreten. Sie bestehen im Lateinischen zu einem Großteil im Bereich der infiniten Verbformen. Diese Schwierigkeiten könnten dazu führen, dass zur größeren Effizienz eine eigene lateinische Translationsgrammatik angelegt würde, die unter anderem Partizipialsätze und schwierige Relativsatz-Konstruktionen wie die relativische Verschränkung umfassen würde, deren verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten beschrieben würden. Zu den typischen Schwierigkeiten gehören auch die sogenannten ab urbe condita-Konstruktionen des lateinischen Partizips. Dies sind Syntagmen, in denen das wie ein Adjektiv in totaler Kongruenz markierte Partizip als Träger der Konstruktion fungiert und daher im Unterschied zu einem adjektivischen Attribut nicht weglassbar ist wie in (11), (12) und (13). Für die Übersetzung bedeutet dies, dass das Partizip in ein passendes Verbalnomen umgeformt werden muss, von der das lateinische Nomen als Genitiv abhängt. Zur Begründung der wohl intuitiv meist richtig übersetzten Partizipialkonstruktionen können Theoreme der heutigen Linguistik angeführt werden, etwa die Valenztheorie, nach der Adjektiv-Attribute in der Regel weglassbar sind, und eine hierarchische Satzanalyse, wonach eine solche Partizipialkonstruktion, wie etwa Bolkestein (1980) und Lambertz (1982) richtig beobachtet haben, 80 eine ganz andere syntaktische Struktur hat. (11) Angebant ingentis spiritus virum Sicilia Sardiniaque amissae. „Der Verlust Siziliens und Sardiniens ließ diesen ehrgeizigen Mann keine Ruhe finden.“ (Liv. 21,1,5) (12) Occisus dictator [aliis pessimum, aliis] pulcherrimum facinus [videbatur]. „[…] die Ermordung des Diktators Caesar erschien den einen als verworfenste, den anderen als herrlichste Tat […].“ (Tac. ann. 1,8,6) (13) […] declaravit [sc. Antonius], quam odisset, cum auctorem senatus exstinctum laete atque insolenter tulit. „[…] dann aber gab er [Antonius] zu erkennen, wie sehr er den Senat hasste, indem er über den Tod des führenden Kopfes des Senates in hemmungslose Freude ausbrach.“ (Cic. Phil. 9,7) Unschwer ist hier zu erkennen, dass solche Übersetzungen mit dem Ansatz, dem Instrumentarium und den Konzeptionen der neueren Linguistik sich mühelos begründen lassen. 80 Bolkestein 1980, 82; 1981, 207; Lambertz 1982, 37f. <?page no="164"?> 164 Roland Hoffmann 4.2.2 Semantik Semantik ist die Theorie der lexikalischen und grammatischen Bedeutungen und ihrer Interdependenz. Im Folgenden sollen zwei Beispiele für beide Formen von Bedeutung gegeben werden, die wiederum durch die Linguistik besser begründet werden können. Zunächst geht es in (14) um die richtige Übersetzung des Adverbs falso: (14) Falso queritur de natura genus humanum, quod inbecilla atque aevi brevis forte potius quam virtute regatur. „Mit Unrecht beklagen sich die Menschen, ihre Natur werde bei ihrer Ohnmacht und kurzen Lebensdauer mehr vom blinden Zufall als von ihrer eigenen Kraft gelenkt.“ (Sall. Iug. 1,1) 81 Die Frage, die sich bei diesem Satz stellt, lautet, warum falso schlecht mit „falsch“ übersetzt werden kann, sondern hier die Bedeutung „fälschlicherweise“ oder „mit Unrecht“ hat. 82 Die Antwort liegt in der genauen adverbialen Funktion von falso. Das Wort modifiziert hier nämlich nicht das Prädikat, sondern den ganzen Satz und ist nach Pinkster 83 ein „truth value disjunct“, ein evaluatives Satzadverbial, das die Wahrheit der ganzen Aussage bewertet. Diese Funktion geben besser die beiden genannten Bedeutungen im Deutschen wieder. Ein anderes Beispiel betrifft die semantischen Rollen der Kasus. In (15), (16) und (17) kommt das Verb movere in unterschiedlichen Funktionen vor: in (15) und (16) mit Objekt, in (17) ohne Objekt. Im zweiten Falle wird movere etwas anders, und zwar entweder reflexiv als sich bewegen oder mit einem anderen Verb der Bewegung wie beben. Wie lässt sich diese unterschiedliche Bedeutung erklären? (15) Si nos tam iustum odium nihil movet, ne illa quidem, oro vos, movent? „Wenn so gerechter Hass schon kein Beweggrund für euch ist, sind es dann, ich bitte euch, auch die folgenden Dinge nicht? “ (Liv. 5,5,1) (16) unus Pompeius me movet. „Einzig Pompejus bestimmt mich.“ (Cic. Att. 8,1,4, vgl. 9,1,4) (17) Terra duodequadraginta dies movit. „Die Erde bebte 40 Tage lang.“ (Liv. 35,40,7) 84 81 Tusculum-Übersetzung von Schöne und Eisenhut. 82 Vgl. auch die Loeb-Übersetzung von John C. Rolfe: „Without reason do mankind complain of their nature […].“ 83 Pinkster 2015a, 925. 84 Tusculum-Übersetzung von Hans Jürgen Hillen. <?page no="165"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 165 Die „Oxford Latin Syntax“ 85 erklärt dieses Verhalten mit den unterschiedlichen semantischen Kasusrollen des Subjekts. Während in (15) und (16) das Subjekt, iustum odium und unus Pompeius, ein Agens ist, hat terra in (17) die semantische Funktion Patiens. 4.2.3 Pragmatik Unter Pragmatik wird hier die Analyse von linguistischen Erscheinungen in größeren Einheiten als dem einzelnen Satz verstanden, in der mehr als bei der Satzanalyse die kommunikative Funktion wichtig ist. In Abgrenzung zur Semantik handelt es sich daher nicht um die Beziehung von signifiant und signifié, von sprachlichem Zeichen und Denotat, sondern um das Verhältnis von Zeichen und Zeichenbenutzer, d. h. Sprecher/ Autor und Hörer/ Leser. Dabei müssen unter Umständen verschiedene Ebenen unterschieden werden. Darüber hinaus betrifft dieses Zeichenverständnis vor allem solche Wörter, die größere Einheiten als den einzelnen Satz strukturieren, sog. Diskurspartikeln. Ein weiteres zentrales Thema ist auch die lateinische Wortstellung, wenn man sie von einem Konzept her beschreibt, das größere Einheiten im Fluss der Information im Text voraussetzt. Beide Beispiele sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. 4.2.3.1 Diskurspartikeln Als ein erstes Beispiel soll hier die pragmatische Analyse 86 sogenannter Diskurspartikeln dienen. Die moderne Partikelforschung hat nämlich manche altgewohnten Bedeutungen lateinischer Partikeln als unzulänglich entlarvt. Zu nennen ist vor allem die Monographie von Caroline Kroon (1995), die einige zentrale lateinische Partikeln eingehend untersucht hat. 87 Ich bringe zunächst eine Reihe von Beispielen, (18) bis (24), in denen die einzelnen Partikeln offensichtlich eine ganz andere Bedeutung als die übliche haben. Anschließend werde ich von Kroons Analyse her zu begründen versuchen, warum diese Bedeutung jeweils vorliegt und etwas zur herkömmlichen Übersetzung bemerken. (18) Nam Opimi quidem calamitas utinam ex hominum memoria posset evelli! 85 Pinkster 2015a, 93. 86 Es gibt auch die Einordnung in semantische Analysen, z. B. bei Kußmaul 1998, 51 f. Da es sich aber nach unserem Verständnis eindeutig um pragmatische Erscheinungen handelt, ist eine solche Auffassung nicht nachvollziehbar. 87 Eine weitere Untersuchung ist das Buch von Kroons Schülerin Josine Schrickx über „Lateinische Modalpartikeln. Nempe, quippe, scilicet, videlicet und nimirum“ (Leiden 2011). S. dazu meine Rezension in: Gymnasium 120, 2013, 71f. <?page no="166"?> 166 Roland Hoffmann „As regards Opimius, would that his sad story could be erased from the memory of me! “ (Cic. Planc. 70) 88 „Doch das Unglück des Opimius - ich wünschte, man könnte es aus dem Gedächtnis der Menschheit tilgen! “ 89 (19) Am: Scelestissimum te arbitror. So: Nam quamobrem? Am: Quia id quod neque est neque fuit neque futurum est mihi praedicas. „It’s my opinion that you are a damned rascal # Oh sir, why? # Because what you tell me is not so, never was so never, will be“ (Plaut. Amph. 553-555) 90 (20) (Charinus is thinking about going into exile) Eu: Cur istuc coeptas consilium? Ch: Quia enim me adflictat amor. „What makes you think of taking such a step as that? # Because (quia), of course (enim), I suffer so from love“ (Plaut. Merc. 648) 91 (21) Ch: Adsequere, retine, dum ego huc servos evoco De: Enim nequeo solus: accurre „After him, hold him, while I call out the servants # I clearly (enim) can’t by myself: come and help (Ter. Phorm. 983) 92 (22) Ch. Ah, quid agis? Tace Thr: Quid tu tibi vis? Ego non tangam meam? Ch: TUAM autem, furcifer? „Ah, what are you about? Hold your tongue # What do you mean? Am I not to lay a finger on mine own? # YOURS (tuam autem), you scoundrel? “ (Ter. Eun. 797-798) 93 (23) Iam signa quoque legionum adpropinquabant. Tum vero Masaesulii non modo primum impetum sed ne conspectum quidem signorum atque armorum tulerunt 88 Kroon 1995, 154, Beleg (25). 89 Tusculum-Übersetzung von Manfred Fuhrmann, 1980. 90 Kroon 1995, 166, Beleg (34). 91 Ebd. 173, Beleg (2). 92 Ebd. 177, Beleg (15). 93 Ebd. 244, Beleg (32). <?page no="167"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 167 „And now the units of legionaries also were approaching. Then indeed (tum vero) the Masaesulians failed to sustain not only the first attack but even the sight of the standards and arms“ (Liv. 30,11,11) 94 (24) (In the preceding section Caesar has described the miserable situation in Pompeius’s camp: starvation, disease, and shortage of water) At Caesaris exercitus optima valetudine summaque aquae copia utebatur, tum commeatus omni genere praeter frumentum abundabat „On the other hand, Caesar’s army enjoyed health and an abundant supply of water, and abounded with every kind of provision except grain“ (Caes. civ. 3,49,5) 95 Die Belege (18) bis (24) zeigen nicht die kausalen und adversativen Bedeutungen, die mit diesen Partikeln traditionell verbunden werden. Nam bedeutet nämlich in (18) und (19) nicht ein kausales „denn“, sondern markiert den Thema-Konstituenten in (18) 96 und den Fokuskonstituenten in (19). 97 Eine ebenso wenig kausale Bedeutung hat enim in den nächsten beiden Belegen (20) 98 und (21), 99 sondern heißt hier „natürlich“ und „offensichtlich“. Auch bedeutet autem in (22) 100 nicht „aber“, sondern markiert wiederum den Fokus. Ähnliches gilt für vero in (23), das hier keine adversative Bedeutung hat, 101 sondern das temporale Adverbial tum verstärkt. Schließlich bezeichnet at einen Themenwechsel in (24). 102 Warum werden die fünf Partikeln nam, enim, autem, vero und at hier anders als gewohnt übersetzt? Nach Kroon haben diese Partikeln nicht die Funktion, semantisch das Verhältnis zweier aufeinander folgender Sätze in Form der bekannten kausalen und adversativen Bedeutung zu markieren. Sie seien vielmehr Wörter, um den gesamten Text zu strukturieren. Dabei nimmt die Autorin im 94 Ebd. 323, Beleg (68). 95 Ebd. 355, Beleg (46). 96 Etwas anders die Tusculum-Übersetzung von Manfred Fuhrmann: „Doch das Unglück des Opimius - ich wünschte, man könnte es aus dem Gedächtnis der Menschheit tilgen! “ 97 Die neue Loeb-Übersetzung von Wolfgang de Melo übersetzt nam adversativ: „I think you are a hardened criminal. # But why? Because you are telling me something that doesn’t exist […].“ 98 Die Loeb-Übersetzung lässt enim unübersetzt: „Because [= quia] love is vexing me.“ 99 In der Loeb-Übersetzung von George P. Goold wird enim nicht übersetzt.: „I can’t by myself. Hurry up! “ 100 Die Loeb-Übersetzung von George P. Goold übersetzt autem bekräftigend: „Your girl indeed? You rascal! “ 101 So aber die Tusculum-Übersetzung von Hans Jürgen Hillen: „Da aber ertrugen die Masaesulier nicht nur den ersten Angriff nicht, sondern nicht einmal den Anblick der Einheiten und Waffen.“ 102 Ähnlich übersetzt Georg Dorminger at mit ,hingegen‘: „Cäsars Heer hingegen erfreute sich bester Gesundheit und hatte Wasser im Überfluss, zudem Proviant jeder Art mit Ausnahme des Getreides.“ <?page no="168"?> 168 Roland Hoffmann Rückgriff auf eine ähnliche Unterscheidung des - schon weiter oben im Zusammenhang mit Catford erwähnten - Michael A.K. Halliday drei Ebenen des Textes an, eine repräsentative, eine präsentative und eine interaktive („representational level“, „presentational level“, „interactional level“) 103 . Diese Ebenen haben folgende Bedeutungen: 104 Die erste Ebene, die die Beziehung von Dingen in der realen Welt außerhalb der Sprache bezeichne, spiele für die Partikeln keine Rolle, eher für Subordinatoren. Dagegen stehe die präsentative Ebene für den Bereich der Sprache, in dem der Sprecher/ Autor die sprachlichen Inhalte ordne und organisiere. Partikeln in diesem Bereich drückten aus, wie ein Textelement sich zu einem anderen verhalte. Die interaktive Ebene bringe dagegen den Zusammenhang eines Textabschnittes zu den Kommunikationsteilnehmern zum Ausdruck. Partikeln auf dieser Ebene drückten aus, inwiefern ein Textabschnitt in den kommunikativen Austausch der Gesprächspartner passe und wie eine bestimmte Texteinheit durch die kommunikative Situation erklärt werde. Während nam und autem überwiegend auf der präsentativen Ebene verwendet würden, seien enim, vero und at primär interaktionale Partikeln. Diese Unterscheidung beruhe auf der überwiegenden Verwendung in monologischen gegenüber dialogischen Texten. Ohne hier weiter auf Einzelheiten und die Einzelbedeutungen in den angeführten Belegen eingehen zu können, seien zwei Dinge für die Übersetzungsthematik abschließend festgehalten: Erstens wird nach dieser pragmatischen Interpretation der Partikeln als Diskurselemente viel klarer als nach dem traditionellen satzsemantischen Verständnis, wie die Partikeln in einem konkreten Zusammenhang adäquat zu übersetzen sind; zweitens werden dadurch diejenigen Fälle vermieden, in denen nach bisheriger Auffassung in den Kommentaren von bedeutungsloser Verwendung gesprochen wurde, weil die kausale und adversative Bedeutung ganz und gar nicht zu passen schienen. 105 4.2.3.2 Wortstellung Ein typisches Aufgabenfeld innerhalb der heutigen lateinischen Pragmatik ist die Wortstellung. Lange Zeit wurde sie als weitgehend ,frei‘ bezeichnet, was natürlich nur ,syntaktisch frei‘ bedeutete, aber mangels adäquaterer Ansätze eben so viel wie ,beliebig‘ und daher letztlich ,unbeschreibbar‘ bedeutete. Heute jedoch hat man von der Konzeption einer pragmatischen Informationsstruktur 103 Kroon 1995, 59-62. 104 Ebd. 371f. 105 Ebd. 375; Kroon 1992. <?page no="169"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 169 etwa der Funktionalen Grammatik her erkannt, 106 dass die lateinische Wortstellung weitgehend von den beiden Größen ,Topik‘ und ,Fokus‘ abhängig ist. 107 So ist ein Satz wie das folgende bekannte Kolon aus dem ersten Buch des „Bellum Gallicum“ (25) 108 mit seiner Endstellung des Subjekts weniger überraschend, wenn man sich Folgendes klar macht: das Subjekt, das sonst meist den Topik, also den bekannten Konstituenten, über den etwas ausgesagt wird, 109 bildet und daher voransteht, bezeichnet hier den neu eingeführten und daher unbekannten „Orgetorix“. Es ist also der Fokus des Satzes und erscheint an der für ein Subjekt ungewöhnlichen Endposition des Satzes. (25) Apud Helvetios longe nobilissimus fuit et ditissimus Orgetorix. (Caes. Gall. 1,2,1) Für die Übersetzung bedeutet diese pragmatische Analyse, dass ich versuchen muss, die adäquate Wiedergabe für einen Fokus-Konstituenten im Deutschen zu finden. Es gibt zwei Mittel im Deutschen, zum einen - ähnlich wie im Lateinischen - die Nachstellung des Subjekts (25a) und zweitens eine Spaltsatz- Konstruktion (25b): (25a) „Der weitaus vornehmste und reichste Mann bei den Helvetiern war Orgetorix.“ (25b) „Es war Orgetorix, der den weitaus vornehmsten und reichsten Mann bei den Helvetiern bildete.“ Zu dem zweiten Mittel ist jedoch zu bemerken, dass es weniger üblich im Deutschen und im Lateinischen 110 als im Englischen ist. 106 Ein anderes Konzept hat D. Panhuis verwendet, das in der kürzlich erschienenen Studiengrammatik in kompakter Form vorliegt: Lateinische Grammatik. Übersetzt von R. Hoffmann, Berlin 2015. 107 Hoffmann 2010; 2018. 108 Ich folge hierbei der Analyse von Pinkster, der den Cäsar-Beleg in einem Aufsatz anführt und ihn so kommentiert, dass die erste Satzposition durch etwas dem Hörer oder Leser Bekanntes besetzt werde, also durch den Topik, den ja oft das Subjekt bilde. Die besagte Stelle in Gal. 1,2,1 sei ein „Beispiel für eine Nachstellung des Subjekts“, weil Orgetorix „sicherlich nicht allgemein bekannt“ sei. Die Helvetier würden dagegen unmittelbar „in dem einleitenden Paragraphen erwähnt, aber auch hier ohne besondere Erwähnung und daher offenbar als allgemein bekannt vorausgesetzt“, Pinkster 2015b, 182, übers. 109 Am prägnantesten sind die beiden Definitionen in der Darstellung von 1978, im 2. Kapitel, dem „Outline of Functional Grammar“ (15 ff.): „The Topic presents the entity ,about‘ which the predication predicates something in the given setting. - The Focus presents what is relatively the most important or salient information in the given setting.“, Dik 1978, 19. 110 Goria 2013; Hoffmann 2016. <?page no="170"?> 170 Roland Hoffmann Schaut man sich daraufhin die literarischen Übersetzungen an, so findet sich eine der beiden dort anzutreffenden Fassungen, nämlich diejenige von Otto Schönberger (25c), mit einer Wortstellung, bei der zwar wie im Lateinischen die adverbiale Präpositionalphrase in Spitzenstellung erscheint, aber das Subjekt aufgrund der Verb-2-Regel im Deutschen unmittelbar nach dem Verb steht. Diese Form ist also diejenige mit mehr oder weniger normaler Stellung des Subjektes. Dagegen liegt insgesamt dreimal eine Fassung mit Endstellung des Subjekts vor: in zwei deutschen Versionen bei Victor Stegemann und Curt Woyte (25d) und einmal sogar im Englischen, nämlich in der Loeb-Übersetung von H.J. Edwards (25e), wo diese Stellung noch ungewöhnlicher wirkt: (25c) „Bei den Helvetiern war Orgetorix bei weitem der vornehmste und reichste Mann.“ (Otto Schönberger, Düsseldorf, Artemis-Verlag; Tusculum-Übers.) (25d) „Bei den Helvetiern war der bei weitem reichste und vornehmste Mann Orgetorix.“ (Victor Stegemann, München: Goldmann-Verlag; Curt Woyte, Reclam-Verlag) (25e) „Among the Helvetii the noblest man by far and the most wealthy was Orgetorix.“ (H.J. Edwards, London: Macmillan-Verlag, Loeb-Übers.) Was man an diesen relativ einfachen Beispielen lernt, ist die Erkenntnis, dass die neuere Linguistik Ansätze bereitstellt, um die Funktion der lateinischen Partikeln im jeweiligen Kontext zu erkennen und die lateinische Wortstellung, zumindest auffälligere Stellungen, zu erklären. Ferner können damit auch literarische Übersetzungen kritisiert werden wie die von Schönberger, die in Caes. Gal. 1,2,1 zu wenig der Bedeutung der lateinischen Wortstellung gerecht wird. Umgekehrt sollten die modernen linguistischen Erkenntnisse jede Übersetzerin, jeden Übersetzer dazu ermutigen, nach adäquaten Mitteln im Deutschen zu suchen 111 . 5 Zusammenfassung Die vorausgehenden Ausführungen haben ergeben: Historisch gesehen hat sich das Verhältnis von einer Dominanz zu einer distanzierteren Haltung der Linguistik entwickelt. In theoretischer Hinsicht hat die Systemlinguistik dabei wenig zur Übersetzungsproblematik beigetragen. Die Linguistik ist und bleibt jedoch 111 Die drei Übersetzer hatten wahrscheinlich diese Einsicht noch nicht und gingen von der schlichten Tatsache einer betonten, oder wie es früher hieß, ,okkasionellen‘ Wortstellung aus. Das Konzept der pragmatischen Wortstellung ermöglicht jedoch eine genauere Begründung, die von daher Übersetzungen wie diejenige von Schönberger als weniger gut erweist. <?page no="171"?> Das Übersetzen aus dem Lateinischen aus der Sicht heutiger linguistischer Theorien 171 eine wichtige Bezugswissenschaft, wenn es darum geht, optimale Übersetzungen im syntaktischen, semantischen und pragmatischen Bereich zu finden, zu begründen und gegenüber anderen Lösungen zu bewerten. Literaturverzeichnis Aikhenvald, Alexandra (2003), A grammar of Tariana, Cambridge. Albrecht, Jörn ( 2 2013), Übersetzung und Linguistik, Tübingen. Baker, Mona (2004), Linguistic models and methods in the study of translation, in: Kittel 2004, 285-294. Bolkestein, A. Machtelt. 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Denn letztlich liegt ihr die Annahme zugrunde, dass man zwei Sprachen mit der Wort-für-Wort-Methode zueinander in Beziehung setzen kann. Das ist das Prinzip eines jeden Lexikons. Das heißt, man richtet die Aufmerksamkeit nicht darauf, von welchen Zeichen ein Zeichen innerhalb eines Sprachsystems abzugrenzen ist, um seine spezifische Bedeutung zu erkennen, sondern darauf, welches Zeichen in der einen Sprache welchem Zeichen in der anderen Sprache am ehesten entspricht. Auf diese Weise bleiben aber die gedanklichen Konzepte der Morpheme unklar. In den Übersetzungen macht sich das nicht selten bemerkbar durch einen Mangel an Präzision und den Eindruck, dass der Text „schwimmt“. Der Maßstab, mit dem die synchrone Linguistik eine gute Übersetzung messen kann, ist kein ästhetischer, sondern bezieht sich allein auf das durch Systematisierung gewonnene Verständnis der Ausgangssprache und die Genauigkeit im Ausdruck dieses Verständnisses. Die Linguistik steht gewissermaßen im Dienst der Hermeneutik. Nicht mehr und nicht weniger kann dieser Ansatz leisten. Er lässt sich am besten an einzelnen Subsystemen demonstrieren. <?page no="176"?> 176 Bianca Liebermann 1 Subsystem: Präpositionen Beispiel: ad + Akk.: Ad + Akk. wird prototypisch dynamisch verwendet („zu … hin“). Es finden sich jedoch auch Beispiele, bei denen in den Lexika von einer rein statischen Verwendung ausgegangen wird (angebotene Übersetzungen im Georges: „bei“, „an“, „vor“, „in“). Dadurch wird die latent stets vorhandene dynamische Komponente von ad + Akk. vernachlässigt und es kommt zu Übersetzungsfehlern, wie sich an den folgenden Beispielen zeigen lässt: Caes. Gall. 1,7,2: -pontem, qui erat ad Genavam, iubet [sc. Caesar] rescindi. (1) „Er ließ die Brücke bei Genava abbrechen.“ (Schönberger) (2) „Er li eß die Brücke bei Genf abreißen.“ (Dorminger) Man sieht an diesem Beispiel das Irreführende an der Übersetzung „bei“, das in Verbindung mit einer Ortsangabe im Deutschen bedeutet: „in der Nähe von“. Gemeint ist aber: „Er ließ die Brücke nach Genf (= die sich in Richtung Genf befand) abreißen.“ Dies ergibt sich aus Caes. Gall 1, 5, 3: extremum oppidum Allobrogum est proximumque Helvetiorum finibus Genava; ex eo oppido pons ad Helvetios pertinet. Cic. de orat. 2,60: ut cum in sole ambulem, etiam si ego aliam ob causam ambulem, fieri natura tamen, ut colorer, sic, cum istos libros ad Misenum - nam Romae vix licet - studiosius legerim, sentio illorum tactu orationem meam quasi colorari. (1) „Wie ich bei einem Spaziergang in der Sonne, auch wenn ich aus einem anderen Grunde spazieren gehe, trotzdem naturgemäß Farbe bekomme, so bekommt meine Rede, wie ich wahrnehme, dadurch, dass ich diese Bücher bei Misenum - denn in Rom ist es mir kaum vergönnt - recht aufmerksam lese, durch die Auseinandersetzung mit ihnen gewissermaßen Farbe.“ (Nüßlein) (2) „So wie ich beim Spazierengehen in der Sonne, auch wenn ich es aus einem anderen Grund tue, doch naturgemäß braun werde, so fühle ich, daß, wenn ich bei Misenum - denn in Rom ist es kaum möglich - diese Bücher gründlicher gelesen habe, ihre Wirkung gleichsam auf mich abfärbt.“ (Merklin) Warum steht bei Cicero einmal ad + Akk. und einmal der Lokativ, der eine Variante zu in + Abl. darstellt? Will er wirklich betonen, wie die deutschen Übersetzungen nahelegen, dass Antonius in der Nähe von Misenum („bei Misenum“) lesen wird, was ihm in Rom nicht möglich ist? Bei Kühner/ Stegmann findet sich die Bemerkung: „Auf die Frage: wo? bei Verben der Ruhe und des Beharrens [steht ad] in der Bedeutung ‚bei‘ (d. h. ‚dicht bei‘); diese Bedeutung hat sich aus einer prägnanten Auffassungsweise entwickelt, indem zwei Momente, das der Bewegung und das der darauf erfolgten Ruhe, zusammengefaßt werden“. 1 Dass bei 1 Kühner/ Stegmann 5 1976, II, 1, 519. <?page no="177"?> Schnittstellen zwischen Systemlinguistik und Translatologie 177 ad die Zielgerichtetheit grundsätzlich bewusst bleibt, wird durch alle geprüften Stellen bestätigt. Das unterscheidet ad von in, wo in der Verbindung mit dem Ablativ der Aspekt der Richtung vollständig ausgeblendet ist. Die von Kühner/ Stegmann gezogene Konsequenz, dass ad auf die Frage: „wo? “ deshalb „bei“ im Sinne von „dicht bei“ heißt, ist aber unzutreffend, ebenso wie die Gleichung „bis zu = bei“. Denn das deutsche „bei“ in Verbindung mit einer Ortsangabe bedeutet immer „in der Nähe von“ und schließt ein Am-Ort-Sein (ein Am-Zielpunkt- Angekommensein) kategorisch aus (anders das englische „at“). Ad dagegen bezeichnet nicht die Nähe eines verorteten Subjekts zu einem Bezugspunkt wie apud, sondern die Zielgerichtetheit auf einen Bezugspunkt - diese kann sowohl unabgeschlossen (= „vor“) als auch abgeschlossen („an“, „in“) gedacht sein (vgl. Abb. 1). Das impliziert, dass bei ad nicht die präzise lokale Verortung eine Rolle spielt, sondern der als Zielpunkt gefasste Aufenthaltsort unter Vernachlässigung scharfer Grenzen. Dass dies durch die faktischen Gegebenheiten ermöglicht sein muss (wie im Falle von Misenum im Gegensatz zu Rom) versteht sich von selbst. Rom ist der gleichsam als Raum gedachte Aufenthaltsort des Antonius, Misenum der in diesem Fall durch eine Bewegung (Reise) erreichte und nicht durch exakte Grenzen spezifizierte Ort. Etwas Ähnliches findet sich beim deutschen „zu Hause sein“ und „im Haus sein“, oder im englischen „at the supermarket“ (als Ort, an dem man sich z. B. verabredet) und „in the supermarket“ (als Ort, wo sich z. B. Lebensmittel befinden). Den Unterschied kann man im Deutschen in unserem Fall nicht nachbilden. Man wird ihn daher am ehesten vernachlässigen und beide Ortsangaben mit „in“ wiedergeben: „wenn ich in Misenum - denn in Rom ist es kaum möglich - diese Bücher gründlicher gelesen habe“. Im Englischen dagegen steht „at“, wie sich in den gedruckten Übersetzungen zeigt: „after perusing those books rather closely at Misenum (having little chance in Rome)“ (Sutton) - „when I read those books with attention at Misenum“ (Guthrie). Weitere Beispiele mit ad in statischer Verwendung in den Bedeutungen „vor“ (unabgeschlossene Zielgerichtetheit) und „an“ (abgeschlossene Zielgerichtetheit) sind: Cic. Phil. 3,27: etenim in contione dixerat [sc. Antonius] se custodem fore urbis, seque usque ad Kalendas Maias ad urbem exercitum habiturum. „Er hatte ja vor versammeltem Volke erklärt, er wolle der Hüter unserer Stadt sein und werde sich spätestens zum 1. Mai mit einem Heere vor der Stadt einfinden.“ (Fuhrmann) Cic. Verr. 2,4,51: ei [sc. Archagatho] negotium dedit [sc. Verres] ut, quidquid Halunti esset argenti caelati, statim ad mare ex oppido deportaretur. escendit in oppidum Ar- <?page no="178"?> 178 Bianca Liebermann chagathus […] ipse enim tyrannus non discedebat longius; Archagathum et argentum in lectica cubans ad mare infra oppidum exspectabat. „Dem gab er den Auftrag, alles, was sich an Silbersachen mit getriebener Arbeit oder auch an korinthischen Gefäßen in Haluntion befinde, sofort aus der Stadt ans Meer herabbringen zu lassen. Archagathos stieg in die Stadt hinauf […] denn der Tyrann selber wich keinen Schritt; in der Sänfte liegend, wartete er am Meere unterhalb der Stadt auf Archagathos und das Silber.“ (Fuhrmann) Kategorie 1 Fokussierung der Proximität oder der Kookkurrenz von TR* und LM** Gruppe 1 (Proximität): prope, iuxta, apud Gruppe 2 (Proximität im Wahrnehmungsraum des LM): coram Gruppe 3 (Kookkurrenz): cum, sine Gruppe 4 (Kookkurrenz und Nähe): inter Kategorie 2 Fokussierung der Ausrichtung des TR (und sekundär des LM) Gruppe 1 (Gegenüber): contra, adversus, erga, ob Gruppe 2 (Voreinander): pro, prae Kategorie 3 Fokussierung der Richtung bzw. des Ziels, des Standorts in Ruheposition, des Ausgangspunktes oder des Weges des TR Gruppe 1 (Standort in Ruheposition): in-… Abl., sub-… Abl., super-… Abl. Gruppe 2 (Richtung/ Ziel): ad, in-… Akk., sub-… Akk., super-… Akk. Gruppe 3 (Ausgangspunkt): ab, ex, de Gruppe 4 (Weg): per, secundum, praeter, circum, circa Kategorie 4 Fokussierung der Grenzen des LM Gruppe 1 (doppelte Grenze): trans, cis Gruppe 2 (umläufige Grenze): intra, extra Kategorie 5 Fokussierung der Raumachse mit LM als Markierungspunkt Gruppe 1 (horizontale Raumachse, rechts-- links): propter, dextra, sinistra Gruppe 2 (sagittale Raumachse, vorn - hinten): ante, post, citra, ultra Gruppe 3 (vertikale Raumachse, oben - unten): supra, infra *Trajector = Verortetes, **Landmark = Bezugspunkt Abb. 1: Kategorisierung der lateinischen Präpositionen nach Raumkonzeptionen 2 2 Vgl. Liebermann 2016, 45. <?page no="179"?> Schnittstellen zwischen Systemlinguistik und Translatologie 179 Im Unterschied zu ad + Akk. stellt die Präposition apud +Akk eine Raumsituation dar, die am ehesten mit dem deutschen „bei“ zusammenfällt und dem Konzept der Nähe zuzuordnen ist. Dabei liegt eine höhere Abstraktion als bei prope + Akk. vor, wohingegen die rein geografische Verortung weniger ins Gewicht fällt; daher bedeutet es seltener „in der Nähe von“, sondern vielmehr „bei“ im Sinne von „in der Umgebung von“, „im Bereich von“. Apud findet sich vor allem bei Personen und meint dann „bei“ im Sinne von „im Bereich von“, „in der Welt von“, „in den Texten von“ (vgl. Cic. Mur. 17; Cic. off. 1,118). Wenn es bei Orten steht, dann mit einer über das Geographische hinausgehenden Bedeutung, d. h. sobald diese (wie etwa die Stadt Rom) als Orientierungszentrum gedacht sind. Das Verortete befindet sich gleichsam im Einzugsbereich des Bezugspunktes: Cic. Cluent. 21: M. Aurius adulescentulus bello Italico captus apud Asculum „M. Aurius wurde als junger Mann im Bundesgenossenkrieg bei Asculum gefangengenommen“ (Fuhrmann) Sall. Iug. 58,1: dum apud Zamam sic certatur „während bei Zama so gerungen wird“ (Lindauer). Man sieht also, dass es mancherorts wenig hilfreich ist, eine Bedeutung aus dem Lexikon zu übernehmen, ohne das gedankliche Konzept eines Lexems bzw. seinen Platz im System der lateinischen Sprache erfasst zu haben. Es sind Kleinigkeiten, die aber einen Text unklar machen und den Leser mit unklaren Vorstellungen zurücklassen. 2 Subsystem: Verbalkategorien Die strukturalistische Linguistik liefert nicht nur ein Instrumentarium, um das Lexikonwissen kritisch zu überprüfen, sondern auch das Grammatikwissen. Dies zeigt sich besonders deutlich im Bereich der Verbalkategorien. Seit Harald Weinrichs „Tempus“ von 1964 ist bekannt, dass in den romanischen Sprachen und besonders auch im Lateinischen in der Erzählung ein Tempusrelief durch den Wechsel von Imperfekt und Perfekt auszumachen ist. Die beiden Tempora „geben […] einer Erzählung Relief und gliedern sie rekurrent nach Vordergrund und Hintergrund. Das Imparfait [lat. Imperfekt] ist in der Erzählung das Tempus des Hintergrunds, das Passé simple [lat. Perfekt] ist das Tempus des Vordergrunds.“ 3 Im Deutschen wird das Relief in der Regel eingeebnet und man übersetzt alles im Präteritum. Trotzdem ergeben sich, ist man mit der Aufgabe konfrontiert, einen erzählenden lateinischen Text ins Deutsche 3 Weinrich 2 1971, 93. <?page no="180"?> 180 Bianca Liebermann zu übersetzen, bei der Wiedergabe der Tempora nach wie vor Schwierigkeiten. Diese liegen darin, dass viele Erzählungen bzw. Erzählpassagen gar nicht oder nicht ausschließlich aus dem Wechsel von Imperfekt und Perfekt bestehen, sondern aus dem Wechsel von Präsens und Perfekt. Die übliche Deutung, dass das eigentliche Erzähltempus das Perfekt sei (vergleichbar mit dem deutschen Präteritum) und dass es sich bei Präsensformen um ein eingeschobenes szenisches oder historisches Präsens handelt, ist wenig plausibel. Denn das Erzählen eines Plots im Lateinischen durch einen Wechsel von Präsens und Perfekt ist durchaus ein Normalfall, und zwar nicht nur im Epos, sondern quer durch die Gattungen (vgl. etwa die Commentarii Caesars). Gattungsbedingt scheint dabei jedoch zu sein, ob das Präsens oder das Perfekt dominiert. Setzt man nun das lateinische Präsens mit dem deutschen (szenischen) Präsens gleich und das lateinische Perfekt mit dem deutschen Präteritum, ist der Tempuswechsel nicht selten verblüffend, wie an der abgedruckten Vergilstelle deutlich wird: Verg. Aen. 4,160-172: Interea magno misceri murmure caelum / incipit, insequitur commixta grandine nimbus; / et Tyrii comites passim et Troiana iuventus / Dardaniusque nepos Veneris diversa per agros / tecta metu petiere; ruunt de montibus amnes. / speluncam Dido dux et Troianus eandem / deveniunt, prima et Tellus et pronuba Iuno / dant signum: fulsere ignes et conscius aether / conubiis, summoque ulularunt vertice nymphae. / ille dies primus leti primusque malorum / causa fuit. neque enim specie famave movetur / nec iam furtivom Dido meditatur amorem: / coniugium vocat, hoc praetexit nomine culpam. (1) „Unterdessen beginnt der Himmel von grollendem Donner / dumpf zu dröhnen, Sturm fährt drein mit peitschendem Hagel: / und die Tyrergefährten ringsum, die Jugend aus Troja / und der dardanische Enkel der Venus flüchteten hier und / dort voll Angst unter Dach; von Bergen stürzen die Ströme. / Dido jedoch und der Fürst aus Troja finden zur selben / Höhle: und Tellus zuerst und luno, die Göttin der Ehe, / geben das Zeichen; da flammen die Blitze, als Zeuge des Bundes / flammt der Äther, aufheulen vom höchsten Gipfel die Nymphen. / Jener Tag ist als erster des Todes, als erster des Unheils / Ursach geworden; nicht Anstand noch Ruf beirren von nun an / Dido; nicht mehr sinnt sie auf heimliche Liebe, sie nennt es / Ehebund; so verbrämt sie die Schuld mit ehrbarem Namen.“ (Götte) (2) „Während der Jagd begann es am Himmel dröhnend zu donnern, / anschließend regnete es, und Hagel prasselte nieder. / Angstvoll zerstoben die Jäger aus Tyros und Troja, mit ihnen / auch der dardanische Enkel der Venus, und suchten ein Obdach / sich an verschiedenen Stellen. Zu Tale rauschten die Wasser. / Dido und Ilions Fürst begegneten sich in derselben / Höhle. Da gaben Tellus zuerst und die Herrin der Ehe, / Juno, das Zeichen. Dann leuchteten Blitze und, Zeuge der Hochzeit, / flammte der Äther. Vom höchsten Berggipfel jauchzten die Nymphen. / Dieser Tag erschloß den Weg zum Tode, zum Unheil. / Dido verschmähte die Rücksicht auf Anstand und treff- <?page no="181"?> Schnittstellen zwischen Systemlinguistik und Translatologie 181 lichen Leumund, / strebte nicht länger nach einer verstohlenen Liebeserfüllung. / Nein, sie bemäntelte Schuld mit dem würdigen Namen der Ehe.“ (Hertzberg) (3) „Inzwischen beginnt es am Himmel dumpf zu grollen: es folgt ein mit Hagel vermischter Gewitterregen: Voll Furcht eilen allenthalben die tyrischen Gefährten und die junge Mannschaft der Trojaner wie auch der dardanische Enkel der Venus, ein Schutzdach hier und da in der Gegend zu erreichen, von den Bergen stürzen die Wildbäche. Dido und der Troerfürst gelangen in dieselbe Höhle: Zuerst geben Tellus und die ehestiftende Iuno das Zeichen; Bitze zucken, der Aether flammt als Zeuge der Vermählung, vom höchsten Gipfel heulen die Nymphen: Jener Tag leitete Tod und Unheil ein; denn weder von Ansehen noch Ruf läßt Dido sich fortan bestimmen, und nicht mehr denkt sie an heimliche Liebe: Sie spricht von Ehe, mit diesem Wort bemäntelt sie ihe Schuld.“ (Binder) (4) „Unterdessen gerät unter großem Donnergrollen der Himmel in Aufruhr; es folgt ein Regenschauer, mit Hagel untermischt, und die phönizischen Freunde, die jungen Männer aus Troja sowie der Venus-Enkel Ascanius suchen allenthalben in der Gegend voll Angst nach unterschiedlicher Zuflucht. Gießbäche schießen herab von den Bergen. In eine Höhle gelangen Dido und der trojanische Fürst in ein und dieselbe. Zuerst geben Tellus und die Ehestifterin Juno ein Zeichen; da leuchteten Blitze und der hohe Himmel, der Zeuge des Bundes, und es heulten vom höchsten Gipfel die Nymphen. Jener Tag war vor allem an Didos Tod, vor allem an ihren Leiden schuld, denn sie kümmert sich weder um ihr Ansehen noch um ihren guten Ruf und denkt auch nicht mehr an heimliche Liebschaft: Ehe nennt sie es, und mit diesem Wort beschönigt sie ihren Fehltritt.“ (Fink) (5) „Unterdessen gerät dumpf dröhnend der Himmel in Aufruhr,/ und ein Gewitterregen folgt, der mit Hagel vermischt ist; / überall suchen die Tyriergefährten, die Mannschaft aus Troja/ und der dardanische Enkel der Venus ängstlich ein Schutzdach/ hier und da im Gebiet; von den Bergen stürzen die Ströme./ Dido und mit ihr der Führer der Troer kommen zur selben/ Höhle. Und Tellus zuerst und Juno, die Göttin der Ehe,/ geben das Zeichen; da zuckten die Blitze, als Zeuge der Hochzeit/ flammte der Äther, es heulten vom höchsten Gipfel die Nymphen./ Jener Tag war als erster für Leid der/ Anlass; denn weder von ihrem Ansehen noch ihrem Ruf lässt / Dido sich lenken, sie denkt nicht mehr an heimliche Liebschaft: / Ehebund nennt sie’s, bemäntelt so ihre Schuld mit dem Worte.“ (Holzberg) Die Textstelle weist im Wesentlichen Präsensformen auf, aber auch vier Perfektformen: petiere, fulsere, ulularunt und fuit. Vergleicht man die gedruckten Übersetzungen, so stellt man fest, dass vermutlich nur bei der Form fuit Übereinstimmung in der Deutung besteht: Es handelt sich um ein konstatierendes Perfekt, eine Feststellung in Form eines Erzählerkommentars. Die eigentliche Erzählung, die Darstellung des Plots, wird hier einen Moment lang unterbrochen. Was die anderen drei Perfektformen, die eindeutig zur Erzählung gehören, angeht, so weichen die Übersetzungen voneinander ab: Götte/ Götte übersetzen petiere mit dem Präteritum „flüchteten“, fulsere und ulularunt dagegen mit dem <?page no="182"?> 182 Bianca Liebermann Präsens „flammen“ und „aufheulen“; das konstatierende Perfekt fuit wird auch im Deutschen als Perfekt wiedergegeben („ist geworden“). Während Hertzberg die Passage durchgehend mit dem Präteritum wiedergibt, entscheiden sich Binder/ Binder dafür, die Erzählung konsequent im Präsens zu halten („eilen“, „zucken“ / „flammt“, „heulen“), der Erzählerkommentar wird mit dem Präteritum wiedergegeben („leitete ein“). Fink übersetzt petiere mit dem Präsens („suchen“), fulsere und ulularunt mit dem Präteritum („leuchteten“ und „heulten“), fuit mit „war“, und genauso entscheidet sich Holzberg („suchen“, „zuckten“ / „flammte“, „heulten“ und „war“). Am wenigsten irritiert dürfte der Leser bei den Übersetzungen sein, die für die Erzählung konsequent ein Tempus durchhalten. Über den Wechsel von Präsens und Präteritum dürfte man sich eher wundern. Warum aber wechselt Vergil überhaupt vom Präsens zum Perfekt? Und warum gerade an den Stellen, wo es um die Gesamtbeschreibung der Szenerie geht? Christian Touratier bringt zuerst in seiner „Syntaxe latine“ von 1994 und später in der kleineren „Grammaire latine“ von 2008 eine entscheidende Erkenntnis ans Licht. Seine Morphemanalyse zeigt nämlich, dass es im Lateinischen nur drei Tempora gibt, ein unmarkiertes (das Präsens) und zwei markierte (Imperfekt und Futur) (vgl. Abb. 2). Zusätzlich gibt es zwei Aspekte, einen unmarkierten, das Infectum, einen markierten, das Perfectum, in der Standardbildung -vis-, was durch Rhotazismus und Abschwächung von kurzem i zu e vor r zu -verwird. Tempus- und Aspektmorphem sind kombinierbar; sie stehen nicht im selben Paradigma. Entsprechend der Saussureschen Theorie, dass jedem signifiant ein signifié entspreche, bedeutet das Aspektmorphem also auch etwas anderes als das Tempusmorphem. Während das Imperfekt etwas Nicht-Aktuelles (meist Vergangenes), aber Unabgeschlossenes (daher Duratives, Iteratives oder Konatives) bezeichnet, markiert das Perfekt ausschließlich etwas Abgeschlossenes, das durchaus noch aktuell sein kann (vgl. Abb. 3). Das Präsens dagegen ist sowohl unmarkiert hinsichtlich des Tempus als auch hinsichtlich des Aspekts. Aspekt Tempus/ Modus Ø (Infectum) Perfectum Ø (Präsens) laudā-s laudā-vis-tī Imperfekt laudā-bā-s laudā-ver-ā-s Futur laudā-bi-s laudā-ver-i-s Konjunktiv laud-ē-s laudā-ver-ī-s Konjunktiv Imperfekt laudā-rē-s laudā-vis-sē-s Abb. 2: Kombinierbarkeit der Tempus-Modus-Morpheme und Aspektmorpheme am Beispiel von laudare <?page no="183"?> Schnittstellen zwischen Systemlinguistik und Translatologie 183 Diathese Aspekt Modus Tempus Person „intransitivierend“ Passiv „abgeschlossen“ Perfectum „möglich“ Konjunktiv „gewollt“ Konjunktiv/ Imperativ „nicht aktuell“ Imperfekt „zu erwarten“ Futur „ich“ 1. Sg. „du“ 2. Sg. „er“/ „sie“/ „es“. 3. Sg. „wir“ 1. Pl. „ihr“ 2. Pl. „sie“ 3. Pl. Abb. 3: Kombinierbarkeit der lateinischen Verbalmorpheme 4 Den entscheidenden Hinweis zur Deutung des Aspekts liefert die Münchner Linguistin Elisabeth Leiss in ihrer Habilitationsschrift: „Die Verbalkategorien des Deutschen“ von 1992. Als Basisopposition des Aspekts sieht Leiss Innen- und Außenperspektive vom Standpunkt des Sprechers aus. Besonders ausgeprägt ist der Aspekt in den slavischen Sprachen. Er findet sich aber in der Opposition Präsens - Perfekt auch im Deutschen und - noch deutlicher - im Lateinischen: „Die Aspektkategorie ermöglicht es, fiktiv den Standort zu wechseln, und stellt damit eine Loslösung von der Wahrnehmungskategorie Innen/ Außen dar.“ 5 Ist der Aspekt „abgeschlossen“ markiert, nimmt der Erzähler die Außenperspektive ein und hat eine gleichsam holistische Sicht auf die Dinge. Dadurch schafft er einen Überblick über die Situation. Wird der Aspekt nicht markiert, nimmt er die Innenperspektive ein und hat eine nicht-ganzheitliche, nicht-holistische Sicht auf die Dinge. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum es gerade die Suchbewegungen der Mannschaft sind, die im Perfekt stehen, und nicht das Geschehen um Dido und Aeneas. Man blickt auf das Ganze, ebenso bei der Landschaftsbeschreibung (alles ist hell und laut vom Unwetter). Die Kamera wird auf Ferne eingestellt, auf etwas, das man als Gesamtes überblicken kann, während der Erzähler mit dem Präsens nicht von einem locus observandi auf das Gesamte blicken kann, sondern die Innenperspektive des Geschehens einnimmt. Auch hier hat man also, was Weinrich nicht gesehen hat, eine Art Vordergrund- und Hintergrundstruktur. Dieser Erklärungsansatz ist auch bei Caesar plausibel: Denn das Per- 4 Nach Touratier 2013, 96. 5 Leiss 1992, 12. <?page no="184"?> 184 Bianca Liebermann fekt stellt den Teil der Handlung bzw. die Vorgänge dar, die bei der Darstellung bereits erledigt sind und somit in die Ferne rücken. Es beschreibt den Teil der Handlung, der aus der Erzählerperspektive vollständig überblickt werden kann. Was bedeutet das für das Übersetzen? Man könnte erwägen, die erste Stelle (um petiere) auch im Deutschen mit dem Perfekt wiederzugeben, wenngleich dies - wegen der analytischen Formenbildung - etwas umständlich klingt: „Die tyrischen Gefährten […] haben (bereits) überall in der Gegend verteilt Unterschlupf gesucht. Wildbäche stürzen von den Bergen […]“. Oder man wählt im Deutschen Verben, die den Zustand als Ausdruck der Abgeschlossenheit bezeichnen: „Die tyrischen Gefährten […] erreichen überall in der Gegend verteilt Unterschlupf […]“. Auch für die zweite Stelle wäre letzteres eine Möglichkeit: „Bitze leuchten, der Aether flammt als Zeuge der Vermählung, vom höchsten Gipfel heulen die Nymphen“. Oder aber man entscheidet sich bewusst für die Einebnung des Aspektreliefs. Während man bei Caesar die Darstellung am ehesten durchgehend ins Präteritum setzen wird, wird man sie bei Vergil wohl eher wie Binder mit dem Präsens wiedergeben. 3 Subsystem: Pronomen Hermann Fränkel hat in seinem Buch „Grammatik und Sprachwirklichkeit“ von 1974 eine erhellende Unterteilung der Lexeme einer Sprache in Nennsprache und sogenannte Lumasprache vorgenommen. Luma ist ein „sinn- und harmloses Kunstwort“ 6 für die nach Fränkels Meinung irreführende Bezeichnung „Pronomen“. Lumas sind den Nennwörtern gegenüberzustellen, aber nicht den Wortarten. Sie haben Anteil an verschiedenen Wortarten (Substantiv, Adjektiv, Adverb) und bilden ein großes Wortfeld, das dem nennsprachlichen Wortfeld gegenübersteht (z. B. „er“ vs. „Baum“). Die Fränkelsche Darstellung ist insofern herausragend, als sie von der verwirrenden Vorstellung der Grammatiken befreit, es handele sich bei Pronomen um eine Wortart. Fränkels Analyse eröffnet eine Sicht auf die Dinge, die sich an Linien und Reihen, also an Lexemen orientiert (z. B. dt. „wer“ - „der“, „was“ - „das“, „mein“ - „dein“ etc.). Neben der Reihe der Personal- und Possessivpronomen lässt sich im Lateinischen eine Reihe der Korrelativa ausmachen mit zwei Linien (z. B. is - quis? ; tam - quam etc.). Grundsätzlich kann man sagen, dass Pronomen für jedes gesprochene und geschriebene Wort konstitutiv sind. Ohne sie findet keine Verknüpfung mit der Sprech- oder Erzählsituation statt (Funktion der Personal- und Possessivpronomen) und ohne sie kann kein kohärenter Text 6 Fränkel/ Hermann 1974, 252. <?page no="185"?> Schnittstellen zwischen Systemlinguistik und Translatologie 185 entstehen (Aufgabe der Korrelativa). Insofern ist auf sie bei der Übersetzung ein besonderes Augenmerk zu richten. Interessant ist vor allem die Linie um das Lexem qu-, denn dieses geht quer durch die Wortarten (Nomen, Adjektive, Adverbien, Konjunktionen) und auch quer durch die Pronomen (Fragepronomen, Relativpronomen, Indefinitpronomen), z. B. qui, quis, quidam, aliqui, quod etc. Was ist das Spezifische dieses Lexems? Zur Perspektivierung und Konstruktion von Wirklichkeit gehört auch die Setzung von Leerstellen, die das suchende Abtasten der besprochenen oder dargestellten Welt ermöglicht. So kreieren die Fragepronomen eine Fragesituation, in der Leerstellen gefüllt werden müssen (quis? , „wer? “). Ferner gehören zur Perspektivierung und Konstruktion von Wirklichkeit die Generalisierung und Tilgung. So lassen die Indefinita „die spezifische Identität des Gemeinten aktiv und absichtlich offen“ 7 . Durch sie kann der Fokus des Allgemeinen eingestellt werden, den es in der reinen Nennsprache nicht gibt. Relativa sind Tragpfeiler für den Bau von mehrstöckigen Satzperioden. Sie sind „Bindewörter mit periodisierend unterordnender Wirkung“ 8 . Periodisierung ist ein zentraler Bestandteil der Perspektivierung in der Sprache - Gedanken werden hierarchisiert. Nicht von ungefähr sind auch viele Konjunktionen (etwa quod) eigentlich Relativa. Dass ein und dasselbe Lexem für unterschiedliche Arten von Pronomen verwendet wird, sieht man auch im Deutschen, z. B.: „Welche Bücher suchst du? Die, welche ich gestern gekauft habe. Bücher? Das sind welche.“ Während im Deutschen aber diese Pronomen zum Teil durch Demonstrativa oder auch Quantitativa ausgetauscht werden („Welche Bücher suchst du? Die, die ich gestern gekauft habe. Bücher? Da ist eins.“), steht im Lateinischen das Lexem qufür Interrogativa, Relativa und Indefinita. Im Deutschen durchdringt das Quantitativum „ein“ das Pronominalsystem in hohem Maße (vgl. den unbestimmten Artikel „ein“ (lat.: Ø), das Indefinitpronomen „irgendein“ (lat. aliqui, qui, quisquam) das Interrogativpronomen „was für ein? “ (lat: qualis)), im Lateinischen ist dies dagegen nicht der Fall. Natürlich gibt es die Reihe der Quantitativa, etwa unus, ullus (als Verkleinerung von unus, d. h. eine Zahl kleiner als 1, in negierten Kontexten also: nicht einmal ein einziger), nullus usw., aber diese bezeichnen in der Regel eine Menge. So ist es denn auch irreführend, wenn in den Grammatiken etwa quisquam und ullus auf eine Stufe gestellt werden, das eine substantivisch, das andere adjektivisch in Verneinungen. Abgesehen davon, dass es hinreichend Beispiele gibt, in denen quisquam adjektivisch und ullus substantivisch verwendet werden, werden hier Lexeme miteinander verglichen, die gedanklich nicht zusammengehören. 7 a. O., 259. 8 a. O., 263. <?page no="186"?> 186 Bianca Liebermann Cic. Phil. 2,38 At vero Cn. Pompei voluntatem a me alienabat oratio mea. An ille quemquam plus dilexit, cum ullo aut sermones aut consilia contulit saepius? „Doch meine Reden sollen Cn. Pompeius von mir abspenstig gemacht haben. Keineswegs: wen hätte er höher geschätzt, bei wem häufiger Gespräche oder Rat gesucht? “ (Fuhrmann) (Wörtlich: Oder hat jener (überhaupt) irgendwen höher geschätzt, mit einem einzigen häufiger sich besprochen und beraten? ) Cic. Tusc. 4,72 Si quidem sit quisquam deus, cui ego sim curae! „Wenn es doch wenigstens irgendeinen Gott gäbe, der sich um mich kümmerte! “ (Gigon) Dasselbe gilt für die in den Lexika und Grammatiken verbreitete Deutung von aliqui vs. ullus in negiertem Kontext. So findet sich bei Rubenbauer/ Hofmann/ Heine der Eintrag: „aliquis (substantivisch) und aliqui (adjektivisch) stehen in der Bedeutung ‚irgendeiner‘ in der Regel nur mit bejahendem Sinn; dienen sie zur nachdrücklichen Hervorhebung (‚irgendeiner von Wichtigkeit‘), so können sie auch in verneintem Zusammenhang vorkommen: sine aliquo vulnere: ohne erhebliche (nennenswerte) Verluste, aber: sine ullo vulnere: ohne jeden Verlust“. 9 Wirft man einen Blick auf die Originalstellen, sieht man aber, dass aliqui und ullus genau das akzentuieren, was sie bedeuten, das eine das Indefinite, das andere das Quantitative (irgendein nicht näher Bezeichnetes vs. ein einziges): Caes. civ. 3,71,2 sed horum omnium pars magna in foesis munitionibusque et fluminis ripis oppressa suorum in terrore ac fuga sine ullo vulnere interiit „von all diesen kam aber ein großer Teil, in den Gräben und Schanzen sowie an den Flußufern bei der panischen Flucht ihrer Kameraden erdrückt, ohne Verwundung ums Leben“ (Schönberger) (wörtlich: ohne eine einzige Wunde) Caes. civ. 3,73,3 habendam fortunae gratiam, quod Italiam sine aliquo vulnere cepissent „man solle dem Schicksal danken, daß sie Italien ohne Verlust eroberten“ (Schönberger) (wörtlich: ohne irgendeine Wunde) Cic. Verr. 2,2,91 Intellectum est id istum agere ut, cum Sthenium sine ullo argumento ac sine teste damnasset. „Man merkte wohl, daß Verres die Absicht hatte, den Sthenius ohne jeden Beweis und ohne Zeugen zu verurteilen.“ (Fuhrmann) (wörtlich: ohne einen einzigen Beweis und Zeugen) Cic. fam. 11,27,7 Quapropter - redeo nunc ad querelam - ego te suffragium tulisse in illa lege primum non credidi; deinde, si credidissem, numquam id sine aliqua iusta causa existimarem te fecisse. 9 Rubenbauer/ Hofmann/ Heine 12 1995, 232f. <?page no="187"?> Schnittstellen zwischen Systemlinguistik und Translatologie 187 „Deshalb - und damit komme ich auf Deine Beschwerde - habe ich es erstens nicht glauben wollen, daß Du für jenes Gesetz gestimmt habest, und zweitens, wenn ich es geglaubt hätte, würde ich doch niemals annehmen, daß Du es ohne triftigen Grund getan habest.“ (Kasten) (= ohne irgendeinen Grund) Es mag sein, dass aliqui deshalb ein nicht näher Bezeichnetes ist, weil es nicht „nennenswert“ ist, aber das bleibt in der lateinischen Wortwahl offen und ist ausschließlich Sache der Deutung im konkreten Kontext. Es ist nicht Sache des Wörterbuchs oder der Grammatik. Was leistet nun abschließend die strukturalistische Linguistik für die Translatologie? M. E. liegt in diesem Ansatz ein großes Potenzial, um für eine bessere gedankliche Ordnung in den Wörterbüchern und Grammatiken zu sorgen, die wichtigsten Hilfsmittel des Übersetzers. Sind diese in sich schlüssig und systematisch und auf Verständnis angelegt, gewinnt auch der Übersetzer eine größere Sicherheit und damit verbunden Freiheit im Umgang mit den Texten. Die strukturalistische Linguistik bahnt einen Weg zu einer lebendigeren Vorstellung dessen, was mit den einzelnen Bausteinen des Lateinischen verbunden ist. Literaturverzeichnis Fränkel, Hermann (1974), Grammatik und Sprachwirklichkeit, München. Kühner, Raphael/ Stegmann, Carl ( 5 1976), Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, Zweiter Teil: Satzlehre, 2. Bände, Darmstadt, unveränderter Nachdruck 1997. Leiss, Elisabeth (1992), Die Verbalkategorien des Deutschen. Ein Beitrag zur Theorie der sprachlichen Kategorisierung, Berlin. Liebermann, Bianca (2016), Lateinische Präpositionen. Verortung und Valenz, Hamburg. Rubenbauer, Hans/ Hofmann, Johann Baptist/ Heine, Rolf ( 12 1995), Lateinische Grammatik, Bamberg. Touratier, Christian (1994), Syntaxe latine, Louvain-la-Neuve. — (2008), Grammaire latine. Introduction linguistique à la langue latine, Paris. — (2013), Lateinische Grammatik. Linguistische Einführung in die lateinische Sprache, aus dem Französischen übersetzt und bearbeitet von Bianca Liebermann, Darmstadt. Weinrich, Harald ( 2 1971), Tempus: Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart (ND 1994). <?page no="189"?> Interkultureller Transfer 189 Interkultureller Transfer Zur Übersetzung spätantiker Texte Bardo Maria Gauly Wenn man Übersetzung mit Reiß und Vermeer als interkulturellen Transfer versteht, 1 dann stellen Texte der Spätantike den Übersetzer vor besondere Herausforderungen, weil uns die Kultur der Spätantike vermutlich noch fremder als die der Antike ist und weil die Literatur der Zeit modernen Leseerwartungen selten entspricht. Wir finden in der spätantiken lateinischen Literatur - und die folgenden Überlegungen beschränken sich auf diese - kaum Belletristik, es sei denn, man wollte hagiographische Schriften unter diesen Begriff fassen; die religiösen Texte setzen sich mit Fragen der Rechtgläubigkeit oder mit den Regeln der Lebensführung auseinander, die zeitgebunden sind. Die philosophischen Schriften entfalten meist in der Form der Exegese früherer Philosophie das System des Neuplatonismus, eine Spielart der Philosophie, die in der Gegenwart keine Rolle mehr spielt. Allgemein und zugleich zugespitzt gesagt: die Texte der lateinischen Literatur der Spätantike sind vor allem von historischem Interesse, und dies muss Folgen für die Anforderungen an eine Übersetzung haben. Die Fragen, die im Folgenden gestellt werden (und der Beitrag wird eher Fragen stellen als Thesen formulieren), sind durch ein spezifisches Erkenntnisinteresse bestimmt, das sich aus dem Projekt ergibt, an dem ich gemeinsam mit Alexander H. Arweiler aus Münster arbeite, einer Reihe mit zweisprachigen Ausgaben lateinischer Texte der Spätantike. 2 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, nicht nur die Praxis des eigenen Übersetzens zu reflektieren, sondern auch die Übersetzer zu unterstützen und Kriterien für die Bewertung und die Redaktion vorgelegter Übersetzungen zu entwickeln. Ich will in drei Schritten vorgehen: Zunächst will ich Übersetzungsprobleme benennen, die spezifisch für die lateinische Literatur der Spätantike sind oder zumindest dort gehäuft auftreten; ich will mich dann auf eines davon, das Problem der Informationsvermittlung, konzentrieren und 1 Reiß/ Vermeer 1984, 13: „Translation ist eine Sondersorte kulturellen Transfers“; vgl. Wilss 1992, 38-41. 2 Unter dem Titel „Bibliothek der lateinischen Literatur der Spätantike“ soll die im Steiner- Verlag (Stuttgart) erscheinende Reihe eine möglichst breite Auswahl paganer und christlicher Literatur umfassen. <?page no="190"?> 190 Bardo Maria Gauly kurz mit einigen theoretischen Überlegungen verknüpfen; sodann will ich anhand von zwei Beispieltexten die Frage verhandeln, inwieweit Informationen, die im Ausgangstext nicht explizit formuliert sind, weil sie vorausgesetzt werden können, in den Zieltext integriert werden können. Was die Arbeit des Übersetzens spätantiker Texte erschwert (insbesondere im Vergleich zur Übersetzung antiker Texte), ist zunächst sehr oft der Mangel an Vorarbeiten; es fehlt an modernen kritischen Ausgaben, es fehlt an Kommentaren und es fehlt an Wörterbüchern; die literarische Sprache der Epoche ist wenig erforscht. Eine andere Komplikation ergibt sich aus den Texten selbst: Es handelt sich oft in gewissem Sinne um Sekundärliteratur; damit meine ich etwa Kommentare, die einen poetischen oder philosophischen Text erläutern und damit die Kenntnis dieses Textes voraussetzen; andere Texte sind selbst schon Übersetzungen aus dem Griechischen oder anderen Sprachen, wobei der Ausgangstext erhalten oder verloren sein kann. Sehr viele Texte setzen gute Bibelkenntnisse voraus; die Bibel wird zitiert oder es wird auf sie referiert, auch ohne dass dies markiert wird. Dazu kommt, dass viele Texte im Kontext eines institutionalisierten Bildungssystems stehen, so dass sie Supplemente oder Verschriftlichung mündlichen Unterrichts sind. Zusammengefasst: die Texte haben meist eine klar definierte Funktion in einem bestimmten sozialen Kontext, so dass sie auch Vorwissen voraussetzen können; so etwas wie eine zweckfreie schöngeistige Literatur, die ohne besondere Voraussetzungen zugänglich ist, gibt es kaum. Das bedeutet, dass die Schriften der Spätantike für einen modernen Leser, auch wenn wir einen gebildeten voraussetzen, ohne Erläuterungen kaum verständlich sind. Das mag für viele antike Texte auch gelten; aber das Problem stellt sich, meine ich, in der Spätantike mit besonderer Schärfe. Natürlich kann man Erläuterungen in Fußnoten oder einem Anhang einer Übersetzung beigeben; doch wenn man den Anspruch erhebt, eine lesbare deutsche Wiedergabe zu liefern, dann stößt auch ein gelehrter Apparat schnell an Grenzen; wenn man 20 Anmerkungen pro Seite zur Kenntnis nehmen muss, um den Text zu verstehen, leidet das Lesevergnügen. Es soll deshalb im Folgenden um die Frage der Informationsvermittlung durch die Übersetzung gehen; eine fertige Lösung, dies sei gleich zugegeben, wird nicht am Ende stehen. Die radikal funktionale Theorie der Übersetzung von Reiß und Vermeer (sie sprechen von Translationstheorie, weil das Dolmetschen eingeschlossen ist) sieht Übersetzung als einen Transfer zwischen Kulturen; vom Übersetzer wird gefordert, bikulturell zu sein. Der kulturelle Transfer ist dem sprachlichen immer übergeordnet. Ihre knappe Definition lautet: 3 „Translation ist ein Informationsangebot in einer Zielkultur und deren Sprache über ein Informationsangebot aus einer Ausgangskultur und 3 Reiß/ Vermeer 1984, 105. <?page no="191"?> Interkultureller Transfer 191 deren Sprache.“ Dies schließt ein, dass es begründbare Funktionsänderungen des Zieltextes gegenüber dem Ausgangstext gibt; ja, eine solche Funktionsänderung sei sogar der weitaus häufigere Fall. 4 Dies scheint mir gerade für die spätantiken Texte ein sehr plausibler Gedanke: Die Intention des Ausgangstextes dürfte in der Tat sehr oft von der des Zieltextes, der Übersetzung, verschieden sein. Zielt etwa eine hagiographische Erzählung auf die Erbauung des Lesers oder auf ein Plädoyer für einen asketischen Lebensstil, so wird unsere Übersetzung solche Ansprüche nicht erheben wollen; vielmehr wird sie dem Leser über die frühchristliche Kultur, über die Rezeption narrativer Formen im Christentum, über die historische Entwicklung von Lebensformen und Mentalitäten informieren wollen. Ein neuplatonischer Kommentar zu einer philosophischen Schrift ist Teil oder Ergänzung eines Bildungssystems der Schule, und Entsprechendes wird für die philologischen Kommentare der Spätantike gelten. Eine Übersetzung solcher Kommentare wird in erster Linie historische Erkenntnisse vermitteln wollen, über das Bildungssystem der Epoche, die Entwicklung der Schulphilosophie, Modelle der Textauslegung und anderes mehr. Was die Strategien der Übersetzung angeht, so verwenden Reiß und Vermeer den Begriff der Äquivalenz, wobei sie diesen Begriff dynamisch verstehen, da er von der Funktion der Texte abhängig gemacht wird; 5 wenn man diese Orientierung an der Funktion des Zieltextes im Blick hat, wird man von den vier Typen von Übersetzung, die Poiss u. a. unterscheiden, am ehesten die Kombination des zweiten Typus (transponierende Übersetzung mit äquivalenter Wirkung) mit dem vierten Typus (modernisierend-assimilierend, mit Bezug auf die Zielsprache und Zielkultur) ins Auge fassen. 6 Ich würde dabei nur präzisieren, dass sich die Charakterisierung des Zieltextes als modernisierend bzw. assimilierend in erster Linie auf die sprachlichen Phänomene und auf seine Funktion beziehen sollte. Die kulturellen Inhalte müssen in ihrer Fremdheit erhalten bleiben, weil das Erkenntnisinteresse in Bezug auf spätantike Texte vorwiegend historisch ist. Wenn wir aber die Funktion des Zieltextes als historisch-informierend beschreiben (das gilt nicht für alle Werke, aber doch wohl für die meisten), dann könnte diese veränderte Funktion die Konsequenz haben, dass im Einzelfall zusätzliche Informationen in die Übersetzung integriert werden, Informationen, deren ein spätantiker Leser nicht bedurfte, weil er sie hatte. Reiß und Vermeer führen als Beispiel einer wirkungstreuen Übersetzung, die semantisch frei agiert, Thierfelders Terenz-Übersetzung von 1961 an, die den deutschen Text stärker ent- 4 Ebd. 45. 5 Zusammenfassend dazu ebd. 169f. 6 Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016, 386-388. <?page no="192"?> 192 Bardo Maria Gauly falte, den Ausdruck verbreitere, damit eine dem Ausgangstext entsprechende komische Wirkung erzielt werden könne. 7 Natürlich kann es nicht darum gehen, längere Erläuterungen in die Übersetzung einzuschmuggeln, ohne sie als solche zu kennzeichnen; aber schon auf der Ebene des einzelnen Wortes können zusätzliche Informationen vermittelt werden. Ein einfaches Beispiel ist die in poetischen Texten häufig verwendete Antonomasie (Repos. [AL 247 Sh.-B.] 105): Incubuit lectis Paphie […]. Würde man hier übersetzen: „Paphie ließ sich aufs Lager nieder“, wäre zwar die Poetizität des Tropus gewahrt, aber für viele moderne Leser wäre der Satz unverständlich; umgekehrt wäre der Ersatz des uneigentlichen Wortes durch das eigentliche, Venus, zwar hilfreich für das Textverständnis, aber ein typischer Marker von Poetizität wäre verloren. Besser wäre da wohl das Verfahren einer deutschen Umschreibung, die, je nachdem wie der Wissensstand der Leser eingeschätzt wird, lauten könnte: „die Göttin von Paphos“, „Venus, die Göttin von Paphos“, „die in Paphos auf Zypern verehrte Liebesgöttin“ usw. Damit zu den Textbeispielen. Macrobius’ Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis ist ein lateinisches Pendant zur griechischen Kommentierung von Platons und Aristoteles’ Werken, die Teil des philosophischen Curriculums der neuplatonischen Schule ist. Er setzt sowohl die Kenntnis des römischen Prätextes (auch wenn die kommentierten Passagen jeweils zitiert werden) als auch das Verfahren der neuplatonischen Kommentierung voraus. Schon die praefatio referiert auf Ciceros politische Biographie und setzt entsprechendes Vorwissen voraus; mit keinem Wort wird problematisiert, dass das Somnium nur die Schlusserzählung eines umfangreichen Werkes ist. Die griechische Kommentierung und ihre Verfahren sind im Text präsent, wenngleich sich Macrobius in einem entscheidenden Punkt von ihnen absetzt; sein Kommentar ist nicht Teil eines umfassenderen Philosophieunterrichts, sondern will ihn ersetzen, indem er das Wichtigste in seinen Erläuterungen zu Ciceros Erzählung knapp zusammenfasst. So hat das Werk eine eigentümliche Doppelnatur: Es will alles bieten, kann dies aber oft nur in andeutender Weise leisten. Am Ende des Kommentars wird das Somnium zur Summe der Philosophie erklärt, in der alle Teile (Ethik, Physik und Metaphysik) vereint sind; 8 damit wird implizit auch der eigene Kommentar zu einer Gesamtdarstellung der Philosophie, wobei allerdings, wie mitunter auch explizit gesagt wird, die Kürze dazu zwingt, auf Details zu verzichten. 9 Dieser Anspruch erklärt auch, weshalb in die Texterklärung längere Kapitel integriert werden, die mit Ciceros Somnium wenig zu tun haben, wie etwa die zur Geo- 7 Reiß/ Vermeer 1984, 38f. 8 Macr. somn. 2,17,15-17. 9 Macr. somn. 2,1,25. <?page no="193"?> Interkultureller Transfer 193 graphie. 10 Macrobius’ Kommentar ließe sich deshalb passend als Kompendium der Philosophie beschreiben, auch wenn der Begriff im Text selbst nur in Bezug auf einzelne Abschnitte verwendet wird - anders als in den Saturnalien, wo das ganze Werk so bezeichnet wird. 11 Der Voraussetzungsreichtum zwingt den Übersetzer, manches explizit zu machen, was im lateinischen Text nur angedeutet ist, weil an ein Vorwissen des Lesers appelliert wird; ich zitiere einen Passus aus der praefatio in der (vor Kurzem erschienen) Übersetzung von Friedrich Heberlein, die dem modernen Leser ein Informationsangebot macht, das behutsam über das des Ausgangstextes hinausgeht (Macr. somn. 1,1,2): 12 In hoc tamen uel maxime operis similitudinem seruauit imitatio quod, cum Plato in uoluminis conclusione a quodam uitae reddito, quam reliquisse uidebatur, indicari faciat qui sit exutarum corporibus status animarum, adiecta quadam sphaerarum uel siderum non otiosa descriptione, rerum facies non dissimilia significans a Tulliano Scipione per quietem sibi ingesta narratur. In einem Punkt aber hat Ciceros Nachschöpfung eine auffallende Ähnlichkeit mit ihrem Vorbild bewahrt: Platon lässt am Ende seines Werkes jemanden, der nach einem Scheintod ins Leben zurückgekehrt war, die Daseinsform der aus dem Körper befreiten Seelen schildern und verbindet das mit einer nützlichen Beschreibung der Himmelssphären und Gestirne; Ciceros Scipio dagegen bietet eine ganz ähnliche Beschreibung der Natur als Erzählung eines Traums. Heberleins Übersetzung ist auch für den verständlich, der Platons Politeia nicht präsent hat; das betrifft etwa das doppeldeutige Wort volumen, das sich allein auf das zehnte Buch beziehen könnte; die Entscheidung, es auf das ganze Werk zu beziehen, hilft dem, der den Mythos nicht lokalisieren kann. Das Schicksal des Er, das im lateinischen Text nur angedeutet werden muss, wird durch den Begriff „Scheintod“ klar bezeichnet; auch die Wiedergabe des Schlusses mit „Erzählung eines Traumes“ ist prägnanter als die Formulierung des Ausgangstextes. Im nächsten Abschnitt versucht Macrobius die Frage zu klären, weshalb Platon und Cicero in ihren Werken, die doch von der Verfassung des Staates handeln, auch über die Sphären des Himmels und andere kosmologische Themen gesprochen haben; er fährt fort, indem er genauere Vorbemerkungen zu 10 Macr. somn. 2,5-9. 11 Macr. somn. 1,19,15; 1,21,5; Sat. 1 praef. 2. Zum Kommentar als Kompendium s. Gauly 2018. 12 Die zweisprachige Ausgabe von Heberlein ist als erster Band in der neuen Reihe „Bibliothek der lateinischen Literatur der Spätantike“ (Franz Steiner Verlag, Stuttgart) erschienen. <?page no="194"?> 194 Bardo Maria Gauly diesem Punkt ankündigt, damit die mens operis klar werde (Macr. somn. 1,1,3): De hoc ergo prius pauca dicenda sunt, ut liquido mens operis de quo loquimur innotescat. Heberlein bleibt hier nahe am lateinischen Text („der Geist des von uns behandelten Werkes“); ich würde auch in diesem Fall für eine stärker erklärende Wiedergabe plädieren („Intention“). Macrobius’ Vorgehen folgt nämlich den in den neuplatonischen Kommentaren fest etablierten so genannten schemata isagogica, die in Einführungen zu Kommentaren philosophischer Werke unter anderem die Behandlungen der Intention vorsehen. In den griechischen Kommentaren werden dafür die Termini σκoπός („Ziel“), aber auch πρόθεσις („Thema“) verwendet; und im vierten Kapitel weist Macrobius explizit auf diese Entsprechung hin (Macr. somn. 1,4,1): 13 Nunc ipsam eiusdem somnii mentem ipsumque propositum, quem Graeci σκοπόν uocant, […] temptemus aperire. Macrobius’ Bemerkung, er wolle auf überflüssige Details verzichten, die ich schon kurz erwähnt habe, steht im Kontext seiner Erläuterungen zur Sphärenharmonie und den ihr zugrunde liegenden Zahlenverhältnissen. Im ersten Kapitel des Abschnitts taucht das Motiv nur in Form einer knappen Parenthese auf: 14 Er wolle auf zusätzliche Erläuterungen verzichten, weil das die Sache nur komplizierter mache (eine bemerkenswerte Maxime für einen Kommentator). Etwas präziser wird am Ende der Ausführungen zur Harmonielehre das Wissenswerte von dem abgegrenzt, was vernachlässigt werden könne; Cicero unterscheide sieben Töne, und alles andere wie das Phänomen der Halbtöne oder das Verhältnis von Sprache und Musik sei für die Erläuterung des Textes nicht vonnöten; was Cicero über die Sphärenmusik sage, sei dunkel, doch das gelte für die Theorie der Musik überhaupt, und wenn man nun noch weitere Traktate zur Erklärung heranziehe, dann mache man einen schwierig zu erfassenden Gegenstand noch schwieriger. 15 Allerdings hält sich Macrobius selbst nicht an diese Maximen, denn seine Ausführungen zur Harmonielehre bieten viel mehr, als die Erklärung von Ciceros knapper Bemerkung über die durch die acht Sphären erzeugten sieben Töne verlangt. Und dass für ihn der Gegenstand in der Tat dunkel war, zeigen sachliche Fehler, die ihm bei der Übernahme der griechischen Quellen unterlaufen sind, die im Kommentar von Armisen-Marchetti nachgewiesen werden. 16 Da in den technischen Abschnitten eine mathematisch begründete Harmonielehre entfaltet wird, die der Autor aus nicht vollständig verstandenen griechischen Quellen übernommen hat, stellt ihre Übersetzung keine geringe Herausforderung dar: Der Übersetzer (und das trifft für Friedrich Heberlein zu) 13 Zur Intention in den schemata isagogica s. Gauly 2018, 161. 14 Macr. somn. 2,1,25. 15 Macr. somn. 2,4,10-12. 16 S. etwa Armisen-Marchetti zu 2,1,24 (2003, 97 Anm. 25). <?page no="195"?> Interkultureller Transfer 195 muss in der Tat bikulturell sein, d. h. sich sowohl in der spätantiken (griechischen und lateinischen) als auch in der modernen Musiktheorie auskennen. Ein Beispiel, in der Übersetzung Heberleins (Macr. somn. 2,1,15): Et est epitritus cum, de duobus numeris, maior habet totum minorem et insuper eius tertiam partem, ut sunt quattuor ad tria. Nam in quattuor sunt tria et tertia pars trium, id est unum. Et is numerus uocatur epitritus, deque eo nascitur symphonia quae appellatur διὰ τεσσάρων. Ein Epitrit ist das Verhältnis zwischen zwei Zahlen, deren größere die kleinere zur Gänze beinhaltet und zusätzlich ein Drittel von ihr, wie es beim Verhältnis 4: 3 vorliegt. Denn vier beinhaltet drei und ein Drittel von drei, also eins. Diese Relation nennt man Epitrit, und aus ihm geht der Akkord hervor, den man διὰ τεσσάρωv (Quarte) nennt. In diesem Fall ist der Text in der Sache klar: Verhalten sich die Frequenzen zweier Töne wie vier zu drei, so ergibt sich als Tonintervall die Quarte. Das Problem ist die Terminologie; Epitrit gibt es im Deutschen nicht als terminus technicus, wenn man von der griechischen Metrik absieht. Da der Terminus hier aber definiert wird, ist es richtig, ihn so auch im Deutschen stehen zu lassen. Umgekehrt verhält es sich mit dem griechisch umschriebenen Begriff der Quarte. Da im lateinischen Text mangels eines Terminus im Lateinischen die griechische Umschreibung beibehalten wurde, hat sich der Übersetzer dafür entschieden, ihn auch im Deutschen stehen zu lassen. Da aber für das Zielpublikum der Übersetzung anders als für Macrobius’ Leser Griechischkenntnisse nicht erwartet werden können, gibt die Übersetzung eine zusätzliche Erläuterung, indem sie den modernen Begriff in Klammern ergänzt. Hier ist also in der Tat eine Erklärung, wenngleich nur eine kurze, direkt in den Zieltext integriert. Das entspricht dem, was Reiß und Vermeer ein „Informationsangebot in einer Zielkultur und deren Sprache über ein Informationsangebot aus einer Ausgangskultur und deren Sprache“ nennen. 17 Auch sonst behält die Übersetzung ihre Funktion im Auge, indem sie mit einer modernen mathematischen Diktion operiert („Verhältnis 4: 3“). Der deutsche Text kann unmöglich alles, was an dieser oft theoretisch unscharfen Theorie erklärungsbedürftig ist, in die Übersetzung integrieren, und er muss unbedingt der Versuchung widerstehen, Macrobius’ Fehler stillschweigend zu korrigieren. Dies würde der Intention des Zieltextes zuwiderlaufen, ein historisches Verständnis des Textes zu ermöglichen; aber die Übersetzung kann versuchen, durch die Anknüpfung an das Vorwissen des modernen Lesers den Text lesbar zu machen. Auch in meinem zweiten Beispiel wird man für den lateinischen Text und die Übersetzung je unterschiedliche Intentionen annehmen. Der Autor des Textes, 17 Reiß/ Vermeer 1984, 105. <?page no="196"?> 196 Bardo Maria Gauly Hieronymus, ist der bedeutendste Übersetzer der Spätantike und steht am Anfang der theoretischen Reflexion des Übersetzens. 18 Sein Epitaphium Sanctae Paulae etabliert eine christliche Rhetorik, die der Erbauung des Lesers, der Werbung für das Ideal der Askese und der Neuzentrierung der Oikumene dient: Rom soll durch Bethlehem abgelöst werden. Die hagiographische Erzählung setzt denn auch mit Paulas Abstammung ein, die bedeutsam ist, weil sie, so heißt es, eine Nachkommin der Scipionen und Grachen gewesen sei. Nach einem allgemeinen Preis ihrer Tugenden wird von Ehe, Mutterschaft und Witwenstand erzählt; eine Bischofssynode in Rom wird zum Anlass, sich von der eigenen Familie (und damit den eigenen) Kindern loszusagen und sich auf Fahrt ins Heilige Land zu begeben; ausführlich wird von ihren Reisen durch das Heilige Land und der Begegnung mit den Stätten der Bibel berichtet, bevor sie sich in Bethlehem niederlässt. 19 Thematisiert werden dann ihre Tugenden, die Verwirklichung der asketischen Ideale, die Gründung von Klöstern und das gemeinsame Bibelstudium, das das Erlernen der hebräischen Sprache einschließt. Am Ende der Erzählung stehen Sterben und Tod, Begräbnis und die Fortsetzung der klösterlichen Arbeit durch ihre Tochter. Daran schließen sich noch kurze Notizen zur raschen Entstehung des Nachrufs, der von Hieronymus verfasste Text der Grabinschrift sowie die Lebensdaten Paulas an. 20 Soweit der Inhalt; die Schrift zeigt ein klares Konzept: Die Aufgabe eines Lebens in Rom, der Verzicht auf den behaglichen Reichtum einer Aristokratin und die Verlagerung des Lebensmittelpunktes ins Heilige Land korrelieren mit der Ablösung traditionell römischer Werte wie einer virtus, die sich in Ämtern, adligem Status und Reichtum manifestiert, durch die christlichen Werte der Demut, der Armut und der Askese. Die literarische Gestalt, die diese Neuorientierung des Lebens feiert, macht Gebrauch von der klassischen Rhetorik und von literarischen Formen wie Grabrede und Grabepigramm. Den Lesern der Zeit mag er als erbauliche Lektüre (wenn die persönliche Neuorientierung schon vollzogen ist) oder als Werbung, es der neuen christlichen Heldin gleichzutun, gedient haben. Ein modernes Leserinteresse wird sich kaum noch auf das asketische Ideal als Maxime für das eigene Leben richten; und die geographische Neuausrichtung des Zentrums hat die Kirche selbst nicht vollzogen; schon zu Hieronymus’ Lebzeiten beginnt die Entwicklung, die Rom und nicht das Heilige Land zum Zentrum der Christenheit macht. Wie im Fall des Macrobius wird man am ehesten ein historisches Interesse der Leser der Übersetzung unterstellen müssen. Und daran muss sich 18 Insbesondere in epist. 57; s. dazu Bartelink 1980. Vgl. Lamberton 2007, 1162-1166. 19 Einleitung: Kap. 1-3; Familiengeschichte und Trennung von der Familie: Kap. 4-6; Reise ins Heilige Land und Besuch der biblischen Stätten: Kap. 7-14. 20 Paulas Tugenden und Tätigkeiten: Kap. 15-26; Tod und Begräbnis: Kap. 27-31; Entstehung der Schrift, Grabepigramm, Lebensdaten: Kap. 32-34. <?page no="197"?> Interkultureller Transfer 197 auch die Übersetzung ausrichten, die wieder Informationen vermitteln oder verdeutlichen muss, die dem modernen Leser nicht geläufig sind. Das betrifft insbesondere die Referenzen auf die Bibel, die, wenig überraschend, der mit Abstand wichtigste Prätext der Erzählung ist. Es sind damit vor allem zwei Übersetzungsprobleme verbunden, zum einen eben die Informationsvermittlung: Wenn ich nicht voraussetzen kann, dass der Leser bibelfest ist (und Bibelfestigkeit im von Hieronymus geforderten Sinne bedeutet umfassende Kenntnis aller Bücher des Alten und Neuen Testamentes), stellt sich die Frage, ob umfangreiche Stellenangaben in Anmerkungen der einzige Weg sind, das Verständnis des Textes zu gewährleisten. Bei Bibelzitaten kommt eine zweite Frage dazu: Soll versucht werden, die Unterschiede in Sprache und Stil, die zwischen Hieronymus’ Bibelübersetzung und seiner sonstigen Prosaerzählung bestehen, im Deutschen wirkungsäquivalent wiederzugeben? Für die Gräzismen, Hebraismen oder Septuagintismen von Hieronymus’ Bibelsprache gibt es ja keine direkte Entsprechung; eine historisch ältere Sprachstufe des Deutschen zu wählen, ist nicht wirkungsadäquat; denkbar wäre, eine verbreitete Bibelübersetzung zu benutzen, um einen Wiedererkennungseffekt zu erzielen, der mit der Durchsichtigkeit von Hieronymus’ Bibelversionen auf das Original hin vergleichbar ist. Doch das scheitert, meine ich, daran, dass die Traditionen in Deutschland schon durch die verschiedenen Konfessionen zu disparat sind. Und nicht einmal die Lutherbibel ist ja von zahlreichen Modernisierungsversuchen verschont geblieben, so dass ein fester Bezugspunkt nicht zu finden ist. Ich beschränke mich deshalb auf den ersten Punkt, und auch dies nur im Sinn einer Problemanzeige anhand eines Beispiels. Die Erzählung begleitet Paula auf ihren Wanderungen durch das Heilige Land; die Rückkehr nach Jerusalem wird, wie folgt, angekündigt (Hier. epit. Paulae 12,1): Diu haereo in meridie, ubi sponsa cubantem repperit sponsum et Ioseph inebriatus est cum fatribus suis. revertar Hierosolymam et per Thecuam atque Amos rutilantem montis Oliveti crucem aspiciam, de quo salvator ascendit ad patrem, in quo per annos singulos vacca rufa in holocaustum domini cremabatur et cuius cinis expiabat populum Israhel, in quo iuxta Hiezechiel cherubin de templo transmigrantes ecclesiam domini fundaverunt. Schon lange halte ich mich im Süden auf, wo die Braut ihren Bräutigam ruhen sah und sich Joseph zusammen mit seinen Brüdern berauschte. Ich will nach Jerusalem zurückkehren, über Tekoa und Amos, und das rötlich schimmernde Kreuz auf dem Ölberg sehen, von wo der Heiland zum Vater aufstieg, wo jedes Jahr eine rote Kuh zum Opfer für den Herrn verbrannt wurde, deren Asche das Volk Israel entsühnte, wo, nach Ezechiel, die Cherubim aus dem Tempel auszogen und die Kirche des Herrn gründeten. Dieser Übersetzungsversuch dient eher dazu, das eigene Verständnis zu dokumentieren, als eine Lösung zu bieten, die der Zielsprachen- und Zielkulturorien- <?page no="198"?> 198 Bardo Maria Gauly tierung, für die ich plädiere, gerecht wird. Eine erste Schwierigkeit dieser Passage hat noch nichts mit der Bibel zu tun; hatte der Erzähler bisher von Paulas Wanderungen, wie es der landläufigen Lesererwartung entspricht, in der dritten Person erzählt, so wechselt er hier in die erste. Man hat dafür als Erklärungen angeboten, dass Paula hier die Sprecherin sei oder dass „we are hearing the voice of the pilgrim Everyman“, 21 doch scheint mir beides wenig plausibel. Da Hieronymus im ganzen Text seine enge Verbindung zu Paula hervorhebt, überblendet er hier wohl Erzählerfigur und erzählte Figur. Die Reise, von der erzählt wird, ist offensichtlich nicht nur die Wanderung einer konkreten Figur durch eine geografisch definierte Landschaft, sondern auch und in erster Linie eine metaphorische Reise durch das Land und damit durch den Text der Bibel. Eben darauf weist auch eine Merkwürdigkeit des lateinischen Textes hin; der Weg führt per Thecuam atque Amos. Mit Amos ist der Prophet gemeint; Tekoa ist, wie es zu Beginn des Buches Amos heißt, die Heimat des Propheten. Die von mir konsultierten Übersetzungen folgen hier ganz dem Prinzip der Informationsvermittlung, wenn sie erklärende und ergänzende Wiedergaben wählen (z. B. „über Thecua, des Amos Heimat“). 22 In diesem Fall zögere ich, weil damit der Gedanke einer Reise durch den Text, der durch die Formulierung angedeutet zu sein scheint, verloren ginge. Ebenso changiert je nach Betrachtung die Bedeutung von haereo („halte ich mich im Süden auf“, „halte ich mich mit dem Süden auf“). Was die biblischen Referenzen angeht, so ließen sich manche mit einem kleinen Zusatz zumindest so weit erhellen, dass der Lesefluss nicht gestört wird; aus der „Braut“ lässt sich die „Braut des Hohen Liedes“ machen, und das dürfte für das Textverständnis genügen, weil die genaue Kenntnis der Passage, auf die referiert wird, für den aktuellen Kontext irrelevant ist. 23 Schwieriger ist die Wiedergabe von inebriatus est; es handelt sich um die Passage der Josephserzählung, in der Joseph seine Brüder bewirtet; auch in der Fassung der Vulgata verwendet Hieronymus das Wort; 24 Schade schreibt, Joseph habe „mit seinen Brüdern ein Freudenmahl gehalten“ (1914). Der letzte zitierte Satz bietet für den selben Ort nicht weniger als vier Referenzen, drei davon auf die Bibel: auf die neutestamentliche Erzählung von Christi Himmelfahrt, die vielleicht keiner erklärenden Übersetzung bedarf, auf das in Buch Numeri erwähnte jährliche Reinigungs- 21 Zitat und zweite Erklärung von Cain 2013, zur Stelle; die erste Erklärung schreibt Cain, wohl zu Recht, Smits Kommentar zu ( 5 2007, zur Stelle, 339); dessen Formulierung ist allerdings nicht eindeutig. 22 Die zitierte deutsche Übersetzung ist die von Schade (1914); vgl. auch Canali 5 2007 und Cain 2013.; vgl. Am 1,1. 23 Hld 1,7: Die Braut hat Sehnsucht nach ihrem Geliebten, kennt aber seinen Lagerplatz nicht. 24 Gen 43,34. <?page no="199"?> Interkultureller Transfer 199 opfer und auf den Auszug der Engel aus dem Tempel in Ezechiels Vision. 25 Das Kreuz auf dem Ölberg gehört zu einem Komplex von zwei im vierten Jahrhundert errichteten Kirchen. Eine offensichtliche Lösung gibt es nicht, und das gilt für die meisten Passagen dieses Textes, der immer Verweischarakter hat und ohne seinen Subtext nicht verständlich ist. Die Theorie vom Informationsangebot des Zieltextes, das einen kulturellen Transfer in eine Zielkultur annimmt, legt nahe, zumindest punktuell und mit großer Behutsamkeit Ergänzungen vorzunehmen und Implizites explizit zu machen. Wie weit das möglich oder sinnvoll ist, ist aber immer nur im Einzelfall zu entscheiden. Literaturverzeichnis Armisen-Marchetti, Mireille (Hrsg.) (2003- 3 2011), Macrobe, Commentaire au Songe de Scipion, 2 Bände, Paris. Bartelink, G. J. M. (Hrsg.) (1980): Hieronymus, Liber de optimo genere interpretandi (Epistula 57). Ein Kommentar, Leiden. Bastiaensen, A. A. R./ Smit, Jan W. (Hrsg.) ( 5 2007), Vita di Martino, Vita di Ilarione, In memoria di Paula, Testo critico e commento, Traduzioni di Luca Canali e Claudio Moreschini, Mailand. Cain, Andrew (Hrsg.) (2013), Jerome’s Epitaph on Paula. A commentary on the Epitaphium Sanctae Paulae, Oxford. Heberlein, Friedrich (Hrsg.) (2019), Macrobius Ambrosius Theodosius, Kommentar zum Somnium Scipionis, Stuttgart. Hilberg, Isidor (Hrsg.) (1912), Sancti Eusebii Hieronymi Epistulae, Pars II: -Epistulae LXXI-CXX, Wien u. a. [epist. 108 =-Epitaphium Sanctae Paulae, 306-351]. Schade, Ludwig (Hrsg.) (1914), Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte historische, homiletische und dogmatische Schriften, Kempten. Gauly, Bardo Maria (2018), Der Kommentar als philosophisches Kompendium: Macrobius über Ciceros Somnium Scipionis und seine Intention, Incontri di filologia classica 16 (2016-2017), 159-171. Lamberton, Robert (2007), Theory and practice of translation in Late Antiquity, in: Harald Kittel/ Armin P. Frank/ Norbert Greiner/ Theo Herman/ Werner Koller/ José Lambert/ Fritz Paul (Hrsg.), Übersetzung, Translation, Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. An international encyclopedia of translation studies. Encyclopédie internationale de la recherche sur la traduction, Band 2, Berlin, 1160-1170. Poiss, Thomas/ Kitzbichler, Josefine/ Fantino, Enrica (2016), Reflexionen über ein mögliches Instrumentarium zur Analyse von Übersetzungen griechischer und lateinischer Texte, in: Kitzbichler, Josefine/ Stephan, Ulrike C. A. (Hrsg.), Studien zur Praxis der Übersetzung antiker Literatur. Geschichte - Analysen - Kritik, Berlin, 361-401. 25 Mk 16,19 bzw. Num 19,1-10 bzw. Ez 11,22f. <?page no="200"?> 200 Bardo Maria Gauly Reiß, Katharina/ Vermeer, Hans J. (1984), Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Tübingen. Weingarten, Susan (2005), The saint’s saints. Hagiography and geography in Jerome, Leiden. Wilss, Wolfram (1992), Übersetzungsfertigkeit. Annäherungen an einen komplexen übersetzungspraktischen Begriff, Tübingen. <?page no="201"?> Ist Noahs Arche eine Kiste? 201 Ist Noahs Arche eine Kiste? Zu den Herausforderungen bei der Übersetzung christlicher lateinischer Texte Stefan Freund Dass für Fragen des Übersetzens Latein keineswegs gleich Latein ist, liegt auf der Hand: Dichtungstexte stellen andere Anforderungen als Prosatexte, kunstvoll stilisierte andere als der Umgangssprache nahe, klassische andere als spätlateinische und überhaupt antike andere als mittelalterliche oder neuzeitliche. Dass daneben auch die religiöse Ausrichtung lateinischer Texte Auswirkungen auf das Vorgehen bei ihrer Übersetzung hat, wird man wohl annehmen, wenn man nach Reiß und Vermeer Übersetzen als interkulturellen Transfer versteht. 1 In den - momentan noch wenigen - grundsätzlichen Überlegungen zum Übersetzen aus dem Lateinischen hat man das christliche Latein naheliegender Weise bislang noch eigenständig erfasst. 2 - Um zu zeigen, dass sich diese spezifische Betrachtung lohnt, sei zunächst einmal an die enorme Menge der christlichen lateinischen Texte erinnert: So ist das bewahrte Gesamtwerk des Augustinus ungefähr dreimal so groß wie das der Schulautoren Cicero, Sallust, Vergil, Ovid und Seneca zusammen, Ambrosius von Mailand bietet zweieinhalbmal so viel Text wie Livius, und was wir vom Bibelübersetzer Hieronymus haben, ist dreimal so umfangreich wie das, was wir vom Älteren Plinius lesen können. 3 Zudem sind die christlichen antiken Texte von großer geistesgeschichtlicher Bedeutung und Nachwirkung: Augustinus darf als der in philosophisch-theologischer Hinsicht vielleicht originellste Denker der lateinischen Antike gelten, die Vulgata ist kaum weniger prägend für die spätere lateinische Literatur des Mittelalters als Vergil oder Ovid. Dass sich in der Masse der lateinischen Texte des Mittelalters und der Neuzeit 4 viele Charakteristika des christlichen antiken Lateins fortsetzen, sei nur am Rande erwähnt. Überhaupt hätte das Lateinische, wäre es nicht die Sprache des westlichen Christentums geworden, kaum eine solche 1 Reiß/ Vermeer 1991; Stolze 2011, 185-188. 2 Poiss/ Kitzbichler/ Fantino 2016, 361-401. 3 Die Zahlenverhältnisse sind der Library of Latin Texts, Brepols 2014 (http: / / clt.brepolis. net/ lltadfg/ Default.aspx, Abrufdatum: 01.11.2018), entnommen. 4 Vgl. Korenjak 2016, 17-24. <?page no="202"?> 202 Stefan Freund Nachwirkung bis heute erfahren - sei es als Sprache, die nach wie vor in der Schule gelernt wird, sei es als Sprache in der katholischen Kirche. Wenn jemand, der in der Schule Latein gelernt hat, diese Sprache in Studium oder Beruf anwendet, so ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass ihm auch außerhalb eines kirchlichen oder theologischen Kontexts, wo man dies ohnehin erwarten würde, christliche lateinische Literatur der Antike oder christlich geprägte lateinische Literatur des Mittelalters oder der Neuzeit begegnet - in der Kunstgeschichte oder in der Kirchenmusik, in der Geschichte, in der Philosophie oder in der Politikwissenschaft, im Archiv- und Bibliothekswesen. - Der Fähigkeit, auch christliche lateinische Texte zu verstehen und zu übersetzen, kommt also eine so weit reichende Bedeutung zu, dass die Frage nach den Herausforderungen bei der Übersetzung christlicher lateinischer Texte gerechtfertigt scheint. Damit wäre freilich noch zu klären, was christliche lateinische Literatur in übersetzungsrelevanter Hinsicht überhaupt von spätlateinischer oder mittellateinischer oder neulateinischer Literatur oder von vulgärlateinischen Texten unterscheidet. Es ist hier nicht der Ort, eine Charakteristik des christlichen Lateins der Antike - und auf diese sollen sich die folgenden Überlegungen konzentrieren - zu liefern. 5 Zwar ist das Latein der Christen nicht, wie die ältere Forschung annahm, eine Sondersprache, wohl aber die Sprache einer sozial, gedanklich und weltanschaulich einigermaßen geschlossenen Gruppe und weist als solche - bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Autoren - Gemeinsamkeiten auf. Insbesondere drei Faktoren bestimmen seine Varianz vom Standardlatein: 1. Die Sprache der älteren lateinischen Bibelübersetzungen, insbesondere der Vetus Latina, übt einen großen Einfluss aus. Dies betrifft Lexikon, Morphologie, Syntax und Stilistik. Insbesondere gelangen durch die wörtliche Vorgehensweise der Übersetzer Semitismen und Gräzismen in Latein der Christen. 2. Die Entstehung einer Liturgie und kirchlicher Strukturen sowie die sich entfaltenden pastoralen und dogmatischen Diskurse bringen zwangsläufig die Herausbildung einer spezifischen Terminologie mit sich, die über das erwähnte Lexikon der Bibel hinausreicht. 3. Die Christen distanzieren sich vom paganen Bildungssystem und der paganen Rhetorik, auch wenn alle ihre Vertreter ersteres durchlaufen haben und die Mittel der letzteren für ihre Sache nutzen. So sind zwar die christ- 5 Einen vorzüglichen Einblick bietet bereits das bekannte Wörterbuch: Stowasser u. a. 1994, XXVI-XXVIII (die Auflage 2016 des Stowasser enthält diesen höchst instruktiven Passus bedauerlicherweise nicht mehr), umfassende Überblicke bieten Rönsch 1875; Schrijnen 1932; Blaise 1955; Loi 1978; García de la Fuente 1994; Stotz 2002, 35-62. <?page no="203"?> Ist Noahs Arche eine Kiste? 203 lichen lateinischen Autoren stilistisch auf der Höhe ihrer Zeit - so ist Tertullian einer der führenden Vertreter der Zweiten Sophistik, mit Laktanz beginnt der spätantike Klassizismus, Augustinus ist vor seiner Bekehrung der führende Rhetor seiner Zeit -, gleichwohl gilt die programmatische Forderung nach Ungekünsteltheit und nach einer Offenheit auch für die weniger Gebildeten. Daraus ergeben sich eine große stilistische Spannbreite der Texte und eine ausgeprägte Toleranz für Abweichungen vom jeweiligen Standardlatein der hohen Literatur, der Rhetorenschulen und der Grammatiker. Das betrifft Vulgarismen und Besonderheiten aus dem Sprachgebrauch der Bibelübersetzungen. Die christlichen Autoren sind sich dieser Besonderheit ihrer Sprache durchaus bewusst: So ist eine gewisse Differenzierung zwischen Schriften für ein christliches und ein paganes Publikum erkennbar. 6 Auch konzedieren sie immer wieder die mangelnde Attraktivität der biblischen Sprache für pagane Leser. 7 Aus diesen Besonderheiten, die die Sprache der christlichen lateinischen Texte der Antike aufweisen, ergeben sich nun auch besondere spezifische Anforderungen bei deren Übersetzung. In einem ersten Abschnitt werden wir uns mit Fragen der Terminologie beschäftigen, die sich bei der Wiedergabe einzelner Ausdrücke stellen. In einem zweiten Abschnitt soll es um die besonderen übersetzerischen Anforderungen gehen, die durch die enorme Bedeutung der Bibel und die Bezugnahmen auf sie entstehen. Am Ende stehen zusammenfassende Überlegungen. 1 Terminologie Wie bereits angedeutet, entwickelt das Christentum, als es sich im zweiten Jahrhundert auch im lateinischsprachigen Westen ausbreitet und biblische Texte ins Lateinische übersetzt, eine spezifische Terminologie. Damit werden Glaubensaussagen oder Einrichtungen und Praktiken des liturgischen und kirchlichen Lebens beschrieben. Dabei gibt es natürlich einfache Fälle, in denen sich früh ein fester Begriff herausbildet und beibehalten wird: So prägen die Christen noch im zweiten Jahrhundert (ab Tert. nat. 1,7,29, damit vor 197) als Lehnübersetzung zum griechischen Wort ἀνάστασις den Ausdruck resurrectio für 6 Thematisiert beispielsweise bei Lact. inst. 5,1,9: Nam si lucrari hos a morte, ad quam concitatissime tendunt, non potuerimus, si ab illo itinere devio ad vitam lucemque revocare, quoniam ipsi saluti suae repugnant, nostros tamen confirmabimus, quorum non est stabilis ac solidis radicibus fundata et fixa sententia. 7 So etwa Arnob. nat. 1,59; Lact. inst. 5,4,4. Aug. conf. 1,20 beschreibt seine Faszination von der Schönheit der Sprache als Irrweg, in doctr. 2,14,22 schildert er das Umgekehrte: Christen stoßen sich am Klassischen Latein; Kaster 1988, 70-95. <?page no="204"?> 204 Stefan Freund die Auferstehung. Was damit gemeint ist, nämlich die österliche Auferstehung Christi und dann die aller Verstorbenen, wie das Christentum sie lehrt, steht fest. Das Wort ist insofern auch für ein nichtchristliches lateinisches Publikum eindeutig, als diese Substantivierung zum (dichterisch und nachklassisch) gebräuchlichen Verb resurgere (‚wieder aufstehen‘) vorchristlich anscheinend ungebräuchlich, jedenfalls nicht belegt, aber andererseits semantisch (‚ein Akt des Wiederaufstehens‘) für jeden Sprecher nachvollziehbar ist. Die Übersetzung mit dem auch im Deutschen klar christlich denotierten Terminus ‚Auferstehung‘ ist daher unproblematisch und angemessen. So könnte zunächst der Eindruck entstehen, dass sich die meisten terminologischen Übersetzungsprobleme einfach durch die Nutzung entsprechender Spezialwörterbücher 8 lösen lassen. Oft ist die Lage aber etwas komplizierter. Ich will dafür zunächst einige prominente Beispiele vorstellen, ehe ich eine Systematisierung der Schwierigkeiten versuche. Zunächst das Wort ecclesia: Hier verwenden die Christen das latinisierte griechische Fremdwort und keine Lehnübersetzung. Der Ausdruck erscheint freilich sehr vereinzelt auch in nicht-christlichem Kontext, einmal bei Plinius, dann in Inschriften, in der Bedeutung des griechischen Ausgangswortes ἐκκλησία (‚Volksversammlung‘), dann übernehmen ihn die Christen im Sinn von ‚Kirche‘. Das deutsche Wort erweist sich als grundsätzlich passendes Äquivalent, allerdings mit zwei Problemen: Erstens liegt die Sinnrichtung ‚Kirchengebäude‘ 9 beim antiken christlichen ecclesia deutlich ferner, als dies beim deutschen Wort der Fall ist, 10 zweitens geht die Wahrnehmung einer nichtchristlichen Denotation (‚Volksversammlung‘) verloren. Auch beim Wort arca, das das von Noah vor der Sintflut gebaute Schwimmfahrzeug bezeichnen kann und unserem Wort Arche zugrunde liegt, verengt, wenn man die hoch spezifische Übersetzung ‚Arche‘ verwendet, das lateinische Bedeutungsspektrum. Denn das Wort arca bezeichnet dort einen ‚Kasten‘ oder eine ‚Kiste‘ (auch zur Aufbewahrung von Wertsachen) oder auch einen ‚Sarg‘, 11 die Bedeutung ‚Arche‘ erlangt das Wort als Lehnübersetzung des griechischen κιβωτός (‚Kasten‘, ,Kiste‘), 12 das die Septuaginta für Noahs Bau verwendet. 13 Der lateinische Ausdruck arca hat somit eine klar deskriptive Komponente und 8 So insbesondere Blaise 1954; eine Reihe anderer Spezialwörterbücher greifen ins Mittelalter aus und decken das Kirchenlatein ab, so etwa Sleumer 1926; Blaise 1975; Stelton 1994; Hergemöller 2011. 9 ThLL V,2 37,80-39,25. 10 So weist der Thesaurus Linguae Latinae eigens eine Reihe von Belegen aus, die gerade nicht so zu verstehen sind (V,2 38,2-5). 11 ThLL II 431,54-433,72, dort auch zu weiteren möglichen Bedeutungen wie ‚Zelle‘. 12 ThLL II 433,73-434,4. 13 Es handelt sich wiederum um eine Lehnübersetzung für das in Gen 6,14 verwendete הבַ ֵ תּ (t e bah) ‚Kasten‘, vgl. Karrer/ Kraus 2011, 169. <?page no="205"?> Ist Noahs Arche eine Kiste? 205 regt durch seine Konnotationen als ‚Ort sicherer Verwahrung‘ oder ‚Sarg‘ bestimmte Deutungen an. Wenn beispielsweise in der christlichen Ikonographie der Spätantike die Arche als Kasten auf Sarkophagen dargestellt und damit die Bewahrung der Seele durch das Meer des Todes symbolisiert wird, 14 passt das alles schlüssig zur Semantik des lateinischen arca, liegt aber dem beinahe eigennamenartig gebrauchten deutschen ‚Arche‘, das auch mit der Gestalt eines Schiffes assoziiert wird, fern. Schließlich ist arca auch das Wort, das im christlichen Latein für die Bundeslade des Alten Testamens verwendet wird - ein Vergleich zwischen der Bundeslade und Arche, wie ihn Ambrosius in seiner exegetisch-paränetischen Schrift De Noe anstellt, liegt also im Lateinischen nahe, in der reinen Übersetzung ist die Gegenüberstellung der beiden arcae kaum verständlich. 15 Das Wort episcopus übernimmt das christliche Latein aus dem griechischen ἐπίσκοπος (‚Aufseher‘), in nicht-christlichem Zusammenhang ist es nahezu ungebräuchlich. 16 Meist entspricht es dem deutschen ‚Bischof‘, ohne dass damit freilich eine institutionelle Ausprägung des Amtes im heutigen Sinn impliziert oder episcopus auf das deutsche ‚Bischof‘ terminologisch festgelegt wäre. 17 Umgekehrt steht für diese Funktion neben einigen anderen Ausdrücken auch das Wort antistes (‚Vorsteher‘) zur Verfügung, das auch im nicht-christlichen Kult gebraucht wird. 18 Ebenso verhält es sich mit den Worten für ‚Priester‘: Spezifisch christlich ist presbyter. Das Wort kann freilich auch entsprechend seiner Herkunft vom griechischen πϱεσβύτεϱος (‚der Ältere‘) allgemein Würdenträger bezeichnen, 19 aber auch speziell ‚Priester‘ 20 . Freilich kann auch für den christlichen ‚Priester‘ das pagan-kultische Wort sacerdos verwendet werden. 21 Hier gäbe freilich ein deutsches ,Priester‘ - wie bei ‚Bischof‘ für antistes - die Tatsache nicht wieder, dass der Autor das einem paganen Verstehen offenstehende statt des spezifisch christlichen Wortes gewählt hat. Und griffe man zu Lösungen wie ‚Vorsteher‘ für antistes und ‚Kultpriester‘ für sacerdos, um das pagane 14 Hohl 1968, 178. 15 Ambr. Noe 6,15: Ob hanc causam intus et foris bitumine arca constringitur, ne conexio illa facile rumpatur. alibi autem, hoc est in Exodo etiam deauratur intus et foris arca illa, quae in sanctis est mundi intellegibilis imitatrix imago. sicut enim pretiosius aurum bitumine ita illa quae in sanctis est arca quam ista praestantior. 16 ThLL V,2 676,67-72 zu den nicht-christlichen bzw. nicht-jüdischen Belegen. 17 ThLL V,2 677,7-678,68 mit Beispielen auch für andere Verwendungsweise; Beier/ Karpp 1954, 394-407; Vogt 1982, 221-236. 18 Cypr. laps. 22. 19 ThLL X,2 1187,50-1188,49. 20 ThLL X,2 1188,61-1189,24. 21 Belege Blaise 1954, s.v. <?page no="206"?> 206 Stefan Freund Element auszudrücken, träte die christliche Komponente allzu sehr zurück. Die Breite der Konnotation geht also verloren. Umgekehrt erzwingt manchmal auch das Deutsche eine Entscheidung zwischen einer christlich konnotierten und einer nicht-christlich konnotierten Übersetzung, und zwar auch dort, wo im Latein der Christen der vorchristliche Sprachgebrauch in spezifizierter Bedeutung fortlebt, etwa bei inferi, wo die dezidiert christliche ‚Hölle‘ neben der paganen ‚Unterwelt‘ zur Wahl steht, oder bei beatus, wo das spezifisch christliche ‚selig‘, das neutrale ‚glücklich‘ oder etwa das philosophisch-terminologische ‚glückselig‘ (im Sinn von εὐδαίμων) in Frage kommt. Die Ambivalenz jedenfalls ist schwer zu wahren. Die letzten beiden Beispiele seien schließlich ausgehend vom Deutschen gewählt, nämlich ‚Bibel‘ und ‚Sakrament‘. Beide erscheinen zunächst unproblematisch: Sie sind im Deutschen verständlich und üblich und, abgesehen von (freilich wiederum beschreibbaren) Unterschieden in der Auffassung der christlichen Konfessionen, eindeutig christlich definiert. Und beide gehen auf das christliche Latein zurück, nämlich auf die Ausdrücke biblia und sacramentum. Zunächst also zur ‚Bibel‘: Das Wort biblia (als Neutrum im Plural oder dann das Femininum im Singular) ist im antiken Latein ungebräuchlich 22 und verbreitet sich erst im Hochmittelalter 23 . Der von Anfang an übliche Ausdruck ist, als Lehnübersetzung zu γραφή (‚Schrift‘), das Wort scriptura, auch im Plural scripturae verwendet. 24 In nicht-christlichem Kontext ist das Wort zwar seit Plautus gebräuchlich, bezeichnet aber den Akt oder die Art des Schreibens oder eine konkrete Verschriftlichung von etwas 25 - der Gedanke an ein geschlossenes, komponiertes oder irgendwie literarisches Werk liegt jedenfalls fern. Zum Wort scriptura treten häufig die Adjektive sancta oder divina scriptura (also ‚heilige‘ oder ‚göttliche Schrift‘); selten bleibt hingegen zunächst das uns vertraut klingende sacra scriptura. 26 Ein weiterer möglicher Ausdruck für die Bibel ist litterae. Das Wort entspricht einerseits der nicht-christlichen Diktion für Schriftwerke in Buchgestalt, 27 kann aber zugleich als Lehnübersetzung des biblischen γράμματα gelten. 28 Zu litterae treten häufig Adjektive (divinae, sanctae, sacrae, christianae, nostrae) oder Genitivattribute (dei oder fidei). Nehmen wir als Beispiel divinae litterae (‚göttliche Schriften‘): Der erste christliche Autor 22 Es gibt weder im Thesaurus Linguae Latinae noch im Spezialwörterbuch von Blaise zum antiken christlichen Latein ein entsprechendes Lemma. 23 Hergemöller (s.v.) datiert die Verwendung des Begriffs ins 12. Jh. 24 Vgl. Braun 1977, 455-458. 25 OLD s.v. 26 Braun, 456 f.; zu sacra scriptura etwa Novatian. trin. 29 lin. 98; Lact. inst. 7,14,7. Tertullian und Cyprian verwenden die Junktur nicht. 27 ThLL VII,2 1522,69-1523,41. 28 ThLL VII,2 1519,63-1520,81. <?page no="207"?> Ist Noahs Arche eine Kiste? 207 Tertullian verwendet den vorchristlich nicht belegten Ausdruck einige Male, aber ausschließlich in apologetischen Werken, also an ein nicht-christliches Publikum gewandt. 29 Cyprian, der für das christliche Latein so prägende Bischof von Karthago, meidet den Ausdruck, andere Autoren seiner Zeit hingegen verwenden ihn durchaus in innerchristlichem Kontext (so etwa Cyprians Biograph Pontius, sein Diakon). 30 In den wiederum apologetischen, aber auch im klaren Bewusstsein einer christlichen Leserschaft abgefassten Divinae institutiones ist divinae litterae für Laktanz sogar der geläufigste Ausdruck für die Bibel. 31 Und während Augustinus die Junktur an mehreren Stellen (anscheinend aus rhetorischen Erwägungen) 32 als mögliches Synonym für die Bibel verwendet, kommt sie bei Hieronymus und Ambrosius gar nicht vor. Hinzu kommen viele weitere mögliche Formulierungen, die letztlich die Bibel meinen. 33 Ergänzend erwähnt sei nur noch der Ausdruck prophetae (‚die Propheten‘), der manchmal metonymisch für das Alte Testament insgesamt stehen kann. 34 - Was heißt das nun für die Übersetzung? Zunächst wird man grundsätzlich bei den soeben genannten Ausdrücken stets auch die Wiedergabe mit ‚Bibel‘ (statt wörtlich ‚göttliche Schrift‘ usw.) erwägen müssen, da sie für den Adressaten der Übersetzung terminologische Klarheit herstellt. Dabei ist freilich der Sprachgebrauch des Autors zu berücksichtigen: Tertullian verwendet in den apologetischen Schriften offensichtlich bewusst den Ausdruck divinae litterae, der an pagane Diktion anknüpft (etwa ‚göttliche Schriften‘). Wo sich diese Differenzierung nicht zeigt (etwa bei Novatian oder Augustinus), kann die Übersetzung näher an christlicher Diktion bleiben (‚Schrift Gottes‘, auch: ‚Bibel‘). Auch wo metonymisch von prophetae die Rede ist, empfiehlt sich eine Klärung (‚Schriften des Alten des Testaments‘ oder ‚der Bibel‘), da die Synekdoche ‚die Propheten‘ hier kaum verständlich bleibt. Auf das letzte Beispiel, den Begriff ‚Sakrament‘ und sein Pendant sacramentum, will ich nur kurz eingehen, eine Stelle genügt. In seiner Schrift De baptismo (‚Über die Taufe‘) skizziert Tertullian die Heilsereignisse im Alten Testament, die die Taufe vorweg andeuten, so etwa die Rettung durch das Rote Meer. Dann 29 Tert. nat. 2,12,34; apol. 19,7; 39,3; 46,1; 47,1. 30 Pont. vita Cypr. 13, 4: Nam, ut manifestius dicam, eo die post exactum annum coronatus est, quo hoc illi ante annum fuerat ostensum; diem autem Domini etsi non annum in divinis litteris legimus, promissioni tamen futurorum debitum illud tempus adcipimus. Novatian. spect. 2,3: Cur ergo homini christiano fideli non liceat spectare quod licuit divinis litteris scribere? 3,4: Ita etiamsi tacentur, dum <non> divinis litteris scripta sunt, et praeceptorum loco severitas loquitur et ratio docet quae scriptura conticuit. 31 Freund 2009, 320. 32 Aug. epist. 93,3; 185,1; doctr. praef. 1; civ. 21,5 etc. 33 Weiteres Braun 1977, 460-462; Michaelides 1970. 34 ThLL X,2 1994,22-52. <?page no="208"?> 208 Stefan Freund schreibt er (bapt. 9): Quae figura manifestior in baptismi sacramento? Die Übersetzung von Heinrich Kellner aus dem Jahr 1912 in der ‚Bibliothek der Kirchenväter‘ gibt dies wieder mit: „Welches Vorbild wäre im Sakramente der Taufe klarer enthalten als dieses? “. Freilich beschwört der Terminus ‚Sakrament‘ in der Gefahr eines anachronistischen Verständnisses herauf: Der Begriff sacramentum (nicht-christlich: ‚Fahneneid‘ oder ‚Kaution‘ oder ‚Geheimnis‘ - also ein Mittel, etwas heilig zu halten) ist eine mögliche Wiedergabe des griechischen μυστήριον, daneben stehen dessen Latinisierung mysterium und die alternative Übersetzung arcanum (‚Geheimnis‘). Der Begriff bezeichnet in einer zur Zeit des Tertullian noch durchaus diffusen Weise einen Kernbestand der christlichen Offenbarungsbotschaft. 35 Hier geht es also nicht um eines von zwei oder sieben Sakramenten im modernen Sinn, sondern um ein ‚Heilsgeheimnis‘, das der Taufe innewohnt. Bis hierher die Reihe der Beispiele - diese seien noch einmal kurz wiederholt: Es ging um die Wiedergabe von resurrectio mit ‚Auferstehung‘, von ecclesia mit ‚Kirche‘, von arca mit ‚Arche‘, von episcopus und antistes mit ‚Bischof‘, von presbyter und sacerdos mit ‚Priester‘, von inferi mit ‚Hölle‘ oder ‚Unterwelt‘, von beatus mit ‚selig‘, ‚glücklich‘ oder ‚glückselig‘, von scriptura, divinae litterae und anderen Ausdrücken mit ‚Bibel‘ und schließlich von sacramentum mit ‚Sakrament‘. Die Probleme liegen dabei teilweise in der denotativen Äquivalenz. Bei der Wiedergabe ‚Arche‘ für lateinisch arca verengt sich die Bedeutung, und die möglichen Denotationen ‚Kasten‘ und ‚Sarg‘ gehen verloren, ebenso bei ‚Kirche‘ für ecclesia, wo dann die ‚Volksversammlung‘ verschwindet. Bei den meisten Beispielen aber beschränkt sich das Problem nicht auf die denotative Dimension, also etwa darauf, dass es in der Zielsprache nur einen Begriff für viele (also zum Beispiel nur ‚Priester‘ für presbyter und sacerdos) oder mehrere Begriffe für einen (also zum Beispiel für ‚Unterwelt‘ und ‚Hölle‘ für inferi) gäbe. 36 Je nach Relevanz im Kontext wird eine Übersetzung daher versuchen müssen, den denotativen Informationsverlust, der bei der Übersetzung in die Zielsprache auftritt, auszugleichen. Weitere Schwierigkeiten liegen in der Konnotation: Werner Koller benennt in seiner ‚Einführung in die Übersetzungswissenschaft‘ acht Arten von Konnotationen, die in der Übersetzung verloren zu gehen drohen, wenn sie nicht in geeigneter Weise bewahrt werden. Im Einzelnen handelt es sich um die Konnotationen der Stilschicht (z. B. gehoben oder vulgär), des sozialen Sprachgebrauchs (z. B. schicht- oder gruppenspezifisch), der geographischen Zuordnung (z. B. Dialekte), des Mediums (z. B. geschrieben oder gesprochen), der stilistischen 35 Neri 2011, 285-304; Hensels 2003, 61-82. 36 Zum Konzept Koller 1979, 230-243. <?page no="209"?> Ist Noahs Arche eine Kiste? 209 Wirkung (z. B. veraltet oder modisch), der Frequenz (geläufig oder selten), des Anwendungsbereichs (z. B. Fachsprache oder Allgemeinsprache) und der Bewertung (z. B. positiv, negativ oder ironisch). 37 In Anknüpfung an diese Reihe wird man bei den christlichen lateinischen Texten die Konnotationen des religiösen Sprachregisters berücksichtigen müssen: Wählt der Autor den spezifisch christlichen Begriff (presbyter, episcopus, scriptura) oder denjenigen, der an die Traditionen nicht-christlicher Religiosität anknüpft (sacerdos, antistes, divinae litterae)? Dabei ist nicht primär die Perspektive des Verfassers, sondern auch die des intendierten Publikums von Bedeutung: Die christlichen Autoren nehmen, wie sich beim Blick auf das Wortfeld ‚Bibel‘ gezeigt hat, Rücksicht auf die Assoziationen ihrer paganen und christlichen Leser und wählen teilweise gezielt zwischen spezifisch christlichen Termini und solchen, die auch für ein nichtchristliches Verständnis offen sind, aber im Kontext eine spezifische Deutung erfahren. So scheint der Ausdruck divinae litterae für die Bibel einigen Autoren besonders offen für einen paganen Zugang, einige verwenden sie ihn gezielt in apologetischen Schriften oder meiden ihn, andere benutzen ihn synonym neben anderen Termini. Man müsste daher postulieren, dass eine Übersetzung zumindest dann den Assoziationshintergrund eines christlichen oder nicht-christlichen Lesers berücksichtigen solle, wenn der Autor es tut. Ein letztes Problem, das Denotation und Konnotation gleichermaßen betrifft, liegt in der zeitlichen Distanz: Wer die Übersetzung christlicher lateinischer Texte in eine moderne Zielsprache nutzt, wird Begriffe wie ‚Kirche‘, ‚Priester‘, ‚Bischof‘, ‚Bibel‘ oder ‚Sakrament‘ so verstehen, wie sie sich in der Geschichte des Christentums bis in die Gegenwart herausgebildet haben - das kann Anachronismen bei den Denotationen und Konnotationen hervorrufen. Diese Gefahr besteht grundsätzlich bei Übersetzungen antiker Texte, wird aber durch die institutionelle und dogmatische Kontinuität des Christentums vergrößert: Dass ein römischer Konsul etwas anderes ist als der diplomatische Vertreter, den wir heute so bezeichnen, ist jedem Leser klar. Dass aber ein sacramentum in einem christlichen Text des dritten Jahrhunderts eher ein ‚Heilsgeheimnis‘ als eines von zwei oder sieben klar in einem Katechismus definierten Sakramenten ist, muss eine Übersetzung unter Umständen erst vor Augen führen. 2 Die Bibel als Referenztext Bislang haben wir uns auf einzelne Wörter, also auf terminologische Fragen konzentriert. Nun soll es um die sprachliche Gestaltung ganzer Passagen gehen. Ansetzen müssen wir bei einem naheliegenden Gedanken: Die Bibel, und 37 Dazu ebd. 245-240. <?page no="210"?> 210 Stefan Freund zwar in Gestalt ihrer lateinischen Übersetzungen, stellt den entscheidenden Referenztext für die christlichen Autoren dar. Daraus ergeben sich zwei spezifische Problemkreise für die Wiedergabe christlicher lateinischer Texte in einer modernen Zielsprache. a) Stilistische Brüche Wie eingangs bereits angedeutet, gehören die Autoren der christlichen lateinischen Literatur ganz überwiegend zur Bildungselite, daher beherrschen und benutzen sie die gehobene Standardbeziehungsweise die Literatursprache ihrer Zeit. Bei wörtlichen Zitaten aus lateinischen Bibelübersetzungen, die durch Vulgarismen, Gräzismen und Semitismen klar vom Standardlatein abweichen, entstehen somit Brüche. Das stilistisch sensible Publikum der Antike muss diese deutlich wahrgenommen haben. Als Beispiel sei verwiesen auf einen Passus in den Divinae institutiones des Laktanz, in denen der Autor die in der Bibel immer wieder belegte Ablehnung der Propheten durch das jüdische Volk darstellt. Die Einleitung lautet so (4,11,3f.): Illi autem a prophetis increpiti non modo verba eorum respuerunt, sed quod sibi peccata exprobrarentur offensi eos ipsos exquisitis cruciatibus necaverunt. quae omnia divinae litterae signata conservant. dicit enim propheta Hieremias: Wenn jene aber (gemeint ist das jüdische Volk) von den Propheten getadelt wurden, schlugen sie nicht nur deren Worte in den Wind, sondern aus Empörung darüber, dass man ihnen ihre Verfehlungen vorhalte, töten sie auch diese selbst unter ausgesuchten Martern. All dies beurkunden die heiligen Schriften. Denn der Prophet Jeremia sagt […]. Das ist, wie im ganzen Werk überhaupt, bestes klassizistisches Latein in der Tradition Ciceros. Dieser Sprachstil ändert sich im folgenden Zitat ( Jeremia 25,4) signifikant. Dessen Text lautet (4,11,4): Misi ad vos servos meos prophetas. Ante lucem mittebam, et non audiebatis me neque intendebatis auribus vestris, cum dicerem vobis: convertantur unus quisque a via sua mala et a nequissimis adfectationibus vestris, et habitabitis in terra ista, quam dedi vobis et patribus vestris a saeculo usque in saeculum. Vor einer Übersetzung ist auf drei sprachliche Phänomene hinzuweisen: Dieser intransitive Gebrauch von intendere (in der Formulierung neque intendebatis auribus vestris) ist im Lateinischen nur als Biblizismus belegt 38 und ein klarer Verstoß gegen die Sprachrichtigkeit. Auch ein Plural zu adfectatio (das Streben) 38 ThLL VI,1 2114,1f., 2117,39f.60. <?page no="211"?> Ist Noahs Arche eine Kiste? 211 wird an sich nicht gebildet. 39 Und die Wendung a saeculo usque in saeculum ist aus der lateinischen Sprach- und Literaturtradition heraus nicht verständlich. Eine in dieser Hinsicht wirkungsadäquate Übersetzung könnte daher vielleicht lauten: Ich habe zu euch meine Propheten als Diener gesandt. Vor dem Tag sandte ich sie, und ihr hörtet mich nicht und ihr konzentriertet nicht mit euren Ohren, als ich euch sagte: Sie sollen sich ein jeder einzelner von seinem schlechten Weg bekehren und von euren höchst liederlichen Streben, und ihr werdet in diesem Land wohnen, das ich euch und euren Vätern gegeben haben von der Zeit bis in die Zeit. Kurz darauf (inst. 4,11,8) gibt der Christ eine Passage aus dem Propheten Maleachi (1,10f.) wieder. Sie lautet: Non est mihi voluntas circa vos, dicit dominus, et sacrificium acceptum non habebo ex manibus vestris, quoniam a solis ortu usque in occasum clarificabitur nomen meum apud gentes. Sowohl der Ausdruck non est mihi voluntas circa 40 als auch das Verb clarificare 41 sind nicht aus dem lateinischen Sprachgebrauch zu rechtfertigen, sondern allein aus der Übertragung aus dem Hebräischen und dann dem Griechischen. Hier könnte eine Übersetzung lauten: Ich habe keinen Willen rings um euch, spricht der Herr, und ein Opfer werde ich nicht als angenommenes halten aus euren Händen, da ja vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang mein Name bei den Völkern klargemacht werden wird. Diese natürlich überzeichneten Beispiele zeigen die Aporie des Übersetzers angesichts dieser Brüche: Entweder der Text ist rätselhaft und kaum flüssig lesbar, oder es geht etwas verloren, was für den antiken Leser manifest ist und dem modernen Leser das Ringen der rhetorisch geschulten antiken christlichen Autoren mit der biblischen Sprache veranschaulichen könnte. b) Anspielungen und doppelte Lesbarkeit Die Übersetzungswissenschaft hat intertextuelle Bezugnahmen, die für den Leser in der Zielsprache genauso erkennbar sein sollen wie von den in der Ausgangssprache, bereits als Problem beschrieben. 42 Eine besondere Herausforderung innerhalb der christlichen lateinischen Literatur stellen freilich Texte 39 ThLL I 1175,78f. 40 ThLL III 1091,55-1092,78. 41 Das Wort kommt offenbar durch die Vetus Latina ins Lateinische, vgl. ThLL III 1266,22f. 42 Koller 1979, 296. <?page no="212"?> 212 Stefan Freund mit doppelter Lesbarkeit dar. Damit gemeint sind solche Passagen, die für den nicht-christlichen Leser aus sich heraus klar verständlich sind, denen der christliche Leser aber einen - in der Regel durch versteckte Referenzen auf biblische Texte oder theologische Aussagen - tieferen Sinn abgewinnen kann. Ich will mich auf ein Beispiel hierfür beschränken. In seiner klassizistischen Elegie De ave Phoenice schildert Laktanz den bekannten Mythos des Vogels, der stirbt, verbrennt und aus seiner Asche neu entsteht. Das Werk ist nicht offen christlich, sondern erweist sich vor allem durch Andeutungen als poetische Darstellung des christlichen Auferstehungsglaubens. 43 Den Tod des Phoenix, der sich, als er sein Ende hatte nahen sehen, auf duftende Kräuter gebettet hat, schildert der Autor in folgendem Vers (93): Tunc inter varios animam commendat odores. Der nicht-christliche antike Leser wird in animam commendare hier einen periphrastisch-euphemistischen Ausdruck für Sterben erkennen, der freilich in dieser Form nicht geläufig ist. Dieses Verständnis könnte man erreichen durch eine Übersetzung wie: Dann übergibt er seine Seele zwischen den mannigfachen Düften. Dem christlichen Leser hingegen eröffnet sich eine Anspielung auf die letzten Worte Christi am Kreuz nach dem Lukasevangelium (23,46): „In deine Hände empfehle ich meinen Geist.“ Ambrosius (spirit. 2,6,56) zitiert den Vetus Latina- Wortlaut in manus tuas commendo spiritum meum und erläutert, dass spiritus hier im Sinn von anima verwendet sei. Die lukanischen Sterbeworte (εἰς χεῖράς σου παρατίθεμαι τὸ πνεῦμά μου) gehen auf einen Psalmenvers (30,6 LXX: εἰς χεῖράς σου παραθήσομαι τὸ πνεῦμά μου) zurück, erscheinen in ähnlicher Form im ersten Petrusbrief 44 und werden später in christlichem Kontext mehrfach aufgegriffen, 45 sowohl mit spiritum als auch mit anima, sie stehen also in einer (wenn auch für das Lateinische erst später breiter belegten) Tradition biblischchristlicher Sprache. Für den christlichen Leser bietet dieser Wortgebrauch ein zusätzliches Indiz dafür, dass durch den Vogel Phoenix die Gestalt Christi hindurchschimmern soll. Um dieses Verständnis anzudeuten oder gar hervorzu- 43 Dazu etwa Wlosok 1990, 250-278. 44 1 Petr 4,19: παρατιθέσθωσαν τὰς ψυχὰς αὐτῶν ἐν ἀγαθοποιΐᾳ, Vulg. commendent animas suas in benefactis. 45 Carm. epigr. 703,7: commendans sanctis animam corpusque fovendum; 777,2: martyribus domini animam corpusque tuendi gratia commendans tumulo requiescit in isto Silvius; Sort. Sangall. 7,9: fac testamentum ita, ut pauperibus dimittas et animam tuam deo commendes; Inscr. christ. Hisp. 2 [a. 632]: dignum deo in pace commendavit spiritum. Pallad. hist. mon. I. 2 p. 260D: spiritum suum deo commendarat. <?page no="213"?> Ist Noahs Arche eine Kiste? 213 rufen, könnte sich die Übersetzung an bekannten Bibelübersetzungen für Jesu Sterbeworte (Luther 1984: „ich befehle meinen Geist in deine Hände“, Einheitsübersetzung: „in deine Hände lege ich meinen Geist“) orientieren: Dann, zwischen mannigfachen Düften, befahl er seinen Geist. Die doppelte Lesbarkeit aber ist damit nicht gut berücksichtigt. Zudem stellt sich die Frage, ob allein dieser Wortlaut verlässlich genügt, um beim modernen Leser der Übersetzung die entsprechende Bibelstelle zu evozieren. 3 Einige Folgerungen für das Übersetzen christlicher lateinischer Texte Als Ergebnis wird man festhalten, dass nicht nur das Übersetzen insgesamt, sondern auch das Übersetzen christlicher lateinischer Literatur unbedingt weiterer wissenschaftlicher Reflexion bedarf. Mit Beispielen angereicherte praktische Handreichungen, wie sie etwa für die Reihe „Fontes Christiani“ vorliegen, 46 sind gewiss hilfreich. - Den oben skizzierten Problemen wird man so aber nicht 46 https: / / www.mueze.uni-muenchen.de/ fontes_christiani/ richtlinien/ richtlinien.pdf [Abrufdatum: 25.11.18]: „Der fremdsprachige Text soll in gut lesbares Deutsch übersetzt werden (keine groben Vereinfachungen oder Paraphrasen, die mit der fremden Textstruktur nichts mehr gemein haben). Textnähe und Präzision dürfen dabei nicht verlorengehen. Auf eine treffende Wortwahl ist stets zu achten (z. B. wäre ,Kopierer‘ für ,antiquarius‘ anstelle von ,Kopist‘ mißverständlich). Freiere Übersetzungen sind stets möglich, sofern sie den vorgegebenen Text treffend wiedergeben und nicht zu Mißverständnissen führen (etwa durch Transponderation: z. B. ,beata perennitas‘ übersetzt mit ,ewige Seligkeit‘ oder vollere Wendungen: z. B. ,opinari‘ im Sinne von ,sich ein Wissen einbilden‘). Ein wichtiger Aspekt ist die Konkordanz der Übersetzung, d. h. daß gleiche Begriffe auch semantisch gleich übersetzt werden. Die Beachtung einer konkordanten Übersetzung ermöglicht dem Leser eine bessere Orientierung und erleichtert die Kontrolle der Übersetzung. Natürlich kann dieses Prinzip nicht immer durchgehalten werden (bitte keine sklavische Verwendung), vor allem dann nicht, wenn bestimmte gleichlautende Worte in verschiedenen Bedeutungen im Text vorkommen (z. B. ,missa‘ sowohl in der Bedeutung ,Entlassung‘ als auch ,Messe‘). Gibt der fremdsprachige Text eine bildhafte Sprache vor, so kann diese beibehalten und erläutert werden (z. B. ,discerpere‘ [,zerfetzen‘] und ,dilaniare‘ [,zerreißen‘] für ,beißende Kritik‘, vgl. FC 9, 87 Anm. 13). Liegt im Originaltext eine längere Periode vor, die bei einer wörtlichen Übersetzung im Deutschen unüberschaubar und unverständlich würde, so soll diese in einzelne überschaubare und verständliche Sätze aufgelöst werden. Dabei ist darauf zu achten, daß die vorgegebenen logischen Verhältnisse richtig wiedergegeben werden (vgl. z. B. FC 9, 130 f. die Übersetzung von ,Eorundem‘ bis ,omnibus‘). Bei der Suche nach möglichen Fehlern sollte das Manuskript besonders auf Auslassungen hin geprüft werden, die gerade bei längeren schriftlichen Übersetzungen bei fast jedem Übersetzer vorkommen (z. B. infolge von Ermüdung oder Konzentrationsschwierigkeiten). Bibelzitate sind ebenso wie andere Zitate aus fremdsprachigen Texten grundsätzlich neu zu übertragen.“ <?page no="214"?> 214 Stefan Freund zu Leibe rücken können. Sie müssten zunächst noch viel ausgeprägter und systematischer entfaltet werden, als dies hier geschehen ist, und zwar sowohl auf der Basis einer gründlichen Erfassung der Eigenheiten der christlichen lateinischen Sprache (und der spezifischen Befunde für den jeweiligen Autor) als auch auf der Basis translationswissenschaftlicher Erkenntnisse. Was hier als Herausforderungen benannt wurde, nämlich die erst erfolgende Ausprägung einer christlichen Terminologie, die zu einem Nebeneinander von paganer und christlicher Denotation und Konnotation im Lateinischen führt, die biblische Intertextualität verbunden mit stilistischen Brüchen und die doppelte Lesbarkeit bestimmter Texte, wird dabei gewiss zu berücksichtigen und die Reihe zu ergänzen sein. Nicht alle der geschilderten Probleme wird man durch eine treffende Übersetzung lösen können, stets wird die Nutzung paratextueller Elemente (Klammeranmerkungen und Fußnoten, graphische Hervorhebung von Zitaten usw.) zu erwägen sein, wenn nicht die Übersetzung sowieso einen Kommentar ergänzt. Um die stilistischen Brüche, die, wie gezeigt, durch Bibelzitate entstehen können, aber auch Phänomene doppelter Lesbarkeit exemplarisch zu verdeutlichen, könnte man auch parallel dargebotene Übersetzungsvarianten zu bestimmte Stellen erwägen - suo loco oder in einer Einleitung. Auch stellt sich für Übersetzungen christlicher lateinischer Texte die Frage nach dem Zielpublikum und dem Sitz im Leben der Übersetzung. Hier könnte man an zwei Grundmodelle denken: • Eine dokumentarische Übersetzung mit gegenübergestelltem Originaltext und paratextuellem Material (Einleitung, Kommentar oder Anmerkungen) erschließt einem an bestimmten historischen, exegetischen, theologischen, philosophischen oder philologischen Fragen interessierten Leser den Text. Für diese Form kommen grundsätzlich alle Texte der christlichen lateinischen Literatur in Frage, auch sehr speziell ausgerichtete exegetische oder paränetische. • Eine wirkungsäquivalente Übersetzung ermöglicht dem an den theologischphilosophischen Fragen, die der Text behandelt, interessierten Leser, diesen unmittelbar und in flüssiger Lektüre des Gesamtzusammenhangs zu rezipieren. Eine Beigabe des Originaltextes ist nicht nötig, die Übersetzung darf Erläuterungen, die dem modernen Leser die Lektüre erleichtern, integrieren. Hierfür kommen vor allem Texte infrage, für die auch heute ein unmittelbares inhaltliches, literarisches, geistesgeschichtliches oder spirituelles Interesse anzunehmen ist. Doch auch hier wird der Übersetzer oder die Übersetzerin individuelle Antworten finden müssen. <?page no="215"?> Ist Noahs Arche eine Kiste? 215 Literaturverzeichnis Beier, Hermann W./ Karpp Heinrich (1954), Bischof, in: Reallexikon für Antike und Christentum 2, 394-407. Blaise, Albert (1954), Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiens, Turnhout. — (1955) Manuel du latin chrétien, Turnhout [englische Übersetzung: (1994) A handbook of Christian Latin: Style, Morphology, and Syntax, Georgetown]. — (1975) Lexicon latinitatis medii aevi praesertim ad res ecclesiasticas investigandas pertinens. Dictionnaire latin-français des auteurs du moyen-âge, Turnhout. Braun, René ( 2 1977), Deus Christianorum. Recherches sur le vocabulaire doctrinal de Tertullien, Paris, 455-458. 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In diesem Zusammenhang muss die Frage diskutiert werden, welchen Einfluss die bisher gängige Form der Leistungsbeurteilung im Lateinunterricht auf die Übersetzungen von Lernenden ausübt. Schließlich ist die Frage zu behandeln, ob das Übersetzen wirklich einen Beitrag zum „kulturellen Transfer“ leisten kann. „Gesagtes“ und „Gemeintes“ verstehen und übersetzen Zu Beginn seien drei Beispiele aus dem Lateinlernen aufgeführt, die jeweils unterschiedliche Facetten von Lerner-Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Lateinischen zeigen. a) Zunächst folgt ein Beispiel aus einem Göttinger Latinumskurs, in dem ein Student die Übersetzung „Caesar sprach in der Art eines Würfels“ geliefert hat. Der erstaunte Dozent sah daraufhin noch einmal im Original nach und fand dort als lateinischen Ausgangstext: Caesar tali modo locutus est. b) In der Endrunde des Bundeswettbewerbs Fremdsprachen (Oberstufe: Mehrsprachenwettbewerb) wurde vor einigen Jahren ein Text aus Vergils Aeneis in einem Einzelgespräch verwendet: Dido ruft vom Scheiterhaufen kurz vor dem Freitod in Richtung des absegelnden Äneas (Verg. Aen. 4,661f.) hauriat hunc oculis ignem crudelis ab alto | Dardanus, was von den meisten Schüle- <?page no="220"?> 220 Peter Kuhlmann rinnen und Schülern in etwa so übersetzt wurde: „Der grausame Dardaner soll dieses Feuer mit den Augen von der hohen See aus schöpfen“. Gemeint ist aber hier: „Der grausame Äneas soll meinen Scheiterhaufen von der hohen See aus erblicken“, was die meisten Schülerinnen und Schüler allerdings nicht verstanden haben. c) Schließlich sei hier noch eine immer wieder bei Schülerinnen und Schülern und in Latinumskursen begegnende Übersetzung von Senecas bekanntem Diktum in Epist. 16,3 angeführt: philosophia non in verbis, sed in rebus est, was viele Schülerinnen und Schüler und Studierende erst einmal so übersetzen: „Die Philosophie ist nicht in den Wörtern, sondern in den Sachen“. Befragt man Lehrkräfte bei Fortbildungen, wie sie die Textstelle übersetzen würden, erhält man Antworten wie: „Philosophie ist keine Sache von Worten, sondern des Handelns“ oder auch „Philosophie bewegt sich nicht in Worten, sondern in der Realität“. Wenn man sich diese ganz typischen Übersetzungen mit ihren Defiziten und Fehlern ansieht, kann man den Eindruck gewinnen, das Übersetzen im Lateinunterricht funktioniere überhaupt nicht und führe eher zur Verunklarung des Textverständnisses. 1 Tatsächlich gibt es in der Übersetzungswissenschaft die Auffassung, das Übersetzen überfordere Anfänger im Fremdsprachenunterricht. So schrieb die Übersetzungswissenschaftlerin Christiane Nord 1989: „Übersetzen kann man erst lernen, wenn die Sprachkompetenz ein gewisses Niveau erreicht hat“. 2 Für Lateinlehrkräfte müsste diese Äußerung geradezu ein Provokation darstellen, denn schließlich ist das Übersetzen von der ersten Lateinstunde an eine - wenn nicht die - zentrale Methode des Unterrichts und auch seit gut 200 Jahren (der neuhumanistischen Wende) so in den Curricula verankert. 3 Das Übersetzen in seiner idealtypischen Form gilt als „(inter-)kultureller Transfer“ und soll so dem Lateinunterricht seinen Sinn und seine Rechtfertigung geben; 4 zudem soll beim Lateinlernen das Übersetzen vorgeblich dazu dienen, Sinnkonstruktion und das Verstehen lateinischer Texte zu fördern und zu dokumentieren. 5 Hier liegt ein erkennbarer Widerspruch zwischen Übersetzungswissenschaft und methodischer Unterrichtspraxis im Lateinunterricht vor. Aus linguistischer Perspektive unterscheidet man bei sprachlichen Äußerungen und 1 Entsprechend hat sich auch in neuerer Zeit wieder Kritik an einer allzu einseitigen Übersetzungsorientierung im Lateinunterricht entzündet; vgl. besonders Hensel 2017. 2 Nord 1989, 117. 3 Dazu Kuhlmann 2018a, 69; Kuhlmann 2018b. 4 So etwa im KC Latein Sek. II Niedersachsen 2018, 5. 5 So wird es besonders in amtlichen Dokumenten wie den Kerncurricula (KC Latein Sek. II Niedersachsen 2018, 56), den Latinums-/ Graecums-Verordnungen und den EPA 2006, 12 vorausgesetzt. <?page no="221"?> Is’ doch Latein - das klingt eben komisch 221 deren Übersetzung zwischen dem Gesagten (Textoberfläche) und dem Gemeinten (Textinhalt). 6 Weiter wird hieraus in der Übersetzungswissenschaft abgeleitet, man müsse einen Ausgangstext erst einmal verstehen, dann interpretieren, um ihn anschließend übersetzen zu können. 7 Betrachten wir vor diesem Hintergrund noch einmal unsere Beispiele: Die Übersetzung des ersten Caesar-Beispiels mit dem „Würfel“ legt eine für das Lateinische typische sprachinhärente Ambiguität offen, nämlich die prinzipielle Möglichkeit, die Form tali von zwei unterschiedlichen Lexemen ableiten zu können: einmal als Genitiv zu talus „Knöchel; Würfel“ und weiter als Dativ- Ablativ zu talis „(ein) solch(er)“; für die entsprechende Disambiguierung fehlte dem Übersetzer hier die notwendige Sprachkompetenz. Übrigens könnte natürlich auch ein computergestütztes Übersetzungsprogramm auf die studentische Lösung kommen, sofern nicht die ganze Junktur tali modo als fester Ausdruck eingespeichert ist. Selbst bei hinreichender Sprachkompetenz benötigt man aber auch ein Mindestmaß an Intuition und Textsowie Weltwissen (frames, scripts), um solche Wendungen zu disambiguieren: Vor einer Übersetzung muss also wirklich erst einmal das richtige Textverständnis liegen. Dieses Beispiel ist insofern ein besonders typisches Beispiel, weil hier viele Konzepte und Theorien der Übersetzungswissenschaft, die sich v. a. mit unterschiedlichen Übersetzungsarten und ihrer theoretischen Begründung befassen, (noch) nicht greifen: Das sprachlich-formale Textverstehen ist hier defizitär (das Gesagte ist nicht richtig verstanden) und eben dies verhindert dann auch das inhaltliche Verstehen (das Gemeinte). Das zweite Beispiel aus der Aeneis geht in eine ähnliche, aber wieder etwas andere Richtung: Hier haben die Schülerinnen und Schüler das Gesagte auf einer formal-grammatischen und auch lexikalischen Ebene verstanden, aber eben nicht das Gemeinte. Die Übersetzung dokumentiert hier nur die richtige Dekodierung der sprachlichen Oberfläche auf einer formal-strukturellen Ebene. Um das Verständnis des Gemeinten zu kontrollieren, mussten die Gutachter die Schülerinnen und Schüler bitten, den Satzsinn in eigenen Worten wiederzugeben - also zu paraphrasieren, was im Übrigen nicht immer gelang. Dies zeigt, dass speziell bei literarischen Texten eine Paraphrase oder in Richtung Paraphrase gehende sog. „freie“ Übersetzung das Textverständnis oft eher überprüfen bzw. im Idealfall dokumentieren kann als die von den meisten Lateinlernenden gelieferten Übersetzungs-Produkte. 6 Dieser pointierte Gegensatz stammt aus der „Pariser Schule“ der Übersetzungswissenschaft (Seleskovitch/ Lederer 1984); vgl. Stolze 2011, 238f. 7 Reiß/ Vermeer 2 1991, 58. <?page no="222"?> 222 Peter Kuhlmann Das dritte Beispiel aus Senecas Epistulae morales ist eigentlich das komplexeste. Auch hier kann man das Gemeinte nur mithilfe einer Paraphrase (ähnlich wie bei dem Aeneis-Beispiel) verdeutlichen. Die Lernenden haben in der Regel kein Verständnisproblem auf der formal-grammatischen Ebene (Gesagtes), sondern mit dem Gemeinten. Doch gerade dies ist hier nicht ganz eindeutig aufgrund der aus deutschsprachiger Perspektive sehr offenen Semantik des lateinischen Substantivs res. 8 Dies zeigen auch die schon interpretierenden Übersetzungen oder besser: Paraphrasen der Lehrkräfte oder die gedruckten Übersetzungen. 9 Für die Seneca-Stelle trifft das Konzept von Reiß/ Vermeer mit dem Dreischritt Verstehen-Interpretieren-Übersetzen also auf den ersten Blick durchaus zu. Gleichwohl lässt sich natürlich auch argumentieren, dass vor einer Interpretation der Äußerung erst einmal das formal-grammatische Verstehen des Gesagten bzw. der sprachlichen Oberfläche zentral ist. Und dies wird dann durchaus - hier bei Vergil und bei Seneca - durch die Produkte der Lernenden im Sinne einer „zu wörtlichen“ Übersetzung abgebildet. Aus zumindest sprachwissenschaftlicher und sprachdidaktischer Perspektive haben somit solche - in der Fachdidaktik ja meist als defizitär abqualifierte - Übersetzungen dann doch ihre Berechtigung, denn gerade sie machen die Metaphorik oder semantische Offenheit ausgangssprachlicher Äußerungen erst richtig bewusst. In den aktuellen Curricula haben sie übrigens auch ihren Platz und heißen dort dann gern „Roh-“ oder auch „Arbeitsübersetzung“. 10 Sie stehen dann im Gegensatz zu den sog. „zielsprachenorientierten“ oder auch „schönen Übersetzungen“, die dann das Gemeinte abbilden sollen. 11 Dieser letzten Variante entspräche dann die von Reiß und Vermeer gemeinte eigentliche „Übersetzung“, die in der Fachdidaktik als „Rekodierung“ im engeren Sinne - im Gegensatz zum eher schwammigen Begriff „Übersetzung“ - bezeichnet wird. 12 Um nun das Gemeinte gut abzubilden, ist aber offenbar eine Paraphrase zumindest bei literarischen oder metaphorischen Texten und Äußerungen häufig besser geeignet, wie wir gesehen haben. Für das Lateinlernen ist zunächst einmal der Prozess des Textverstehens und zwar mit den beiden Ebenen, nämlich dem formal-strukturellen und dem semantischen Verstehen fremdsprachlicher Äußerungen, die eigentliche Her- 8 Die Schulwörterbücher geben bei res die hier passenden Bedeutungen erst ziemlich weit hinten in den Artikeln an: Stowasser: 4. „Tat; Handlung“, 4a. „Wahrheit, Tatsächlichkeit“; Langenscheidts Großes Schulwörterbuch: 3a. „Tat; Handlung“, 3 f. Wirklichkeit; Pons: 11. „Tat; Handlung“, 15. „Wirklichkeit; Wahrheit; tatsächliche Erfahrung“. 9 Vgl. etwa die Übersetzung von Otto Apelt (1993, 54): „[Die Philosophie …] Ihr Wesen liegt nicht im Wort, sondern in der Handlung“. 10 Z.B. Kerncurriculum Latein Sek. II Niedersachsen 2018, 23. 11 Ausführlich im Kernlehrplan Latein NRW 2014, 23f. 12 So etwa bei Glücklich 2008, 65; Schirok 2013. <?page no="223"?> Is’ doch Latein - das klingt eben komisch 223 ausforderung. Wie dies funktioniert, ist in der Sprachwissenschaft ein eigenes riesiges Arbeitsgebiet; 13 für Latein gibt es dazu bislang nur wenig an einschlägiger Forschung, 14 und an dieser Stelle kann nicht weiter auf diesen Komplex eingegangen werden. Davon zu trennen ist jedenfalls die in den altsprachlichen Curricula viel behandelte Seite der Übersetzungsbzw. Rekodierungsarten als weiteres Aufgabenfeld. Übersetzungsarten - Skopos - Äquivalenz Damit kommen wir zu den unterschiedlichen Übersetzungsarten, die wiederum durch den Kontext und damit das eigentliche Ziel (Skopos) zu definieren sind. Für den schulischen Rahmen lassen sich folgende Übersetzungsarten unterscheiden, die je nach Kontext und Ausgangstext unterschiedliche Verwendung finden: Literarische Übersetzung: Hierbei handelt es sich in der Regel um fiktionale Texte mit häufig hoher semantischer Offenheit, die ein subtiles Textverständnis auch im Detail erfordern und für Publikationszwecke von ausgebildeten Experten zu übersetzen sind. Als Produkt entstehen Übersetzungen mit einem literarischen Anspruch in der Zielsprache, der dem ausgangssprachlichen Text entspricht. Im Lateinunterricht lesen und übersetzen die Lernenden nach Abschluss der Lehrbuchphase zum größten Teil literarisch-fiktionale Texte, obwohl sie natürlich keine Übersetzungsexperten sind und entsprechend keine literarischen Übersetzungsprodukte abliefern können bzw. müssen. Gebrauchssprachige Übersetzung: Diese Übersetzungsart bezieht sich auf sog. expositorische bzw. Sachtexte wie etwa Zeitungs- oder Pressetexte u. ä., die sich in Stilhöhe und Metaphorik von eigentlich literarischen Texten unterscheiden, d. h. die sprachlichen Strukturen des Ausgangstextes können in der Zielsprache anders als bei literarischen Texten eher übernommen werden. Im Lateinunterricht wären vergleichbar Texte von Hygin oder Inschriften, jedoch spielt diese Gattung keine nennenswerte Rolle. Fachtext-Übersetzung: Hierzu benötigen Übersetzer die Kenntnis spezieller Termini und textspezifischer Textstrukturen, so dass in der Regel Experten für das Fachgebiet die Übersetzungen vornehmen. Aus der Antike sind viele Fachtexte zur Medizin, Metrik, Architektur, Grammatik etc. überliefert, die allerdings kaum in der Schule gelesen werden. Teilweise gehören in diesen Bereich jedoch 13 Behandelt etwa von Hönig 1995; Garbe/ Holle/ Jesch 2010. 14 Vgl. etwa Schmidt 1962 und Eikeboom 1970 als Pioniere; Florian 2015; Kuhlmann 2015; aus allgemein-linguistischer Perspektive vgl. v. a. Hönig 1995. <?page no="224"?> 224 Peter Kuhlmann philosophische Texte mit ihrer speziellen Terminologie, die einen entsprechend hohen Übersetzungsanspruch stellen. Linguistisch-morphematische Übersetzung: Um die besonderen formalen Strukturen einer Sprache auch für Nicht-Experten transparent zu machen, fertigen Linguisten häufig interlineare struktur-äquivalente Übersetzungen an, die die ausgangssprachlichen Merkmale möglichst getreu abbilden und bestimmte (v. a. syntaktische) Regeln der Zielsprache unberücksichtigt lassen. 15 Als Übersetzer fungieren dann z.T. linguistische Experten, die aber keine übersetzungswissenschaftlichen Experten zu sein brauchen; auch Sprachlernende können solche Übersetzungen anfertigen, um sich die objektsprachlichen Strukturen bewusst zu machen. Im Lateinunterricht setzen Lehrkräfte bei der Einführung oder Erklärung bestimmter Grammatikphänomene diese Übersetzungsart ein (z. B. für das Gerundivum mit esse: Marcus | laudandus | est ~ „M. | (ein) zu lobender | ist“ → „M. muss gelobt werden“). An die für sich nicht immer leicht verständliche linguistisch-morphematische Übersetzung (das „Gesagte“) schließt sich in der Regel eine „freiere“ Übersetzung an, die die Semantik (das „Gemeinte“) der ausgangssprachlichen Äußerung abbildet. Didaktische Übersetzung: Für das Fremdsprachenlernen können generell Übersetzungen eine Hilfe bieten, indem sie Sinn und Strukturen eines Ausgangstextes in der Lernersprache abbilden. Im Lateinunterricht ist dies das gängige Verfahren und wird v. a. von den Lernenden selbst (Novizen) als curricular vorgegebener Aufgabentypus praktiziert. Anders als die o. g. Übersetzungsarten weisen solche Schüler-Übersetzungen meist keinen literarischen Anspruch auf, zumal sie sich in den ersten Jahren ohnehin auf Lehrbuchtexte oder bloße Textstellen hieraus in Kunstlatein beziehen und vielfach mündlichen Charakter tragen. Sie sollen aber anders als die linguistisch-morphematischen Übersetzungen nicht den Strukturregeln der Zielsprache widersprechen. In den übersetzungswissenschaftlichen Handbüchern bleiben diese „Gebrauchsübersetzungen“ für die prozessuale Arbeit am Text meist unberücksichtigt. Ich führe sie hier aber eigens als „didaktische Übersetzung“ an, weil sie im Lateinunterricht eine so dominante Rolle spielen. Wie man sieht, haben Übersetzungen im Sprachlernkontext offenkundig ein anderes Ziel als die literarischen Übersetzungen belletristischer Werke, die man im Buchgeschäft kaufen kann. Freilich wird dies in der Lateindidaktik zu wenig gesehen oder überhaupt missachtet: Für die ersten Übersetzungsarten fungieren in der Regel professionelle Übersetzer mit einem abgeschlossen Fachstudium, die die Fremdsprache eben nicht - mithilfe oder neben dem Übersetzen - noch lernen müssen. 15 Vgl. hierzu die Beispiele von Roland Hoffmann im vorliegenden Band. <?page no="225"?> Is’ doch Latein - das klingt eben komisch 225 In diesem Zusammenhang soll an einem Beispiel gezeigt werden, wie sehr die Art des Übersetzens an Kontext und Zweck (d. h. den Skopos) gekoppelt ist; 16 als Beispiel dient hier Ciceros erste catilinarische Rede, die sowohl in der Schule als auch in Latinumskursen - also im Unterrichtsbzw. Lernkontext - viel gelesen wird: Ausgangstext (Rahmen: antikes Rom) Übersetzung (Rahmen: Schule/ Universität heute) Skopoi: mündliche Rede: Senat überzeugen/ Catilina einschüchtern (lateinische Muttersprachler) schriftliche Publikation: Leser (lateinische Muttersprachler) beeindrucken/ Nachruhm erwirken Adressat(en) lateinische Muttersprachler römische Mitbürger (Antike) Skopoi: Lehrkraft zufriedenstellen gute Note erreichen/ Prüfung bestehen (mit Negativkorrektur nach Fehlerindex) Inhalt verstehen/ Textverständnis dokumentieren/ Text interpretieren Adressat(en) (deutschsprachige) Lehrkraft (ggf.) Mitlernende (z. B. deutschsprachig) Skopos am Beispiel von Cic. Cat. 1 Von Kontext und Adressat - nicht nur von der eigenen ausgangssprachlichen Kompetenz - hängt nun ganz wesentlich ab, wie die Übersetzenden ihre Übersetzung ausgestalten. Denn auch wenn universitäre Klassische Philologen für ihre Studierenden oder für Vorträge eine mündliche Übersetzung zu griechischen oder lateinischen Textstellen extemporieren, sieht eine solche natürlich anders aus, als wenn für eine Publikation eine schriftliche und v. a. druckreife Formulierung gefunden werden muss. Man kann diesen Aspekt gut mithilfe der Äquivalenzen 17 darstellen, von denen für diesen Beitrag folgende relevant sind: Äquivalenzen • Formal-grammatische Äquivalenz (sog. „Wort-für-Wort-Übersetzung“): Sie kann als morphematische Übersetzung in der Linguistik und im Sprachlernkontext als sog. Roh- oder Arbeitsübersetzung (mündlich und schriftlich) auftreten und bildet v. a. die ausgangssprachlichen Strukturen ab. 16 Vgl. dazu Stolze 2011, 180-182. 17 Zum Begriff Reiß 1971; Kußmaul 2010, 63-65; für Latein vgl. Kuhlmann 2009, 111-114. <?page no="226"?> 226 Peter Kuhlmann • Denotative Äquivalenz (inhaltsbezogene Übersetzung): Die Spannbreite kann hier von einer kommentierenden Arbeitsübersetzung bis hin zur Paraphrase mit starker Deverbalisierung (mündlich und schriftlich) reichen. • Konnotative Äquivalenz: Sie bildet die emotional-affektiven Aspekte eines Ausgangstextes ab und gehört im didaktisch-curricularen Kontest zur den „zielsprachengerechten“, schriftlichen Rekodierungsformen. Im Lateinunterricht müsste dann die Übersetzung eines Liebesgedichts von Catull oder Ovid auch im Deutschen eine erotische Färbung aufweisen. • Formal-ästhetische und textnormative Äquivalenz: Sie bildet die Stilmerkmale und das Sprachregister des Ausgangstextes ab; im Unterricht handelt es sich ebenfalls um eine Art der „zielsprachengerechten“, schriftlichen Rekodierung. Ein an die Sprechsprache angelehnter lateinischer Text (Komödie) muss dann in der Übersetzung auch sprechsprachlich klingen; Poesie müsste hier auch im Deutschen als poetische Übersetzung (Versmaß) wiedergegeben werden. • Pragmatische Äquivalenz: Sie berücksichtigt die Verstehensvoraussetzungen und Erwartungen des Adressaten und kann von daher ganz unterschiedlich ausgestaltet sein. Für gedruckte Übersetzungen gilt hier im Allgemeinen, dass der Übersetzungscharakter für den Benutzer möglichst gar nicht mehr zu erkennen sein sollte. Im Lateinunterricht wäre es die von der Lehrkraft erwartete Übersetzung, was dann aber gerade eine eher „wörtliche“ und als Übersetzung erkennbare Übersetzung implizieren kann. Nicht selten produzieren Lernende solche hölzernen Übersetzungen, weil die Korrekturpraxis der Lehrkräfte dies nahelegt (washback-Effekt). 18 Das Schema soll nach Möglichkeit die Anforderungen an die Lernsituation abbilden. Die erste Variante bildet die ausgangssprachenorientierte Übersetzung, die ja im fachdidaktischen Kontext eher verpönt ist, allerdings wohl zu Unrecht. Die übrigen Varianten können als komplementäre Unterarten der zielsprachenorientierten Übersetzung („Rekodierung“) gelten, wobei die Grenzen zur Paraphrase oder „freien Übertragung“ naturgemäß fließend sind und sich durch den Grad an Deverbalisierung bemessen. 19 Die Übersicht zeigt aber, dass das Postulat der konnotativen und formal-ästhetischen bzw. textnormativen Äquivalenz als Regelstandard für den Schulunterricht nicht realistisch ist: Zum einen wissen wir als Nicht-Muttersprachler häufig gar nicht, welche Konnotationen bestimmte Lexeme und Ausdrücke in der Antike hatten oder welcher Stilebene 18 Dies zeigen nicht zuletzt Beispiele aus dem Beitrag von Monika Vogel im vorliegenden Band. 19 Lederer 1994; Stolze 2011, 226-229. <?page no="227"?> Is’ doch Latein - das klingt eben komisch 227 sie wirklich angehörten, 20 zumal hier auch die diachrone Ebene zu beachten ist (z. B. ist dt. Weib heute anders als vor 300 Jahren pejorativ). Poetische Übersetzungen im Versmaß sind als Zusatzleistung (Additum) im Unterricht umsetzbar, aber nicht für alle Schülerinnen und Schüler leistbar. Für Lateinlernende sind die beiden Seiten - Skopos und Äquivalenz - immer präsent, auch wenn sie meist natürlich noch nie von diesen Begriffen gehört haben. Sie sind als „Novizen“ oft in der Situation, dass sie die Ausgangssprache Latein nur partiell beherrschen, jedenfalls nicht im Sinne eines Expertenstandards: Sie formulieren z. B. die Übersetzung einer Catilinarienpassage nicht für eine Senatsversammlung und sind auch selbst keine Senatoren; sie formulieren sie stattdessen für ihre Lateinlehrkraft oder den Dozenten ihres Latinumskurses, der v. a. kontrollieren will, ob die Lernenden die sprachlichen Strukturen auf der formal-grammatischen Ebene verstanden haben. In Klausuren und Prüfungen formulieren sie ihre Übersetzungen für eine defizitorientierte Negativkorrektur. Bei diesem im aktuellen Lateinunterricht üblichen Korrekturverfahren wird v. a. das, was auf der morpho-syntaktischen Seite die ausgangssprachlichen Strukturen nur ungenügend abbildet, als z.T. ganzer Fehler gewertet. Im Bereich der Lexik dagegen ist die Korrektur meist milder, weil eher nur halbe oder gar keine Fehler für denotativ nicht äquivalente Übersetzungen gegeben werden. 21 Ob der Textsinn im Ganzen überhaupt getroffen ist, spielt für diese Art der Negativkorrektur nach Einzelfehlern meist keine Rolle. Wenn hingegen eine Schülerin oder ein Schüler so gut ist, dass sie oder er sogar eine konnotativ oder gar ästhetisch-äquivalente Übersetzung mit starker Deverbalisierung und unter Vernachlässigung der formal-grammatischen Äquivalenz produziert, hat sie oder er in der Regel zumindest keine Vorteile im Rahmen dieses Bewertungssystems. Vielmehr haben Lernende nicht selten die Sorge, sich mit einer „zu freien“ Übersetzung Nachteile bei den Prüfenden oder Lehrenden einzuhandeln. Insofern bewegen sich - so der paradox erscheinende Befund - die meisten Lerner-Übersetzungen ganz im Rahmen der pragmatischen Äquivalenz und sind mithilfe der Skopos-Theorie leicht erklärbar. Diese Tendenz zeigen einige Korrekturbeispiele, die eine Göttinger Latein- Studentin vor einiger Zeit für eine Masterabschlussprüfung zusammengestellt hat. Darin ging es um Lehrerkriterien bei der Übersetzungskorrektur und deren Passgenauigkeit mit den Curricula. Die Beispiele stammen aus drei Schulpraktika an drei unterschiedlichen Schulen in Niedersachsen und zeigen die Band- 20 Darauf macht Sinner zu Recht in seinem Beitrag im vorliegenden Band aufmerksam. 21 Dies entspricht nicht nur den Vorgaben des niedersächsischen Kerncurriculums Latein, sondern nach Auskunft der Fachberatur für Latein auch der Korrekturpraxis vieler niedersächsischer Lateinlehrkräfte. <?page no="228"?> 228 Peter Kuhlmann breite der Korrekturpraxis mit dem entsprechenden washback-Effekt auf die Lernenden. Aus der Sammlung seien hier drei Beispiele zitiert: Beispiel 1: Cogita autem te hominem esse nec umquam fore deum. Schülerübersetzung/ Lehrerkorrektur: „Denke aber, dass du der Mensch bist und niemals der Gott warst.“ Als halber Fehler markiert ist nur die morphologische Kategorie Tempus (fore-warst); nicht markiert bleibt hingegen die sinnentstellende Artikelwahl im Deutschen. Beispiel 2: Consules numquam fuerant; regibus exactis creati sunt. Schülerübersetzung/ Lehrerkorrektur: „Konsuln waren niemals; sie wurden durch die Könige √ geschaffen.“ Auch hier sind nur morphologisch-formale Kategorien berücksichtigt (fuerant-waren; Auslassung exactis); die sinnentstellenden Formulierungen - gerade bei der Lexik („hatte es gegeben“/ “gewählt“) bleiben unberücksichtigt. Beispiel 3: post reges exactos nemo de plebe consul fuit. Schülerübersetzung/ Lehrerkommentar: „Nach den vertriebenen Königen war niemand aus dem Volk Konsul“ Besser: Nach Vertreibung der Könige Die formal-äquivalente Übersetzung wird zwar unterschlängelt und kommentiert, aber nicht als Fehler gewertet, obwohl die Übertragung des „Gesagten“ im Deutschen das „Gemeinte“ nicht semantisch-äquivalent abbilden kann. Das heißt: Hier bekommen die Lernenden die Rückmeldung, dass v. a. alle Elemente an der sprachlichen Oberfläche (das Gesagte) vollständig wiedergegeben werden müssen, während das eigentlich Gemeinte irrelevant ist. Diese Art von Korrektur soll hier im Übrigen nicht unbedingt kritisiert werden, sondern es soll nur auf die Diskrepanz von Curriculums-Ideal und Unterrichtspraxis hingewiesen werden. Im Sinne der Übersetzungswissenschaft (Reiß/ Vermeer) ist ohnehin klar, dass von Lernenden nicht Dinge verlangt werden können, die sie realistischerweise gar nicht leisten können und im Sinne der Übersetzungswissenschaft als Novizen gar nicht zu leisten brauchen. 22 Aus Sicht der kontrastiven Sprachwissenschaft und Sprachtypologie kann man - wie vorhin ausgeführt - wiederum den struktur-äquivalenten Übersetzungen sogar noch etwas abgewinnen. 22 S.o. Anm. 2 (Nord 1989, 117). <?page no="229"?> Is’ doch Latein - das klingt eben komisch 229 Übersetzungsstrategien Dass es anders geht, zeigt ein Beispiel zu einer Plautus-Komödie - hier allerdings aus dem universitären Kontext (Göttinger Fachdidaktik-Seminar zur Komödie als Schullektüre) - mit einer studentischen Übersetzung als Gemeinschaftsleistung einer Gruppe (Plaut. Most. 364-370): PHILOL. <Adest> adest opsonium. eccum Tranio a portu redit. TR. Philolaches. PHILOL. Quid est? TR. <Et> ego et tu — PHILOL. Quid et ego et tu? TR. Periimus. PHILOL. Quid ita? TR. Pater adest. PHILOL. Quid ego ex te audio? 365 TR. Absumpti sumus. pater inquam tuus vēnit. PHILOL. Vbi is est, obsecro? TR. <ubi est? > adest. PHILOL. Quis id ait? quis vidit? TR. Egomet inquam vidi. PHILOL. Vae mihi. quid ego ago? TR. Nam quid tu, malum, me rogitas quid agas? accubas. PHILOL. Tute-n vidisti? TR. Egomet, inquam. PHILOL. Certe? TR. <Certe> inquam. PHILOL. Occidi, si tu vera memoras. 370 Ph . (sieht Tr.): Ah, da ist ja unser Snack! Kuckt mal da , Tranio kommt vom Hafen zurück! Tr .: Philolaches! Ph .: Was ist? Tr .: Du und ich-… Ph .: Was „du und ich“? Tr .: …-wir sind am Ende! Ph .: Was soll das heißen? Tr .: Dein Vater ist da! Ph .: Was hör’ ich da? Tr .: Es ist aus mit uns. Wie gesagt, dein Vater ist gekommen. Ph .: Wo ist er denn, sag schon? Tr .: Wo er ist? Hier ist er! Ph .: Wer sagt das? Wer hat ihn denn gesehen? Tr .: Ja, ich hab ihn gesehen, Mensch! Ph .: Oh Gott! Was mach’ ich denn jetzt? Tr .: Hä? Wieso fragst du mich denn, was du machst, verdammt? Du liegst doch gerade auf dem Sofa! Ph .: Und du hast ihn gesehen? Tr .: Ja, ich! Ph .: Echt? Tr . (genervt): Ja, echt! Ph .: Ich bin tot, wenn das stimmt. Hier hatten die Studierenden den expliziten Auftrag bekommen, eine formalästhetische und textnormative Äquivalenz bei ihrer Übersetzung anzustreben und sich bei Bedarf vom Wortlaut des Originals möglichst zu lösen (Deverbalisierung). In den Fachdidaktik-Seminaren zur Anfangslektüre, zur Komödie, zum Textverstehen und Übersetzen u. ä. geben wir in Göttingen seit einigen Jahren regelmäßig solche Arbeitsaufträge an die Studierenden. Dabei lässt sich immer wieder dieselbe Beobachtung machen: Die im Sinne der Curricula „ziel- <?page no="230"?> 230 Peter Kuhlmann sprachenorientierte“ oder, wie es im Kernlehrplan NRW heißt, „wirkungsgerechte“ 23 Übersetzung kostet in der Praxis viel Zeit, ist aber auch motivierend. Tatsächlich konnten Studierende und Dozent hier die Tauglichkeit von Reiß’/ Vermeers Phasenmodell bestätigt finden: Am Anfang steht das formale und inhaltliche Verstehen - abgebildet bei uns durch eine mündliche „Roh-Übersetzung“; dann sprechen wir über die Passage noch im Sinne einer oberflächennahen Interpretation; erst dann folgt die sog. „zielsprachenorientierte“ Übersetzung als Abschluss, die man tatsächlich bei einer Theateraufführung an Schule oder Universität verwenden könnte. Das heißt, wenn die Lernenden explizit den Auftrag erhalten, für einen bestimmten Kontext entsprechende Übersetzungen zu produzieren, sind sie dazu in der Lage - wenngleich mit viel Diskussion und Arbeit. Allerdings ist eine solche Übersetzung für das gängige Verfahren der Negativkorrektur in Schul- und Latinumskontext nicht so gut geeignet, weil bei einem hohen Grad an Deverbalisierung nicht gut identifiziert werden kann, welche Textelemente (Lemmata, Formen) die Lernenden überhaupt genau auf der formalen Ebene verstanden und entsprechend rekodiert oder übersehen haben. Dazu müsste im Rahmen einer Positivkorrektur ähnlich wie in der neuen österreichen Abiturprüfung 24 einmal das semantische Textverstehen und davon getrennt die gelungene deutsche Formulierung einer zielsprachengerechten Rekodierung bepunktet werden. Ähnlich wie in der österreichischen Abiturprüfung könnten auch in Deutschland verschiedene (publizierte) Übersetzungen zu einzelnen Textstellen von den Schülerinnen und Schülern auf ihre jeweiligen Leistungen in Bezug auf „Gesagtes“ und „Gemeintes“ bzw. ihre formale und semantische Äquivalenz verglichen werden. 25 Die gefundenen Merkmale ließen sich dann leicht verpunkten. Man unterscheidet im Übrigen in der Übersetzungswissenschaft auch zwischen Übersetzungs-Methoden und Übersetzungs-Techniken: 26 Die gerade für das Lateinlernen typische Übersetzungsmethode dient im Wesentlichen der Fehlervermeidung und ist letztlich eine Dekodierungsstrategie, die sich an Novizen richtet. Die Übersetzungstechnik dagegen liegt in der bewussten Anwendung bestimmter Übersetzungsprinzipien wie hier am Plautus-Beispiel verdeutlicht; sie benötigt in der Regel eine entsprechende Übersetzungsroutine mit fachlicher Vorbildung (Experten). Sie wird auch nur dann von Lernenden angewendet, 23 KLP Latein NRW, 38. 24 Dazu Korn 2017 und Lošek/ Seitz 2017. 25 Als Kompetenz ist der Übersetzungsvergleich ohnehin auch in Deutschland curricular fest verankert (vgl. EPA Latein 2006, 9 u. 13; Kerncurriculum Latein Sek. II Niedersachsen 2018, 26). 26 Dazu Kußmaul 2010, 163 f.; Stolze 2011, 79-83 mit den jeweiligen linguistischen Ansätzen. <?page no="231"?> Is’ doch Latein - das klingt eben komisch 231 wenn ein entsprechender Rahmen vorgegeben ist, sei es durch eine wirklich anstehende Theateraufführung oder durch die positive Bewertung in einem entsprechenden Korrekturverfahren. Übersetzen als interkultureller Transfer? Die studentische Übersetzung der o. g. Plautus-Stelle kann durchaus als Beispiel für literarisches Übersetzen dienen. Als Leser merkt man dort gar nicht, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Insbesondere Ausdrücke wie Snack oder echt vermitteln den Eindruck typisch deutscher Sprechsprache der Gegenwart, so dass man sich - abgesehen von den antiken Namen - den Dialog auch in der Gegenwart vorstellen könnte. Wie steht es nun mit dem viel beschworenen (inter-)kulturellen Transfer bei solchen Übersetzungen? 27 Kann ein Benutzer solcher Übersetzungen überhaupt noch wirklich in die antik-römische Denkweise und Kultur eintauchen? Der interkulturelle Transfer stellt sich hier wohl eher bei den Übersetzenden selbst während der Arbeit am Text und seiner Übertragung ein. Man muss hier also wieder das Übersetzen als Prozess von der Übersetzung/ Rekodierung als Produkt trennen. Tatsächlich kann die Arbeit des aktiven Übersetzens dann fremdkulturelle Schemata besonders gut übermitteln. Dies kann sich im Bereich der Grammatik äußern, wenn Übersetzende sich z. B. bei der Wiedergabe der lateinischen Vergangenheitstempora Perfekt und Imperfekt überlegen müssen, ob man sie im Deutschen als Perfekt oder Präteritum oder mit einer modalen Erweiterung wiedergibt (dabat > „er pflegte/ versuchte zu geben“). Besonders ist die kulturelle Differenz allerdings im Bereich der Lexik aufgrund bestimmter Konzepte und Schemata spürbar und durch punktuelle Teilübersetzungen der entsprechenden Ausdrücke erfahrbar. In der Lehrbuchphase ist der Klassiker das Substantiv familia, das sich eben nicht ohne Weiteres mit „Familie“ übersetzen lässt, weil unterschiedliche kulturelle Konzepte zugrunde liegen. Die römische domus bezeichnet das Stadtpalais und nicht einfach ein „Haus“ im Sinne des mitteleuropäischen Einfamilienhauses von heute. Vor allem bei der Originaltextlektüre gibt es dann die vielen aus deutscher Perspektive polysemen und eigentlich unübersetzbaren Wörter im Lateinischen wie virtus, das je nach Kontext „Tapferkeit“ oder „Leistungsbereitschaft“ oder im philosophischen Sinne „Tugend“ bzw. „moralisch verantwortliches Handeln“ bedeutet; aufgrund seiner Ableitung vir-tus ist das Wort für lateinische Muttersprachler anders als für uns schon auf der sprachlich-formalen Ebene als idealtypische 27 Besonders stark gemacht von Reiß/ Vermeer 2 1991; historischer Überblick (ab Humboldt) bei Stolze 2011, 25-36. <?page no="232"?> 232 Peter Kuhlmann Eigenschaft von Männern gedacht. Vergleichbar ist das schillernde Wort honestum, das von seiner Etymologie her etwas bezeichnet, das „Ehre“ (honos) bringt, also auch wieder als Wertbegriff der römischen Oberschicht gedacht ist. Allerdings bezeichnet es in stoisch geprägten Texten (Cicero, Seneca) auch das „sittlich Gute“ und steht dann mit der virtus in Verbindung. 28 Für den lateinischen Muttersprachler sind diese im Deutschen eher allgemein-neutral gebrauchten Begriffe also deutlich sozial konnotiert und beziehen sich zunächst einmal auf das männliche Geschlecht und die Oberschicht. In den neuen Fremdsprachen verzichtet man nicht zuletzt wegen der schwierigen Übersetzbarkeit solcher kulturell aufgeladenen Begriffe auf das Übersetzen überhaupt, damit sich nicht für Lernende durch die Übersetzung ein entsprechendes Fehlkonzept entwickelt. Auch die Lateinlehrkräfte verfahren z.T. ähnlich bei diesen typisch römischen Begriffen. Allerdings verhindert der komplette Verzicht auf eine Übersetzung unter Umständen überhaupt die Semantisierung solcher kulturspezifischer Lexeme und Konzepte bei Lernenden. Insofern wird man nicht auf eine kommentierende Übersetzung solcher Begriffe verzichten können. Im Unterrichtskontext kann es sich dann aber empfehlen, z. B. bei der Übersetzung von honestum beide Bedeutungen („ehrenvoll-gut“) zu verwenden, um sich der semantischen Offenheit des Begriffs bewusst zu bleiben. Fazit Zum Schluss seien im Sinne eines kurzen Fazits ein paar Thesen formuliert: Es gibt recht unterschiedliche Formen des Übersetzens und der Übersetzung, die je nach Unterrichtskontext, Lernfortschritt und Lernvoraussetzung auch ihren je eigenen Platz im Lateinunterricht haben: Die Kategorien der eher an der literarischen Übersetzung orientierten Übersetzungswissenschaft sind nur bedingt auf das Lateinlernen anwendbar. Man muss hiervon das didaktische Übersetzen deutlich trennen. Die verpönten morphematischen Übersetzungen können sprachlich-strukturelle Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zielsprache besonders gut verdeutlichen und machen den Verstehensprozess sowie mögliche Verständnisprobleme von Lernenden auf der formal-strukturellen Sprachebene (das Gesagte) transparent. Für die Produktion „zielsprachenorientierter“, d. h. formal-ästhetischer und textnormativ-äquivalenter Übersetzungen benötigen die Lernenden entsprechende Erfahrung und Voraussetzungen (z. B. hinreichende Kompetenz in der Zielsprache) sowie relativ viel Zeit; sie sind daher realistischerweise nicht als 28 Dazu Kuhlmann 2018c. <?page no="233"?> Is’ doch Latein - das klingt eben komisch 233 Regelleistung und für lange Textabschnitte leistbar und erfordern eine eigene, von der mündlichen „Roh-/ Arbeitsübersetzung“ klar zu trennende Phase. Semantisches Textverstehen (das Gemeinte) wird nachweislich nicht ohne Weiteres durch Lerner-Übersetzungen dokumentiert; hier kann die - im Übrigen ebenfalls - anspruchsvolle Paraphrase besser geeignet sein. Ansonsten können statt einer Übersetzung/ Paraphrase auch die mittlerweile immer beliebteren alternativen Formen zur Dokumentation des Textverstehens sinnvoll sein (Fragen zum Text „wahr/ falsch“; gelenkte Erschließung o. ä.). 29 Gleichwohl leistet das Übersetzen einen wichtigen Beitrag für den kulturellen Transfer und die sprachliche Bildung - und das keineswegs nur im altsprachlichen Unterricht. Schließlich wäre eine stärkere Integration übersetzungswissenschaftlicher Grundlagen in das philologische Studium und die Lehramtsbildung ein dringendes Desiderat, damit Lehrkräfte auch ihre Rolle als Initiatoren und Moderatoren von Übersetzungsprozessen und -produkten professionell einnehmen können. Literaturverzeichnis Apelt, Otto (1993), Seneca. 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(2015), Pons Schulwörterbuch Latein, Stuttgart. <?page no="235"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 235 Übersetzungen im digitalen Austausch Das Internet als Übersetzungsplattform und Reflexionsanlass für den Lateinunterricht Monika Vogel Hey Leute. Ich hab echt keine Zeit mehr um den Text zu übersetzen und bin auch nicht so gut darin. Ich bräuchte Hilfe am besten kann mir jemand einen Link schicken, wo ich die Übersetzung finden kann? Danke und LG eure KompetenzZZZZ (www.gutefrage.net/ frage/ wo-findet-man-die-uebersetzungen-vom-lateinbuch-felixneu-textband; letzter Zugriff: 20.10.2018) Solche oder ähnliche - mal mehr, mal weniger verzweifelte - Hilferufe findet man im Internet immer wieder. So erhoffen sich manche Schülerinnen und Schüler nicht nur eine schnelle, sondern auch die vermeintlich richtige Übersetzung des lateinischen Textes, den sie gerade übersetzen müssen. Begibt man sich im Internet auf die Suche nach solchen „Musterlösungen“, so stößt man schnell auf zwei große Bereiche, die sich hier unterscheiden lassen: zum einen vollständige Übersetzungen eines Textes, die auf verschiedenen Plattformen gesammelt und übersetzungsgeplagten Schülerinnen und Schülern bereitgestellt werden, zum anderen diverse Foren, in denen gezielt Übersetzungen erfragt, Übersetzungsversuche präsentiert und diskutiert werden. Gerade diese Plattformen verdienen eine genauere Analyse, weil sie Aufschluss über die Belange der Schülerinnen und Schüler sowie die von ihnen wahrgenommenen Anforderungen an eine Übersetzung geben können. Ausgewählte Beiträge solcher Internetforen sollen im Zentrum dieses Beitrags stehen. Dazu sei ein kurzer Überblick über die verschiedenen Anlaufstellen im Internet vorangestellt, die zunächst den erstgenannten Bereich der vollständigen Übersetzungen betreffen. Diese können im Rahmen des Übersetzungsvergleichs in die aktuelle Fachdidaktik und Unterrichtspraxis eingeordnet werden, während die in Lateinforen zu findenden Beiträge, die es im Anschluss ausführlich zu betrachten gilt, in der fachdidaktischen Diskussion bisher noch nicht berücksichtigt wurden. Auf der Grundlage einer ersten Durchsicht und Analyse verschiedener Internetforen werden anhand ausgewählter Beispiele zum einen typische Probleme des Übersetzungsprozesses als solchem angesprochen, zum anderen und damit zusam- <?page no="236"?> 236 Monika Vogel menhängend soll aufgezeigt werden, welches Reflexionspotential daraus nicht nur vor dem Hintergrund übersetzungstheoretischer Überlegungen, sondern auch für die konkrete Unterrichtspraxis erwächst. 1 Übersetzungen im Internet und Lateinunterricht Erinnert sei noch einmal an die eingangs zitierte „Kompetenz“: Die Person, die sich dahinter verbirgt, erhält auf ihre Anfrage prompt einen Link zu einer Seite mit Übersetzungen der gewünschten Lehrbuchtexte. Dieser Link führt mittlerweile nicht mehr zu den versprochenen Übersetzungen, weil Lehrbuchtexte urheberrechtlich geschützt sind und die Verlage zunehmend gegen frei im Netz angebotene Lehrbuchtextübersetzungen vorgehen. Dennoch wird man an anderer Stelle fündig: Auch wenn es mittlerweile schwieriger geworden ist, an Übersetzungen von Lehrbuchtexten zu gelangen, sind diese zum Teil weiterhin, zwar nicht immer vollständig, aber zumindest zu einzelnen Lektionen, auf verschiedenen Internetseiten versteckt. Wesentlich leichter gestaltet sich die Suche nach Übersetzungen von Originaltexten: Es gibt diverse Internetseiten, die - nach Autoren sortiert - Übersetzungen zu gängigen Texten des schulischen Literaturunterrichts anbieten: • www.die-lateinseite.de • www.gottwein.de • www.latein.at • www.latein24.de • www.lateinheft.de • www.latein-imperium.de • www.lateinlehrer.net • www.lateinoase.de • www.romanum.de Oft ist dabei anders als bei gedruckten Übersetzungen nicht nachvollziehbar, woher diese Übersetzungen stammen. Wenn es sich nicht gerade um literarische Übersetzungen handelt, die man auch im Druckformat findet, wurden sie von ambitionierten Lateinerinnen und Lateinern, die nur selten namentlich genannt werden, zur Verfügung gestellt. Das Prinzip vieler Seiten besteht darin, die Sammlung an Übersetzungen sukzessive zu erweitern, indem eigene Übersetzungen von Nutzerinnen und Nutzern hochgeladen werden. Es wäre eine lohnende Aufgabe, diese Übersetzungen einmal systematisch auf ihre Qualität und Zielsetzung hin zu untersuchen, doch das wäre Stoff für einen weiteren Beitrag. Festzuhalten bleibt, dass solche Internetübersetzungen für viele Schülerinnen und Schüler die erste Anlaufstelle sind und weit häufiger zu Rate gezogen <?page no="237"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 237 werden als gedruckte Übersetzungen. 30 Lehrkräfte haben diesen Umstand längst erkannt, und auch die fachdidaktische Literatur macht verschiedene Vorschläge, wie man Übersetzungen aus anderer Hand - vor allem literarische Übersetzungen - gewinnbringend in den Unterricht einbinden und dadurch Übersetzungsreflexion fördern kann. 31 Auch im nordrheinwestfälischen Kernlehrplan ist der Übersetzungsvergleich als Teil der Textkompetenz verankert, allerdings hat man dort ausdrücklich literarische Übersetzungen im Blick. 32 Wie man auch nicht-literarische Internetübersetzungen schon in der Lehrbuchphase zur Reflexion des eigenen Übersetzens und zu einem kritischen Blick auf die oft als „kanonische Autorität“ 33 angesehenen Internetübersetzungen nutzen kann, hat Achim Beyer exemplarisch aufgezeigt. 34 Da das Internet nicht mehr wegzudenken ist und Schülerinnen und Schüler dort ohnehin Hilfe suchen, um sich das Lateinlernen zu erleichtern, ist ein offensiver Umgang mit diesem unvermeidbaren Umstand von großer Bedeutung für den Aufbau von Übersetzungskompetenz. Schließlich bildet diese nach wie vor einen zentralen Bestandteil des Lateinunterrichts, allerdings weniger im Umgang mit fremden Übersetzungen, sondern vielmehr als die Fähigkeit, lateinische Texte selbständig zu dekodieren und zu rekodieren. 35 Hieraus ergeben sich weitere Fragen, insbesondere im Hinblick auf die zu vermittelnden Kompetenzen und die besonderen Anforderungen schulischer Übersetzungen. Schlagwörter wie „zielsprachengerecht“, „kontextgerecht“, „sprachkontrastiv“ begegnen in diesem Zusammenhang immer wieder 36 und deuten die hohen Ziele an, die mit dem komplexen Prozess des Übersetzens verbunden sind. Dabei ist sich die Fachdidaktik mittlerweile darüber einig, dass eine Übersetzung nicht nur Textverständnis nachweisen, sondern auch ermöglichen, d. h. 30 Vgl. Wieber 2009, 372. 31 S. hierzu das Themenheft „Synoptisches Lesen“ der Zeitschrift „Der Altsprachliche Unterricht“ (1/ 2004) sowie jüngst Nickel 2016, 61-73. Den konkreten Umgang mit Übersetzungen in der Unterrichtspraxis hat Wieber 2009 anhand einer Umfrage untersucht. 32 KLP NRW S II, 30 (Leistungskurs); 50 (Überprüfungsformen). Insgesamt nimmt die vergleichende Analyse literarischer Übersetzungen eine untergeordnete Rolle ein. Ein weiterer Einsatzbereich ist die kursorische Lektüre, v. a. zur Bewältigung längerer Textpartien; vgl. auch Wieber 2009, 368-371. 33 Ebd. 375. 34 Beyer 2004; vgl. auch Wieber 2009, 375. 35 Hingewiesen sei auf aktuelle Versuche, gänzlich auf das Übersetzen zu verzichten und durch entsprechende Aufgabenformate Textverständnis zu gewährleisten, s. Burmester 2018. Diese Grundsatzfrage kann hier nicht diskutiert werden. Zum Wert des Übersetzens, das mehr als nur Textverständnis leistet, s. Vögler 1996 (schon damals als Reaktion auf eine Überlegung, nach erfolgter Texterschließung auf die Übersetzung zu verzichten). 36 So im KLP NRW S I, 22 f.; 29 f. (ähnliche Formulierungen sind in den Lehrplänen anderer Bundesländer zu finden). Der zum Schuljahr 2019/ 20 neu eingeführte Kernlehrplan konnte aus redaktionellen Gründen nicht berücksichtigt werden. <?page no="238"?> 238 Monika Vogel in angemessenem, allgemeinverständlichem Deutsch verfasst sein soll. 37 Damit geht einher, dass der lateinische Text zwar präzise erfasst, aber nicht im Sinne einer strukturgleichen Eins-zu-Eins-Wiedergabe grammatischer Formen ins Deutsche übertragen wird. 38 Die sich daraus ergebende Frage, wie man Schülerinnen und Schüler zu einer solchen Übersetzung führen kann, findet ihre Antwort schließlich in verschiedenen Texterschließungs- oder Übersetzungsmethoden, die den Weg zur Rekodierung erleichtern sollen und insbesondere mit Blick auf das Textverständnis, das Voraussetzung für eine angemessene Übersetzung ist, diskutiert werden. 39 Die Übersetzung selbst ist damit jedoch noch nicht gewährleistet. Zu bemerken ist ferner, dass trotz einiger Kritik solche Verfahren, die auf Konstruieren und Satzanalyse beruhen und daher nicht leicht mit einer sinnstiftenden Texterschließung vereinbar zu sein scheinen, in der Unterrichtspraxis eine maßgebliche Rolle spielen. 40 All diese Aspekte, die an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden können, gilt es bei der Analyse konkreter Übersetzungsvorgänge und ihrer Endresultate zu berücksichtigen. 37 Zu den Anforderungen und Zielen schulischer Übersetzungsarbeit Herkendell 2003, 11-13; Thies 2003a, 58; ders. 2003b mit Praxisbeispielen; Kuhlmann ³2012, 94-99; Nickel 2015, 2 f.; vgl. auch Florian 2015, 16 f. Inwieweit dies in der Praxis umgesetzt bzw. von Schülerseite wahrgenommen wird, ist eine andere Frage, wie die folgenden Beispiele zeigen. 38 Vgl. KLP NRW S I, 47: „Sie [die Schülerinnen und Schüler] können sich von ausgangssprachlichen Ausdrücken und Wendungen lösen und angemessene Formulierungen in der deutschen Sprache wählen.“ Übersetzungstheoretischer Hintergrund hierfür ist die Strukturdifferenz von Ausgangs- und Zielsprache. In engem Zusammenhang hiermit stehen die Begriffe der Äquivalenz und des Ziels (Skopos) einer Übersetzung, s. den Überblick bei Herkendell 2003, 5-8 sowie unten Anm. 54 und 55. 39 Einen Überblick über das Übersetzen als Unterrichtsgegenstand geben z. B. Keip/ Doepner ²2010, 81-111; Kuhlmann, ³ 2012, 100-110. Zur kritischen Diskussion verschiedener Texterschließungsmethoden als Grundlage für Textverständnis und nachfolgende Übersetzung Niemann 2015 sowie Glücklich 2017. Zum Verhältnis der nicht zwangsläufig deckungsgleichen Prozesse des Übersetzens und Verstehens ferner Nickel 1987, 391-394; Kuhlmann 2015, 16-19 (zu den drei Ebenen „rekodieren - dekodieren - verstehen“); Nickel 2016, 39-59 mit Beispielen für die Grenzen der Übersetzbarkeit. Ein weiterer Ansatz, „verstehendes Übersetzen“ zu ermöglichen, ist die Paraphrase, hierzu Bertram 2003; vgl. Nickel 2016, 37 f. 40 Zuletzt Janka 2017, der an einigen Lehrbuchbeispielen aufzeigt, „dass der vielfach diagnosegeleitete ‚Grammatizismus‘ im Anfangsunterricht sehr bald den ‚natürlichen Zugang‘ zur Dekodierung verdrängt und wie dieser Primat auch auf die Rekodierungsvorgänge ausstrahlt“ (ebd. 93-96). Auch er betont die Bedeutung des semantischen Verstehens beim Übersetzungsprozess. <?page no="239"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 239 2 Übersetzen im Austausch - Internetforen 2.1 Untersuchungsgegenstand und Zielsetzung Vor diesem Hintergrund sind auch die Übersetzungsversuche und Diskussionen in den zahlreichen Internetforen zu betrachten, in denen gezielt individuelle Übersetzungsschwierigkeiten angesprochen und zum Teil ausführlich diskutiert werden. So soll es an dieser Stelle nicht um den Übersetzungsvergleich oder um Übersetzungskritik als Unterrichtsgegenstand gehen, sondern vielmehr um Fragen, die das Übersetzen als solches (ohne fremde Vorlagen) betreffen. Internetforen geben einen Einblick in die Übersetzungsarbeit von Lernenden und eröffnen die Frage nach Schwierigkeiten, aber auch (subjektiven) Anforderungen an eine Übersetzung. Grundlage hierfür sind zum einen die dort gebotenen Übersetzungsvorschläge, zum anderen die Wortmeldungen, die im Anschluss an einen Übersetzungsvorschlag ausgetauscht werden. Der Übersetzungsvorgang selbst kann dabei nur bedingt nachvollzogen werden, teils nur anhand des verschriftlichten Endprodukts, teils anhand (ggf. zusätzlicher) einzelner Formenbestimmungen und Teilübersetzungen, die zumindest einen Teil des vorangegangenen Übersetzungsprozesses widerspiegeln. 41 Die folgende Übersicht zeigt die wichtigsten Foren, die als Grundlage für die Recherche dienten: • www.albertmartin.de/ latein/ forum/ • www.auxilium-online.net/ forum/ forum.php • https: / / e-hausaufgaben.de/ Forum-11-Schule-Latein.php • www.latein.at/ phpBB/ • www.latein24.de/ latein-online-forum/ index.php • www.lateinboard.de/ index.php • www.latein-imperium.de/ ? path=forumsdisplay Die Beiträge in diesen Foren beginnen zwischen 2003 und 2007 und erstrecken sich bis heute. Da es einer Sisyphus-Arbeit gleichkommt, alle Beiträge der Foren zu durchforsten, zumal immer wieder neue hinzukommen, beschränken sich die bisherigen Untersuchungen auf eine vergleichsweise kleine Auswahl relevanter Diskussionen in verschiedenen Foren. 42 Einzelne Zufallsfunde auf anderen 41 Anders bei Florian 2015, die gewissermaßen in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler geschaut hat und dadurch eine genauere Analyse der Verstehensprozesse in den verschiedenen Phasen von der Dekodierung bis zur Rekodierung vornehmen konnte. 42 Die herangezogenen Threads betreffen Übersetzungsfragen, die sich während des Lateinlernens ergeben und für den schulischen Lateinunterricht relevant sind. Unterforen für Latinisten sowie deutsch-lateinische Übersetzungen wurden nicht einbezogen. <?page no="240"?> 240 Monika Vogel Seiten kommen hinzu. Ziel der Recherche war es herauszufinden, wonach überhaupt gefragt wird, d. h. worin offenbar besondere Probleme beim Übersetzen bestehen, in welcher Weise diese dann diskutiert und gelöst werden und inwiefern sich darin vielleicht auch die erlebte Unterrichtspraxis widerspiegelt. Wie wird über das Übersetzen reflektiert und welche Reflexionsanlässe können Lehrkräfte daraus ableiten? 2.2 Allgemeines zu den untersuchten Internetforen Zum Prinzip dieser Foren ist zu sagen, dass dort - anders als auf den Seiten mit bereits fertigen Übersetzungen zu bestimmten Texten - verlangt wird, dass der Threadsteller oder die Threadstellerin zunächst eine eigene Übersetzung oder wenigstens Ansätze vorlegt, um im Anschluss Hilfen zu erhalten. Oft erfolgt dann nur eine kurze Korrektur mit Verweis auf nicht beachtete grammatische Formen oder Konstruktionen, manchmal entstehen aber auch recht interessante Diskussionen zu verschiedenen Aspekten, die auch in der fachdidaktischen Diskussion einer Rolle spielen bzw. diese anregen können. Die aktuelle Sammlung solcher längeren Diskussionen, welche diesem Beitrag zugrunde liegt und im Einzelnen analysiert wurde, besteht aus 100 Threads. Sie stammen aus den Jahren 2011-2018, hauptsächlich aus den letzten vier Jahren, können aber auch diesen Zeitraum nicht lückenlos abbilden. Die Frage, wer eigentlich in derartigen Foren aktiv ist, sei es als Threadsteller oder als „Experte“, der auf die gestellten Fragen eingeht, ist nicht leicht zu beantworten. Wegen der Anonymität sind die Identitäten der Nutzerinnen und Nutzer schwer zu charakterisieren, aber zumindest so viel lässt sich sagen: Oft sind es Schülerinnen oder Schüler, die ein konkretes Übersetzungsproblem haben, zum Teil auch Studierende oder Hobbylateiner. Auch Eltern melden sich bisweilen zu Wort, damit sie ihrem Kind bei einer Übersetzung helfen können; vereinzelt versuchen auch Nachhilfelehrerinnen oder -lehrer, sich auf diesem Wege abzusichern. Die Antworten kommen von verschiedenen sogenannten „Lateinern“, wobei der Grad ihrer Qualifikation nicht klar ist. Einige treten sehr regelmäßig als Experten auf und scheinen in manchen Foren geradezu permanent aktiv zu sein. 43 43 Einen vagen Hinweis auf eine (mögliche) Charakterisierung derjenigen, die in den Foren ihre Hilfe anbieten, liefert ein Forumsmitglied mit der Aussage, „daß hier (ganz überwiegend) Laien am Werk sind, die das in ihrer Freizeit betreiben und als Hobby betrachten“ (www.albertmartin.de/ latein/ forum/ ? view=35555; letzter Zugriff: 20.10.2018). Inwieweit dieser subjektive Eindruck zutrifft, muss ungewiss bleiben. Zum Teil ist auch von Leuten die Rede, die ein Lateinstudium teilweise oder vollständig absolviert haben, andere Äußerungen lassen auf einen Lehrer oder einen (pensionierten) Arzt schließen, der sich in seiner Freizeit als „Lateinhelfer“ betätigt. <?page no="241"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 241 Als Motive der Anfragen kann man neben dem Versuch der Zeitersparnis den Wunsch nach Kontrolle der eigenen Übersetzung ausmachen; oft geht es aber auch um die gezielte Erklärung nicht verstandener Ausdrücke oder Konstruktionen (oft auf grammatischer, aber auch auf inhaltlicher bzw. semantischer Ebene). Hieraus ergeben sich die konkreten Inhalte der Threads: Grammatikalische Probleme bilden offenbar einen Schwerpunkt, wobei es dort, was das Übersetzen betrifft, häufig um Standardübersetzungen bestimmter Konstruktionen geht, die nicht weiter diskutiert werden oder gar im Hinblick auf das Übersetzen selbst reflektiert werden. Dabei kommen vereinzelt auch methodische Fragen zur Sprache (auch hier mit deutlicher Fokussierung auf die Grammatik ausgerichteter Methoden: Konstruktionsmethode, Dreischrittmethode, Einrückmethode). 44 Daneben geht es um die Bedeutung einzelner Wörter oder Ausdrücke und daraus erwachsende Verständnisprobleme, und - davon zu unterscheiden - die Frage, welche Übersetzung dieser fraglichen Stellen denn erlaubt sei (in diesem Zusammenhang fallen gern die Begriffe der sogenannten „freien“ oder „wörtlichen“ Übersetzung), und genau dies ist aus didaktischer Perspektive besonders interessant. Wenige Beispiele müssen an dieser Stelle genügen. Auswahlkriterium für diese Beispiele, die im Folgenden besprochen werden, war die Frage, welche Probleme sich beim Übersetzungsprozess auftun und welche Reflexionsanlässe die Beiträge bieten. 2.3 Ausgewählte Beispiele Im ersten Textbeispiel, das in einem Forum sehr ausführlich diskutiert wird, geht es um die folgenden beiden Sätze (Abb. 1): 45 44 Die Konstruktionsmethode kommt immer wieder zum Vorschein (ohne als solche benannt zu werden), wenn Hilfestellungen zum Vorgehen beim Übersetzen gegeben werden oder eine angebotene Übersetzung erläutert wird. In einem Thread unter www. albertmartin.de/ latein/ forum/ ? view=36303 findet man eine Frage zur Anwendung der Dreischrittmethode; unter http: / / forum.latein24.de/ viewtopic.php? t=5205 wird ein Beispiel zur Einrückmethode erfragt, und an anderer Stelle werden nacheinander alle drei genannten Methoden auf die allgemeine Frage „Wie bei Übersetzung vorgehen? “ hin empfohlen: www.albertmartin.de/ latein/ forum/ ? view=35266 (letzter Zugriff jeweils: 20.10.2018). Vgl. dagegen die kritische Diskussion der Erschließung lateinischer Texte als grammatisches Konstrukt unter dem Stichwort „Übersetzungsmethoden“ (ausgehend von der Konstruktions- und Dreischrittmethode): www.latein.at/ phpBB/ viewtopic. php? f=25&; t=44815 (letzter Zugriff: 20.10.2018). 45 http: / / forum.latein24.de/ viewtopic.php? f=1&t=14894 (letzter Zugriff: 20.10.2018). Hier wie im Folgenden sind die Screenshots und die im Text zitierten Beiträge der Forumsmitglieder dem Thread unter der jeweils zu Beginn genannten Adresse entnommen. <?page no="242"?> 242 Monika Vogel Abb. 1 Eine Textquelle war nicht ermittelbar. Es handelt sich offenbar um einen für den Sprachunterricht konzipierten Text, aus dem diese beiden Sätze herausgeschrieben wurden. Da der Kontext durch Vergil hinlänglich bekannt ist, sind sie trotz der Einzelsatzdarstellung gut verständlich. Im Übersetzungsvorschlag des Threadstellers ist neben den offensichtlichen Fehlern in Wortschatz und Grammatik der beabsichtigte Bezug der Wiedergabe „vom Dichter Vergilii über Aenea und Didone“ wegen der fehlenden Interpunktion syntaktisch nicht ganz eindeutig: Entweder ist ein umgangssprachlicher Genetiv gemeint („Sagen vom Dichter Vergilii über Aenea und Didone[,] mit der größten Liebe erzählt“) oder dieser Teil soll zur Auflösung des Partizips narratam gehören (ob vollständig oder ab „über Aenea und Didone“ - dann ebenfalls mit umgangssprachlichem Genetiv - ist wiederum unklar). Dass beides letztlich mit einer fehlerhaften Übersetzung einhergeht, hat seine Ursache in der Verwechslung des Wortes libros, die zur falschen Zuordnung des Partizips legentes führt, was wiederum die weiteren Fehler im letzten Teil des Satzes nach sich zieht (immerhin wurde dort das Participium coniunctum fabulam … narratam erkannt). Das Vorgehen des Threadstellers, der offenbar primär anhand seiner ermittelten Wortbedeutungen versucht hat, aus ihnen einen Satz zu bilden, passt zu den Ergebnissen Lena <?page no="243"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 243 Florians, nämlich dass der Übersetzungsvorgang vor allem von den Wortbedeutungen bestimmt werde und grammatische Merkmale dabei nachrangig seien. 46 Ein typisches Problem, das sich hier auftut, ist auch, dass der Threadsteller im zweiten Satz zwar den Ablativus absolutus richtig identifiziert, aber nicht in der Lage ist, seine Funktion im Satz zu erfassen und angemessen zu rekodieren. 47 Es folgt eine erste Korrektur durch „Latin0201“ (Abb. 2): Abb. 2 Man sieht, dass manches (so das verwechselte libros und die Eigennamen) stillschweigend korrigiert wird. Die Korrektur, auf die es hier vor allem ankommt, erfolgt auf grammatischer Ebene mit dem Fokus auf dem Partizip narratam, das in der folgenden Diskussion die entscheidende Rolle spielt (s. u.). Nebenbei tun sich aber noch weitere interessante Reflexionsanlässe auf, insbesondere im zweiten Satz: Eine Schwierigkeit, die in den Beiträgen nicht geklärt wird, sind die pronominalen Leerstellen, die aufgrund des mangelnden Hintergrundwissens, das hier zur korrekten Wiedergabe notwendig ist, nicht richtig gefüllt werden („von seinem Bruder“; „mit seinen Gefährten“; nicht richtig verstanden 46 Florian 2015, 161-168 (im Einzelnen 35-79). Dies geht einher mit der generell großen Bedeutung der lexikalischen Informationen beim Textverstehen, s. hierzu Kuhlmann 2015, 27-30 mit Beispielen. 47 S. Kuhlmann 2014, 38-43 zum Verhältnis von Form und Funktion; passend dazu die Ergebnisse bei Florian 2015, 163 f.; 166; 173. <?page no="244"?> 244 Monika Vogel wurde offenbar auch der Artikel in der Wiedergabe „der Ehemann“). 48 Bezeichnend ist der folgende Hinweis zu der vorgeschlagenen Übersetzung „floh Dido mit seinen Gefährten“ durch ein anderes Mitglied des Forums: „Aus dem Satz geht nicht hervor, wessen Gefährten das waren, also schreibt man am besten ohne Posses[s]ivpronomen.“ Aus dem ersten Buch der Aeneis wissen wir dagegen sehr wohl, dass es sich um Didos Gefährten handeln muss, die sie für sich gewonnen hat. 49 Eine stillschweigende Korrektur, die den Kontext aber nur zum Teil richtig erfasst, liefert der folgende Beitrag von „amicus62“ im zweiten Satz (Abb. 3): Abb. 3 Die Pronomina sind hier zum Teil richtig, bei der Konstruktion a fratre interfecto („nach der Ermordung […] durch dessen Bruder“) zeigt sich aber erneut die fehlende Kenntnis des mythologischen Kontextes und ihre Wichtigkeit für eine treffende Übersetzung. 50 Man erkennt in beiden Sätzen ferner, dass auch andere Verbesserungsvorschläge (wie etwa die Auflösung der Partizipien neben narratam oder die Ergänzung des Adverbs maxime) nicht - wie auch sonst häufig - explizit benannt werden. Interessant ist nun aber die folgende Diskussion: Bezeichnend ist zunächst die Kommentierung der letzten vorgeschlagenen Übersetzung beider Sätze durch den Verfasser des ersten Korrekturvorschlags („Latin0201“): „Das ist die freiere und sprachlich bessere Variante.“ Und an den 48 Es geht inhaltlich um die Vorgeschichte Didos vor ihrer Ankunft und Gründung ihres neuen Reiches Karthago: Ihr Bruder Pygmalion hatte Didos Gatten Sychaeus aus Geldgier getötet, und auf der Flucht vor ihrem Bruder erreichte Dido mit Gefährten und reichen Schätzen schließlich Karthago (Verg. Aen. 1,340-368). 49 Verg. Aen. 1,360 fugam Dido sociosque parabat. 50 Zur Bedeutung des Top-Down-Prozesses für das Textverständnis Kuhlmann 2015, 25-27. <?page no="245"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 245 Threadsteller gerichtet: „Jetzt musst du entscheiden, ob du die wörtliche oder die freie Übersetzung bevorzugst.“ 51 Bemerkenswert ist die weitere Entwicklung der Diskussion: Zu der vorgeschlagenen Übersetzung des ersten Satzes „[…] die Geschichte, die er über Ae. und D. erzählte“ (s. Abb. 3) wendet „dieter“, der im Forum ebenso wie „amicus62“ sehr aktiv ist, ein: „Ist es für den Schulgebrauch nicht sehr gewagt, dass [sic] PPP narratam aktivisch wiederzugeben? “ Es geht nun also um die Wiedergabe des Ausdrucks fabulam de Aenea et Didone narratam. Es folgt der Ratschlag durch „dieter“, in der Schule lieber auf die „wörtliche Übersetzung von Latin0201“ (s. Abb. 2) zurückzugreifen, das falle am wenigsten auf. 52 Auch „amicus62“ empfiehlt daraufhin letztlich die sogenannte „wörtliche“ Übersetzung, womit wohl die passivische Wiedergabe gemeint ist, die beim ersten Vorschlag in Klammern angegeben ist (s. Abb. 2). Schließlich liege man mit „wörtlichen Übersetzungen […] in der Schule kaum falsch, auch wenn sie oft komisch oder nicht schön klingen“. Andererseits entspricht die aktivische Übersetzung „die Geschichte, die er über Aeneas und Dido erzählte“ (s. Abb. 3) wegen des expliziten Bezugs auf die Vergillektüre hier sogar eher dem Sinn: Es geht um eine Geschichte, die man bei Vergil lesen kann, nicht um eine Geschichte, die von irgendjemandem verfasst wurde. Gleichzeitig enthält aber auch der Vorschlag der „wörtlichen“ Übersetzung (s. Abb. 2) eine aktivische Version, die das Participium coniunctum im Deutschen durch „die Geschichte, die von Aeneas und Dido erzählt“ wiedergibt: Multi homines […] fabulam de Aenea et Didone narratam […] amant. Viele Menschen […] lieben die Geschichte, die von Aeneas und Dido erzählt. („Latin0201“) Viele Menschen […] lieben die Geschichte, der er über Aeneas und Dido erzählte. („amicus62“) In den beiden aktivischen Übersetzungen liegt unabhängig von der Frage nach der Wiedergabe des lateinischen Passivs noch ein feiner Unterschied in den 51 Es ist nicht ganz eindeutig, worauf sich diese Äußerung genau bezieht; wahrscheinlich geht es nicht nur um die Wiedergabe von narratam, die im Folgenden diskutiert wird, sondern auch um die Auflösung der Partizipien im zweiten Satz (anscheinend wird die substantivische Auflösung eines Partizips als „freier“ aufgefasst). 52 Vgl. den regelrechten Warnhinweis in einem Thread eines anderen Forums: „Aber Vorsicht: Für die Schule könnte das zu frei sein. Manche Lehrer mögen freie ÜSen [Übersetzungen] nicht, auch wenn sie druckreif wären.“ Diskutiert wird dort die Wiedergabe des (Lehrbuch-)Satzes Si animum tuum mutare possem, nihil aliud vellem (www.albertmartin. de/ latein/ forum/ ? view=36998, letzter Zugriff: 20.10.2018). <?page no="246"?> 246 Monika Vogel grammatischen Bezügen, auf den ein Forumsmitglied auch hinweist. 53 In der ersten Version, „die Geschichte, die von Aeneas und Dido erzählt“, wäre eher das Partizip narrantem zu erwarten, in der zweiten wird ausgehend von der lateinischen Struktur auf Vergil als Verfasser bezogen. Wir befinden uns hier - übersetzungstheoretisch gesprochen - auf der Ebene der Äquivalenzen; die verbreitete Unterscheidung zwischen „frei“ und „wörtlich“ ist nicht treffend und spiegelt auch hier nicht das wider, was das Problem tatsächlich ausmacht: 54 Auf rein inhaltlich-pragmatischer Ebene wird man an der ersten Version kaum Anstoß nehmen, zumal sich ja aus der deutschen Wiedergabe im Satzzusammenhang ergibt, dass es um eine Geschichte geht, die wir bei Vergil lesen können, die also von ihm erzählt wurde. Will man aber die grammatischen und semantischen Bezüge des lateinischen Satzes zwar nicht eins-zu-eins beibehalten, aber doch in der deutschen Formulierung abbilden, wird man auf die zweite Version zurückgreifen, die eine standardmäßige Umformung des lateinischen Passivs in ein deutsches Aktiv darstellt, während die erste in dieser Hinsicht etwas unsauber ist. 55 Man beachte am Ende der Diskussion, wie man den Ausdruck denn übersetzen dürfe, den abschließenden Beitrag des Threadstellers: „Danke, für die Beiträge. Ich werde die wörtliche Übersetzung wählen.“ Was sich bei diesem Beispiel wie auch in anderen Foreneinträgen herauskristallisiert, ist das Ideal des grammatikorientierten Konstruierens bzw. die Ansicht, die formale Struktur des lateinischen Textes im Deutschen (möglicherweise aus Angst vor Fehlern) genau abbilden zu müssen (jedenfalls im Sinne der gelernten grammatischen Regeln zur Wiedergabe bestimmter Konstruktionen, hier des Participium coniunctum, das meist keine strukturgleiche Übersetzung empfiehlt). Symptomatisch hierfür ist auch die fehlende bzw. unvollständige Korrektur der pronominalen Leerstellen im zweiten Satz, die ja durch reines Konstruieren nicht erfasst werden. 56 Diese Semantisierung scheint hier hinter 53 So wendet „dieter“ ein: „Ich habe bemerkt […], dass der Sinn des Satzes in der aktiven Übersetzung von Latin0201 falsch ist. Er schreibt, dass die Geschichte von (= über) A. und D. erzählt, amicus62 schreibt richtig, dass er (Ovid) [sic] die Geschichte über A. und D. erzählte.“ 54 Zum Äquivalenzbegriff Herkendell 2003, 6 nach Koller 2001, 214-253 ( 8 2011, 218-256); Kuhlmann ³ 2012, 112-114. Zu den Begriffen „frei“ und „wörtlich“ mit genauerer Charakterisierung der jeweiligen Qualitätsmerkmale Thies 2003a. 55 An dieser Stelle wird deutlich, dass neben der Äquivalenz auch das Ziel (Skopos), das man mit einer Übersetzung verfolgt, eine wichtige Rolle spielt, s. hierzu Herkendell 2003, 6 f. sowie Koller 8 2011, 215f. 56 Nach Florian 2015, 116 sowie 163 f. (zu den Nachteilen der Konstruktionsmethode) kann konstruierendes Vorgehen sogar das Verständnis behindern und führt nicht bei allen Schülerinnen und Schülern zu einer guten Übersetzung. Zum Verhältnis verschiedener Methoden und Textverständnis vgl. auch die in Anm. 39 genannte Literatur. <?page no="247"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 247 der grammatikalisch korrekten, aber den Kontext und den mythologischen Hintergrund vernachlässigenden Version zurückzutreten. Die Unsicherheit darüber, welche Übersetzung denn zulässig sei, ohne dass sie im Unterricht bzw. in Klassenarbeiten oder Klausuren sanktioniert wird, tritt in den Diskussionen der Foren immer wieder hervor, so auch in dem folgenden Beispiel, obwohl die Ausgangsfrage diese Richtung nicht direkt vorgibt (Abb. 4): 57 Abb. 4 Wie in dem vorangehenden Beispiel besteht das Problem auch hier darin, eine Partizipialkonstruktion, dieses Mal einen Ablativus absolutus, adäquat wiederzugeben, und auch hier spielt der Kontext dabei eine entscheidende Rolle. Der Satz, um den es geht (s. Abb. 4), findet sich in Lehrwerken der Prima-Reihe im Zusatztext einer Lektion zum Ablativus absolutus, 58 wobei statt dixit selbstverständlich duxit und patre statt pater zu lesen ist (richtig im Lehrbuch, dort auch der latinisierte Name Oedipus). Im Laufe der Diskussion wird zunächst die passivische Übersetzung des Threadstellers bestätigt, weil es sich ja schließlich 57 http: / / forum.latein24.de/ viewtopic.php? t=10567 (letzter Zugriff: 20.10.2018). 58 prima. Ausgabe A, Lektion 30; prima.nova, Lektion 31; prima.brevis, Lektion 22. <?page no="248"?> 248 Monika Vogel um ein PPP (Partizip Perfekt Passiv), also eine passivische Form handle (die aktivische Variante bleibt in dieser ersten Antwort unkommentiert), dann folgt eine Erklärung der vom Threadsteller vorgefundenen „Lösung“, also der aktivischen Übersetzung mit Bezug auf das Subjekt Oedipus (Abb. 5): Abb. 5 Neben der Benennung des kryptoaktiven Ablativus absolutus, der in diesem Satz eine aktivische Übersetzung nahelegt, weil die im Ablativus absolutus patre interfecto ausgedrückte Tötung bekanntlich vom Subjekt Oedipus ausgeübt wurde, 59 fällt hier erneut die Aussage über den vermeintlichen Umgang von Lateinlehrerinnen und -lehrern mit Übersetzungen ins Auge: Selbst die aktivische Wiedergabe an sich regulärer kryptoaktiver Konstruktionen scheint bereits als so „frei“ zu gelten, dass man sich nicht traut, eine solche Übersetzung zu empfehlen, obwohl sie den Sinn des Satzes besser trifft als die vermeintlich sichere passivische Übersetzung, die den entscheidenden Inhalt, nämlich die Tötung des eigenen Vaters, nicht deutlich macht und das Textverständnis an dieser Stelle im Dunkeln lässt. Ohne eine zusätzliche Erklärung, wie der Tötungsakt genau zu verstehen ist, bleibt der Ausdruck anhand der passivischen Standardwiedergabe unklar. Trotzdem oder gerade deswegen lautet die abschließende Empfehlung, vorsichtshalber bei der „,normalen‘ Übersetzungsmethode“ (d. h. der passivischen Wiedergabe) zu bleiben, wenn das nötige Hintergrundwissen fehle (Abb. 6): 59 Den Schülerinnen und Schülern wird dieser Hintergrund im Lehrbuch durch einen deutschen Einleitungstext vermittelt, der den Mythos bis zum Beginn des lateinischen Textes kurz zusammenfasst. <?page no="249"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 249 Abb. 6 Auch hier läuft die Diskussion letztlich nicht darauf hinaus, mit der Übersetzung ein bestmögliches Verstehen des Satzes zu erreichen, sondern eine aus Schülersicht erfolgreiche Strategie zur Fehlervermeidung. Zugleich deutet sich an diesem Beispiel der Unterschied zwischen Übersetzen und Verstehen an 60 und schließlich erneut die Frage der Äquivalenz. So ist auch der lateinische Ausdruck patre interfecto nur durch den Kontext ohne Mehrdeutigkeit verständlich. Diese aus der Passivform resultierende Mehrdeutigkeit könnte man auf formalgrammatischer Ebene in der passivischen Übersetzung des Nebensatzprädikats beibehalten (vollständige formal-grammatische Äquivalenz lässt der lateinische Ablativus absolutus nicht zu). Strebt man auf semantischer Ebene ein adäquates Verständnis durch den heutigen Leser an, das sich nicht erst aus dem entsprechenden Hintergrundwissen ergibt, sondern im Satz selbst zur Geltung kommt, wird man die auch stilistisch gefälligere aktivische Variante bevorzugen, die im lateinischen Ablativus absolutus schlicht nicht möglich ist und daher an dieser Stelle nicht ausgedrückt wird. Mit Blick auf den Lateinunterricht weist dieser Thread darauf hin, wie wichtig und offenbar auch notwendig es ist, beim Übersetzungsprozess stets das Textverständnis im Auge zu behalten und aktiv einzufordern, gleichzeitig aber auch die verschiedenen Übersetzungsvarianten sowie die Anforderungen an eine Übersetzung mit ihren Vor- und Nachteilen (im Sinne der Äquivalenz und Zielsetzung) offen zu diskutieren. Die Unsicherheit bei der Wiedergabe eines kryptoaktiven Partizips besteht interessanterweise nicht nur wie im obigen Thread auf Seiten von Schülerinnen 60 Zu unterscheiden ist hier das Verständnis, das während des Übersetzungsvorgangs in Auseinandersetzung mit dem lateinischen Text aufgebaut wird, und das Verständnis, das die endgültige schriftliche Übersetzung dem Leser ermöglicht. An dieser Stelle ist es durchaus möglich, dass der Satz richtig verstanden wurde, was aber nicht aus der Übersetzung ersichtlich wird. <?page no="250"?> 250 Monika Vogel und Schülern, wie die folgende Anfrage in einem anderen Forum zeigt (Abb. 7): 61 Abb. 7 Die Ausdrucksweise des Threadstellers „Hesychius“ sowie der Umgang mit dem lateinischen Satz und seinen möglichen Übersetzungen lassen darauf schließen, dass hier wohl kein Schüler um Rat fragt, sondern vielleicht ein (angehender? ) Lateinlehrer oder Nachhilfelehrer, jedenfalls jemand, der sich auf deutlich anderem Niveau und wahrscheinlich aus anderer Perspektive mit der vorliegenden Problematik auseinandersetzt. 62 Bei dem Beispielsatz, der aus dem Lehrbuch 61 https: / / www.albertmartin.de/ latein/ forum/ ? view=35066 (letzter Zugriff: 20.10.2018). 62 In anderen Threads tritt „Hesychius“ als Experte auf, der Hilfestellungen in Form grammatischer Erklärungen gibt. <?page no="251"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 251 Viva stammt (Lektion 30, Zusatztext), 63 wird besonders deutlich, wie sinnvoll es ist, über die bloße standardisierte Wiedergabe der grammatischen Konstruktion hinaus die Zielsprache und ihre üblichen Ausdrucksformen zu berücksichtigen. Noch stärker als im vorangehenden Beispiel entstellt die passivische Auflösung im Temporalsatz nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch den Sinn. Ähnlich wie oben geht aus einem dem Text vorangehenden deutschen Einleitungssatz klar hervor, dass der Ablativus absolutus dono viso semantisch mit dem Subjekt des Satzes (imperator) verbunden ist. In diesem Sinne ist denn auch der Ablativus absolutus zu verstehen, und so werden auch hier die unterschiedlichen Ausdrucksformen im Lateinischen und Deutschen ersichtlich. Es ist das vom Deutschen ausgehende sprachästhetische Empfinden, das den Threadsteller zu seiner scheinbar von der Regel abweichenden Übersetzung und der sich daraus ergebenden Frage veranlasst hat, während die lateinische Konstruktion in für das Lateinische durchaus üblicher Weise ausdrückt, wie der Kaiser (Augustus) das Geschenk (den Kopf des Quinctilius Varus) erblickt, daraufhin erschreckt (territus, s. Anm. 63) und schließlich einen Brief (litteras) findet, dessen Inhalt man im weiteren Textverlauf erfährt. Auch wenn der Lehrbuchcharakter des Satzes unverkennbar ist, braucht dieser Umstand in diesem Zusammenhang keinen Anstoß zu erregen, weil die hier vorliegende Konstruktion ihr Vorbild in Originaltexten hat und in vergleichbarer Weise (kryptoaktives viso im Ablativus absolutus mit Bezug auf das Subjekt des Satzes) vor allem in der Dichtung sogar recht geläufig ist. 64 So gelangt der Threadsteller über eine (passivische) „regelkonforme“ Standardübersetzung von seinem deutschen Sprachgefühl her zu einer zielsprachengerechten Übersetzung, die das wiedergibt, was tatsächlich mit der lateinischen Konstruktion ausgedrückt werden soll. Bezeichnend ist nun, dass sein Gedankengang in der Frage mündet, ob seine als besser eingeschätzte aktivische Wiedergabe wirklich erlaubt sei, und - noch bemerkenswerter - ob denn auch Schüler so übersetzen dürften (s. Abb. 7). Ein anderes Forumsmitglied gibt ihm daraufhin schließlich die „Erlaubnis“ mit Verweis auf den kryptoaktiven Gebrauch, doch ist damit die Problematik, die sich hier wie im vorangehenden Beispiel auftut, nicht gelöst. Vielmehr zeigt sich, wie wichtig eine genaue Durchdringung auch sprachspezifischer Feinheiten (hier der kryptoaktive Gebrauch) für den Übersetzungsprozess ist, damit dieser nicht in allgemeiner Verunsicherung oder einem willkürlichen Erraten einer angemessenen Übersetzung endet. Eine reguläre Standardübersetzung des Ablativus absolutus 63 Dort mit weiterem Partizip territus zur Beschreibung des imperator: dono viso imperator territus litteras invenit et haec legit. 64 So z. B. bei Verg. Aen. 10,786-788 ocius ensem / Aeneas viso Tyrrheni sanguine laetus / eripit … (hier ebenfalls mit weiterem Partizip laetus, ähnlich wie territus im Lehrbuch); Ov. ars 2,615 hoc quoque viso / avertit vultus nempe puella suos. <?page no="252"?> 252 Monika Vogel (hier die gängige Auflösung durch einen Nebensatz mit Beibehaltung des Passivs), wie sie die für den Schulgebrauch konzipierten Grammatiken vorgeben, 65 kann wie hier beim Threadsteller helfen, die Konstruktion zunächst einmal zu erfassen, um dann im nächsten Schritt zu überlegen, was denn mit diesem lateinischen Ausdruck im vorliegenden Kontext eigentlich ausgedrückt wird und wie man dies im Deutschen adäquat wiedergibt. 66 Dabei sollten ruhig auch solche lateinspezifischen Feinheiten im Unterricht transparent gemacht werden, damit eine scheinbar abweichende Übersetzung auf Schülerwie auf Lehrerseite nicht als „frei“ oder sogar „nicht erlaubt“ empfunden wird, sondern schlicht als Wiedergabe dessen, was im Lateinischen nun einmal anders ausgedrückt wird - ein Beispiel also dafür, dass didaktische Reduktion nicht immer eine Vereinfachung darstellt und es sich lohnen kann, die verschiedenen Ausdrucksformen des Lateinischen und Deutschen zu thematisieren und beim Übersetzungsvorgang zu berücksichtigen. Wichtig ist, dass dieser Prozess nicht allein auf formal-grammatischer Ebene abläuft, weil dies noch kein Textverständnis und eine gelungene Übersetzung garantiert, sondern andere Verstehensebenen miteinbezogen werden (Semantik, Pragmatik). 67 So gelangt man bei den beiden Beispielen zum Ablativus absolutus (wie auch im ersten Beispiel) letztlich im Zusammenspiel all dieser Ebenen zu einer adäquaten Übersetzung. Die Frage, wie man denn übersetzen dürfe, wird an anderer Stelle auch auf semantischer Ebene diskutiert. Bei den folgenden Beispielen geht es dabei nicht um die mögliche Wiedergabe bestimmter grammatischer Konstruktionen, sondern um eine semantisch passende Wiedergabe einzelner Wörter oder Ausdrücke. Das erste dieser Beispiele ist einem Brief Ciceros an seinen Freund Atticus aus dem Jahre 58 v. Chr. entnommen (Cic. Att. 3,15). Cicero, der diesen Brief 65 Die besondere Verwendung des Ablativus absolutus, die bei den Forumsmitgliedern zu Problemen führt, wird in den Grammatiken der Lehrwerke nicht immer eigens berücksichtigt, auch wenn sie in den Texten durchaus vorkommt. Mit einem gesonderten Abschnitt bedacht wird diese Erscheinung in der jüngeren Vergangenheit etwa in den Lehrbüchern Actio 2, 2006, 85, Viva (Begleitgrammatik 2014, 61) und besonders Pontes (Begleitband 2016, 98). Auch im Lehrbuch Comes 3, 2010, 147 wird die aktivische Übersetzungsvariante berücksichtigt, aber nicht eigens hervorgehoben. 66 Vgl. Lingenberg 2015, der ein solches Vorgehen anhand verschiedener grammatischer Phänomene ausführt. Die Bewältigung des Ablativus absolutus erfolgt bei ihm grundsätzlich mit Hilfe eines Temporalsatzes, woraus sich im Anschluss die passende Sinnrichtung und eine ggf. modulierte Übersetzung entwickeln soll. Die Umwandlung vom Passiv zum Aktiv thematisiert er nicht explizit. Der Verstehensprozess kann durchaus auch umgekehrt, d. h. ausgehend von einem semantischen und pragmatischen Verständnis, erfolgreich ablaufen, hierzu Florian 2015, 93-99. 67 Zu den verschiedenen Ebenen des Textverstehens und ihr Verhältnis zueinander Kuhlmann 2014, 35-38; ders. 2015, 22-25; Florian 2015, 163f. <?page no="253"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 253 aus seinem Exil schreibt, nimmt zu Beginn Stellung zu seinem aufgewühlten Gemütszustand angesichts der politischen und der daraus resultierenden persönlichen Umstände, die ihn dazu gezwungen haben, Rom zu verlassen. 68 Im Verlauf dieses ersten Briefteils versucht er daraufhin, seinen Klagen mit folgender Aufforderung an sich selbst Einhalt zu gebieten: Sed non faciam ut aut tuum animum angam querelis aut meis vulneribus saepius manus adferam (Cic. Att. 3,15,2). Im Forum liefert der Threadsteller eine bis auf die Wiedergabe von faciam grammatikalisch korrekte, aber deutlich an der Ausgangssprache orientierte Übersetzung (Abb. 8): 69 Abb. 8 Der Anlass dieser Anfrage im Forum, die Übersetzung klinge „sehr sperrig“, zeigt über das bloße Konstruieren hinaus das Bedürfnis nach einem angemessenen deutschen Ausdruck, wobei sich dies anscheinend nur auf den fettgedruckten Teil sed non faciam bezieht. Hierfür folgt dann auch ein Hinweis auf die Wendung facere ut („bewirken; verursachen; dafür sorgen, dass; ‚machen‘, dass“). Was aber im Folgenden diskutiert wird, betrifft den zweiten Teil des Satzes und insbesondere den Ausdruck meis vulneribus … manus adferam. Dabei offenbart sich zunächst ein Detail bezüglich der Korresponsion aut - aut: Der Vorschlag, das erste aut unübersetzt zu lassen, mit der Erklärung, es gehe darum, dass er, Cicero, nichts davon tue, richtet den Blick auf die Erschließung des Sinnzusammenhangs, die hier offenbar trotz der grammatikalisch korrekten Wiedergabe als notwendig angesehen wird, auch wenn dies im Forum nicht 68 Genauer zur Einordnung der Exilbriefe Jäger 1986, 31-43, sowie zu Brief 3,15 ebd. 96-99. 69 http: / / www.albertmartin.de/ latein/ forum/ ? view=36871 (letzter Zugriff: 20.10.2018). <?page no="254"?> 254 Monika Vogel weiter diskutiert wird. Letztlich lässt sich auch hier wieder die Frage der Äquivalenzen diskutieren und als Reflexionsanlass zur genauen Durchdringung des lateinischen Satzes nutzen, allerdings weniger auf semantischer, sondern eher auf formal-ästhetischer Ebene: Bezieht man die erste Hilfestellung des Forums in die Übersetzung ein, so ergibt sich zwar ein relativ flüssiger deutscher Satz („Aber ich will nicht dafür sorgen, dass ich dein Gemüt mit Klagen ängstige oder öfter Hand an meine Wunden [an]lege“ 70 ), der aber die Gegenüberstellung tuum animum - meis vulneribus vernachlässigt. Will man sich dem lateinischen Text annähern, müsste man im Deutschen ebenfalls einen Ausdruck finden, der neben den Verben auch die beiden Personen, Atticus und Cicero, entsprechend deutlich einander gegenüberstellt. 71 Naheliegend, aber auch etwas schwerfällig, ist eine Formulierung mit der syntaktischen Entsprechung „entweder - oder“, die aber für die Nachahmung der ciceronischen Stilmittel weniger entscheidend ist. So lässt sich die antithetische und parallele Satzstruktur auch ohne Korresponsion durch Änderung der Wortstellung und entsprechende Intonation abbilden: „…, dass ich [entweder] dein Gemüt ängstige mit Klagen oder an meine Wunden noch öfter Hand anlege“. 72 Um den Anfangsteil (faciam ut) von seinem noch unverkennbaren „Übersetzungsdeutsch“ zu befreien, könnte man die Übersetzung weiter glätten, etwa: „Aber ich will es nicht dazu kommen lassen, dass ich dein Gemüt ängstige mit Klagen oder an meine Wunden noch öfter Hand anlege“; oder man verzichtet ganz auf die Nachahmung des pleonastischen faciam ut und drückt den lateinischen Pleonasmus im Deutschen durch ein verstärkendes „gar“ aus, gegebenenfalls mit weiteren Anpassungen im ut-Satz zugunsten der Zielsprache: „Aber ich will gar nicht dein Gemüt 73 mit Klagen ängstigen oder meine Wunden noch öfter aufreißen“ (zu vulneri- 70 Diese Übersetzung geht aus den Korrekturen (zu faciam ut; aut - aut; manus adferam) in Kombination mit den nicht beanstandeten Teilübersetzungen des Threadstellers hervor, wird aber im Forum nicht ausformuliert. 71 Auch in den folgenden Sätzen bestimmt die Gegenüberstellung der beiden Briefpartner Inhalt und Satzstruktur (Cic. Att. 3,15,2 nam quod purgas eos, quos ego mihi scripsi invidisse […] ego vero […] puto […] ceteros quod purgas, debent mihi probati esse, tibi si sunt.) 72 Auch das Wort saepius regt die Frage nach dem genauen Sinn des Satzes an: „noch öfter“ im Sinne von „ich habe jetzt schon genug geklagt und will jetzt damit aufhören“ oder „allzu oft“ im Sinne eines generell immer wieder auftretenden Verhaltens. Im Kontext des Briefes und als Anschluss an die vorangehenden Klagen erscheint die erste Variante treffender. 73 Der Wunsch nach Anpassung an die Zielsprache wird in einem Beitrag des Forums auch dahingehend geäußert, den Ausdruck tuum animum einfach mit dem Pronomen „dich“ zu übersetzen. Diese eher auf pragmatische Äquivalenz ausgerichtete Wiedergabe (hierzu Koller 8 2011, 251-255) verzichtet auf die Parallelität von tuum animum und meis vulneribus, und der schwer wiederzugebende Ausdruck animus zur Bezeichnung von Atticus’ Innenleben wird auf eine bloße Personenbezeichnung reduziert. <?page no="255"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 255 bus manus adferam s. u.). Die Ausgestaltung des lateinischen Satzes geht damit weitgehend verloren und lässt sich nur am Original nachempfinden. So zeigen letztendlich alle Übersetzungsversuche, dass es nicht möglich ist, selbst diesem vermeintlich einfachen, da inhaltlich leicht verständlichen Satz in jeder Hinsicht gerecht zu werden. 74 Das Beispiel eröffnet somit, obwohl vom Threadsteller weder beabsichtigt noch bedacht, den Blick auf stilistische Feinheiten und feine Sinnunterschiede aufgrund der besonderen Gestaltung Ciceros. Insbesondere zeigt dieses Beispiel, wie man Übersetzungsreflexion mit stilistischer Analyse verbinden kann. Ein paar Wortwechsel ergeben sich im Forum schließlich aus dem Ausdruck meis vulneribus … manus adferam: Dem Versuch eines Forumsmitglieds, einen entsprechenden idiomatischen Ausdruck im Deutschen zu finden („Hand an meine Wunden legen“) wird letztlich mit einem Verweis auf einen Eintrag im „Georges“ begegnet: „meis vulneribus manus adferre = meine Wunden (immer wieder) aufreißen“. 75 Der Verweis auf diese Autorität, welche die Textstelle mit etwas anderer deutscher Formulierung angibt, genügt, um beim Threadsteller für Unsicherheit zu sorgen: „[…] ist meine Übersetzung denn falsch oder nur einfach stilistisch nicht so schön? Es ist eine Klausurersatzleistung und ich bin mir unsicher, wie frei ich übersetzen darf.“ Auch hier ist die Angst vor einer möglicherweise allzu freien Übersetzung erkennbar. Was sich hier bei den anderen Forumsmitgliedern außerdem andeutet, ist das häufig zu beobachtende Vorgehen, die Wiedergabe eines lateinischen Ausdrucks mit Hilfe einer von der Autorität eines Wörterbuchs vorgegebenen Wortgleichung zu lösen. Eine vom Text selbst ausgehende Semantisierung scheint manchmal geradezu sekundär. Diese Tendenz wird in einem anderen Beispiel noch deutlicher (Abb. 9): 76 74 Im Forum kommen die genannten Übersetzungsvarianten im Abgleich mit der stilistischen Gestaltung nicht zur Sprache. 75 Vgl. Georges s.v. affero: „manus afferre alci od. alci rei […], an jmd. od etw. Hand legen, sich vergreifen […] manus suis vulneribus, sie wieder aufreißen“. 76 http: / / www.albertmartin.de/ latein/ forum/ ? view=36547 (letzter Zugriff: 20.10.2018). <?page no="256"?> 256 Monika Vogel Abb. 9 Der Satz Ambarri te certiorem facere volunt sese depopulatis agris non facile ab oppidis vim hostium prohibere geht auf eine Stelle aus Caesars Bellum Gallicum zurück und wurde offenbar etwas vereinfacht bzw. gekürzt. 77 Es geht im Kontext dieser Stelle um die von den Helvetiern ausgehende Gefahr für die benachbarten Völker, die aufgrund der akuten Bedrohung durch die Helvetier, die bereits das Gebiet der Sequaner durchquert hatten, bei Caesar um militärischen Beistand bitten. Kurze Zeit nach der Eröffnung des Threads folgt prompt die erste Hilfe in Form einer vollständigen Übersetzung des Satzes (Abb. 10): Abb. 10 77 Caes. Gall. 1,11,4 eodem tempore Ambarri, necessarii et consanguinei Haeduorum, Caesarem certiorem faciunt sese depopulatis agris non facile ab oppidis vim hostium prohibere. <?page no="257"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 257 Was bei der von „Klaus“ angebotenen Übersetzung („dass sie […] den Ansturm der Feinde […] nicht leicht abwehren können“) für Unsicherheit sorgt, ist die Wiedergabe des lateinischen Substantivs vis durch das deutsche Wort „Ansturm“, das so nicht im Georges verzeichnet ist (Abb. 11): Abb. 11 Hier wird also eine Semantisierung aus dem Kontext heraus mit größerer Vorsicht betrachtet als die direkte Übernahme einer Bedeutung aus einem Wörterbuch, wobei hier zudem Unterschiede hinsichtlich der Glaubwürdigkeit verschiedener Wörterbücher ausgemacht werden („Pons“ gegenüber dem „Georges“ als höherer Autorität). In der Diskussion folgt dann immerhin noch der Einwand, was denn in diesem Kontext anderes gemeint sein solle als der konkrete Angriff, doch die Auffassung, der richtige deutsche Ausdruck ergebe sich genau aus den Angaben eines Wörterbuchs, scheint verbreitet. Dies ist auch nicht überraschend, weil ein verstehendes Lesen, bei dem die Semantisierung aus dem Satzganzen heraus erfolgt, sehr anspruchsvoll ist und ein entsprechendes Sprachniveau sowie viel Lektüreerfahrung verlangt. Aber solche nicht nur im Forum, sondern auch in der Praxis zu beobachtende Auffassungen von Übersetzen, die ja offenbar für eine gewisse Verwirrung sorgen, können zumindest als Anregung dienen, sich auch im schulischen Kontext mehr Gedanken darüber zu machen, was Übersetzen eigentlich ausmacht: Am Ende sollte es das Resultat einer gründlichen Dekodierung in Form einer angemessenen <?page no="258"?> 258 Monika Vogel deutschen Wiedergabe sein (wobei der Grad der Angemessenheit wiederum von dem Ziel abhängt, das man mit der Übersetzung verfolgt 78 ) und kein Puzzlespiel mit im Wörterbuch ermittelten Einzelausdrücken. Dies mag gerade bei noch unerfahrenen Lateinlernenden, wie es Schülerinnen und Schüler nun einmal sind, ein hoher und vielleicht idealistischer Anspruch sein, doch lohnt es sich schon, an manchen Textstellen für diese Problematik zu sensibilisieren und so zur Reflexion des Übersetzens anzuregen. Dies schützt auch davor, auf der Ebene des bloßen Konstruierens zu verharren und in ein Übersetzungsdeutsch zu verfallen, das schlimmstenfalls kaum noch verständlich ist oder sogar die Aussageabsicht des Textes verzerrt. In der Fachdidaktik wurde schon mehrfach auf die entsprechenden Anforderungen an eine Übersetzung, die sich daraus ergeben, hingewiesen, zumal sie auch denen der Lehrpläne entsprechen, gleichzeitig aber in Konflikt zu sehr unterschiedlichen Zielvorstellungen stehen, die es in der Unterrichtspraxis offenbar gibt. 79 Dass auf diesem Gebiet tatsächlich Handlungsbedarf besteht, konnten die Beispiele aus den Internetforen bestätigen. 3 Übersetzungsreflexion in der Lehrbuchphase Welche Bedeutung eine Thematisierung solcher grundsätzlichen Übersetzungsfragen schon in der Lehrbuchphase hat, sei - ergänzend zu den obigen Beispielen - an dem folgenden Text kurz gezeigt: Es handelt sich dabei um die Geschichte von Narziss und Echo in Lektion 27 des Lehrbuchs prima.nova, 80 von der auch ein paar Übersetzungen im Internet kursieren. Der folgende Ausschnitt stellt das Wechselspiel zwischen Narziss und Echo, die nur noch mit der Wiederholung seiner Worte antworten kann, in Anlehnung an Ovid dar: 81 78 Zur Skopos-Theorie s. o. Anm. 55 mit Literatur. 79 Hierzu Herkendell 2003, 4 f.; 9-13. Zu den Anforderungen an eine Schülerübersetzung s. o. Anm. 37. 80 Ebenso in prima. Ausgabe A (Lektion 26) und prima.brevis (Lektion 20). 81 Die Zeilenzählung des Lehrbuchs wurde beibehalten. Auf eine genaue Analyse der entsprechenden Ovidverse (Ov. met. 3,379-392) im Vergleich mit dem Lehrbuchtext muss hier verzichtet werden. <?page no="259"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 259 6 9 12 […] Tum demum Narcissus eam audit adeuntem, sed non videt. Itaque interrogat: „Quis adest? “ - „Adest! “ respondet Echo. Narcissus verbum auribus accipit et puellam verbum repetentem quaerit. Sed nihil videns: „Cur“, inquit, „me fugis? “ - „Me fugis! “ illa repetit. Hic autem territus magna voce clamat: „Huc veni! “ Et illa amore ardens vocat vocantem. Rursus Narcissus: „Te videre volo! “ - Et Echo: „Volo! “ Nunc puella iuveni pulchro occurrit. […] Es liegt in der Natur eines Lehrbuchtextes, dass er nicht an die kunstvollen Ovidverse heranreichen kann; dennoch versuchen die Autoren, Teile des Originals in den Text aufzunehmen. In der vorliegenden Szene zwischen der verliebten Echo und Narziss, der bei Ovid eher nach seinen Gefährten als - wie im Lehrbuch - nach der unbekannten Echo ruft, 82 gelingt dies bedingt: Abgesehen von den syntaktischen Vereinfachungen und Kürzungen weicht auch die sprachliche Darstellung des „Echos“ im Lehrbuch zum Teil vom ovidischen Text ab: Während der Dichter Ovid die Reaktion der Echo teils mit direkter Wiederaufnahme der Worte des Narziss, teils aber auch in Form einer syntaktisch deutlich schwierigeren Umschreibung darstellt, entwickelt sich der Dialog im Lehrbuchtext meist durch eine vereinfachte Wiederholung der vorangehenden Worte des Narziss in direkter Rede. Dadurch sowie durch die veränderte Wortwahl beim letzten „Echo“ 83 ergibt sich trotz der vordergründigen Vereinfachung, welche die grammatikalischen und lexikalischen Hindernisse des Ovidtextes beseitigt, eine Schwierigkeit, die stattdessen beim Übersetzen offenbar wird. Das Vorgehen, ausschließlich auf der Grundlage grammatikalischer Einzelwortbestimmungen zu übersetzen, führt hier in die Irre. Besonders deutlich demonstriert dies ein Internetbeitrag, der diese Einzelwortanalyse mit der daraus zusammengesetzten Übersetzung für den gesamten Text durchexerziert (s. Abb. 12 mit einem Auszug der entscheidenden Stelle). 84 82 So Frings 2005, 71 (dort auch genauer zur Gestaltung des Wechselspiels bei Ovid). 83 Der Ausruf Te videre volo! geht wohl auf das ovidische huc coeamus (Ov. met. 3,386f.) zurück. Bei Ovid gipfelt der Wortwechsel schließlich in dem „Echo“ der verliebten Nymphe sit tibi copia nostri (Ov. met. 3,391f.), das im Lehrbuchtext nicht verarbeitet ist. Man beachte neben der morphologisch-lexikalischen Vereinfachung auch die inhaltlich deutlich harmlosere Darstellung des Lehrbuchtextes an dieser Stelle (Doppeldeutigkeit des Verbs coire mit sexueller Konnotation). 84 Zu finden unter http: / / daed56.npage.at/ diverse-texte-1lernjahr-prima-26-1.html (letzter Zugriff: 20.10.2018). <?page no="260"?> 260 Monika Vogel Abb. 12 Zunächst ist der Wortwechsel unproblematisch: In Zeile 7 (s. o. den Lehrbuchtext) heißt es: „,Wer ist da? ‘ - ,Ist da! ‘ antwortet Echo“ und in Zeile 9f.: „,Warum fliehst du vor mir? ‘ - ,Fliehst du vor mir! ‘ wiederholt jene“. Das letzte „Echo“ jedoch erfordert einen genaueren Blick auf die Aussage des lateinischen Textes und unter Umständen eine Anpassung der zielsprachlichen Wiedergabe. Wenn man nämlich den Ausruf Te videre volo! in der im Deutschen üblichen Weise durch „Ich will dich sehen! “ wiedergibt, wie übersetzt man dann Echos Antwort volo? Gemäß der Aussageabsicht muss man hier „dich sehen! “ wiedergeben, die lexikalisch und grammatikalisch korrekte Einzelwortübersetzung, wie in der Übersetzung aus dem Internet vorgeschlagen, wäre unangemessen, weil sie dem Textsinn völlig entgegensteht. 85 Man könnte diese Unstimmigkeit zwischen Ausgangs- und Zielsprache allenfalls dadurch lösen, dass man im ersten Teil übersetzt: „Dich sehen will ich! “ und dann „will ich“, wie man es in einer anderen Internetübersetzung findet, 86 doch ist auch diese offensichtliche Notlösung nicht ganz zufriedenstellend, da sich eine solche markierte Wortstellung im Deutschen nicht so recht in die Erzählung fügt. 87 Das Textbeispiel bietet somit eine gute Gelegenheit, schon in der Lehrbuchphase über das Übersetzen zu reflektieren und unmittelbar am Text nachzuvollziehen, dass eine Übersetzung eben keine bloße grammatikalisch korrekte Wort-für-Wort-Wiedergabe ist, sondern die Aufgabe hat, den Text in seinem 85 Diese Übersetzung findet sich auch auf verschiedenen anderen Seiten, u. a. in einem Forum (zusammen mit einigen Grammatikfehlern), in dem aber nicht weiter über die Übersetzung diskutiert wird (www.albertmartin.de/ latein/ forum/ ? view=24075, letzter Zugriff: 20.10.2018). 86 Diese Übersetzung (des gesamten Textes) wurde auf verschiedene Seiten kopiert (z. B. https: / / primalateina.de.tl/ Prima-A-Lektion-21_30.htm, letzter Zugriff: 20.10.2018). 87 Bei Ovid ist diese Schwierigkeit, die durch die Infinitivkonstruktion des Lehrbuchtextes und die daraus resultierende abweichende Wortstellung im Deutschen entsteht, nicht vorhanden: Dort wiederholt Echo das Verb coeamus, was hinsichtlich der Wiedergabe des „Echos“ unproblematisch ist. <?page no="261"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 261 Gesamtzusammenhang zu erfassen und seine Aussageabsicht in der Zielsprache abzubilden. 4 Didaktische Konsequenzen Die allgemeine Unsicherheit darüber, was eine Übersetzung leisten soll, spiegelt sich auch im Internet wider. Abhilfe schaffen kann ein genauer Blick auf das, was im Lateinischen eigentlich ausgedrückt wird und welche Art von Äquivalenz man im Deutschen erreichen will. Dazu gehört nicht nur das Erkennen der lateinischen Formen, sondern auch ihrer Funktion im Kontext. Dass auch eine Nachahmung grammatischer Formen (etwa des Genus verbi) nicht unbedingt eine präzisere Wiedergabe des lateinischen Textes darstellt, wurde vor allem in den Beispielen zum Participium coniunctum und Ablativus absolutus deutlich. Dabei bedeutet eine Abweichung von der Sprachstruktur des lateinischen Textes nicht, dass die Grammatik vernachlässigt werden darf, im Gegenteil: Gerade durch eine tiefergehende Analyse des lateinischen Wortlauts und seiner Bedeutung kann der Blick auf grammatische Strukturen besonders geschärft werden. Wichtig für das Textverständnis und damit für eine angemessene Übersetzung ist dabei nicht nur die formal-grammatische Ebene, sondern auch die semantische und pragmatische Ebene, wie vor allem im ersten Beispiel deutlich wurde. Obwohl dies selbstverständlich scheint und die Leseforschung eine solche Herangehensweise nahelegt, vermitteln manche Diskussionen in Internetforen ein anderes Bild. Die Vorstellung von einer Übersetzung als „Nachvollzug von Lexemkombinationen und syntaktischen Strukturen“ 88 ist offenbar verbreitet. Zwar fehlt nicht das Bedürfnis, einen Text zu verstehen, doch herrscht anscheinend eine große Unsicherheit darüber, wie man sein Textverständnis in der Übersetzung formulieren darf, ohne dass diese sanktioniert wird. So wird eine gute, verständliche Übersetzung zugunsten der Reproduktion grammatischer Regeln zum Teil verworfen oder zumindest in Frage gestellt. Resultat ist dann mehr oder weniger gelungenes „Übersetzungsdeutsch“, das zwar auch im Internet nicht immer als zufriedenstellend angesehen wird, den schulischen Anforderungen an eine Übersetzung nach der dortigen Wahrnehmung aber eher entgegenkommt. Damit weisen die Beispiele über die konkreten sprachlichen Probleme hinaus auf die didaktisch besonders wichtige interaktive Komponente des Lateinunterrichts und die damit verbundene Bedeutung der Thematisierung des Übersetzens selbst: Die Diskussionen in diversen Internetforen zeigen, wie wichtig es ist, die in Fachdidaktik und Lehrplänen formulierten Qualitätsmerkmale einer Schülerübersetzung sowie verschiedene Varianten von Übersetzun- 88 Herkendell 2003, 5. <?page no="262"?> 262 Monika Vogel gen (je nach Zielsetzung) auch in der Unterrichtspraxis deutlich zu artikulieren und transparent zu machen. So kann eine offene und kritische Diskussion darüber, was eine gute Übersetzung ausmacht und was im Unterricht erwartet wird, nicht nur einer möglichen allgemeinen Verunsicherung entgegenwirken (unterstützt etwa durch einen Übersetzungsvertrag 89 ), sondern durch einen gezielten Blick auf das Verhältnis von Ausgangs- und Zielsprache neben der Übersetzungskompetenz auch die Sprachreflexion noch stärker schulen. 90 Die Beispiele aus dem Internet bestätigen weiterhin, dass es im didaktischen Kontext sinnvoll ist, eine Semantisierung aus dem Kontext heraus zu fördern und nicht durch Wortgleichungen zu suggerieren, ein lateinischer Text setze sich aus fertigen Formeln zusammen, die nur noch irgendwie zusammengesetzt werden müssen. Auch semantische Nuancen können auf diese Weise direkt am Text diskutiert werden. Die Zuhilfenahme eines Wörterbuchs oder anderer Vokabelübersichten ist damit nicht ausgeschlossen und vielfach notwendig; entscheidend für erfolgreiches Textverständnis und Übersetzungsreflexion ist hier ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den nötigen Hilfsmitteln und der Arbeit am Text. Bei solch hohen Zielen ist zu bedenken, dass im Unterricht auch gewisse Standardübersetzungen für bestimmte grammatische Konstruktionen (v. a. Partizipialkonstruktionen, a.c.i.) oder die Angabe fester Junkturen (vgl. oben manus afferre) gerade für Lernende in den ersten Jahren sinnvoll sind, damit überhaupt ein Zugang zur lateinischen Sprache möglich wird. Auch ist die hohe kognitive Herausforderung beim Übersetzungsvorgang zu berücksichtigen, die schnell zu einer Überlastung des Arbeitsgedächtnisses führen kann, wenn einzelne Bereiche (z. B. Wortschatz, Grammatik) nicht genügend (vor-)entlastet werden. 91 Aber die Beispiele dürften gezeigt haben, wie erhellend es selbst an scheinbar leichten Textstellen sein kann, überhaupt einmal über eine Übersetzung und ihr Verhältnis zum Ausgangstext nachzudenken. Literaturverzeichnis Bertram, Jürgen (2003), „Audacius vertere“. Zu Paraphrase und Übersetzung von Texten, Der Altsprachliche Unterricht 3, 34-39. Beyer, Achim (2004), Vernetztes Denken. Zum Umgang mit Übersetzungen von Lehrbuchtexten aus dem Internet, Der Altsprachliche Unterricht 1, 15-18. Burmester, Anna Philina (2018), Textverstehen ohne Rekodierung? , in: Korn, Matthias (Hrsg.): Latein-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin, 146-157. 89 Hierzu Keip/ Doepner ² 2010, 92. 90 Vgl. Vögler 1996. 91 Vgl. Florian 2015, 174. <?page no="263"?> Übersetzungen im digitalen Austausch 263 Florian, Lena (2015), Heimliche Strategien. Wie übersetzen Schülerinnen und Schüler? , Göttingen. Frings, Irene (2005), Das Spiel mit eigenen Texten. Wiederholung und Selbstzitat bei Ovid, München. Glücklich, Hans-Joachim (2017), Textverständnis und seine Überprüfung, Forum Classicum 4, 214-227. Herkendell, Hans Ernst (2003), Textverständnis und Übersetzung, Der Altsprachliche Unterricht 3, 4-13. Jäger, Wolfgang (1986), Briefanalysen. Zum Zusammenhang von Realitätserfahrungen und Sprache in Briefen Ciceros, Frankfurt a.M. Janka, Markus (2017), Übersetzen, in: ders. (Hrsg.), Latein-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin, 87-100. Keip, Marina/ Doepner, Thomas (²2010), Übersetzung und Texterschließung, in: dies. (Hrsg.), Interaktive Fachdidaktik Latein, Göttingen, 81-111. Koller, Werner ( 8 2011), Einführung in die Übersetzungswissenschaft, 8., neubearbeitete Auflage unter Mitarbeit von Kjetil Berg Henjum, Tübingen. Kuhlmann, Peter ( ³ 2012), Fachdidaktik Latein kompakt, Göttingen. — (Hrsg.) (2014), Lateinische Grammatik unterrichten. 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Zur Arbeit mit Übersetzungen im Lateinunterricht - Übersetzung (verzweifelt) gesucht! , in: Kofler, Wolfgang/ Schaffenrath, Florian/ Töchterle, Karlheinz (Hrsg.), Pontes V. Übersetzung als Vermittlerin antiker Literatur, Innsbruck 2009, 365-378. <?page no="265"?> „Das Studium erfreut nicht immer.“ 265 „Das Studium erfreut nicht immer.“ Ein Diskurs über Sinn und Zweck von Übersetzungen im Kontext Schule Ulf Hamacher 1 Thesendiskussion Das Übersetzen stellt ein Proprium des altsprachlichen Unterrichts - heute leider fast nur noch im Fach Latein - dar. Keine moderne Sprache befasst sich im Unterricht so systematisch und kritisch mit dem Phänomen, Inhalte von der einen in eine andere Sprache zu transferieren. So klar und selbstverständlich dies klingt - die unterrichtliche Wirklichkeit scheint zu diesem Grundprinzip eines inhaltlichen Transfers allzu oft geradezu in diametralem Widerspruch zu stehen. Dies mögen einige Thesen belegen, mit denen der Verfasser u. a. im Rahmen seiner Tätigkeit als Fachberater permanent konfrontiert wird: 1 „Damit ich als Lehrer sehen kann, ob meine Schüler Latein können, müssen sie unbedingt wörtlich übersetzen.“ Offensichtlich gehen Vertreter dieser These davon aus, dass die Übersetzung die Funktion erfüllen soll, der Lehrkraft anzuzeigen, ob ein vermitteltes Grammaticum von den Lernenden verstanden wurde - wohlgemerkt: die Übersetzung! Dies sei nur auf dem Wege einer möglichst „wörtlichen“ Übertragung zu leisten. Nicht bedacht wird, dass bei einem solchen Vorgehen in aller Regel die Textsemantik gewissermaßen im Sumpf eines „Latein-Deutsch“ verloren geht. Schüler werden gleichwohl von Beginn des Lehrgangs an darauf „getrimmt“, so zu verfahren, und verlieren dadurch in immer größerem Umfang die Fähigkeit, sich mit genuinem Deutsch zu befassen, das auch „Nicht-Lateiner“ verstehen könnten. „Erst wenn man weiß, wozu eine Übersetzung gebraucht wird, kann man das Kriterium der zielsprachlichen Adäquatheit erfolgreich auslegen.“ Das Ziel einer Übersetzung besteht aber nicht darin, dem Lehrenden die beruhigende Gewissheit zu verleihen, seine Schülerinnen und Schüler hätten die grammatikalischen Themen der vorausgegangenen Unterrichtsreihe erfasst, in dem sie möglichst „wörtlich“ „übersetzen“. Selbst Studierende im Praxissemesters übersetzen im 1 Ergänzt werden die Thesen durch Antithesen aus Macheiner 1995 sowie aus dem KLP Latein 2013. <?page no="266"?> 266 Ulf Hamacher Zweifelsfall immer „wörtlich“ oder fügen noch in Klammern eine „wörtliche“ Fassung bei - in der Furcht, der universitäre Lehrer könnte ansonsten grammatikalische Defizite unterstellen. 2 In diesem Sinne ist auch folgende fehlgeleitete These zu verstehen: „Ich verlange in Klassenarbeiten immer auch eine wörtliche Übersetzung bei denjenigen Stellen, die mir Schüler zu frei übersetzen. Dann sind alle entspannt.“ Davon abgesehen lassen sich bestimmte Sprachkompetenzen - im Idealfall - abgeleitet vom Text - je nach Grammaticum vor der Übersetzung oder im Nachgang - in Zusatzaufgaben leicht überprüfen. 3 Ähnlich gelagert ist die folgende These: „Die deutsche Übersetzung hat das Ziel, Grammatik zu überprüfen - so war das schon immer. Das ist sprachsensibles Arbeiten im eigentlichen Sinn! Alles andere käme einem Ausverkauf des Faches gleich! “ Hinzu kommt hier die gleichsam „historische“ Dimension des LU 4 : Entledige man sich der „Sitte der Vorfahren“, womöglich ausschließlich angelehnt an Konstruktionssowie Wort-für-Wort-Methode morphologisch und syntaktisch „genau“ zu übersetzen, verlöre das Fach seine Daseinsberechtigung. Nachfolgende These ist eine besonders üble, aber im realen LU noch immer anzutreffende Vorgabe: „Das lateinische Imperfekt muss mit dem Deutschen Präteritum übersetzt werden, das lateinische Perfekt mit dem deutschen Perfekt.“ Hier wird - aus Unkenntnis oder aus Gründen eines kommoden „Abhakkatalogs“ in Klassenarbeiten - zwischen den Tempora eine Beziehung konstruiert, die so nicht existiert und in der Regel ein „Latein-Deutsch“ produziert, also ein Deutsch, welches in der „realen“ Welt nicht existiert. Wirklich sprachsensibles Arbeiten ist dem gegenüber völlig entgegensetzt. „Auch in Klassenarbeiten gilt: Jedes (! ) Wort des lateinischen Textes muss übersetzt werden.“ Diese Aussage ist in dieser strikten Form nicht haltbar. 5 Noch problematischer ist es, diese „Anweisung“ auf griechische Texte mit ihrem 2 Vgl. Kuhlmann im vorliegenden Band. 3 So können ohne Probleme beispielsweise zur Überprüfung von morphologischen Kenntnissen Futur- oder Passivformen vor der Übersetzung eines Klassenarbeitstextes herausgefiltert werden. Diese kann man dann ggf. genau bestimmen und auch „wörtlich“ ins Deutsche übersetzen lassen. Daher ist es nach der Auffassung des Verfassers auch nicht notwendig - wie es einige Lehrende favorisieren -, in denjenigen Klassenarbeiten, in welchen das neu eingeführte Grammaticum erstmalig abgeprüft wird, „unbedingt“ auf eine „wörtliche“ Wiedergabe zu pochen. In späteren Arbeiten könne man dann - so deren Auffassung - auch einmal „zulassen“, dass ein lateinisches Futur nicht mit einem deutschen Futur übersetzt werde. Dies hat zur Folge, dass Lernende von Beginn an - und dies nur im LU - gewissermaßen ein Paralleldeutsch entwickeln, das nur in hermetisch abgeschirmten Lateinklassenräumen als state of the art gilt. 4 Lateinunterricht wird fortan abgekürzt mit „LU“. 5 Einfachstes Beispiel dürfte die deutsche Wiedergabe einer polysyndetischen Reihe mit et sein. <?page no="267"?> „Das Studium erfreut nicht immer.“ 267 semantisch sehr facettenreichen Partikelspektrum zu übertragen, was allerdings im realen Unterricht durchaus auch vorkommt. „Meine Schüler sind so schlecht in Latein, dass es besser wäre, im KLP 6 stünde: ,Basis im LU sind ausschließlich deutsche Übersetzungen! ‘.“ Offenbar handelt es sich um die Kapitulation einer Lehrkraft angesichts desaströser Schülerübersetzungsleistungen. In der Tat gab es in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts Bestrebungen, im Unterricht ausschließlich auf deutsche Übersetzungen zurückzugreifen. Zu Recht hat man davon Abstand genommen; denn auf der einen Seite gehen so sämtliche Lerneffekte verloren, die eine Übersetzungsleistung impliziert, und auf der anderen Seite werden Übersetzungen originaler Texte von Schülerinnen und Schülern vor allem semantisch nur in Ansätzen erfasst, insbesondere dann, wenn die Möglichkeit genommen ist, synoptisch auch einen Blick auf das Original zu werfen. „Eine Paraphrase genügt.“ Eine Paraphrase genügt nicht. Denn sie lässt im Gegensatz zu einer Übersetzung einen viel größeren Freiraum, Gedanken eines Textes wiederzugeben. Sie hat ihren festen Platz dort, wo z. B. nach einer ersten Erschließung oder einer Übersetzung der Nachweis erbracht werden soll, ob der Textinhalt wirklich verstanden wurde. 7 So kann nämlich auch eine Übersetzung so formalistisch erfolgt sein, dass der „Übersetzer“ seine Vorlage überhaupt nicht verstanden hat. 8 Eine wirkliche Übersetzung hingegen erfordert ein Hinwenden zum Textinhalt in engeren semantischen und syntaktischen Grenzen auf einem bildungssprachlichen Niveau - sowohl auf semantischer wie auch auf grammatisch-syntaktischer Ebene 9 . Dies bedeutet nicht: „Die Übersetzung darf sich in der Struktur vom Original nicht entfernen“ und auch nicht: „Formale Ähnlichkeit garantiert inhaltliche Ähnlichkeit“. Denn zwei Sprachen stellen grundsätzlich immer zwei verschiedene Sprachsysteme dar, die ihrer je eigenen Syntax zu folgen haben, will man keine neue „Kunstsprache“ entwickeln, die nur derjenige verstehen kann, der die Textvorlage kennt. Daher gilt ausnahmslos: „Man muss sich auf die prinzipiellen Unterschiede zwischen Sprachen einlassen“ bzw. „Die Übersetzung sollte dem Original weitestgehend so ähnlich sein, wie dies bei einer angemessenen Verwendung der zielsprachlichen Formen möglich ist“. Eine inhaltliche Kongruenz ist also prinzipiell anzustreben: „Gemäß dem Kommunikationsmodell muss gelten: „Der Informationsgehalt bei ,Sender‘ und ,Empfänger‘ sollte (nahezu) identisch sein“. Dies steht wiederum mit folgender 6 Gemeint ist der Kernlehrplan. 7 So auch üblich und sinnvoll z. B. bei universitären Latinums-, Graecums- oder Hebraicumsprüfungen. 8 Vgl. Kuhlmann im vorliegenden Band. 9 S. Abschnitt 3. <?page no="268"?> 268 Ulf Hamacher These in Zusammenhang: „Der Grad der Vertrautheit mit dem Gegenstand bestimmt den Grad der Explizitheit“. Wirklich übersetzen kann nur derjenige, der sich in die Ausgangssprache und -kultur hineinversetzt hat; in je höherem Maße das gelingt, desto genauer kann eine semantisch korrekte Übertragung gelingen. Um Übersetzungskompetenz in Schule ermessen zu können, besitzt folgendes Grundaxiom zeitlose Gültigkeit: „Der Grad der Übersetzungskompetenz zeigt sich am nachgewiesenen inhaltlich-sprachlichen Textverständnis“ 10 . Worin liegt der Sinn eines Textes - und also auch einer Übersetzung - wenn nicht darin, dass Sinn transportiert wird? Eine Fehlergewichtung kommt dann in Abhängigkeit vom Grad der Sinnentstellung zum Tragen - oder anders ausgedrückt: „Zur Ermittlung der Übersetzungskompetenz sind sowohl besonders gelungene Lösungen zu würdigen als auch Verstöße und der Grad der Sinnentstellung festzustellen“ 11 . Es handelt sich gerade im schulischen Kontext um besondere Leistungen der Lernenden, wenn sie bei ihren Übersetzungen in der Lage sind, den deutschen syntaktischen und semantischen Normen Rechnung zu tragen. Eine aufrichtige Wertschätzung scheint hier nur gegeben, wenn von der Fehlersumme auch faktisch subtrahiert wird. 12 „Alles ist übersetzbar.“ - „Nichts ist übersetzbar.“ Beide Thesen sind extrem und, nimmt man sie absolut, falsch. Eine Übersetzung kann mit ihrer Vorlage semantisch nicht völlig in Übereinstimmung gebracht werden. Denn alle haben unterschiedliche Vorstellungen von der Welt - dies gilt auch schon innerhalb einer Sprache - so gilt z.B.: „Wortspiele, Lautmalerei, Alliteration, Vokalharmonie, Metaphern sind nicht oder nur eingeschränkt übersetzbar.“ Andererseits ist es aber möglich, sich der Semantik des Ausgangstextes anzunähern und sie hier und da auch weitgehend zu treffen, so dass nicht alles, aber doch Vieles übertragen werden kann. 2 Wesentliche Ergebnisse Das Deutsche stellt ein eigenes Sprachsystem dar. Daher darf eine Übersetzung nicht dazu missbraucht werden, lateinische Grammatik zu überprüfen. Wenn Lehrkräfte zu Recht damit werben, dass der LU muttersprachliche Kompetenzen im Deutschen und anderen Sprachen durch die verwendete Bildungssprache 10 KLP Latein, 44. 11 Ebd. 12 Vgl. hierzu die praktikablen Lösungsvorschläge im sog. „Duisburger Modell“ in Doepner 2017, 65 f.; die Negativkorrektur stellt dann kein Hindernis dar; vgl. Kuhlmann im vorliegenden Band. <?page no="269"?> „Das Studium erfreut nicht immer.“ 269 sowie durch die Ausbildung einer grammatischen Metasprache fördere, 13 so dass damit konkret auch Aufstiegschancen für Lernende einhergehen, 14 kann es nicht sinnvoll sein, ja es ist geradezu kontraproduktiv, wenn man Schülerinnen und Schüler ein Deutsch produzieren lässt, das niemand ohne Vergleich mit der lateinischen Vorlage verstehen kann. Adressat einer Übersetzung ist also nicht eine Lehrkraft, die Grammatik überprüfen möchte. Im konkreten Unterricht ist es daher von der ersten bis zur letzten Lateinstunde der Lernenden u. a. sinnvoll und notwendig, den jeweiligen Kontext eines Satzes zu berücksichtigen, um eine zielsprachlich angemessene Übersetzung zu erreichen. 15 Den Lernenden in Schule und Universität ist durch einen „Übersetzungsvertrag“ 16 (im alltäglichen Unterricht bzw. Lehrbetrieb! ) 17 die Angst vor sogenannten „freieren Übersetzungen“ zu nehmen: sinnkonforme „Abweichungen“ dürfen kein Anlass für eine Fehlergewichtung sein; gute - d. h. dem Deutschen sehr entsprechende - Lösungen müssen durch Reduzierung der Gesamtfehlerzahl honoriert werden. 3 Beispiele aus der Lehrbuchphase und Phase der Originallektüre 3.1 Lehrbuch Dass es ab dem ersten Lehrbuchtext unausweichlich ist, Lernende über eine gute Übersetzung reflektieren zu lassen, zeigt folgendes Beispiel: Studium non semper delectat. 18 Will man zielsprachlich angemessen übersetzen, muss man sich darüber im Klaren sein, dass dieser Satz den Unterricht in einer römischen Schule bewertet, in der der Lehrer pädagogisch unsensibel Fehler brüllend kritisiert sowie langweilig unterrichtet, indem er permanent etwas diktiert. Vor diesem Hintergrund dürfte es klar sein, dass folgende Übersetzungen keine brauchbaren Ergebnisse darstellen: „Das Studium nicht immer erfreut“, „Das Studium erfreut nicht immer“, die folgenden Varianten den Sinn aber gut abbilden: „Lernen macht nicht immer Freude/ Spaß“, „Das Lernen ist 13 Dies sind entscheidende Kriterien, im Bereich Schule für das Fach Latein zu werben. 14 Vgl. Große 2014, 14f. 15 Vgl. unten die denkbaren Kontexte des Satzes Studium non semper delectat. 16 S. dazu die anregenden Ausführungen von Jens Heße im vorliegenden Band. 17 Im Unterricht können sich unter diesem Aspekt vor allem die Übersetzungskontrollphasen als hoch effektiv erweisen. 18 Lumina 1998, 12. <?page no="270"?> 270 Ulf Hamacher nicht immer motivierend“, „Lernen ist manchmal langweilig“, „Das Lernen im Unterricht ist manchmal langweilig“, „Unterricht ist nicht immer interessant“. 19 3.2 Originallektüre Den nachfolgenden Übersetzungsvorschlägen liegt Seneca, ep. 1,1 zugrunde: Ita fac, mi Lucili: vindica te tibi, et tempus, quod adhuc aut auferebatur aut subripiebatur aut excidebat, collige et serva. Persuade tibi hoc sic esse, ut scribo: Quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt. Turpissima tamen est iactura, quae per negle gentiam fit. Variante 1 20 So handle, mein Lucilius, nimm Dich für Dich selbst in Anspruch, und sammle und bewahre die Zeit, die Dir bisher entweder geraubt oder heimlich entwendet wurde oder entglitt. Sei davon überzeugt, dass es so ist, wie ich schreibe: Manche Zeiten werden uns entrissen, manche heimlich entzogen, manche verrinnen. Am schändlichsten ist jedoch der Verlust, der durch Nachlässigkeit verursacht wird. Die Übersetzung ist zielsprachlich angemessen und entspricht einer sehr guten Schülerleistung. Transpositionen (z. B. „und sammle und bewahre die Zeit“) und Modulationen (z. B. „geraubt oder heimlich entwendet wurde oder entglitt“) sind sinnvoll vorgenommen worden. Variante 2 21 So mach’ es, mein Lucilius, beanspruche Dich für Dich und die Zeit, die bisher entweder weggetragen wurde oder heimlich geraubt wurde oder entfiel, sammle und rette. Überzeuge Dich, dass dies so ist, wie ich schreibe: Gewisse Zeiten werden geraubt uns, gewisse heimlich entführt, gewisse fließen heraus. Am schändlichsten ist dennoch der Verlust, der durch Nachlässigkeit gemacht wird. Diese Wiedergabe ist sehr wörtlich und an manchen Passagen nur eingeschränkt verständlich oder gar unverständlich; solche Stellen sind im Rahmen 19 Versetzt man diesen Satz in ein universitäres Umfeld oder in einen beliebigen Ausbildungskontext, sind auch folgende Varianten vorstellbar: Das Studium/ die Ausbildung ist manchmal langweilig/ öde etc. 20 Diese Variante modifiziert die Übersetzung von Loretto 1991, 5. 21 Die Varianten 2 bis 4 stammen vom Verfasser. Die jeweils fehlerhaften Passagen basieren auf naheliegenden, in der Praxis so oder ähnlich anzutreffenden Entstellungen. Hier erweist sich die Variante 3 als besonders konstruiert; Ziel ist es nicht, darüber nachzusinnen, ob diese spezielle Fassung so denkbar ist oder nicht, sondern daraus abgeleitet grundsätzliche Überlegungen zur Übersetzungspraxis - insbesondere in Schule - anzustellen. <?page no="271"?> „Das Studium erfreut nicht immer.“ 271 einer Korrektur als Fehler zu gewichten, z. B. „Zeit, die bisher entweder weggetragen wurde“ oder „gewisse fließen heraus“. Variante 3 So tu, mein Lucili, beanspruche dich dir; auch die Zeit, weil sie bis jetzt weder weggetragen wurde noch bestochen wurde oder herausfiel. Sammle und rette. Überzeuge dir dies so zu sein, dass ich schreibe: Gewisse Zeiten retten uns, gewisse werden darunter geführt, gewisse hauchen aus. Hässlich ist so das Geldopfer, das per kühler Zurückhaltung fit ist. Diese Übersetzung ist im Ganzen unsinnig. Aufgrund zahlreicher Verstöße in den Bereichen Semantik, Syntax, Morphologie wird kein Textverständnis nachgewiesen. Die Leistung ist daher klar „ungenügend“. Variante 4 So sollst Du praktisch vorgehen, mein Freund Lucilius, befreie Dich in Deinem eigenen Interesse von Deinen falschen Wertvorstellungen, und mache Dich zum Herrn über Deine Zeit, die man Dir bislang entweder geraubt oder heimlich entzogen hat oder die Dir einfach so entglitt, ohne dass Du es gemerkt hättest. Du sollst davon überzeugt sein, dass es sich damit so verhält, wie ich es schreibe: Manche Augenblicke entreißt man uns gewaltsam, manche heimlich, manche sind einfach plötzlich vorbei, ohne dass wir das überhaupt irgendwie bewusst wahrgenommen hätten. Kein Zeitverlust erweist sich aber als fataler als derjenige, wenn man aus reiner Nachlässigkeit Zeit verliert, ohne dass man sie bewusst dafür verwendet hätte, sich von falschen Wertvorstellungen zu lösen. Die Übersetzung erscheint als elegant und aufgrund von z.T. stark interpretierenden Elementen auch an einen Adressaten gerichtet, der über kein vertieftes Wissen in stoischer Philosophie mit römischer Prägung verfügt. Eine derartige Wiedergabe ist gleichwohl nur auf Basis eines Hochschulstudiums zu erwarten. Falls aber Lernende an der einen oder anderen Stelle vergleichbare Lösungen präsentieren, sollte diese Leistung auf jeden Fall im oben dargestellten Sinn gewürdigt werden. Dennoch ist auch diese Übersetzungsvariante nicht unproblematisch, geht doch hier die im Original verankerte psychagogische Wirksamkeit des Harena-sine-calce-Stils völlig verloren. Literaturverzeichnis Doepner, Thomas/ Hesse, Godehard/ Keip, Marina/ Kurczyk, Stephanie (2017), Würdigung und Sinnverständnis, Der Altsprachliche Unterricht 4+5, 65f. <?page no="272"?> 272 Ulf Hamacher Große, Maria (2014), Deutsch als Zweitsprache - eine Einführung, in: Stefan Kipf, Integration durch Sprache, Bamberg. Loretto, Franz (1991), Epistulae morales ad Lucilium Liber I, Stuttgart. Macheiner, Judith (1995), Übersetzen - Ein Vademecum, Frankfurt a.M. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2013), Kernlehrplan für das Gymnasium - Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfalen, Latein [KLP Latein], Frechen. Schlüter, Helmut (Hrsg.) (1998), Lumina. Texte und Übungen, Göttingen. <?page no="273"?> Non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu Leid und Lust des Übersetzens 1 Jens Heße Das Übersetzen ist ein proprium des Lateinunterrichts und trägt damit auch zur Legitimation des Lateinischen im Fächerkanon der Schulen bei. Daher sollte in Schule wie Lehrerausbildung darüber reflektiert werden, auch mit einem Rückgriff auf die Antike selbst. Es werden Texte griechischer und römischer Autoren vorgestellt, die Schülern und Referendaren Theorie, Probleme und Freuden des Übersetzens nahebringen können. Einige fachdidaktische Überlegungen zum Übersetzungsvertrag schließen sich an. Es ist zu befürchten, dass ein Großteil derjenigen, die sich intensiver mit dem Übersetzen auseinandersetzen mussten - und das sind wohl Schülerinnen und Schüler, die das im Lateinunterricht taten und immer noch tun - durchaus auch mit dem Leid des Übersetzens und dem Leiden am Übersetzen konfrontiert wurde. Der Gegenstand, mit dem viele ihr übersetzerisches Tun am häufigsten assoziieren, könnte der Rotstift sein, mit welchem der Lehrer gnadenlos jeden Fehler angestrichen hat, hier eine falsche Vokabel, dort ein falscher Numerus, was sich dann nach einem vorgegebenen unerbittlich mathematischen Korrekturschema zu einer (schlechten) Note addierte. 2 Natürlich legitimieren Kernlehrpläne und Unterrichtende das Fach Latein mit dem obersten Lernziel Historische Kommunikation 3 , der Vermittlung vertikaler Multikulturalität 4 ; die neuen Lehrbücher, die immer bunter gestaltet sind und so in ihrer „Attraktivität“ Englisch- oder Französisch-Lehrbüchern nicht mehr 1 In der vorliegenden schriftlichen Fassung meines Vortrages wurde der mündliche und persönliche Charakter so weit wie möglich beibehalten, auf eine „Akademisierung“ der Ausführungen, die einen Beitrag aus dem Schulalltag liefern sollten, durch Einarbeitung gelehrter und fachdidaktischer Literatur wurde weitestgehend verzichtet. 2 Hiergegen wendet sich explizit z. B. das sogenannte „Duisburger Modell“; s. dazu den Beitrag von Ulf Hamacher im vorliegenden Band. 3 Als Leitziel des Lateinunterrichts genannt z.B im KLP NRW 2013, 11. 4 Weeber 1998, 126 f. sieht als Vorteil des Lateinunterrichts „Multikulturelles Denken in der historischen Vertikalen“. <?page no="274"?> 274 Jens Heße nachstehen wollen, locken mit faszinierenden Zeitreisen in das Alltagsleben der Römer, mit Mythologie und Archäologie, aber: Wenn auch heutzutage, wie Referendarinnen und Referendare des Fachseminars Latein am ZfsL Düsseldorf durch Unterrichtsbeobachtungen evaluiert haben, das Übersetzen als Fachspezifikum des Lateinischen deutlich mehr als die Hälfte der Zeit des Lateinunterrichts einnimmt 5 , verliert dieser seine Legitimation, wenn wir Wert des und Lust am Übersetzen nicht überzeugend vermitteln können. Deshalb ist die Tagung an der Universität Wuppertal, die einen Austausch von Wissenschaft und Schule über die zentrale Frage des Übersetzens ermöglichte, so wichtig, und sie ist fürwahr keine Selbstverständlichkeit. Als in meiner Studienzeit ein Freund berichtete, er habe in seinem Anglistikstudium ein verpflichtendes Seminar zur Übersetzungswissenschaft belegt, musste der Lateinstudent aus allen Wolken fallen: Wir Lateiner, deren Hauptgeschäft doch - neben dem Sammeln von Parallelstellen - das Übersetzen war, sollten derlei nicht lernen? Woran nun aber könnten Lateinlehrer sich bei der Beschäftigung mit Übersetzungen orientieren? Bevor man sich in die zum Teil hermetische Sprache der Translationswissenschaft einarbeitet, lohnt sich für den Latinisten ein Rückgriff auf die Antike, die auch für die Frage, was eine Übersetzung zu leisten habe, Modelle bietet. Im Folgenden werden griechische und lateinische Texte vorgestellt, die Schülern und Referendaren Theorie, Probleme und Freuden des Übersetzens nahebringen könnten. Die Wirkungsmächtigkeit von Übersetzungen zeigt sich auch heute noch am besten an sog. Heiligen Texten und hierzu ist die wohl berühmteste Anekdote die der Übertragung der Thora, eine Arbeit, die König Ptolemaios II. auf Anregung des Bibliothekars Demetrios von Phaleron, der in die Bibliothek von Alexandria auch eine griechische Übersetzung des „jüdischen Gesetzes“ einstellen wollte, in Auftrag gegeben hatte. Für die schwierige Aufgabe hatte der jüdische Hohepriester Eleazar dem König 72 kundige Männer vermittelt, 6 die bei einem siebentägigen Symposion durch eine Art „Ethik-Quiz“ von Ptolemaios 5 In Klassenarbeiten und Klausuren, die ja Lernerfolgsüberprüfungen darstellen, hängen in Deutschland (Auf die Vorgaben in Österreich, denen ein „moderner“ Übersetzungsbegriff zugrunde liegt, kann an dieser Stelle leider nicht eingegangen werden) Erfolg oder Misserfolg der Schülerinnen und Schüler nach wie vor wesentlich von der Übersetzungsfähigkeit ab. 6 Während Übersetzer heutzutage immer wieder über schlechte Bezahlung klagen müssen (s. dazu den Beitrag von Kai Brodersen im vorliegenden Band), erzählt die - historisch freilich kaum zu haltende - Legende in diesem Zusammenhang von der wohl am besten entlohnten Übersetzung aller Zeiten: Für die Bereitstellung der Übersetzer habe der König laut Aristeas als Preis den Freikauf von 100.000 jüdischen Sklaven erlaubt. <?page no="275"?> Non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu 275 in die Zange genommen und schließlich als der schwierigen Aufgabe für würdig befunden wurden. 7 Philon von Alexandrien 8 berichtet, wie sie sich an die Arbeit machten: Text 1: Philon von Alexandria, Die Anfertigung der Septuaginta: Übersetzung als Mysterium 1 Δοκιμασθέντες δ’ εὐθὺς ἤρξαντο τὰ τῆς καλῆς πρεσβείας ἀποτελεῖν καὶ λογισάμενοι 2 παρ’ αὑτοῖς, ὅσον εἴη τὸ πρᾶγμα θεσπισθέντας νόμους χρησμοῖς διερμηνεύειν, 3 μήτ’ ἀφελεῖν τι μήτε προσθεῖναι ἢ μεταθεῖναι δυναμένους, ἀλλὰ τὴν ἐξ ἀρχῆς 4 ἰδέαν καὶ τὸν τύπον αὐτῶν διαφυλάττοντας, ἐσκόπουν τὸ καθαρώτατον τῶν περὶ 5 τὸν τόπον χωρίων ἔξω πόλεως […] 6 Καθίσαντες δ’ ἐν ἀποκρύφῳ καὶ μηδενὸς παρόντος ὅτι μὴ τῶν τῆς φύσεως μερῶν, 7 γῆς ὕδατος ἀέρος οὐρανοῦ […] προεφήτευον οὐκ ἄλλα ἄλλοι, τὰ δ’ αὐτὰ πάντες 8 ὀνόματα καὶ ῥήματα, ὥσπερ ὑποβολέως ἑκάστοις ἀοράτως ἐνηχοῦντος. 9 Καίτοι τίς οὐκ οἶδεν, ὅτι πᾶσα μὲν διάλεκτος, ἡ δ’ Ἑλληνικὴ διαφερόντως, 10 ὀνομάτων πλουτεῖ, καὶ ταὐτὸν ἐνθύμημα οἷόν τε μεταφράζοντα καὶ παραφράζοντα 11 σχηματίσαι πολλαχῶς, ἄλλοτε ἄλλας ἐφαρμόζοντα λέξεις; 9 Nachdem sie also die Prüfung erfolgreich bestanden hatten, gingen sie sofort daran, ihre ehrenvolle Mission zu erfüllen. Sie waren sich bewusst, vor welch schwerer Aufgabe sie standen, nämlich durch göttliche Verkündung offenbarte Gesetze zu übersetzen, wobei sie weder etwas wegnehmen noch etwas hinzufügen oder umstellen durften, sondern den ursprünglichen Sinngehalt und Charakter bewahren mussten; und so guckten sie sich einen Ort außerhalb der Stadt aus, der ihnen besonders unbefleckt schien. Und dort saßen sie in der Abgeschiedenheit, denn niemand anderes war zugegegen als die Elemente Erde, Wasser, Luft und Himmel. Das Ergebnis: Sie formulierten nicht der eine dieses, der andere jenes, sondern gebrauchten exakt dieselben Vokabeln und Wendungen, als ob jedem einzelnen ein Souffleur heimlich vorgesagt hätte. Das ist 7 So berichtet ausführlich „Aristeas“. Der Text ist am leichtesten zugänglich und reichhaltig kommentiert bei Brodersen 2008. 8 Philon, Über das Leben des Moses 2,34-37 (gekürzt); zitiert nach Brodersen 2008. 9 Dass in einer latinistischen Veranstaltung ein griechischer Text zitiert wird, entspringt nicht dem Dünkel des Gräzisten, sondern bildet die Arbeit im Fachseminar ab. Bei der Erschließung griechischer Texte sind Lateinreferendarinnen und -referendare in einer ähnlichen Situation wie unsere Schülerinnen und Schüler bei der Übersetzung aus dem Lateinischen und können so die Wirksamkeit von Texterschließungsmethoden in einer Art Selbstevaluation nachvollziehen. <?page no="276"?> 276 Jens Heße umso ungewöhnlicher, da doch jeder weiß, dass jede Sprache, besonders das Griechische, einen vielfältigen Wortschatz aufweist und es dadurch möglich ist, denselben Gedanken durch unterschiedliche Ausdrücke und Umschreibungen in mehreren Arten wiederzugeben, wobei man jedesmal andere sprachliche Mittel verwendet. 10 72 auserwählte Männer also ziehen sich zurück, unbehelligt von profanen Einflüssen, nur von der Reinheit der Natur umgeben (Z. 4-6) und dann geschieht das bekannte Wunder: Alle erstellen dieselbe Übersetzung (τὰ δ’ αὐτὰ πάντες Z. 7 f.), Varianten sind nicht zugelassen (οὐκ ἄλλα ἄλλοι). Der Traum und das Prinzip wohl auch heute noch manchen Lateinlehrers, der dann allerdings Kunsttexte aus Lehrbüchern oder selbst verfasste Klassenarbeiten in einem Anflug von Hybris als Heilige Texte missdeutete. Den übersetzungstheoretischen „Normalfall“, der ohne göttliches Wunder gilt, nennt Philon ab Zeile 9: Aufgrund der differenzierten semantischen Idiomatik von Sprachen (πᾶσα διάλεκτος ὀνομάτων πλουτεῖ), ist es die Aufgabe des Übersetzenden, den Sinngehalt (ἐνθύμημα) des Ausgangstextes durch Ringen um eine möglichst äquivalente zielsprachige Idiomatik (ἐφαρμόζοντα λέξεις ) und auf Basis der Um- und Übersetzung ausgangssprachlicher Strukturen (μεταφράζοντα καὶ παραφράζοντα), im Bewusstsein, dass es keine 1: 1-Entsprechungen gibt (πολλαχῶς), stil- und auch wirkungsgerecht zu übertragen (σχηματίσαι) 11 . Der/ die übersetzende Schüler/ in ist bei einem solchen Übersetzungsverständnis zwar an die Vorlage gebunden, ihr aber nicht sklavisch ausgeliefert, wird damit in seinem/ ihrem Tun zum Akteur und Regisseur, also kreativ (sprachschöpferisch) tätig. Nicht nur für die Septuaginta, sondern auch für die Vulgata besitzen wir Zeugnisse der Entstehung. In einem Brief aus dem Jahr 396 (ep. 57 De optimo genere interpretandi) 12 bekennt sich Hieronymus, der schon seit einigen Jahren an der Übertragung des Neuen Testaments ins Lateinische arbeitete, zu Gütekriterien des Übersetzens, wobei für unseren Zweck besonders der Passus relevant ist, in dem er sich zu Textgrundlagen absque scripturis sanctis äußert: 10 Die Übersetzung orientiert sich an der Brodersens (s. auch dessen Beitrag im vorliegenden Band). Dabei sollen die Abweichungen keineswegs in Konkurrenz mit Brodersen treten, sondern dienen der Pointierung für unser Unterfangen. 11 σχηματίζω in Anlehnung an die Sprache des Theaters, s. LSJ, s.vv. σχῆμα, σχηματίζω. 12 Hierzu ausführlich Bartelink 1980. <?page no="277"?> Non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu 277 Text 2: Hieronymus, Prinzipien zur Anfertigung von Übersetzungen 13 1 Ego enim non solum fateor, sed libera voce profiteor 14 2 me in interpretatione 15 Graecorum 3 absque scripturis sanctis, ubi et verborum ordo mysterium est, 4 non verbum e verbo, sed sensum exprimere de sensu. 5 Habeoque huius rei magistrum Tullium: 6 Non est huius temporis dicere, 7 quanta in interpretatione praetermiserit, quanta addiderit, quanta mutaverit 16 , 8 ut proprietates alterius linguae suis proprietatibus explicaret. 9 Sufficit mihi ipsa translatoris auctoritas, qui ita locutus est: 17 10 „[…] nec converti ut interpres, sed ut orator, sententiis iisdem et earum formis tam quam 11 figuris, verbis ad nostram consuetudinem aptis; in quibus non pro verbo verbum necesse 12 habui reddere, sed genus omne verborum vimque servavi. Non enim me ea annumerare 13 lectori putavi oportere, sed tamquam appendere. […]“ 14 „Ex alia in aliam linguam ad verbum 15 expressa translatio sensus operit et velut laeto gramine sata strangulat.“ 18 13 Hieronymus epist. 57,5,2-6,2. Der Text wurde für die Behandlung in einer 8. Klasse leicht gekürzt und vereinfacht und ist in der Form präsentiert, wie er den Schülerinnen und Schülern dargeboten wurde. Handreichungen für den Unterricht und eine mit Vokabelhilfen versehene Version dieses Textes bieten in den Unterrichsmaterialien des Stark- Verlages Wissemann / Schmitz 2005. 14 An dieser Stelle kann man im Unterricht exemplarisch das Ringen um eine gute Übersetzung aufzeigen. Wie gelingt es, das Spiel mit Simplex und steigernden Kompositum im Deutschen nachzubilden? 15 Interpretatio als Terminus für die „Übersetzung“, s. dazu z. B. Krebs/ Schmalz 1905, s.v. interpretari. Hier fällt auch sprachlich zusammen, was zusammengehört: Übersetzen im Lateinunterricht ist immer zugleich Interpretieren. Eine Phasierung, die strikt zwischen einer „handwerklichen“ Übersetzungsphase und einer sich anschließenden hehren Interpretationsphase trennt, ist didaktisch nicht haltbar. Im Übrigen entspricht auch die gängige Definition der Übersetzungstätigkeit als strenge Schrittfolge von De- und Rekodierung (so z. B. Keip/ Doepner 2010, 81) weder den Regeln der Hermeneutik noch den Erfahrungen, die Lehrerinnen und Lehrer mit dem übersetzerischen Handeln von Schülerinnen und Schülern machen. 16 Praetermittere - addere - mutare scheinen geradezu eine Übersetzung von ἀφελεῖν - προσθεῖναι - μεταθεῖναι (oben Text 1, Z. 3) zu sein. 17 Cic. opt. gen. 14. 18 Zitiert wird Euagrius von Antiocheia. <?page no="278"?> 278 Jens Heße In einem anderen Brief fasst sich Hieronymus deutlich kürzer: 19 16 Haec est regula boni interpretis, ut idiomata linguae alterius exprimat 17 suae linguae proprietate. Allen Verfechtern einer sogenannten „wörtlichen“ Übersetzung, die es in Lateinlehrerkreisen immer noch gibt 20 , sei mit Hieronymus als regula boni interpretis entgegengehalten: non verbum e verbo, sed sensum exprimere de sensu, wobei es darauf ankommt, Strukturen und Eigenarten (idiomata/ proprietates) der Ausgangssprache (altera lingua) zielsprachengerecht wiederzugeben (suae linguae proprietate exprimere). Wer sich von Hieronymus nicht überzeugen lässt, wird vielleicht die auctoritas Ciceros anerkennen müssen. Wer wollte nicht lieber orator als reiner interpres 21 sein und statt als Kleinkrämer der Sprache gleichsam Einzelwörter wie Cent-Stücke auf den Tisch zu zählen (annumerare) lieber sorgsam das Ganze abwägen (appendere)? Ein orator nämlich benötigt, um Sinngehalt (sententiae), stilistischer Finesse (formae 22 et figurae), Gedankenführung und innertextlichen Bezügen (genus omne verborum) sowie Intention und Wirkung (vim) des Originals nahezukommen, ein hohes Maß an zielsprachlichem Repertoire und Kompetenzen und Urteilskraft, um die verba ad nostram consuetudinem apta zu finden, bzw. der/ die Schüler/ in entwickelt diese Kompetenzen gerade durch sein/ ihr übersetzerisches Handeln. 23 Sollte bis hierhin der Wert des Übersetzens aufgeschienen sein, so stellt sich immer noch die Frage und wird den Vertretern des Faches Latein von Eltern und Schülerinnen und Schülern immer wieder gestellt, ob der hohe Aufwand, der betrieben werden muss, um das Rüstzeug für das Übersetzen lateinischer Texte, also eine Fülle von Vokabeln und Kenntnisse in der mühsam zu erlernenden Morphologie und Syntax (hier sind wir wieder aus der Sicht mancher Schülerinnen und Schüler beim Leid), zu erwerben, durch den Ertrag gerecht- 19 Hieronymus, epist. 106,3. 20 S. z. B. Herkendell 2003, 4-13. 21 Zu interpres s. ausführlich Wiotte-Franz 2001; vgl. auch Horaz, ars 131-135: publica materies privati iuris eris, si / non circa vilem patulumque moraberis orbem / nec verbo verbum curabis reddere fidus / interpres nec desilies imitator in artum, / unde pedem proferre pudor vetet aut operis lex. 22 Formae bezieht sich hier eben nicht auf die Abbildung morphologischer Strukturen („Formen“) der Ausgangssprache, sondern auf die sprachliche Ausgestaltung im Sinne einer Figurenlehre. 23 Dass die sata der lateinischen Texte erstickt und überwuchert werden durch eine Übersetzung, die ein nicht durchschaubares Gestrüpp aus Einzelwörtern bietet, kann jedenfalls kein Lateinlehrer wollen. <?page no="279"?> Non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu 279 fertigt sei. Auch Lehramtsanwärter, die „frisch“ von der Universität kommen, erliegen häufig dem Praxisschock, wenn sie beobachten, wie „wenig“ Text man doch auch nach einigen Jahren der Spracherwerbsphase mit Schülerinnen und Schülern „schaffen“ könne. Die Unzahl von Legitimationsversuchen, die hierzu vorliegen, zu erörtern, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, auch hier möge eine antike Stimme als Leitlinie dienen: Text 3: Plinius der Jüngere, Übersetzung als Sprachschulung 24 Fuscus, ein junger, aus einer Patrizierfamilie stammender Bewunderer des Plinius, hatte sich in ländliche Abgeschiedenheit zurückgezogen, wo er die Muße nutzen wollte, um sich als Redner zu vervollkommnen. Plinius schreibt ihm folgenden Brief: 1 C. Plinius Fusco suo s. 2 Quaeris, quemadmodum in secessu, quo iam diu frueris, putem te studere oportere. 3 Utile imprimis - et multi praecipiunt - vel ex Graeco in Latinum vel ex Latino 4 vertere in Graecum 25 , quo genere exercitationis proprietas splendorque verborum, 5 copia figurarum, vis explicandi, praeterea imitatione optimorum similia inveniendi 6 facultas paratur. Simul, quae legentem fefellissent, transferentem fugere non possunt. 7 Intelligentia ex hoc et iudicium adquiritur. Plinius hat hier ein didaktisches Konzept formuliert, das für den heutigen Lateinunterricht fruchtbar bleiben kann: Gerade in einer Zeit, in der den Menschen durch die Neuen Medien ein unerschöpfliches Textkorpus zur Verfügung steht, auf das sie jederzeit sofort zugreifen können, wobei eine Einordnung und Gewichtung der Informationen erforderlich wäre, wird die exercitatio 26 des Übersetzens, die bei geringem Wortumsatz zur mikroskopischen Lektüre zwingt, zur Kompetenz, wenn man die Tiefe des Textverständnisses zur Richtschnur erhebt, das Innehalten und Verweilen, das „Sich-Abarbeiten“ an Texten dem schnellen, oberflächlichen Zugriff, bei dem der Leser häufig der Gefahr der Täuschung unterliegt, entgegensetzt. 27 24 Plin. epist. 7, 9, 1-2. 25 Vertere ex Latino in Graecum entspräche heute die Deutsch-Lateinische Übersetzungsübung, die allerdings in den Lehrplänen keine Rolle mehr spielt. 26 Eine solche ist natürlich auch mit Anstrengung verbunden, was nicht verschwiegen werden darf. Quintilian verwendet hier - wie häufig (vgl. Grodde 1997) - einen Begriff, den man aus dem Bereich der Leibeserziehung auf denjenigen der Geistesbildung übertragen kann. 27 Besonders in der Phase kontinuierlicher Lektüre lateinischer Originaltexte ist es Aufgabe des Unterrichts, den Schülerinnen und Schülern den Mehrwert der Originallektüre <?page no="280"?> 280 Jens Heße Der Lohn der Mühe, den Plinius verspricht, wäre sehr hoch und zur Legitimation des Übersetzens mehr als ausreichend: Intellegentia ex hoc et iudicium adquiritur. Doch das, was dort dem jungen Fuscus verheißen wird, im Lateinunterricht einzulösen und die Erreichung dieser Ziele gar belegen zu können, bleibt ständige Aufgabe der Unterrichtenden. Hierbei sollte man Plinius nicht zur Untermauerung alter Schlagwörter (intellegentia adquiritur = „Latein schult das logische Denken“ 28 ) als Kronzeugen aufrufen, sondern in der täglichen Unterrichtspraxis dem intellegere, also der begründeten Wahl zwischen mehreren Les-Arten 29 , Platz einräumen und die Schülerinnen und Schüler nicht durch Übersetzungsschematismus am Denken hindern. Dass durch diese Auseinandersetzung mit lateinischen Texten und durch „humanistische Bildung“ aus den Schülerinnen und Schülern gar bessere Menschen würden, die durch das laut Plinius erlangte iudicium vor totalitären Versuchungen gefeit wären, wird auch angesichts des Versagens eines großen Teils unserer Zunft im Nationalsozialismus niemand mehr leichtfertig behaupten können, doch darf man weiterhin darauf beharren, dass Sprachreflexion und Sprachbewusstsein einen wichtigen Beitrag zur Bildung und zur Erziehung zum mündigen Bürger leisten. 30 Welche Folgerungen sich aus dem oben skizzierten Übersetzungsbegriff für den Unterrichtsalltag ergeben, soll anhand einiger Anregungen und Beispiele deutlich zu machen, einen auch aus der ästhetischen Valenz des Originals erwachsenden Leseertrag, der durch Lektüre einer Übersetzung nicht zu erlangen wäre. Auch das ist bei Plinius - in ungleich schöneren Formulierungen - schon ausgedrückt. Literarische Texte sind durch das Erfassen manifester Informationen nicht abgegolten, sondern müssen im Zusammenspiel von Form und Inhalt durch Analyse der spezifischen sprachlichen und gestalterischen Ausdrucksmittel des Originals erfasst werden; zur Defizienz einer Übersetzung gegenüber dem Original vgl. auch Gellius (Noct. Att. 12,1, 24): Haec Favorinum dicentem audivi Graeca oratione. Cuius sententias communis utilitatis gratia, quantum memininisse potui, rettuli, amoenitates vero et copias verborum Latina omnis facundia vix quadam indipisci potuerit, mea tenuitas nequaquam. (Zur Übersetzung von Poesie äußert sich Gellius ausführlich in Noct. Att. 9, 9). 28 S. hierzu z. B. Ortner 2001. 29 Intellegentia ist eben wesentlich mehr als ein formallogischer Prozess der „Errechnung übersetzerischer Gleichungen“, sondern vielmehr ein inter-legere, ein unterscheidendes Innewerden der charakteristischen Merkmale einer sprachlichen Äußerung vermittels der Sinne und des Verstandes (vgl. Georges, s.v. intellego). 30 Vgl. z. B. KLP NRW 2008: „Der Erschließungs- und Übersetzungsprozess erfordert in besonderem Maße Genauigkeit, systematisches Vorgehen, überlegtes Abwägen von Alternativen und kritisches Beurteilen von Lösungsversuchen. Durch diese Art der Sprach- und Textreflexion, die ein wesentliches und spezifisches Element des Lateinunterrichts ist, entwickeln Schülerinnen und Schüler Lesekompetenz. […] Die Entwicklung dieser Fähigkeiten ist notwendig, wenn Jugendliche sich zu selbstständigen Persönlichkeiten heranbilden sehen, die den Aufgaben und Herausforderungen der modernen Lebenswelt gewachsen sind und Bereitschaft zeigen, in ihr Verantwortung zu übernehmen.“ <?page no="281"?> Non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu 281 aufgezeigt werden. Bequemer als bei einem „traditionellen“ Übersetzungsverständnis wird es für die Unterrichtenden sicherlich nicht. Besonders zu Beginn der Lehrerausbildung bekunden Referendarinnen und Referendare große Unsicherheit, wie mit divergierenden Schülerübersetzungen umzugehen sei, was man „durchgehen“ lassen könne, ob einer zielsprachig guten Übersetzung nicht immer eine an den Strukturen des Lateinischen orientierte „wörtliche“ vorausgehen oder eine „wörtliche“ Übersetzung gar nachgereicht werden müsse. Auch die Schülerinnen und Schüler gerade jüngeren Alters fordern Sicherheit ein und haben, besonders nach einem Lehrerwechsel 31 , ein Recht darauf, über die Anforderungen an Übersetzungen transparent informiert zu werden. Hierzu kann ein „Übersetzungsvertrag“ 32 dienen, der natürlich nicht zu Beginn eines Lateinlehrgangs ausgehändigt wird, sondern im Laufe dieses Lehrgangs erwächst. Wie sich bei Unterrichtsbeobachtungen immer wieder zeigt, ist das Übersetzungsgespräch eine der größten Herausforderungen für Lateinlehrer, da es äußerst schwierig ist, die Schülerbeiträge zu ordnen, häufige Fehlerkorrektur notwendig ist und es sich nicht linear-progressiv entwickelt, sondern oft Rückschritte entstehen. Ein Vertrag könnte folgende Elemente enthalten, die den Schulalltag erleichtern könnten: 33 Besprechung von Übersetzungen im Unterricht - Sende die Signale, die dem Lehrer klarmachen, ob eine Meldung sich auf den vorangehenden oder den folgenden Satz bezieht. 34 - Stelle bei Vorstellung deiner Übersetzungsvariante möglichst einen Bezug zu der vorher von deinem Mitschüler/ deiner Mitschülerin vorgebrachten Variante her. - Einleitende Floskeln wie „Ich habe aber geschrieben, Ist das auch richtig? “, „Ich habe da nämlich-…,“, „Gibt es einen Fehler, wenn man schreibt-…? “ sind unnötig. - Wiederhole nicht den ganzen Satz, sondern nenne nur den Teil, in dem du abweichst. 31 Dass die Lateinlehrer einer Schule sich im internen Fachcurriculum auf für alle verbindliche Maßstäbe und Gütekriterien für Übersetzungen geeinigt haben, ist wohl eher die Ausnahme. 32 Vgl. z. B. Keip/ Doepner 2010, 92f. 33 Die im Folgenden genannten Elemente entstammen einem Übersetzungsvertrag, den der Vf. mit Schülerinnen und Schülern einer 5. Klasse geschlossen hat. 34 Es muss klar sein, wann die Übersetzung eines Kolons, Satzes oder Abschnitts (vorläufig) abgeschlossen ist. Als praktikables Ritual hat sich bewährt, dass Schülerinnen und Schüler sich „normal“ melden, wenn sie Beiträge zum folgenden Satz leisten wollen, hingegen beide Arme heben, falls sie noch Fragen oder Anmerkungen zum Vorangehenden haben. <?page no="282"?> 282 Jens Heße - Versuche dabei möglichst, deine Abweichung mit Fachterminologie zu begründen, also nicht „Ich habe da ,ich hatte gesungen‘, nicht ,du hattest gesungen‘“, sondern „cantaveram ist 1. Person“. - Bei der Ermittlung der kontextaktuellen Bedeutung eines Wortes oder einer Wendung kann das Verwerfen einer Übersetzung nicht mit Sätzen wie „Im Vokabelverzeichnis steht das aber nicht“ begründet werden. („Die Bedeutung seines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Wittgenstein). - Benutze bei der Korrektur der von dir in Hausaufgaben oder im Unterricht erarbeiteten schriftlichen Übersetzungen keinen Tintenkiller, sondern schreibe die korrigierte Fassung darüber oder an den Rand, so dass du Fehleranalysen erstellen kannst. - Wenn du eine Übersetzung, die frei von „Wertungsfehlern“ war, hattest, aber sich in der Besprechung stilistisch oder semantisch bessere Varianten ergaben, ändere deine Übersetzung nicht, sondern schreibe die Varianten an den Rand des Heftes (daher musst du im Lateinunterricht immer ein Heft mit Rand haben). - Bei Hausaufgaben wird es immer wieder vorkommen, dass du Teile eines Textes oder Satzes nicht übersetzen kannst. Lasse in diesem Fall einen freien Raum. - Versuche, wenn möglich, eine Paraphrase zu formulieren. „Ich habe Zeile 3-5 nicht gekonnt“ gilt nicht, formuliere schriftlich oder im Kopf Gründe, warum die Übersetzung nicht gelingen konnte. Leitlinien des Übersetzens 35 - Sinnverständnis geht vor Strukturverständnis. 36 - Die Regeln der Zielsprache müssen stets beachtet werden. - Sprachtatsachen werden übersetzt, Kulturtatsachen nicht. - Bei der Übersetzung muss die vermutete Wirkung auf den römischen Leser (Irritation, Anstoßnehmen, Wut, Lachen etc.) berücksichtigt werden. 37 - Es gibt Grenzen der Übersetzbarkeit. 35 Die Leitlinien sind gewiss aus Sicht der Translationswissenschaft zu plakativ formuliert, dienen Schülerinnen und Schülern jedoch als einfach zu verstehende Kriterien für die Beurteilung von Übersetzungen. 36 Diese und die folgende Formulierung richten sich auch an diejenigen Schülereltern, die in ihrem eigenen Lateinunterricht mit anderen Übersetzungsvorstellungen konfrontiert waren. 37 Hier wäre der Vf. für eine gelungenere Formulierung der Leitlinie dankbar. Für das Gemeinte sei als Beispiel aus dem Griechischunterricht die Übersetzung der in den Tragödien zahlreichen Interjektionen genannt. ototoi u. ä. wirkt auf den heutigen Leser und Theaterbesucher wohl eher erheiternd, aber ist es mit einem „ach weh“ o. ä. besser wiedergegeben? <?page no="283"?> Non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu 283 Der Übersetzungsvertrag wird im Laufe des Lateinlehrgangs ständig um neu erarbeitete sprachliche Phänomene ergänzt, hierzu als Beispiel aus der Unterrichtspraxis Leitlinien zur Wiedergabe der Tempora: a) Perfekt Das lateinische Perfekt als Erzähltempus der Vergangenheit wird mit deutschem Präteritum wiedergegeben. Diese Leitlinie konnten sich die Schülerinnen und Schüler selbst erarbeiten, als sie mit dem folgenden Text konfrontiert worden waren 38 und von sich aus den Lösungsansatz zu einer „Korrektur“, nämlich der Änderung des Perfekts ins Präteritum, fanden: Sie sind hineingegangen. Er hat die Tür zugemacht, hat wieder den Arm um sie gelegt und hat sie nach hinten zum Wohnzimmer geführt. Als sie noch einen Schritt vom Wohnzimmer entfernt gewesen sind, ist darin das Licht angegangen. Das Mädchen hat aufgeschrien und sich an Spade geklammert. Dicht hinter dem Türrahmen hat der fette Gutman im Wohnzimmer gestanden und hat ihnen wohlwollend entgegengelächelt. Aus der Küche hinter ihnen ist der Junge Wilmer getreten. Schwarze Pistolen haben riesengroß in seinen kleinen Händen gewirkt. Cairo ist aus der Badezimmertür getreten. Auch er hat eine Pistole in der Hand gehabt. 39 b) Imperfekt 40 Die Tempusfunktion eines in einem narrativen Text von Perfektformen „umzingelten“ Imperfekts sollte in der Übersetzung z. B. durch entsprechende Zeitadverbien deutlich gemacht werden. c) Plusquamperfekt Das Plusquamperfekt bezeichnet eine Handlung, die in der Vergangenheit einer anderen Handlung vorausgeht (Vorvergangenheit). Hierbei ist das Lateinische bezüglich des Gebrauchs der Tempora oft genauer als das Deutsche. Allerdings 38 Ist hier der Gebrauch des Präteritumperfekts wirklich angemessen? (s. u. zum Plusquamperfekt). 39 Nach Hammet 1974, 184 f. (geändert). 40 Die Übersetzung des Imperfekts kann freilich erst dann kontrastiv thematisiert werden, wenn auch das Perfekt bekannt ist. Fast alle Lehrbücher führen jedoch - unter Missachtung der Frequenzstatistik und des Prinzips „Funktion vor Form“ - aufgrund der morphologischen Simplizität das Imperfekt als erstes Vergangenheitstempus ein. Wenn die Lehrperson zu diesem Zeitpunkt den Schülerinnen und Schülern die Begrifflichkeiten durativ, iterativ, konativ vorsetzt, kann kein Sprachbewusstsein geschaffen werden. Dieses kann (nach Einführung des Perfekts) nach Unterrichtserfahrungen durch z. B. folgende Aufgabenstellung gefördert werden: „Zeichne je eine durative, iterative und konative Bildergeschichte zu dem Satz Quintus puellam pulchram basiabat.“. <?page no="284"?> 284 Jens Heße sollte auch in der Übersetzung das Plusquamperfekt gebraucht werden, wenn dadurch die zeitliche Abfolge von Handlungen verdeutlicht wird. 41 Vergleiche die beiden Sätze: Als er zum ersten Mal mit seinem Geliebten schlief, trank er einen Wein. Als er zum ersten Mal mit seinem Geliebten geschlafen hatte, trank er einen Wein. d) Futur I Das Lateinische und das Englische sind bezüglich des Tempusgebrauches bei zukünftigen Vorgängen genauer als das Deutsche. Wenn ein Vorgang in der Zukunft liegt, muss im Englischen und Lateinischen Futur stehen. Im Deutschen sollte 42 man dann das Präsens setzen, wenn durch ein Signalwort klar ist, dass die Handlung in der Zukunft stattfinden wird. 43 e) Futur II Das Futur II muss im Lateinischen stehen, wenn ein Geschehen in der Zukunft einem anderen zukünftigen Geschehen vorausgeht. Es steht vor allem in Konditionalsätzen. Si bene laboraveritis, vobis fabulam narrabo. Cum omnes labores finivero, multas horas dormiam. 41 Bei Keip/ Doepner 2010, 83 heißt es: „Das deutsche Zeitgefüge folgt z. B. anderen Regeln als das lateinische, daher ist es schlichtweg falsch, lateinisches Plusquamperfekt immer mit deutschem Plusquamperfekt wiedergeben zu lassen“. Hierzu hätte man sich Beispiele gewünscht. Die aktuelle Duden-Grammatik ( 9 2016) jedenfalls führt zum Präteritumperfekt fast ausschließlich Beispiele an, bei denen die Markierung der Vorzeitigkeit durch die Tempuswahl notwendig ist. 42 Vor einigen Jahren war dieser Satz noch mit dem Modalverb können formuliert, aber der Sprachgebrauch ist hier eindeutig, wie auch ein Blick in die aktuelle Duden-Grammatik ( 9 2016) beweist. Manche Lateinlehrer fühlten sich früher als die wahren Deutschlehrer, die als einzige noch die wahre Sprache bewahrten, wobei sie bisweilen versäumten, sich in die außerhalb des Lateinunterrichts gültigen Regeln der deutschen Grammatik einzulesen. Mancher hätte wohl gar gerne Goethe so verbessert: „Die Vögelein schweigen im Walde, / Warte nur, balde / Wirst du auch ruhen“. Leider muss man immer noch - wenn auch seltener - hören, dass Kollegen korrekte Übersetzungen mit Fehlern bewerten, weil sie nicht die Strukturen und Eigentümlichkeiten der Ausgangssprache abbilden. Das wird auch gerechtfertigt damit, dass Schülerinnen und Schüler ansonsten ohne fundierte Kenntnis der Morphologie zu zufällig richtigen Ergebnissen kämen. Denjenigen, die von solchen Ängsten geplagt sind, kann man nur empfehlen, die Futurformen bestimmen zu lassen und dann für unzureichende Morphologiekenntnisse Punktabzüge zu geben (s. den Beitrag von Ulf Hamacher im vorliegenden Band). 43 S. dazu auch Macheiner 1991, 228f. <?page no="285"?> Non verbum de verbo, sed sensum exprimere de sensu 285 Das Deutsche ist im Tempusgebrauch nicht so genau wie das Lateinische und meidet das komplizierte Futur II. Es wird mit deutschem Präsens oder Perfekt übersetzt. 44 Leid und Lust des Übersetzens - ein kleiner Teil der Schülerviten, den Lateinlehrer begleitet es ein Berufsleben lang. Er kann sich entscheiden, ob er den gestrengen Blick ausschließlich auf (vermeintliche) Defizite und Fehler lenkt oder ob er seinen Lerngruppen Freiraum zum Denken gibt, Varianten und Diskussionen Raum gibt, sich immer wieder aufs Neue überraschen und begeistern lässt von Schülerbeiträgen, auf die er selbst nicht gekommen wäre und die ein vertieftes Textverständnis dokumentieren. Davon hängt vielleicht nicht nur seine eigene Berufszufriedenheit, sondern auch die Zukunft des Lateinunterrichts ab. Literaturverzeichnis Bartelink, Gerhardus. J. M. (1980), Hieronymus, Liber de optimo genere interpretandi (epist. 57), Leiden. Brodersen, Kai (Hrsg.), Aristeas. Der König und die Bibel, Stuttgart. Grodde, Olaf (1997), Sport bei Quintilian, Hildesheim. Hammett, Dashiell (1974), Der Malteser Falke, übersetzt von Peter Naujack, Zürich. Herkendell, Hans Ernst (2003), Textverständnis und Übersetzung, Der Altsprachliche Unterricht 46 (3), 4-13. Keip, Marina/ Doepner, Thomas (Hrsg.) (2010), Interaktive Fachdidaktik Latein, Göttingen. Krebs, Johann Ph./ Schmalz, Joseph H. ( 7 1905), Antibarbarus der lateinischen Sprache, Basel. Macheiner, Judith (1991), Das grammatische Varieté oder die Kunst und das Vergnügen, deutsche Sätze zu bilden, Frankfurt a.M. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe I. Gymnasium/ Gesamtschule in Nordrhein- Westfalen. Lateinisch [KLP NRW 2008], Frechen. — (2013), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II. Gymnasium/ Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Lateinisch [KLP NRW 2013], Frechen. Ortner, Tuulia M. (2001), Der Latein-Effekt - Schult Lateinunterricht die kognitiven Fähigkeiten? , Pegasus- Onlinezeitschrift 11, 69-81. 44 Zumindest das dürfte heutzutage unter Lateinlehrern communis opinio sein. Schon in dem „Übungsbuch für den grundständigen Lateinunterricht“, mit dem der Verf. als Schüler in die Grammatik eingeführt wurde, heißt es: „Das Futurum II steht fast nur in Nebensätzen; es bezeichnet eine Handlung, die einer anderen zukünftigen Handlung vorausgehen wird. Sī epistulam scrīpserō, tēcum ambulābō („Wenn ich den Brief geschrieben haben werde, werde ich mit dir spazieren gehen.“). Die deutsche Sprache setzt in diesem Fall gewöhnlich das Perfekt: Wenn ich den Brief geschrieben habe, werde ich […]“ Schlüter 5 1972, 78. <?page no="286"?> Schlüter, Helmut ( 5 1972), Ianua Linguae Latinae, Ausgabe D, Band 2, Göttingen. Weeber, Karl-Wilhelm (1998), Mit dem Latein am Ende? Tradition mit Perspektiven, Göttingen. Wiotte-Franz, Claudia (2001), Hermeneus und Interpres. Zum Dolmetscherwesen in der Antike, Saarbrücken. Wissemann, Michael/ Schmitz Dietmar (2005), Sprachtheorie in der christlichen Literatur der Spätantike, Freising. Wöllstein, Angelika (Hrsg.) ( 9 2016), Duden. Die Grammatik, Berlin. <?page no="287"?> Teil 4: Ü̈bersetzungspraktische Perspektiven <?page no="289"?> Glasschrank und Nähkästchen 289 Glasschrank und Nähkästchen Übersetzungen aus dem Lateinischen auf dem deutschen Buchmarkt Kai Brodersen 1 Der Münchener Glasschrank „Verhalten im Brandfall: Ruhe bewahren! Rettung von Menschenleben geht vor Brandbekämpfung! “ Handschriftlicher Zusatz: „Klassiker vor Nichtklassikern! “ Als ich vor vier Jahrzehnten in München studierte, wies am Eingang zu der großen Freihand-Bibliothek der Klassischen Philologie die eben zitierte Instruktion auf das richtige Verhalten im Brandfall hin. Gleich daneben stand der „Glasschrank“, ein mit einer Glastür verschlossenes Bücherregal, in dem sich zweisprachige Ausgaben und Übersetzungen antiker Texte befanden - vor allem die Bücher der großen Klassiker, ferner ein paar nichtklassische Werke der antiken Literatur wie die des Agrarschriftstellers Columella oder des Architekten Vitruvius. Wir Studierenden konnten diese Bücher zwar ständig sehen, aber nur dann erreichen, wenn wir bei der Aufsicht nach dem Schlüssel zum Glasschrank zu fragen wagten; wir mussten uns dann sogleich namentlich in eine offen ausliegende Liste eintragen, die allen Vorbeikommenden deutlich machte, wer offenkundig zu blöd war, ohne die verlockende Hilfe aus dem Glasschrank studieren zu können. Es versteht sich, dass die für publizierte Übersetzungen getroffene Auswahl antiker Werke ebenso wenig Gegenstand des Studiums war wie die Qualität der „eingesperrten“ Übersetzungen. Der Glasschrank war ein sehr sichtbares Symbol dafür, dass gedruckte Übersetzungen im Studium eigentlich nichts zu suchen haben - die gehörten allenfalls in den Bereich des Bildungsbürgertums, das vielleicht in der Schule Latein gelernt hatte, aber im Berufsleben ein noch vorhandenes Interesse an der Antike am ehesten in Übersetzungen oder besser zweisprachigen Ausgaben wachhalten konnte. „Übersetzungen sind etwas für Zahnärzte“ - die eben nach dem Abitur am „Huma“ (dem humanistischen Gymnasium) kaum noch Latein konnten, aber an den großen Klassikern ihre bildungsbürgerliche Freude hatten. <?page no="290"?> 290 Kai Brodersen 2 Bildungsbürgerliche Übersetzungsreihen Gedruckte Übersetzungen gerade von Klassikern hatten schon damals eine 150-jährige Tradition. „Römische Prosaiker in neuen Übersetzungen“ - so lautete der Titel einer Buchreihe, die von dem Philologen Gottlieb Lukas Friedrich Tafel (1787-1860), dem Theologen Christian Nathanael (von) Osiander (1781- 1855) und dem Pfarrer Gustav Schwab (1792-1850) seit 1826 in Stuttgart herausgegeben wurde und im Laufe der Jahre 242 Bände umfassen sollte; sie wurde seit 1830 durch die Reihe „Römische Dichter in neuen metrischen Übersetzungen“ ergänzt, in der insgesamt 77 Bände herauskommen sollten. Seit 1828 erschien in Prenzlau eine „Übersetzungsbibliothek der griechischen und römischen Klassiker“, seit 1854 in Stuttgart die „Neueste Sammlung ausgewählter griechischer und römischer Classiker, verdeutscht von den berufensten Übersetzern“ und zunächst parallel dazu, dann als Nachfolgerin der Reihe in Berlin-Schönefeld die „Langenscheidtsche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neuen deutschen Muster-Übersetzungen“. Deutlich ist schon in manchen Reihentiteln die Ausrichtung an „Klassikern“, also an Werken, die im gebildeten Bürgertum zum Bildungskanon gehörten, und der Anspruch, „neue“ oder gar „neueste“ Übersetzungen von der hohen Qualität von „Musterübersetzungen“ aus der Feder der „berufensten Übersetzungen“ zu präsentieren. Mit der Einführung von „Reclams Universal-Bibliothek“ 1867, in der auch eine ganze Reihe von Übersetzungen aus dem Lateinischen erschien, wurde schließlich ein nochmals weiterer Leserkreis erreicht. Die Übersetzung aus dem Lateinischen war auf dem breiten deutschen Buchmarkt angekommen, und einige Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert sind heute nicht nur in immer neuen Bearbeitungen lieferbar, sondern zunehmend auch als Bilddateien im Internet auf Repositorien wie archive.org. Die über ein Jahrhundert alten Publikationen suggerieren heutigen Studierenden und Interessierten die einfache Verfügbarkeit antiker Texte in „neuesten“ Übersetzungen, obgleich natürlich das Deutsche jener Versionen heute oft antiquiert wirkt und damit die Antike unnötig verfremdet (s. dazu den Beitrag von Niklas Holzberg im vorliegenden Band) und zumal die Übersetzungen nicht selten auf inzwischen völlig überholten Textausgaben beruhen, was sie heute kaum brauchbar, teils sogar irreführend macht. Bildungsbürgerliche Übersetzungsreihen gab und gibt es seither noch mehrere: Seit 1923 erschienen die nach wie vor sehr marktpräsenten „Tusculum“-Bände, zunächst im Verlag ihres Begründers Ernst Heimeran in München, später bei Artemis in Zürich und dann in anderen Verlagen, heute bei De Gruyter in Berlin. Während der deutschen Teilung, in der die Tusculum-Bände im „Westen“ publiziert wurden, gab das Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie <?page no="291"?> Glasschrank und Nähkästchen 291 der Akademie der Wissenschaften der DDR seit 1956 die zweisprachige Reihe „Schriften und Quellen der alten Welt“ heraus. Auch einsprachige Ausgaben lateinischer Texte erschienen in beiden Teilen Deutschlands, so etwa bei Reclam sowohl in Leipzig als auch in Stuttgart und bei Insel sowohl in Leipzig als auch in Frankfurt am Main. Im „Westen“ gab es seit 1947 die einsprachige „Bibliothek der Alten Welt“ im schon genannten Artemis-Verlag, im „Osten“ seit 1965 die ebenfalls einsprachige „Bibliothek der Antike“ im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar. Da Tusculum lange auf bildungsbürgerliche „Klassiker“ setzte, wurden einige lateinische Fachtexte ab 1971 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt innerhalb der „Texte zur Forschung“ publiziert; 2004 führte die seinerzeit drohende Schließung der Tusculum-Reihe zur Begründung der „Edition Antike“ in demselben Verlag, die inzwischen 54 Bände umfasst. Seit 2012 angekündigt ist eine „Bibliothek der lateinischen Literatur der Spätantike“ 1 , von der allerdings bislang erst ein Band (2019) erschienen ist. Seit 2014 hat der Marix-Verlag im Verlagshaus Römerweg in Wiesbaden in seiner sehr preisgünstigen „Kleinen Historischen Bibliothek“ ein gutes Dutzend antiker Werke herausgebracht. Daneben erschienen und erscheinen lateinische Klassiker in Übersetzung auch im Kontext allgemeiner Klassiker-Reihen, nicht nur in den bereits genannten Verlagen Insel und Reclam, sondern auch in Verlagen wie Goldmann, Manesse, Schwab und Steiner. 3 Spicker Doch nicht nur das etablierte Bildungsbürgertum verlangte nach einem bequemen Zugang zu Übersetzungen aus dem Lateinischen; insbesondere waren es Schülerinnen und Schüler, die Latein erst noch zu lernen hatten. Zu deren (von den Lehrkräften unbemerktem) Gebrauch erschien seit 1871 zunächst in Halberstadt, später in Leipzig (und nach dem Zweiten Weltkrieg in Hollfeld bei Bamberg) die „Übersetzungs-Bibliothek griechischer und römischer Klassiker“ mit dem alternativen Reihentitel „Kleine Übersetzungsbibliothek“, die im Laufe der Zeit 559 Bändchen mit möglichst wörtlichen Übersetzungen der Schulautoren umfassen sollte - diese hohe Zahl ist freilich auch eine Folge der außergewöhnlichen Handlichkeit der Publikationen, die allenfalls ein antikes Buch umfassen und im Format (6 x 9 cm) in jede Hosentasche und unter jede Schulbank passten. Sie sind der archetypische „Spicker“ für Lateinlernende - und in wissenschaftlichen Bibliotheken kaum nachgewiesen, da ihr Format und wohl auch ihre „An- 1 http: / / fordoc.ku-eichstaett.de/ 1860. <?page no="292"?> 292 Kai Brodersen rüchigkeit“ eine bibliothekarische Erfassung nicht angeraten schienen lassen; die beste Zusammenstellung der Titel wird einem Sammler verdankt. 2 Anders als bildungsbürgerliche Übersetzungen, die es - wie oben gezeigt - nach wie vor gibt, sind heute gedruckte Übersetzungen speziell für Schülerinnen und Schüler nicht mehr marktgängig. „Spicker“ gibt es zwar weiterhin, wie aktuelle Erfahrungen in Schule und Hochschule nahelegen, allerdings werden angesichts der Verfügbarkeit mancher alter Übersetzungen im Internet (s. o.) und damit auf dem „Smartphone“ kaum noch gedruckte Bücher herangezogen. Das hat auf dem Buchmarkt durchaus sichtbare Folgen. An die Stelle „handlicher“ (und also auch ganz gut versteckbarer) Einzelausgaben treten beispielsweise in Reclams Universal-Bibliothek zunehmend umfangreiche Gesamtausgaben. Senecas Briefe etwa sind nicht mehr in schlanken Einzelausgaben auf dem Markt, sondern sind nun in einem 2.131 Seiten starken und fast anderthalb Pfund schweren Reclam-Band in zwei Teilen erschienen, der unter keine Schulbank mehr passt. 4 Klassiker vor Nichtklassikern? Das Interesse an antiken Texten gilt nach wie vor den Klassikern, geht aber inzwischen über den bildungsbürgerlichen Kanon weit hinaus; es ist bemerkenswert, dass sogar die Tusculum-Bücher dank der Herausgeber Niklas Holzberg und Bernhard Zimmermann inzwischen sowohl Klassiker als auch Nichtklassiker umfassen. Neben „Evergreens“ auf dem Buchmarkt wie antiken erotischen Texten sind es insbesondere Fachtexte, die einzelnen Berufs- und Interessengruppen eine historische Vertiefung ihres Tuns ermöglichen und so eine neue Leserschaft (und das heißt auf dem Buchmarkt: Käuferschaft) finden. Konkret zeigt sich das darin, dass Fachleute und allgemein an Architektur, Geodäsie, Geschichte, Jura, Landwirtschaft, Medizin, Ökonomie, Pharmazie, Religion, Sport und Theologie Interessierte antike Texte neu entdecken und zweisprachige Ausgaben kaufen (oder sich schenken lassen), für die es bisher noch überhaupt keine publizierte Übersetzung ins Deutsche gab. Die Übersetzung solcher Fachtexte verändert freilich den Anspruch an die Übersetzer: Nicht nur der literarische Text, sondern insbesondere auch spezielle Fachbegriffe müssen korrekt und konsistent übersetzt werden. Deutsche Entsprechungen für historische, juristische, medizinische und politische Gegebenheiten, aber auch für antike Angaben zu Steinen, Pflanzen und Tieren müssen möglichst genau ermittelt und eingetragen werden. Das Lateinlexikon lässt Übersetzerinnen und Übersetzer hier rasch im Stich, gleich ob es um Krank- 2 www.miniaturbuch.de. <?page no="293"?> Glasschrank und Nähkästchen 293 heiten bei Mensch und Tier, um Mineralien oder Heilpflanzen, um Werkzeuge und Bauformen, um „Aberglauben“ oder Wundversorgung, um Spiel oder Sport geht. Die Arbeit an einer Übersetzung umfasst hier oft Detailrecherchen, die eine möglichst exakte Entsprechung des lateinischen Begriffs identifizieren oder aber zugeben müssen, dass eine solche Entsprechung bislang in der Forschung nicht gelungen ist. Das gilt für Fische ebenso wie für Heilpflaster, für Ringergriffe ebenso wie für die Techniken antiker Wahlkämpfe, für die Zusammensetzung von Kalkmörtel ebenso wie für die antiken Formen von Sensen. Bisher wenig weit verbreitete Studien wie das Werk von Jacques André, „Les noms de plantes dans la Rome antique“ (Paris 1985), gewinnen für den Übersetzer nun eine besondere Bedeutung, bieten doch nur sie eine Zusammenstellung von Identifizierungen antiker Pflanzennamen mit der heutigen botanischen Taxonomie, die ihrerseits wiederum in Verbindung mit Werken wie „Zander - Handwörterbuch der Pflanzennamen“ (herausgegeben von Walter Erhardt u. a., 19. Auflage Stuttgart 2014) auch dort eine korrekte und konsistente Übersetzung ins Deutsche ermöglicht, wo die Lateinlexika überkommene, aber heute ungebräuchliche Namen oder gar heute als schlicht falsch erkannte Entsprechungen angeben. 5 Aus dem Erfurter Nähkästchen Übersetzungen zu publizieren, gilt in der Fachwelt oft als nachgerade peinlich. Der Glasschrank prägt manche Berufungskommission, und so überlegen es sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zweimal, bevor sie ihre Zeit für die Publikation einer Übersetzung einsetzen - dann doch eher für einen Sammelband wie den vorliegenden! Das hat zur Folge, dass es in der Tat Nachwuchsprobleme bei den Übersetzungen gibt: Wollte ich (*1958) eifrig publizierende Übersetzerinnen und Übersetzern lateinischer Literatur zu einem Symposium einladen, so würden etwa Otto Veh (1909-1992), Karl Bayer (1920-2009), Manfred Fuhrmann (1925-2005) und Gerhard Fink (1934-2013) fehlen; um so mehr würde ich mich u. a. auf Michael von Albrecht (*1933), Marion Giebel (*1939), Niklas Holzberg (*1946), Rainer Nickel (*1940), Kurt Steinmann (*1945), Wolfgang Will (*1948) und Gerhard Wirth (*1926) freuen - und dann feststellen, dass keine und keiner von uns unter 60 Jahre alt ist! Dazu kommt, dass jede und jeder von uns es sich „leisten“ kann, Übersetzungen zu publizieren, da wir in Erwachsenenbildung, Schule und Hochschule etabliert waren oder sind - und das im Übrigen dem Publizieren von Übersetzungen zum Trotz: Unsere Hauptberufe waren vom Übersetzen unabhängig, unseren beruflichen Laufbahnen haben Übersetzungen nicht genützt, manchmal (experto credite) eher geschadet. In der Tat musste keine und keiner von uns vom Übersetzen antiker Werke leben. Das wäre auch gar nicht möglich, jeden- <?page no="294"?> 294 Kai Brodersen falls wenn ich in einmal aus meinem eigenen Nähkästchen plaudern darf: Ein Honorar gibt es in der Regel gar nicht, gelegentlich werden 3-% vom Nettoerlös vereinbart (also von dem Preis, den eine Buchhandlung bezahlt; meist sind das 60-% des Ladenpreises). Konkret heißt das bei einem Buch mit einem Ladenpreis von 29,80 Euro (60-% davon sind 17,88 Euro), dass der Übersetzer 3-% der 60-% des Ladenpreises erhält, also pro tatsächlich verkauftem Band 53,64 Cent. Wenn nach einigen Jahren insgesamt 250 Bände verkauft worden sind, führt das zu Gesamteinnahmen des Übersetzers von 250 x 0,5362 Euro, also von 134,10 Euro, die er dann selbstverständlich seinerseits versteuern muss. Letztlich macht der gleich erklärte Verzicht auf ein Honorar die Zeit wett, die man sonst für die Erklärungsschreiben für das eigene Finanzamt („Sehr geehrter Steuerpflichtiger, warum machen Sie das eigentlich? “) braucht … 6 Und dennoch: Übersetzt! Die Wirklichkeit, in der wir in Erwachsenenbildung, Schule und Hochschule antike Texte behandeln, macht zuverlässige moderne Übersetzungen sowohl von Klassikern als auch von Nichtklassikern nachgerade unabdingbar. Auch außerhalb von Klassenzimmer und Hörsaal finden antike Texte neues Interesse - ich darf erneut aus dem Nähkästchen plaudern: Die „Reise ins Heilige Land“ der Aetheria/ Egeria (Tusculum 2016) fand beachtliches Interesse bei Reisenden und Pilgerinnen, das unter dem Namen des Apuleius überlieferte „Heilkräuterbuch“ (erste deutsche Übersetzung, Marix 2015) bei Naturheilkundlern, Ciceros „Tipps für einen erfolgreichen Wahlkampf“ (Reclam 2013) bei Ghostwritern von Politikerinnen und Politikern, das Buch über „Das römische Eigenheim“ des Cetius Faventinus (erste deutsche Übersetzung, Marix 2015) bei den Häuslebauern (und also in der Stuttgarter Zeitung), das Werk über „Heilende Steine“ des Damigeron (erste deutsche Übersetzung, Marix 2016) bei esoterisch angehauchten Studierenden, Palladius’ großes Werk über das Bauernjahr (erste deutsche Übersetzung, Tusculum 2016) beim Thüringer Bauernverband, Plinius’ „Kleine Reiseapotheke“ (erste deutsche Übersetzung, Steiner 2015) bei Apothekern, Scribonius Largus’ „Der gute Arzt“ (Marix 2016) und Quintus Serenus’ „Ärztlicher Rat“ (erste deutsche Übersetzung, Tusculum 2017) bei Ärzten und Solinus’ „Wunder der Welt“ (Edition Antike 2014) bei an der Geschichte des Mittelalters Interessierten, Erasmus’ „Klage des Friedens“ (Marix 2018) schließlich in der Politikwissenschaft - und in der Friedensbewegung. Wenn wir also im Blick behalten, dass lateinische Texte, wenn sie denn zweisprachig (und bei bisher wenig beachteten Texten mit einem eingängigen Titel) präsentiert werden, beachtliches Interesse weit außerhalb der Bildungsberufe finden, dann sollten diejenigen, die aus dem Lateinischen gut übersetzen kön- <?page no="295"?> Glasschrank und Nähkästchen 295 nen und es sich leisten können oder wollen, im Interesse des Weiterlebens der Altertumswissenschaft beherzt zupacken: Sperrt den Glasschrank auf, macht das Nähkästchen fertig und übersetzt! Und wenn es mal brennt, gilt weiterhin: „Verhalten im Brandfall: Ruhe bewahren! Rettung von Menschenleben geht vor Brandbekämpfung! “. Der Zusatz aber muss nun lauten: „Zeitgemäße zweisprachige Ausgaben vor alten Übersetzungen! “ Literaturverzeichnis André, Jacques (1985), Les noms de plantes dans la Rome antique, Paris. Brodersen, Kai (2000): Vom Buch zum Text: Edition und Übersetzung, in: Christiane Reitz (Hrsg.), Vom Text zum Buch, St. Katharinen, 80-92. — (2004), Translating translations, in: David Fitzpatrick (Hrsg.), Different lights, different hands. Working with translations in classics and ancient history at university, Milton Keynes (Open University), 57-67. — (2013), Cicero: Tipps für einen erfolgreichen Wahlkampf/ Commentariolum. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt, Stuttgart (Reclam). — / Brodersen, Christiane (2015), Cetius Faventinus: Das römische Eigenheim/ De architectura privata. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt, Wiesbaden. — (2015a), Apuleius: Heilkräuterbuch/ Herbarius. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt, Wiesbaden. — (2015b), Plinius’ Kleine Reiseapotheke/ Medicina Plinii. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt, Stuttgart. — (2015c), Solinus: Wunder der Welt/ Collectanea rerum mirabilium. Lateinischdeutsch. Herausgegeben und übersetzt, Darmstadt (Edition Antike). — (2016a), Aetheria/ Egeria: Reise ins Heilige Land/ Itinerarium. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt, Berlin (Slg. Tusculum). — (2016b), Damigeron: Heilende Steine/ De lapidibus. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt, Wiesbaden. — (2016c), Palladius: Das Bauernjahr/ De agricultura. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt, Berlin (Slg. Tusculum). — (2017), Quintus Serenus: Ärztlicher Rat/ Liber medicinalis. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt, Berlin (Slg.Tusculum). — (2018), Erasmus von Rotterdam: Die Klage des Friedens/ Querela Pacis. Lateinischdeutsch. Herausgegeben und übersetzt, Wiesbaden. Erhardt, Walter/ Götz, Erich/ Bödeker, Nils/ Seybold, Siegmund (Hrsg.) ( 19 2014), Zander. Handwörterbuch der Pflanzennamen, Stuttgart. *Für die Einladung, an dem Workshop an der Bergischen Universität Wuppertal am 29.6.2018 mitzuwirken, danke ich stellvertretend für die Fach-Arbeitsgruppe Latein Professor Dr. Stefan Freund. <?page no="297"?> Schwiegersohn statt Eidam 297 Schwiegersohn statt Eidam Metrisches Übersetzen lateinischer Texte zwischen Voß und heutigem Deutsch Niklas Holzberg Als der Verlag Artemis & Winkler im Jahre 1984, in dem er die Sammlung Tusculum noch im Programm hatte, mit der Bitte an mich herantrat, die erstmals 1923 und zum letzten Mal 1980 in 14. Auflage gedruckte Bilingue der ovidischen Ars amatoria von Hertzberg/ Burger in eine zeitgemäße Ausgabe umzuwandeln, hielt ich es für selbstverständlich, dass ich erneut eine metrische Verdeutschung vorlegen würde. Zwar war bereits die Prosawiedergabe Michael von Albrechts erschienen, 1 aber ich hatte als Schüler und Student ausschließlich Versübersetzungen lateinischer und griechischer Dichtung benutzt, und dass für solche nach wie vor eine Leserschaft existierte, zeigte sich bald nach der Publikation meiner Neufassung von 1985: Sie wurde schon 1988 nachgedruckt, und mittlerweile, im Jahre 2011, erlebte sie immerhin die 5. Auflage. 2 Gewiss, ich hatte die 1859 veröffentlichte Übersetzung Wilhelm Hertzbergs, die ganz dem sprachlichen Klassizismus des bekannten Homer-Übersetzers Johann Heinrich Voß verhaftet ist 3 - Burgers Bearbeitung von 1923 bestand nur aus einer Erweiterung der von Hertzberg ausgelassenen „anstößigen“ Passagen, die er gleichfalls „voßisch“ wiedergab -, durch eine moderne Verdeutschung zu ersetzen versucht. Und analog verfuhr ich mit den 1960 von Wolfgang Gerlach im traditionellen Stil in deutsche elegische Distichen umgewandelten Fasti in meiner Bilingue von 1995 sowie 1999 mit den Amores, die, 1956 erstmals als Tusculum-Band herausgekommen und bis 1992 sechsmal nachgedruckt, in der Wiedergabe durch Walter Marg und Richard Harder besonders auffallend an die Poesie längst vergangener Zeiten anklingen. Aber „gingen“ meine drei Versübersetzungen deshalb relativ 1 Albrecht 2015, erstmals 1979 erschienen. 2 In der dritten und vierten Auflage hatte ich ihr die Remedia amoris beigegeben, die aber vielleicht viele nicht wünschten; sie sind (zu Unrecht) nach wie vor Ovids am wenigsten beachtetes Werk. Ich nahm sie also wieder heraus und ließ sie separat erscheinen (Holzberg 2011b). 3 Zu Voß’ Übersetzerprinzipien vgl. Häntzschel 1977, zusammengefasst in Holzberg 2017b. <?page no="298"?> 298 Niklas Holzberg gut, weil sie sprachlich leichter zugänglich waren als ihre Vorläufer, oder warb das Ansehen der Sammlung Tusculum für sie? So selbstverständlich ich beim Skandieren in den 15 Jahren erster Erfahrung mit dem poetischen „Nachempfinden“ lateinischer Dichtung operierte, so deutlich sah ich doch auch von Anfang an die Schwierigkeiten, die sich bei dem Bemühen um die möglichst wörtliche Verdeutschung eines elegischen Distichons ergeben können, weil in der Zielsprache maximal 17 + 14 Silben zur Verfügung stehen. Denn das Lateinische kann bekanntlich mit sehr wenigen Worten oft weit mehr sagen als das Deutsche mit vielen. Die Übersetzer in Voß’scher Tradition hatten das Problem in Fällen, wo die vergleichsweise knappe Formulierung der Vorlage Texttreue im Deutschen auszuschließen schien, jeweils einfach durch freie, den Sinn des Originalwortlauts nur einigermaßen bewahrende Textbearbeitung gelöst. Doch das hielt ich damals und halte es auch heute für keinen gangbaren Weg. Wir leben nun einmal in einer Zeit, in der in den westlichen Demokratien alles beim Namen genannt werden darf und soll, was noch bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zum Teil tabuisiert wurde, und dem würde grundsätzlich jede Art von Umschreibung eines Sachverhalts, den ein Text vorgibt, eklatant widersprechen. Also habe ich mich unter Ausnutzung aller denkbaren sprachlichen und metrischen Lizenzen bemüht, das, was ich auf den ersten Blick als unmachbar einschätzen musste, irgendwie doch zu leisten. Beispiele gebe ich weiter unten, zunächst aber soll es um eine dem Übersetzer speziell durch Ovids Amores und Ars amatoria bereitete Schwierigkeit gehen: Sie entsteht deshalb, weil es sich um erotische Texte handelt. Wer über Sex redet, muss zwangsläufig darauf achten, dass er, um nicht peinlich oder gar schlüpfrig zu wirken, seine Formulierungen sehr bedacht wählt. Aber das kann durch gebundene Sprache nicht unerheblich erschwert werden. Die älteren Versübersetzungen neigen bei Passagen, in denen Ovid Erotisches unbekümmert zur Sprache bringt, zu Verhüllung und Verharmlosung, ja sogar zur Entstellung. Zur Demonstration des zuletzt Gemeinten scheint mir Burgers Wiedergabe von Ars 2,719f. am besten geeignet. Ovid schreibt: cum loca reppereris, quae tangi femina gaudet, non obstet, tangas quo minus illa, pudor. Daraus wurde in der älteren Tusculum-Bilingue: Hast du die Orte erspürt, wo Betastung dem Mägdelein wohltut, Dann - genier dich bloß nicht! Hingerührt! Ihr ist’s schon recht. Hier fällt die chauvinistische Attitüde auf, die das lateinische Distichon ausnahmsweise nicht erkennen lässt, obgleich es in einer phallokratischen Gesellschaft verfasst ist. Von „Mägdelein“ statt „Frau“ würde ein Mann unserer Zeit <?page no="299"?> Schwiegersohn statt Eidam 299 von oben herab, ja, entsprechend der ursprünglichen Bedeutung „Jungfrau“ 4 wie von einer in der Liebe Unerfahrenen reden, und dazu würde passen, dass „Betastung“ - ein heute besonders negativ konnotiertes Lexem - entgegen dem Originalwortlaut ihr angeblich „wohltut“: Das suggeriert einen Mann, dem die Frau dankbar zu sein hat, während der lateinische Text aussagt, dass sie bei der Berührung erogener Zonen von sich aus Lust empfinde. Der Eindruck, dass der Mann des deutschen Textes sich tatsächlich als „Wohltäter“ fühlen soll, wird noch durch „ihr ist’s schon recht“, den zusätzlichen Versuch einer Wiedergabe von gaudet, verstärkt. Da kann man „Keine Angst, es wird schon klappen, die will das! “ heraushören, zumal der vorausgehende Imperativ „Hingerührt! “, der den lateinischen Konjunktiv im Finalsatz verfälscht, wie ein militärischer Befehl des Liebeslehrers an seinen Schüler klingt: „Jetzt aber ran wie Blücher, mein Junge! “ Bei meinem Bemühen um Wörtlichkeit entschied ich mich zuletzt für Hast du die Stellen gefunden, wo gerne die Frau sich berührn lässt, stehe dir Scham nicht im Weg, dass du sie dort auch berührst. Man wird zugeben, dass das sehr wörtlich ist, u. a. dadurch, dass anders als bei Burger dem zweimaligen tangere jeweils „berühren“ entspricht. Aber die zweite Hälfte des Hexameters gefällt mir nicht mehr. Sie stellt metrisch eine Verbesserung gegenüber der Fassung der ersten Auflage dar: Dort schrieb ich „an denen die Frau gern berührt wird“, aber eine schwere Silbe wie „gern“ sollte nicht in einer Senkung verschwinden. Doch trotz der Verbesserungen in der Arshatte ich nach Fertigstellung der Amores-Bilingue einen Punkt erreicht, wo ich mit dem metrischen Übersetzen nicht mehr zufrieden war. Diese Liebesgedichte sind zwar mit dem direkten Ansprechen sexueller Handlungen im Vergleich zur Ars sparsam. Doch um so häufiger enthalten sie Zweideutigkeiten, z. B. am Anfang von 2,15, wo der poeta/ amator zu einem für seine puella bestimmten Ring sagt, was geschehen solle, wenn ihr Finger darin steckt (3-6): tam bene convenias quam mecum convenit illi, et digitum iusto commodus orbe teras. Offensichtlich wird mit dem orbis, in dem die puella den „maßgerecht“ umschlossenen Finger reiben soll, auf eine Vagina angespielt, die „reibend“ einen Penis umschließt. 5 Bei Harder/ Marg, die wieder einmal sehr frei übersetzen, kann ich nichts davon bemerken: Schmiege so passend dich an, wie ich ihrer Neigung mich schmiege, Angegossen im Kreis schmeichle dem Finger dein Band! 4 Kluge/ Seebold 22 1989 s.v. Magd. 5 Vgl. Booth 2 2000 z.St. <?page no="300"?> 300 Niklas Holzberg Hier mein Vorschlag: Passen mögest du ihm so gut, wie sie auch zu mir passt; reibe ihn angenehm, rund in dem richtigen Maß. Das ist so wörtlich wie möglich, und „reibe ihn angenehm“ doch wohl erkennbar erotisch konnotiert, zumal die Ersetzung von „Finger“ durch „ihm“ an das membrum virile denken lässt (das dem Ring in v. 25 surgit! ). Aber digitum steht da; eine Prosaübersetzung könnte die deutsche Entsprechung in den Satz einbringen und genauso doppeldeutig sein. Also, ich bin nach den Amores von deutschen Daktylen zu ungebundener Sprache übergegangen, zunächst in einer Auswahl antiker Lyrik von Sappho bis in die Kaiserzeit mit dem Titel Applaus für Venus bei C.H. Beck (2004), die unter einer anderen Überschrift und in veränderter Gestalt 2012 bei Reclam herauskam und 2017 dort erneut zusammen mit den Originaltexten, sowie in einer Auswahl aus einem Dichter, der mir für eine Versübersetzung besonders ungeeignet erschien: Martial (2008). Seine Epigramme enden oft mit einer Pointe, die gerade wegen der Prägnanz des Lateinischen in einem deutschen Vers nicht adäquat „zugespitzt“ werden kann, und überdies enthalten sie nicht nur Erotisches, sondern auch sehr derbe Obszönitäten, die heute bis ins Detail wörtlich wiedergeben sein wollen; das aber kann die beschränkte Silbenzahl gebundener Sprache meist nicht leisten; nehmen wir etwa 3,71: Mentula cum doleat puero, tibi, Naevole, culus, non sum divinus, sed scio quid facias. In deutschen Versen dürfte nicht mehr zu machen sein als dies: Da der Schwanz deinen Knaben, dich, Naevolus, aber der Arsch schmerzt, sag ich: Ich bin kein Prophet, aber ich weiß, was du treibst. Es ist nun einmal konkret die Öffnung des Afters, um die es geht, und dass sie „schmerzt“, passt wegen des gehobenen Ausdrucks nicht so recht - wie übrigens auch „Knabe“ -, weshalb in „direkter“ Prosa Folgendes zu schreiben wäre: Da der Schwanz deinem Bürschchen, dir aber, Naevolus, der Arsch weh tut, sage ich: Ich bin kein Hellseher, aber ich weiß, was du treibst. 6 6 Verharmlosend: Alexander Berg ( 2 1912): „Nävolus, wenn das Gesäß dich schmerzt, was andres den Knaben […]“; Rudolf Helm (1957): „Schmerzt den Jungen sein Dingel, dich, Naevius [sic], aber der Hintre […]“; Werner Hofmann (1997): „Den Knaben schmerzt das Glied, dich, Naevolus, der Steiß […]“. <?page no="301"?> Schwiegersohn statt Eidam 301 Für Catull, der in manchen seiner Gedichte noch obszöner ist als Martial, gilt dasselbe wie für diesen: 7 Auch er war in Prosa zu übersetzen (2009), zumal die Gedichte 1-61 und 63 in Versmaßen verfasst sind, die es unmöglich machen, den Text wirklich wörtlich zu verdeutschen. Tibulls Elegien wiederum, die 2011 folgten, versteht der heutige Leser trotz der Klarheit der Formulierungen nicht so leicht wie die Amores Ovids, und daher entschied ich mich hier ebenso für deutsche Prosa. Die Satiren des Horaz, die ich im selben Jahr für die Reihe Tusculinum übertrug, sind zwar in Hexametern geschrieben, mit denen ich von Amores, Ars und Fasti her Erfahrung hatte, aber die gedankliche Tiefe dieser Texte und ihre feine Ironie, mit der dem Lateinischen eignen Prägnanz zum Ausdruck gebracht, konnte durch Versübersetzungen bisher nicht überzeugend vermittelt werden; das belegen besonders deutlich Karl Büchners Hexameter in Bernhard Kytzlers Reclam-Horaz ( 2 2016), zu deren Verständnis man nicht selten den lateinischen Text zu Hilfe nehmen muss. Ich zog also auch jetzt die Prosa vor; dabei blieb ich, als ich sie für meine Bilingue sämtlicher Gedichte des Horaz überarbeitete (2018a), und analog zu meinem Procedere bei Catull unternahm ich gar nicht den Versuch, die Versmaße der Oden und Epoden in deutschen Entsprechungen nachzuahmen. Hätte ich, als ich mit einer Auswahl aus Tristia und Epistulae ex Ponto zu Ovids elegischen Distichen zurückkehrte (2013a), an meine für Amores, Ars und Fasti verwendeten Verse anknüpfen sollen? Obwohl der Dichter seinen lusus früherer Jahre in seiner Exil-Poesie fortsetzt, ist die Thematik als solche für uns spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg zu ernst, als dass ich riskieren wollte, Lesern, die Ovid im Vergleich mit anderen Verbannten betrachten, mit deutschen Texten zu konfrontieren, die aufgrund des Verszwangs vielleicht nicht immer den richtigen Ton treffen. An ein modernes, allgemein an Weltliteratur interessiertes Publikum dachte ich auch bei meiner Entscheidung für eine Prosawiedergabe aller in Petrons Satyrica eingelegten Gedichte (2013b). Einen Eindruck vom Prosimetrum des Originals in der Übersetzung zu geben, hätte sich zweifellos angeboten. Doch bei diesem Werk handelt es sich neben dem Goldenen Esel des Apuleius um den einzigen aus der Antike erhaltenen Roman, der sich auf so hohem literarischem Niveau bewegt wie viele neuzeitliche Vertreter des Genres, 7 Zum Problem des Umgangs mit obszönen literarischen Texten aus der Antike vgl. Holzberg 2015a. Die in der Anthologia Graeca enthaltenen Epigramme, unter denen sich sehr viele obszöne befinden, übertrug ich gleichfalls in Prosa (Reclam, Stuttgart 2010), und so auch die Sprechverse in sechs von mir verdeutschten Komödien des Aristophanes (Reclam ebd. 2009-2016), während ich die griechischen Verse der Chorpartien überwiegend in deutsche umwandelte. Obszönitäten stecken überall in diesen Bühnentexten, aber das Zusammenspiel von Akteuren und Chor sollte m. E. in der deutschen Version eines antiken Dramas wenigstens durch einen solchen Kompromiss nachvollziehbar gemacht werden. <?page no="302"?> 302 Niklas Holzberg das in unserer literarischen Landschaft zum prominentesten wurde. Und ihnen wollte ich eine Verdeutschung an die Seite stellen, die wiederum so wörtlich wie möglich vermittelt, was im lateinischen Text steht. 2014, dreißig Jahre nachdem ich um eine neue Ars amatoria für Tusculum gebeten worden war und ganz selbstverständlich eine metrische Übertragung geliefert hatte, fragte der Verlag De Gruyter, der die Sammlung gerade übernommen hatte, 8 wegen einer neuen Aeneis an. Das Epos Vergils hatte als Tusculum-Band in der Versübersetzung Johannes und Maria Göttes von 1958 bis 2002 zehn Auflagen erlebt und war dann durch die Prosawiedergabe Gerhard Finks ersetzt worden. Dieser hatte auch in seine Form der Verdeutschung, die doch die Gelegenheit zu denkbar wörtlichem Übersetzen gegeben hätte, eine stellenweise an klassizistische Versübersetzungen erinnernde Sprache eingebracht und Freiheit der engen Anlehnung an den Wortlaut des Originals vorgezogen; er konnte also Edith und Gerhard Binders angenehm lesbarer Prosaübersetzung bei Reclam (1994-2005) keine Konkurrenz machen. Aber nicht allein deshalb beschloss ich, es wieder mit deutschen Versen zu wagen. Ich hatte nämlich beim metrischen Verdeutschen von Amores, Ars und Fasti festgestellt, dass ich mit narrativen Passagen weitaus leichter zurechtkam als mit Gefühlsartikulation und Reflexion, wie sie ja in Liebesgedichten dominieren. Außerdem galt es jetzt nur noch mit Hexametern fertigzuwerden, nicht mehr mit Pentametern, die wegen des Zwangs zur Betonung sowohl der letzten Silbe vor der Mittelzäsur als auch des Versendes immer wieder besonders große Schwierigkeiten bereiten; ebenso kann das Gesetz, dem zufolge nach der Mittelzäsur anstatt der beiden Daktylen nicht Spondeen, denen im Deutschen betont/ unbetont entspricht, stehen dürfen, wenn man es beachten will - und das scheint mir nach dem Motto „wenn schon, denn schon“ unbedingt erforderlich zu sein -, Probleme bereiten. Schließlich verpflichtet das Pathos eines Heldenepos nicht im selben Maße wie der lusus in Ovids erotischen Elegien (Amores) und seinen Lehrgedichten (Ars, Remedia, Fasti) zu einer in jeder Beziehung streng an einer schlichten Gegenwartssprache orientierten Diktion. Freilich war im Falle der Aeneis die „voßische“ Ausdrucksweise, die auch in der Tusculum-Ausgabe der beiden Göttes vorherrscht, so gut es ging zu vermeiden. Im Folgenden möchte ich anhand von systematisch geordneten Textbeispielen zeigen, was ich beim Verfassen deutscher Hexameter an traditionellem Stil 8 Die Sammlung Tusculum, ursprünglich ein Produkt des Münchner Ernst Heimeran Verlags, war 1995 zusammen mit dem Verlag Artemis & Winkler zunächst von Zürich nach Düsseldorf zur Patmos-Verlagsgruppe übergewechselt, 2010 für kurze Zeit mit Patmos nach Mannheim unter das Dach des Bibliographischen Institutes umgezogen, dann eingestellt worden, aber nach vorübergehender Übernahme durch den Berliner Akademie- Verlag (2011-2013) mit diesem zu De Gruyter gekommen. <?page no="303"?> Schwiegersohn statt Eidam 303 vorfand und was ich mit Rücksicht auf den modernen Sprachgebrauch an dessen Stelle setzte. Ich zitiere dabei aber nicht Verse der Aeneis, weil ich mich in einem Aufsatz ausführlich über mein Verhältnis zu der Götteschen Version geäußert habe, 9 sondern aus Ovids Metamorphosen. Auch dieses monumentale Hexameter-Opus habe ich metrisch übersetzt (2017a), und hier fand ich eine ähnliche Ausgangslage vor. Die erstmals 1951 erschienene Tusculum-Bilingue Ernst Röschs, der das „Voß’sche Erbe“ ebenso treu bewahrte wie die Göttes, war bis 1994 noch dreizehnmal aufgelegt worden, und sie wurde ebenfalls durch eine Prosawiedergabe Gerhard Finks ( 2 2007) ersetzt, die mit ihrem altfränkischen Idiom und ihrer oft zu weiten Entfernung vom Originalwortlaut gegenüber der unprätentiösen und sehr texttreuen Übersetzungsprosa Michael von Albrechts (2010) wiederum keine Konkurrenz darstellen konnte. Vor den Metamorphosen hatte ich in deutsche Hexameter die anderen beiden Vergil-Werke, Bucolica und Georgica, übertragen (2016), also erneut eine Gedichtsammlung und ein Lehrgedicht, aber in Hexametern, wozu mir die Arbeit an der Aeneis Mut gemacht hatte. Doch nun zu einem Vergleich meiner Metamorphosen mit denjenigen Röschs: 1 Klang 1,413 et de femineo reparata est femina iactu. Rösch: w ard das W eib durch die W ürfe des W eibes w iedergeschaffen. Holzberg: und aus dem Wurf der Frau erstanden aufs Neue die Frauen. Rösch neigt, offenbar in Anlehnung an Richard Wagners Ring des Nibelungen, gelegentlich zur wuchtigen Alliteration, auch dann, wenn ein Vers wie dieser das nicht vorgibt. 2 Lexik 2.1 Obsolete Wörter: A) 1,144f. vivitur ex rapto, non hospes ab hospite tutus, non socer a genero … Rösch: Nur vom Raub wird gelebt. Der Freund ist vorm Freunde nicht sicher, nicht vor dem Eidam der Schwäher … 9 Holzberg 2017b. <?page no="304"?> 304 Niklas Holzberg Holzberg: Nur vom Raub wird gelebt. Nicht sicher vorm Schwiegersohn ist der Schwiegervater, der Gast nicht vorm Gastfreund … B) 2,450 sed silet et laesi dat signa rubore pudoris. Rösch: läßt, verstummt und rot, ihr verletztes Magdtum erkennen. Holzberg: schweigt und verrät durch Erröten, dass ihre Keuschheit verletzt ist. C) 7,643 somnus abit. damno vigilans mea visa querorque in superis opis esse nihil. Rösch: Wieder gewichen der Schlaf. Ich schelte, erwacht, mein Gesicht und Klage, Hilfe sei nicht bei den Göttern. Holzberg: Von mir weicht der Schlaf. Ich verdamme mein Traumbild und klage, dass die Götter nicht helfen. A) Die früher für Verwandtschaftsbezeichnungen gebrauchten Wörter versteht heute, wie ich durch Befragung immer wieder feststellte, fast niemand mehr. Rösch verwendet eines davon sogar zweimal falsch, indem er „Schwieger“ (Schwiegermutter) für nurus statt „Schnur“ (Schwiegertochter) schreibt (8,543; 9,325), obwohl doch nurus und Schnur auf dieselbe indogermanische Wurzel zurückgehen. B) Mit „Magdtum“ meint Rösch Virginität. C) „Gesicht“ für „Vision, Erscheinung, Traumbild“ - Goethes Faust sagt zu dem Geist in v. 482 „Schreckliches Gesicht! “ - nennt das Duden Universalwörterbuch im Gegensatz zum Grimm’schen Wörterbuch (s.v. 4 d) nicht, offenbar weil es den Autoren als obsolet gilt. 2.2 Verstoß gegen die Semantik 6,37 „mentis inops longaque venis confecta senecta, et nimium vixisse nocet …“ Rösch: „Sinnlos kommst du daher, von langem Alter verblödet, allzu lange gelebt, ist arg …“ Holzberg: „Arm an Verstand, so kommst du daher, geschwächt durch ein langes Alter, es schadete dir ein zu langes Leben …“ <?page no="305"?> Schwiegersohn statt Eidam 305 „Sinnlos“ statt „von Sinnen“ verzeichnet auch allein der Grimm (z. B. für Schiller, s.v. 1b); heute ist es missverständlich, ja wirkt unfreiwillig komisch. 2.3 e-Apokope 9,762f. „pronuba quid Iuno, quid ad haec, Hymenaee, venitis sacra …? “ Rösch: „Juno, du Hort der Eh, o Hymen, was kommt ihr zu diesem Bund …? “ Holzberg: „Juno, Göttin der Ehe, und Hymenäus, was kommt ihr her zu der Feier? “ Mögen solche Substantive mit apokopiertem „e“ einst episch (und wagnerisch! ) geklungen haben, so evozieren sie heute doch nur oberdeutsche Mundarten. 2.4 Wortverkürzung und Simplex statt Kompositum A) 3,561 Penthea terrebit cum totis advena Thebis? Rösch: und mit dem ganzen Theben sollt schrecken der Kömmling den Pentheus? Holzberg: Pentheus jedoch, ganz Theben, die soll ein Ankömmling schrecken? B) 6,496-498 ,hanc ego, care gener, quoniam pia causa coegit et voluere ambae (voluisti tu quoque, Tereu), do tibi …‘ Rösch: „Hier vertrau ich sie dir, da frommer Grund mich gezwungen, da es die Beiden gewollt, und auch du es, o Tereus, gewollt hast lieber Eidam …“ Holzberg: „Lieber Schwiegersohn, da die gerechte Sache mich nötigt und die beiden es wollten - gewollt hast ja du es auch, Tereus -, geb ich sie dir …“ A) Aus metrischen Gründen verkürzte Wörter verwendet Rösch häufig, aber „Kömmling“ oder „Geweid(e)“ (Eingeweide) dürfte heute kaum noch jemand verstehen. B) Deutsch verträgt den Verzicht auf die Präposition eines verbalen <?page no="306"?> 306 Niklas Holzberg Kompositums nicht so ohne Weiteres wie poetisches Latein, kann also z. B. „anvertrauen“ nicht einfach durch „vertrauen“ ersetzen. 2.5 Neubildung eines Kompositums A) 5,375 „… Pallada nonne vides iaculatricemque Dianam abscessisse mihi? …“ Rösch: „… Siehst du nicht, daß Pallas, die speerwurffrohe Diana schon mir entgangen? “ Holzberg: „… Pallas - siehst du es nicht? - und Diana, die Jägerin, haben mir sich entzogen.“ B) 6,568f. induiturque atras vestes et inane sepulcrum constituit falsisque piacula manibus infert … Rösch: hüllte in schwarze Gewandung sich ein. Sie errichtet ein leeres Grabmal; opfernd versöhnt sie der Totgelogenen Manen … Holzberg: hüllt sich ein in ein schwarzes Gewand und errichtet ein leeres Grab, bringt Sühnopfer dar der Seele, die angeblich tot ist … Von Rösch gebildete Dekomposita wie „speerwurffroh“ und „totgelogen“ (für „fälschlich für tot gehalten“) passen allenfalls für die Wiedergabe des homerischen Griechisch, aber nicht zu lateinischer Dichtung, die Wortbildung dieser Art vermeidet. 3 Syntax und Formgrammatik 3.1 Abrupter Satzanfang aus metrischen Gründen 2,704 risit Atlantiades et „me mihi, perfide, prodis? …“- Rösch: Lachte der Enkel des Atlas: „Mir selbst verrätst du mich Falscher? …“ Holzberg: Lachend sagt da der Enkel des Atlas: „Verrätst du an mich mich, / Treuloser? …“ Rösch, der einen Hexameter nicht mit „Der Enkel …“ beginnen lassen kann, wählt mehrfach eine unschön klingende Alternative wie die in meinem Beispiel. <?page no="307"?> Schwiegersohn statt Eidam 307 3.2 Der bestimmte/ unbestimmte Artikel ist aus metrischen Gründen weggelassen 5,155f. pollutosque simul multo Bellona Penates sanguine perfundit renovataque proelia miscet. Rösch: und das einmal besudelte Haus überflutet mit Strömen Blutes Bellona und weckt aufs neu das wirre Getümmel. Holzberg: und Bellona befleckt den Palast, überströmt ihn mit vielem Blut und lässt immer wieder aufs Neue Gefechte entstehen. Auch mit „des Blutes“ oder „von Blut“ hätte der Hexameter nicht beginnen können. 3.3 Unflektiertes Adjektivattribut A) 5,507f. „… sed regina tamen, sed opaci maxima mundi, sed tamen inferni pollens matrona tyranni.“ Rösch: „… Königin aber doch, die Größte doch in dem finstren Reiche, gebietend Ehgemahl doch des Fürsten der Tiefe.“ Holzberg: „… aber Königin doch, die Mächtigste doch in dem finstren Reich und doch die gewaltige Gattin des Unterweltsherrschers.“ B) 13,181f. ut dolor unius Danaos pervenit ad omnes, Aulidaque Euboicam complerunt mille carinae, … Rösch: Als des Einen Schmerz zu allen Achivern gedrungen, als die tausend Kiele eubœisch Aulis erfüllten, … Holzberg: Als der Schmerz des einen erreicht hatte sämtliche Griechen und das euböische Aulis die tausend Schiffskiele füllten, … Adjektive ohne Flexionsendung sind sehr häufig in der deutschen Dichtung vergangener Zeiten, wirken aber heute, wie die Beispiele lehren, unfreiwillig komisch. <?page no="308"?> 308 Niklas Holzberg 3.4 Ellipse des Hilfsverbs: A) 2,495 pertimuitque lupos, quamvis pater esset in illis. Rösch: und sie fürchtet die Wölfe, obgleich unter ihnen ihr Vater. Holzberg: und sie fürchtete Wölfe; dabei war doch einer ihr Vater. B) 1,207f. substitit ut clamor pressus gravitate regentis, Iuppiter hoc iterum sermone silentia rupit: Rösch: Als das Rufen gestillt, brach Er von neuem mit dieser Rede das Schweigen und sprach mit des Herrschers gewichtiger Würde: Holzberg: Als, unterdrückt durch die Würde des Herrschers, das Schreien gedämpft, brach mit folgender Ansprache Juppiter wieder das Schweigen: [war, Auch die Ellipse des Hilfsverbs ist sehr beliebt in der Poesie der Klassik und Romantik. 3.5 Obsoleter Kasusgebrauch: 1,220f.: signa dedi venisse deum, vulgusque precari coeperat; inridet primo pia vota Lycaon, … Rösch: Zeichen gab ich, genaht sei ein Gott, und zu beten begonnen hatte die Menge. Er lacht zunächst ihrer frommen Gelübde, … Holzberg: Zeichen gab ich, ein Gott sei da, und zu beten begonnen hatte das Volk. Die frommen Gelübde verhöhnte Lykaon / erst, … „Lachen“ mit Genitiv statt mit der Präposition „über“ mag dem metrischen Zwang geschuldet sein, aber Rösch und andere Übersetzer lassen bewusst z. B. „vergessen“ statt den Akkusativ den Genetiv regieren (was er heute nur bei „Vergissmeinnicht“ darf). In unserer Zeit dagegen hört man sogar immer öfter „Der Präsident gedachte den Toten“. Die Rösch-Zitate sollten exemplarisch belegen, dass die älteren Versübertragungen narrativer epischer Texte immer wieder Stellen enthalten, für die man nicht ohne Weiteres voraussetzen kann, dass ein Leser des 21. Jahrhunderts sie versteht. Meine alternativen Verdeutschungen wiederum können m. E. demonstrieren, dass deutsche Hexameter durchaus in moderner Diktion geschrieben werden können. Ich bekenne freilich dies: Angesichts der Tatsache, dass Schü- <?page no="309"?> Schwiegersohn statt Eidam 309 ler und Studenten in unserer Zeit kaum noch schöne Literatur lesen und ihre Sprachkompetenz darunter nicht unerheblich leidet, gebe ich mich keinen Illusionen hin. Auch ich muss damit rechnen, dass Formulierungen, mit denen ich mich möglichst weit vom Voß’schen Klassizismus entfernt habe, gleichwohl für junge Menschen des 21. Jahrhunderts schwer oder gar nicht verständlich sind. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass ein Lateinlehrer der Gegenwart seinen Eleven in der Anfängerklasse sagen muss, bei „Laster“ für vitium handle es sich nicht um ein Auto. Man sollte daher meinen, dass die Versfabeln des Phaedrus, die sich der communis opinio zufolge primär an Kinder wenden, auf jeden Fall in Prosa übersetzt werden müssten. Das geschah auch in der jüngsten Tusculum-Ausgabe, die von Eberhard Oberg stammte. Nun ist aber zweierlei zu bedenken: Zum einen verwandelte Phaedrus ganz bewusst Fabeln, die ihm unter dem Namen Äsops vorlagen und zweifellos nicht in gebundener Sprache erzählt waren, in jambische Texte - er stellt sich damit auch in die Tradition des Iambos als eines Schimpf- und Spottgedichts -, zum anderen konnten jüngste Untersuchungen, allen voran diejenigen Ursula Gärtners, 10 überzeugend zeigen, dass hier nicht ein wenig gebildetes Publikum und schon gar nicht „der kleine Mann“ angesprochen werden, sondern dass ein poeta doctus kallimacheisch-selbstreflexiv mit seinen Stoffen spielt, sie intertextuell mit Klassikern vernetzt, z. B. der augusteischen Poesie, ja die eine oder andere Äsopfabel durch Veränderung des Inhalts sogar dekonstruiert. Wenn ein solcher Literat in Versen erzählt, ist ihm die Form für die Vermittlung der Aussage sehr wichtig, und da Phaedrus der erste gewesen sein dürfte, der Fabeln in lateinischer Sprache versifizierte und in Gedichtbüchern vereinte, sollte, wie ich meine, ein Übersetzer darin die Aufforderung zu metrischer Wiedergabe sehen. Also habe ich in der neuen Tusculum- Bilingue (2018b) die Senare in sechshebigen jambischen Versen wiedergegeben. In Jamben kann man im Deutschen leichter „dichten“ als in Daktylen. Aber auch bei den phaedrianischen Versen hat man es mit solchen zu tun, die von der im Lateinischen gegebenen Möglichkeit zur prägnanten Formulierung Gebrauch machen; allein schon dadurch, dass die Sprache keinen Artikel hat und durch die zwei Wörter eines Ablativus absolutus etwas ausdrücken kann, das zu verdeutschen man meist einen ganzen Nebensatz benötigt, können Übersetzer sich großen Schwierigkeiten konfrontiert sehen. Bei Phaedrus kommt hinzu, dass er in seinen nicht wenigen metapoetischen Äußerungen öfter zu verstehen gibt, brevitas gehöre zu einem seiner wichtigsten Stilprinzipien (2 prol. 12; 3,10,60; 3 epil. 8; 4 epil. 7). Das wurde, bevor man den Fabeldichter adäquat zu würdigen begann, immer wieder moniert, weil man die damit verbundene Intention nicht wahrnahm; schon Jacob Grimm schreibt in seinem Buch Rein- 10 Vgl. besonders Gärtner 2015 und ihre darin zitierten Aufsätze. <?page no="310"?> 310 Niklas Holzberg hart Fuchs, brevitas sei „der tod der fabel“, und urteilte dementsprechend über Phaedrus: Er „gewährt uns die nochmalige nachbildung Aesops in gemessener, aber unbelebter sprache, aus der alle poesie entwichen ist, eine glatte kahle erzählung, ein wenig labender vierter aufguß auf die trebern des alten mosts“ (Berlin 1834, xv). Obwohl nicht mehr mit Sicherheit zu eruieren ist, was genau da „nachgebildet“ wurde, darf man davon ausgehen, dass die in Prosa geschriebenen äsopischen Fabeln, die Phaedrus vermutlich als Prätexte vorlagen, zumindest teilweise ausführlicher erzählt wurden als seine. In der ältesten auf uns gekommenen Prosafabelsammlung, der Collectio Augustana 11 , finden sich mehrere μῦθοι, in denen der Handlungsverlauf breiter dargestellt wird als bei Phaedrus; die erste, Adler und Fuchs, ähnelt sogar einer Kurzgeschichte, während die Bearbeitung desselben Stoffes durch den römischen Fabeldichter außer dem Promythium nur 11 Verse umfasst (1,28). Doch da bei Phaedrus brevitas beabsichtigt ist - viele seiner Texte sind Epigrammen vergleichbar -, sollte sich der Übersetzer gehalten sehen, auch darin Treue gegenüber dem Original zu wahren, dass er die brevitas übernimmt. Das ist aber in den bisherigen metrischen Verdeutschungen eher nicht geschehen, im Gegenteil; man ergänzte, wenn der Text zu knapp erschien. Am häufigsten benutzt dürften heute der von Otto Schönberger in einer Reclam-Bilingue edierte deutsche Phaedrus Friedrich Fr. Rückerts von 1879 und derjenige Johannes Irmschers von 1978 sein. Beide Übersetzer geben die lateinischen Senare in deutschen Jamben wieder, erlauben sich dabei aber metrische Freiheiten gegenüber der Vorlage: Sie schreiben nicht durchgehend Sechsheber mit Endbetonung, sondern je nach dem Inhalt eines einzelnen Verses die kürzeren Blankverse oder Sechsheber mit einer auf die letzte Hebung folgenden unbetonten Silbe; Irmscher präsentiert sogar einerseits Siebenheber mit und ohne unbetonter Silbe am Ende, andererseits Vierheber. Gelegentlich wird sogar im Deutschen ein Vers hinzugefügt, doch wenn es dem Übersetzer offensichtlich erscheint, dass ein Vers nicht als ganzer wörtlich wiedergegeben werden kann, lässt er einzelne Wörter weg oder überträgt so frei, dass der lateinische Wortlaut kaum noch erkennbar wird. Ich habe mich dagegen bemüht, Phaedrus so wortgetreu wie möglich zu verdeutschen, und dabei konsequent Sechsheber mit Endbetonung verwendet. Anhand der Fabel vom Frosch und Rind (1,24) sei zum Abschluss meiner Ausführungen gezeigt, inwiefern ich gegenüber drei meiner Vorgänger - außer Rückert und Irmscher Harry C. Schnur (1997) - einen Fortschritt erzielt zu haben glaube; ich zitiere zunächst den lateinischen Text und danach als erstes die Version Rückerts: 11 Standardausgabe in Perry 1952, 321-411; Bilingue: Nickel 2005. <?page no="311"?> Schwiegersohn statt Eidam 311 Inops, potentem dum vult imitari, perit. In prato quondam rana conspexit bovem et tacta invidia tantae magnitudinis rugosam inflavit pellem: tum natos suos interrogavit, an bove esset latior. 5 illi negarunt. rursus intendit cutem maiore nisu et simili quaesivit modo, quis maior esset. illi dixerunt bovem. novissime indignata dum vult validius inflare sese, rupto iacuit corpore. 10 Ein Armer, der den Reichen nachahmt, geht zugrunde. Auf einer Weide sah ein Frosch einst einen Ochsen, Und, neidisch auf des Tieres majestät’sche Größe, Bläht er die Haut. Drauf fragt er selbstbewußt die Kinder, Ob er den Ochsen nicht an Größe überrage. 5 Doch jene sagten: „Nein! “ Er müht sich wieder ab, die Haut zu dehnen, und tut dann dieselbe Frage, Wer größer wäre. Jene nannten ihm das Rind. Als er zuletzt in vollem Zorne noch versuchte, Sich mehr zu blähen, stürzt’ er mit zerplatztem Körper. 10 Obwohl Rückert außer in v. 6 und 8 Sechsheber mit unbetonter Endsilbe verwendet, lässt er vult in v. 1, tacta und tantae in v. 3, rugosam sowie suos in V. 4 unübersetzt und gibt inops/ potentem (1), intendit … nisu (6 f.), indignata … sese (9 f.) sehr ungenau, iacuit (10) sogar falsch wieder. Andererseits fügt er „majestät’sche“ in v. 3 und „selbstbewußt“ in v. 4 hinzu. Wie alle Autoren von Versübersetzungen hat er Probleme mit den deutschen Präterita auf -te, weshalb er inflavit (4), interrogavit (5), intendit (6) und quaesivit (7) im Präsens wiedergibt und einmal t’ statt -te schreibt, was in Voß’scher Tradition oft geschieht; er hätte auch mit den vier von ihm präsentisch übersetzten Versen so verfahren können, aber das dürfte ihm zu viel gewesen sein. Betrachten wir nun die erstmals 1978 publizierte Version Harry C. Schnurs: <?page no="312"?> 312 Niklas Holzberg Dem Armen, der’s dem Großen gleichtun will, geht’s schlecht. Auf einer Wiese sah ein Frosch einmal ein Rind. Auf dessen Größe neidisch, blies er seine Haut mit ihren Runzeln auf; die Jungen fragt’ er dann, ob er jetzt größer wäre als das Rind. Als „nein“ 5 sie sagten, strengt’ er mehr sich an und blies sich auf und fragte wieder, wer der Größere sei. „Das Rind“, hieß wieder es. Der Frosch, aufs äußerste erzürnt, versucht’s mit aller Macht und bläst sich nochmals auf - da platzt’ er, und geborstnen Leibes lag er da. 10 Hier sind die durchgehend verwendeten Sechsheber alle endbetont. Etwa ebenso viele Stellen wie Rückert gibt Schnur frei wieder: perit (1), den ganzen V. 3, intendit … maiore nisu (6 f.), dixerunt (8; „hieß wieder es“ ist unschön) und die beiden letzten Verse. Auch er überträgt die Verben in den Hauptsätzen nicht alle im Präteritum und apostrophiert dreimal die Endung -te (V. 3, 5 und 10). Bei mündlichem Vortrag würde man also, da die Prädikate in v. 9 im Präsens stehen, fünf Präsentien neben sieben Präterita in einem Text hören, der im Original permanent in der historischen Vergangenheit erzählt. Bevor ich zu meiner Version komme, hier noch diejenige Irmschers: Der Schwache geht zugrunde, mißt er mit dem Mächt’gen sich. Der Frosch erblickte auf der Wiese einst das Rind, und blaß vor Neid ob solcher Größe, blies auf er seine Runzelhaut und fragte seine Kinder, ob er dem Rind an Größe gleiche. 5 Die sagten nein. Und wieder spannt’ er seine Haut, und stärker noch, um neu zu fragen, wer größer sei. Die Antwort war: „Das Rind.“ Voll Ärger bläht’ er sich zuallerletzt Noch viel gewalt’ger auf. Da platzte ihm der Leib. 10 Inops und potens sind passend wiedergegeben, aber diese Übersetzung entfernt sich am weitesten vom Text, und zwar an folgenden Stellen: vult imitari (1), tacta invidia (3), esset latior (5), intendit … nisu (6 f.), simili modo (7), dixerunt (8) <?page no="313"?> Schwiegersohn statt Eidam 313 sowie mit den beiden letzten Versen. Das Erzähltempus ist ausnahmslos das Präteritum, aber zweimal hat Irmscher -te apostrophiert. Metrisch wirkt der Text unruhig: v. 1 ist ein Siebenheber mit Endbetonung, v. 4 einer mit unbetonter Endsilbe; v. 2, 6 und 10 sind Sechsheber mit Endbetonung; v. 3, 5 und 7 haben jeweils vier Hebungen und unbetonte Endsilbe, und v. 8 und 9 sind endbetonte Fünfheber, also „klassische“ Blankverse. Vielleicht bezweckte Irmscher metrische variatio, aber auch eine solche gibt der lateinische Text nicht vor. Schließlich meine Fassung: Der Schwache stirbt, wenn er’s dem Starken nachtun will. Ein Frosch erblickte auf der Wiese einst ein Rind, und weil ihn Neid auf solche Größe packte, blies er seine runzelige Haut auf, fragte dann die Kinder, ob er größer als das Rind nun sei. 5 Sie sagten nein. Von Neuem spannte er die Haut, mit noch mehr Kraftaufwand und fragte wie zuvor, wer jetzt der Größre sei. Sie sagten ihm: das Rind. Als er zuletzt empört sich stärker als zuvor aufblasen wollte, barst sein Leib, und er lag da. 10 Ich denke, man sieht, dass ich mich so eng wie möglich an den Wortlaut des Originals halte. Dessen poetisches Niveau erreicht mein Text freilich nicht. Mir geht es einfach darum, denjenigen, die sich noch heute für antike Dichtung interessieren, aber die beiden alten Sprachen nicht oder nicht sehr gut beherrschen, einen gewissen Eindruck davon zu vermitteln, dass das ihnen in der Vorlage Erzählte in Versen verfasst ist. Ich habe in diesem Aufsatz mehrfach betont, dass nicht zu jedem Text eine metrische Wiedergabe passt. Bei den zu Anfang angesprochenen elegischen Distichen war es vor allem der Inhalt, der partiell Probleme mit sich brachte. Es gibt aber natürlich antike Versmaße, die im Deutschen zu verwenden nicht für alle Übersetzer machbar ist oder auch nicht ratsam erscheint. Mein jüngstes Übersetzungsprojekt konfrontierte mich mit einem solchen Fall: 2019 erschien meine Übertragung der griechischen Fabeln, die sozusagen das Pendant zu denjenigen des Phaedrus darstellen; ich meine die Μυθίαμβοι des Babrios. Sie sind in Hinkjamben geschrieben, und dafür eignet sich m. E. das Deutsche nicht. Oder mangelt mir die Fähigkeit, auch hier wörtlich und „poetisch“ zugleich zu sein? Wilhelm Hertzberg, den ich zu Beginn als Übersetzer der Ars nannte, hat den ganzen Babrios in deutschen <?page no="314"?> 314 Niklas Holzberg Hinkjamben wiedergegeben; hier seine Version von Fabel 28, der babrianischen Parallele zu Phaedrus 1,24: Γέννημα φρύνου συνεπάτησε βοῦς πίνων. ἐλθοῦσα δ’ αὐτόν (οὐ παρῆν γάρ) ἡ μήτηρ παρὰ τῶν ἀδελφῶν ποῦ ποτ’ ἦν ἐπεζήτει. „τέθνηκε, μῆτερ· ἄρτι γὰρ πρὸ τῆς ὥρης ἤλθεν πάχιστον τετράπουν, ὑφ’ οὗ κεῖται 5 χηλῇ μαλαχθείς.“ ἡ δὲ φρῦνος ἠρώτα, φυσῶς’ ἑαυτήν, εἰ τοιοῦτον ἦν ὄγκῳ τὸ ζῷον. οἱ δὲ μητρί· „παῦε, μὴ πρήθου. θᾶσσον σεαυτήν“, εἶπον, „ἐκ μέσου ῥήξεις ἢ τὴν ἐκείνου ποιότητα μιμήσῃ.“ 10 Ein Ochs zertrat beim Saufen einst ein Sumpfkrötlein. Die Mutter (nicht zugegen) fragt herbeikommend Die andern Kinder, wo der Bruder hin wäre. So eben starb er, Mutter, allzu frühzeitig! 12 Da war ein dick vierfüßig Thier; zerquetscht liegt er 5 Von dessen Klauen. Da die Mutter, aufblasend Den Leib, nun fragte, ob von solchem Umfange Das Thier gewesen, riefen sie: „Hör’ auf, Mutter! Nicht quäle dich, denn eher wird dein Leib bersten Als daß du seiner ganzen Dicke nachkämest. 10 Sieht man von mehreren Stellen ab, wo die Sprache an die Voß’sche Tradition anknüpft, darf man die bemerkenswerte Nähe dieser Übersetzung zum Original bewundern. Aber das Umschlagen des letzten Versfußes in einen Trochäus bewirkt m. E., dass man Prosa zu lesen glaubt. Und da Babrios, soweit ich sehe, noch nie in deutsche Prosa übertragen wurde, aber unbedingt den Gräzisten, die ihn kaum kennen - seine Muttersprache war vermutlich Latein -, näher bekannt gemacht werden muss, und das durch eine Wiedergabe, die so wörtlich ist, wie es irgend geht, scheint mir die Schande einigermaßen kompensiert, 12 Hertzbergs Vorlage zog v. 4b offenbar mit 4a zusammen und setzte Punkt nach ὥρης. <?page no="315"?> Schwiegersohn statt Eidam 315 die darin besteht, dass Holzberg metrisch nicht dasselbe zustande bringt wie Hertzberg. Literaturverzeichnis Albrecht, Michael von (2015), Ovid: Über die Liebe. Amores. Ars amatoria. Lateinischdeutsch. Übersetzt und herausgegeben, (Reclam Bibliothek) [Ars erstmals München 1979 als Goldmann Klassiker 7576 nur deutsch, ab 1996 als Bilingue Universal-Bibliothek 357]. — (2010), P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. 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Stefan Freund ist Professor für Klassische Philologie/ Latein an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem die christliche lateinische Literatur und Fragen der Vermittlung zwischen Fachwissenschaft, Unterrichtspraxis und Lehrerbildung. Bardo M. Gauly ist Professor für Klassische Philologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Schwerpunkte der Forschung sind die augusteische Dichtung, römische Naturphilosophie und Naturgeschichte sowie die spätantike Literatur. Ulf Gregor Hamacher unterrichtet die Fächer Latein, Altgriechisch und Katholische Religionslehre in Neuss; er ist Fachberater für Latein und Altgriechisch bei der Bezirksregierung Düsseldorf sowie Fachleiter für Latein am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Neuss. Jens Heße unterrichtet Griechisch und Latein am Gymnasium Adolfinum in Moers und ist Fachleiter für beide Sprachen am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Düsseldorf. Roland Hoffmann unterrichtet am Gymnasium Nieder-Olm bei Mainz. Er ist spezialisiert auf die lateinische und die allgemeine Linguistik, besonders die Valenztheorie und die moderne syntaktische Typologie und Mitherausgeber der Reihe „Studienbücher zur Lateinischen Linguistik“. Niklas Holzberg ist pensionierter Professor für Klassische Philologie der LMU München, wo er außer an der Universität Erfurt noch lehrt. Seine Arbeitsschwerpunkte <?page no="320"?> sind die antike Erzählprosa, die augusteische Dichtung und das antike Epigramm; außerdem publiziert er gelegentlich über Hans Sachs. Peter Kuhlmann ist Professor für Lateinische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die römische Literatur, Geschichte des Humanismus und Fachdidaktik der Alten Sprachen. Bianca Liebermann ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Klassische Philologie der Humboldt-Universität Berlin. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die lateinische Linguistik, insbesondere Lexik, Morphematik, Syntax und Semantik. Nina Mindt ist Privatdozentin für Klassische Philologie (Latinistik) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind lateinische Dichtung und Transformationsprozesse der Antike, darunter auch Geschichte der Theorie und Praxis des Übersetzens aus dem Lateinischen. Carsten Sinner ist Professor für Sprach- und Übersetzungswissenschaft der Iberoromanischen Sprachen (Spanisch, Portugiesisch, Katalanisch, Galicisch) an der Universität Leipzig, Seine derzeitigen Arbeitsschwerpunkte sind Perzeptive Translatologie, Varietätenlinguistik, Judenspanisch und die Schnittstellen von Translatologie, Varietätenlinguistik, Minderheitenstudien und Migrationsstudien. Monika Vogel ist Juniorprofessorin für Didaktik des Lateinischen an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind neben der Wortschatzarbeit insbesondere Fragen nach Möglichkeiten nachhaltigen Lateinlernens, z. B. durch digitale Medien, und deren Konsequenzen für die Unterrichtspraxis 320 Die Autorinnen und Autoren