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Ideas, Concerns and Expectations (ICE) in der Arzt-Patienten-Kommunikation

Untersuchungen zu einem patientenorientierten Kommunikationsmodell

0713
2020
978-3-8233-9394-8
978-3-8233-8394-9
Gunter Narr Verlag 
Sascha Bechmann
10.2357/9783823393948
CC BY-SA 4.0https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de

Vorstellungen, Ängste und Erwartungen auf Seiten der Patienten spielen in der Erforschung der Arzt-Patient-Kommunikation eine bislang kaum beachtete Rolle. In der vorliegenden Untersuchung wird das sog. ICE-Modell (ideas, concerns and expectations) auf der Folie kommunikationstheoretischer, linguistischer und gesundheitswissenschaftlicher Überlegungen näher beleuchtet. Ziel ist es, dieses in Deutschland unbekannte Kommunikationsmodell vorzustellen und einzuordnen, die wesentlichen kommunikativ-interaktionalen Vorzüge anhand von Studienergebnissen herauszuarbeiten und das Modell einzubinden in ein kommunikatives Gesamtkonzept.

<?page no="0"?> Vorstellungen, Ängste und Erwartungen auf Seiten der Patienten spielen in der Erforschung der Arzt-Patient-Kommunikation eine bislang kaum beachtete Rolle. In der vorliegenden Untersuchung wird das sog. ICE-Modell (ideas, concerns and expectations) auf der Folie kommunikationstheoretischer, linguistischer und gesundheitswissenschaftlicher Überlegungen näher beleuchtet. Ziel ist es, dieses in Deutschland unbekannte Kommunikationsmodell vorzustellen und einzuordnen, die wesentlichen kommunikativ-interaktionalen Vorzüge anhand von Studienergebnissen herauszuarbeiten und das Modell einzubinden in ein kommunikatives Gesamtkonzept. ISBN 978-3-8233-8394-9 IDEAS, CONC ERNS AND EXPE C TATIONS (IC E ) IN DER ARZT-PATIENTEN-KOMMUNIKATION Sascha Bechmann Sascha Bechmann IDE AS, CONCERNS AND EXPEC TAT IONS (ICE ) IN DER ARZ T-PAT IENTEN- KOMMUNIKAT ION Untersuchungen zu einem patientenorientierten Kommunikationsmodell KO MMUNIZIE R E N IM B E R U F BA N D 3 18394_Umschlag.indd Alle Seiten 18394_Umschlag.indd Alle Seiten 18.06.2020 09: 16: 53 18.06.2020 09: 16: 53 <?page no="1"?> Ideas, Concerns and Expectations (ICE) in der Arzt-Patienten-Kommunikation <?page no="2"?> K O M MUNIZIE R E N IM B E RU F B A N D 3 Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven Heraus geben v on: C hr is tia n E fing (A a c h e n) T hor s te n R o elc ke (B e r lin) Kir s te n S c hindle r (K öln) Wis s ens c haftlic her B eirat: S a m b or G r uc z a ( Wa r s c h a u) S te ph a n Ha b s c h eid ( S ie ge n) C a r m e n Heine (A a rhu s) E va-M a r ia J ako b s (A a c h e n) Nin a J a nic h ( D a r m s t a dt) F r a n z K ais e r ( R o s to c k) Lia n a Kon s t a ntinidou ( W inte r t hur) C on s t a n z e Nie d e rh a u s ( P a d e rb or n) Br itt a T hör le ( S ie ge n) Alin e W ille m s (K öln) <?page no="3"?> Sascha Bechmann Ideas, Concerns and Expectations (ICE) in der Arzt-Patienten-Kommunikation Untersuchungen zu einem patientenorientierten Kommunikationsmodell <?page no="4"?> © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 2699-3252 ISBN 978-3-8233-8394-9 (Print) ISBN 978-3-8233-9394-8 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0223-0 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> 7 1 13 1.1 14 1.2 23 1.2.1 25 1.2.2 27 1.2.3 32 2 35 2.1 35 2.1.1 44 2.1.2 57 2.2 66 2.2.1 78 2.2.2 83 2.3 91 2.4 95 2.4.1 95 2.4.2 98 2.5 102 3 107 3.1 107 Inhalt Vorwort - oder: Warum dieses Buch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung - das Jahrhundert des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmenbedingungen - Paradigmenwechsel in der Arzt-Patient-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ICE-Modell - Definition, Evidenz und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ideas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Concerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expectations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung . . . . . . . . Was ist ein Gespräch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristik und Typologie ärztlicher Gespräche . . . Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionelle Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . Asymmetrien und Informationsinteressen . . . . . . . . . . Ärztliche Gesprächsführung in der universitären Lehre . . . . . Berufs- und gesundheitspolitische Bewertung von Arzt-Patient-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenwert der Arzt-Patient-Kommunikation aus berufspolitischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . Gesundheitsökonomische Bewertung von Arzt-Patient-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ICE-Modell in der Forschung - ein systematischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 3.2 117 3.3 121 3.3.1 121 3.3.2 134 3.3.3 138 4 159 5 169 175 187 189 Funktionale Einbindung des ICE-Modells in Arzt-Patient-Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells . . Subjektive Theorien in der Krankheitsbewältigung . . . ICE-Elemente und das Common-Sense Model of Illness-Representation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ICE und Framing - ein kognitionslinguistischer Zugang zum Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung des ICE-Modells - Modellierung eines patientenzentrierten Kommunikationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort - oder: Warum dieses Buch? Das ärztliche Gespräch gerät nicht erst mit dem gesellschaftspolitischen Ruf nach Stärkung der Patientenautonomie und den sich verändernden Rollenvor‐ stellungen im Zeitalter der Digitalisierung in den Fokus. Vielmehr erlebt dieses Thema gegenwärtig eine Art Renaissance. Antike Zeugnisse belegen, dass die Vorstellung von Heilung seit jeher eng verwoben ist mit einer Gesprächsfüh‐ rung, die den Patienten und dessen Bedürfnisse in den Mittelpunkt rückt. Erst der medizinisch-technische Fortschritt im 19. und 20. Jahrhundert bewirkte eine Abkehr von diesen traditionellen Vorstellungen und versetzte den Patienten in eine passive Rolle. Damit scheint es heute vorbei zu sein. Patientenverbände, Politiker und auch viele Mediziner fordern einen Paradigmenwechsel, infolge dessen das Gespräch zur zentralen Schaltstelle für jegliches ärztliches Handeln - und damit zugleich zur Gelingensbedingung - wird. Doch wie genau soll dieser Paradigmenwechsel aussehen? Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft in Zeiten des Internets und der damit verbundenen informellen Selbstbestimmung, des Fitness- und Gesundheits-Booms, der ge‐ sundheitlichen Aufklärung im Kindergarten und dem Trend nach gesunder Er‐ nährung? Welche Rollen spielen Ärzte in einer Zukunft, in der Patienten die Verantwortung für ihre Gesundheit zunehmend selbst in die Hand nehmen sollen und wollen? Eine Zukunft, in der Behandlungen ausgehandelt werden? Wie funktioniert ein System, in dem Patienten als gleichberechtigte Partner im Behandlungsprozess gehört werden wollen? Ein System, in dem Patienten als Experten für ihre eigene Gesundheit auftreten? Vor welchen Herausforde‐ rungen stehen Ärzte in einer Gesellschaft, in der Patienten neben ihrer Kran‐ kenkassenkarte immer häufiger auch Wissen, Vorstellungen und Erwartungs‐ haltungen mitbringen? Klar ist, mit den traditionellen Rollenmodellen des 19. Jahrhunderts ist eine solche Zukunft nicht zu bewältigen. Ärzte als Experten, Patienten als Laien - dieses Modell ist kaum tragfähig für eine Zukunft, in der Patienten eine zentrale Rolle einnehmen werden. Patienten wollen und sollen gehört werden. Der Rahmen, in dem dies geschehen kann, ist das Gespräch. Daher ist es nicht ver‐ wunderlich, dass dem Gespräch zwischen Patienten und Ärzten in verschie‐ denen wissenschaftlichen Disziplinen in den letzten Jahrzehnten eine immer breiter werdende Aufmerksamkeit zu Teil wird. Mediziner, Soziologen, Psycho‐ logen, Linguisten (und neuerdings sogar Juristen und sehr vereinzelt Öko‐ <?page no="8"?> 1 In diesem Buch wird durchgängig von einer Arzt-Patient-Kommunikation gesprochen, weil m. E. der Ausdruck Arzt-Patienten-Kommunikation grammatisch wegen der ein‐ seitigen Pluralbildung (Patienten) problematisch ist. Der Begriff Arzt-Patient-Kommu‐ nikation bildet zudem den dyadischen Charakter dieser Gespräche korrekter ab. nomen) beschäftigen sich mit der Frage, wie das Gespräch zwischen Ärzten und Patienten im Idealfall ausgestaltet sein sollte. So sehr das Interesse der Disziplinen am Gespräch verständlich (und aus Pa‐ tientensicht erfreulich) ist, so sehr erstaunt jedoch die nahezu durchweg gleiche, einseitige Perspektivierung. Diese Feststellung betrifft (nicht nur, aber) vor allem die Linguistik. Studien, die hier seit den 1980er Jahren sehr zahlreich vor‐ liegen, rücken nahezu immer den Arzt und dessen kommunikative Strategien ins Licht der Betrachtung. Als Forschungsfeld ist die Arzt-Patient-Kommunika‐ tion etabliert, nicht etwa die Patient-Arzt-Kommunikation. Auch dieses Buch, das sich über die Beschreibung des ICE -Konzepts dem Themenfeld ausdrücklich patientenorientiert zuwendet, schließt sich mit seiner Titelgebung dieser Tra‐ dition an. Der Grund dafür ist trivial: Der Terminus Arzt-Patienten-Kommuni‐ kation ist in dieser Konstruktion so geläufig, dass Suchmaschinen solche Pub‐ likationen, die diesen Titel tragen, treffsicherer finden als Bücher oder Aufsätze, die mit Patient-Arzt-Kommunikation betitelt sind. 1 Jedoch lässt sich anhand dieser vermeintlich beiläufigen und beliebigen Be‐ titelung der zahlreichen Monografien und Aufsätze weit mehr ablesen als ein bloßes Label - nämlich eine Haltung. Beide lexikalischen Konstruktionen, so‐ wohl der Terminus Arzt-Patient-Kommunikation als auch die Wortverbindung Patient-Arzt-Kommunikation, evozieren die Vorstellung von Unidirektionalität in der Interaktion (Arzt-zu-Patient bzw. Patient-zu-Arzt), sie sind daher beide eher unglücklich. Wie viel passender wäre es, künftig von einer Arzt-und-Pa‐ tient-Kommunikation zu sprechen? Gerade unter den sich verändernden Vor‐ zeichen wäre sprachliche Genauigkeit wünschenswert. Vielleicht würde dies dazu führen, den Patienten auch in der Forschung stärker zu gewichten. Einen ersten, möglichst großen Schritt in diese Richtung möchte ich mit der vorlie‐ genden Veröffentlichung gehen. Wenn man sich die gegenwärtige kommunikative Praxis ansieht, ist die Vor‐ stellung von einer unidirektionalen Kommunikation, die vom Arzt ausgeht, nicht ganz falsch. Noch immer sind Gespräche zwischen Ärzten und Patienten eher an somatischen Fakten als an subjektiven Theorien orientiert. Sie zeigen sich oftmals in ihrem Kern als stark disease-orientierte Gespräche. Auch mit Blick auf die Forschung zu diesem Thema stellt man fest, dass es sich kommu‐ nikativ um eine Einbahnstraße zu handeln scheint. Forscher blicken mit den ihnen jeweils eigenen Interessen und Methoden beispielsweise auf das Frage‐ 8 Vorwort - oder: Warum dieses Buch? <?page no="9"?> verhalten von Ärzten, typologisieren Fragehandlungen, analysieren Redeanteile und Sprecherwechsel, entwickeln Phasenmodelle oder skizzieren funktionale Ritualisierungen - fast immer ausgehend von den kommunikativen Bedürf‐ nissen des Arztes. Diese terminologische Einschränkung der Handlungsrichtung (Arzt → Pa‐ tient) und die mit ihr verbundene Perspektivierung sind möglicherweise zwei der Gründe, warum die Patientenperspektive deutlich weniger gut erforscht ist als die Arztperspektive. Wenig ist bekannt darüber, wie Patienten Gespräche eröffnen oder beenden, wie ihr Frageverhalten strukturiert ist oder durch welche Strategien es ihnen gelingt, die ihnen wichtigen Gesprächsinhalte zu platzieren. Und eine Frage ist bislang - zumindest in der deutschsprachigen Literatur zu Patient-Arzt-Gesprächen - noch kaum beantwortet: Welche Inhalte sind das überhaupt, die zusammen genommen die Patientenperspektive ausformen? Dieser Befund lässt sich auch auf die Schulung kommunikativer Kompe‐ tenzen im Medizinstudium übertragen: Im Kern geht es auch hier meist darum, was Ärzte wann, wie und in welcher Reihenfolge mit welchen Techniken tun sollen, wenn sie kommunizieren. Dass Ärzte im Gespräch (vor allem in der Phase der Informationsakquise) aktiv zuhören sollen, ist mittlerweile selbst denjenigen bekannt, die gar nicht so genau wissen, was sich hinter dem Aktiven Zuhören nach Carl Rogers überhaupt verbirgt. Zuhören scheint in der Kommunikation mit Patienten der Universalschlüssel zum Erfolg zu sein. Wenn ich Ärztinnen und Ärzte danach frage, worauf es im Gespräch am meisten ankommt, gehört Zuhören zu den häufigsten Antworten. Und tatsächlich: Zuhören ist wichtig. Aber: Auf was genau sollen Ärzte denn hören, wenn sie zuhören? Geht es nicht eigentlich um das richtige Hinhören? Hier stellt sich zugleich die Frage nach der „richtigen“ Perspektive. Das Zau‐ berwort lautet: Perspektivwechsel. Das Postulat der Ganzheitlichkeit in der me‐ dizinischen Diagnose und Behandlung erfordert, dass Ärzte neben ihrer eigenen auch die Patientenperspektive einnehmen. Doch das klingt einfacher als es ist. Die sogenannte biomedizinische Perspektive bereitet Ärzten in der Praxis keine Schwierigkeiten. Die richtigen Fragen zu stellen und genau Zuzuhören, wie Pa‐ tienten welche Symptome schildern, lernen Ärzte schon früh im Studium. Aber welche Inhalte verbergen sich eigentlich hinter der (weitgehend unerforschten) Patientenperspektive? Worauf müssen Ärzte hören, wenn sie diese Perspektive berücksichtigen wollen? Und warum müssen sie diese Perspektive überhaupt berücksichtigen? Welchen Einfluss haben patientenseitige Vorstellungen, Ängste oder Erwartungen auf den Behandlungsprozess? Solche Fragen sind wenig bis gar nicht systematisch erforscht. Dabei sind Antworten darauf drin‐ 9 Vorwort - oder: Warum dieses Buch? <?page no="10"?> gend notwendig. Denn: Wenn Ärzte nicht wissen, was sie hören sollen, dann ist es auch nicht sinnvoll ihnen zu vorzuschreiben, dass sie zuhören müssen. Diesem Thema widmet sich dieses Buch auf der Folie unterschiedlicher Über‐ legungen und methodischer Zugriffe, die den Patienten und dessen subjektive Theorien in den Blick nehmen. Neben der Vorstellung und Besprechung des in Deutschland noch weitgehend unbekannten ICE -Modells auf der Grundlage allgemeiner und spezieller Überlegungen zum ärztlichen Gespräch haben auch weitere Gedanken und Analysen zur patientenseitigen Beteiligung im Kommu‐ nikationsprozess Eingang gefunden. Ich selbst verstehe die damit vorliegenden Untersuchungen als einen kaleidoskopischen Blick auf eine Dimension ärztli‐ cher Gespräche ohne jeden Anspruch an Vollständigkeit oder an methodische Stringenz, wie sie für linguistische Studien ansonsten geboten ist. Durch die Fokussierung auf einen Gegenstandsbereich, der in vielfältiger Weise benach‐ barte und (auf den ersten Blick weiter entfernte) Disziplinen berührt, tritt die eigene Disziplin (im doppelten Wortsinn) hinter das allgemeine Erkenntnisin‐ teresse zurück. Mein Ziel ist es, dass Leserinnen und Leser möglichst vieler Fachrichtungen dieses Buch mit Gewinn lesen können. Dazu war es nötig, an Stellen zu simplifizieren und zu kürzen, an denen unter methodischen und fach‐ wissenschaftlichen Gesichtspunkten in einer linguistischen Arbeit nicht ver‐ einfacht oder verkürzt werden darf. Dass ich es dennoch getan habe, öffnet den Gegenstand für einen größeren Interessentenkreis. Gerade Themen, die von praktischem Nutzen und hohem Wert weit außerhalb der eigenen wissenschaft‐ lichen Disziplin sein können, dürfen m. E. nicht durch die fachwissenschaftliche Brille in einer Weise verzerrt werden, dass Erkenntnisse für Fachfremde an Kontur und damit an Zweckdienlichkeit verlieren. Entstanden ist diese Überblicksarbeit im Kontext mehrerer Seminare zur Me‐ dizinischen Kommunikation an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in den Jahren 2015 bis 2019. Auch Ergebnisse studentischer Arbeiten sind in dieses Manuskript eingeflossen. Teile der hier vorliegenden kondensierten Zusam‐ menstellung gesundheits-, kommunikationswissenschaftlicher und linguisti‐ scher Betrachtungen hat der Verfasser im Jahr 2018 an der Friedrich-Ale‐ xander-Universität Erlangen-Nürnberg als Postgraduierten-Masterthesis im Studiengang Gesundheitsmanagement eingereicht. Dieses Buch richtet sich aufgrund seiner Vielschichtigkeit an Studierende und Lehrende aller Fachbereiche, die mit dem Themenfeld Kommunikation im me‐ dizinischen Kontext befasst sind sowie an Ärztinnen und Ärzte, die hierüber ein tieferes Verständnis für patientenseitige Vorstellungen, Ängste und Erwar‐ tungen gewinnen möchten. Die Leserinnen und Leser möchte ich darum bitten, durchaus kritisch mit den hier skizzierten Überlegungen ins Gericht zu gehen 10 Vorwort - oder: Warum dieses Buch? <?page no="11"?> und den Diskurs auf diese Weise zu befeuern. Im Idealfall regt dieses Buch zu weiterer Forschung an, die sich von der bisherigen Fokussierung auf die Arzt‐ perspektive löst. Nur auf diese Weise kann es gelingen, das Themenfeld Arzt-und-Patient-Kommunikation auch künftig auf ein breites wissenschaftli‐ ches Fundament zu stellen. Der Beitrag, den ich mit diesem Buch zur besseren Sichtbarkeit der Patien‐ tenperspektive leisten möchte, mag gültig sein. Die Beurteilung seiner Gültig‐ keit in der medizinischen Praxis steht mir als Fachfremdem nicht zu. Jedenfalls aber ist er nicht endgültig. Das Themengebiet Arzt-Patient-Kommunikation ist noch nicht hinreichend kartographiert. Ich hoffe aber, dass dieser Beitrag be‐ sonders dort Beachtung findet, wo er unmittelbar eine Wirkung entfalten kann: bei - im wörtlichen Sinne - gesprächsbereiten Medizinerinnen und Medizinern ebenso wie bei Kolleginnen und Kollegen aus der Zunft der Linguisten, die ihren Blick für Interdisziplinäres weiten mögen. In beide Richtungen wende ich mich vor allem an die Jungen: Den eigenen, ganz persönlichen Horizont genauso zu öffnen wie den fachwissenschaftlichen Rahmen, gehört zu den Pflichten all derer, die direkt oder indirekt an der Versorgung von Menschen teilhaben. Wenn es die Linguistik im Schulterschluss mit der Medizin schaffen kann, die mensch‐ lichen Bedürfnisse den medizinischen Möglichkeiten gewissermaßen auf Au‐ genhöhe gegenüberzustellen, gewinnen die Fachwissenschaften weiter an Be‐ deutung - als unverzichtbare Steuerungsinstanzen innerhalb einer auf Autonomie und Diskurs basierenden Gesellschaft. Selbstverständlich sind neben der Autorin oder dem Autor immer auch zahl‐ reiche andere Menschen am Werden und Gelingen eines Buches beteiligt. Auch dieses Buch wäre Idee geblieben, wenn nicht andere seinen Wert und Nutzen erkannt und mich nach Kräften unterstützt hätte. Ihnen möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen. Als Linguist mit starker Hinwendung zu anwendungsbezogenen, interdiszi‐ plinären Fragestellungen und Forschungsinteressen bin ich dankbar dafür, dass ich an der Heinrich-Heine-Universität den nötigen Raum und den organisato‐ rischen Rahmen finde, Projekte wie dieses Buch umsetzten zu können. Ich danke Herrn Univ.-Prof. i.R. Dr. Dietrich Busse und seinem Nachfolger Herrn Univ.-Prof. Dr. Alexander Ziem (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) für die Freiheit, das Forschungsfeld Medizinische Kommunikation am Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft in Düsseldorf selbstständig bestellen zu können. Dass die Düsseldorfer Germanistische Sprachwissenschaft mittlerweile das Thema Medizinische Kommunikation als Forschungsschwerpunkt etabliert und über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gemacht hat, ist insbesondere ihrer 11 Vorwort - oder: Warum dieses Buch? <?page no="12"?> Offenheit und ihrem Interesse für dieses spannende und zukunftsfähige For‐ schungsgebiet zu verdanken. Herrn Univ.-Prof. Dr. Oliver Schöffski (Friedrich-Alexander-Universität Er‐ langen-Nürnberg) danke ich für die Anregung zu diesem Thema im Rahmen meines eigenen Postgraduierten-Masterstudiums. Frau Dr. Anke Peters (Rhei‐ nische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) gilt mein Dank für das gewissen‐ hafte Lektorat und meiner (leider ehemaligen) Mitarbeiterin Frau Julia Riedel danke ich für sorgfältige Recherchen, die ich selbst zeitlich nicht hätte leisten können. Den Herausgebern der Reihe Kommunizieren im Beruf. Fachwissen‐ schaftliche und fachdidaktische Perspektiven, Frau Prof. Dr. Kirsten Schindler, Herrn Prof. Dr. Christian Efing und Herrn Prof. Dr. Thorsten Roelcke, danke ich für die Aufnahme dieses Buches in ihre Schriftenreihe. Zugleich gilt mein Dank Herrn Bub vom Narr-Verlag für die professionelle Unterstützung - nicht nur bei diesem Projekt, sondern auch in der Vergangenheit. Dem Narr-Verlag bin ich als Autor eng verbunden. Fachliche, ideelle und organisatorische Unterstützung allein reicht noch nicht aus, um aus einer Idee ein fertiges Buch werden zu lassen. Ohne die äußerst großzügige finanzielle Unterstützung durch die Anton-Betz-Stiftung der Rhei‐ nischen Post hätte dieses Buch nicht entstehen können. Daher möchte ich mich insbesondere bei Frau Dr. Esther Betz, der Ehrensenatorin der Hein‐ rich-Heine-Universität, bedanken, die als Fürsprecherin sprachwissenschaftli‐ cher Projekte im Speziellen und geisteswissenschaftlicher Forschung im Allge‐ meinen bereits eines meiner früheren Buchprojekte zur Medizinischen Kommunikation interessiert begleitet und unterstützt hat. Danken möchte ich nicht zuletzt auch den Studierenden in meinen Bachelor- und Masterforschungsseminaren, deren Fragen, Diskussionen und frische Ge‐ danken den Prozess des Schreibens äußerst positiv beeinflusst haben. Besonders freue ich mich darauf, auf der Grundlage dieses Buches auch in Zukunft intensiv mit Euch und Ihnen diskutieren zu können. Düsseldorf, im Frühjahr 2020 Sascha Bechmann 12 Vorwort - oder: Warum dieses Buch? <?page no="13"?> 2 Gigerenzer / Gray (2013): 27 (Kursivierung im Original). 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten Jetzt brauchen wir eine dritte Revolution des Gesundheitswesens. […] Sie sollte das 21. Jahrhundert in ein Jahrhundert des Pati‐ enten verwandeln […]. Staatsbürger haben das Recht, die grundlegenden Tatsachen zu kennen, und […] Entscheidungen über ihre Gesundheit auf der Grundlage der besten verfügbaren Evidenz zu treffen. […] Das Jahrhundert des Patienten wird mehr Mög‐ lichkeiten umfassen, den Patienten aus einem Problem in eine Problemlösung zu verwandeln. 2 Wenn Gigerenzer und Gray das 21. Jahrhundert wie selbstverständlich zum „Jahrhundert des Patienten“ erklären, stellen sich zwei Fragen. Erstens: Warum rückt der Patient neuerdings ins Zentrum der Betrachtung und verdrängt oder ergänzt zumindest die bislang geltende Vorstellung von der dominierenden Rolle des Arztes in nahezu allen, also auch in kommunikativen Aspekten? Und zweitens: Mit welchen Argumenten wird eine solche Verschiebung von histo‐ risch gewachsenen und sozial gelernten Rollen begründet? Mit anderen Worten: Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen der Aufwertung der Patienten‐ rolle im Konzept der Krankheitsbewältigung zu Grunde? Wodurch ist die For‐ derung nach einer Auflösung der bisherigen Rollenasymmetrie zwischen Pa‐ tient und Arzt begründet? Und auf welche Weise kann dies überhaupt gelingen? Neben diese speziellen Fragen drängt sich eine allgemeinere: Welchen Ein‐ fluss hat die von Gigerenzer und Gray skizzierte Entwicklung auf das Gesund‐ heitsbzw. Krankheitsverhalten, auf die Arztrolle und auf das Selbstverständnis von Patienten sowie auf die Arzt-Patient-Interaktion generell? All das sind Fragen und Aspekte mit denen sich gegenwärtige nicht nur so‐ zioanthropologische, sondern auch linguistische und natürlich medizinische Untersuchungen auseinandersetzen, wie ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt. Den Ansatzpunkt für diese Auseinandersetzungen bildet die (kommuni‐ <?page no="14"?> 3 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden für Berufs- und Personenbe‐ zeichnungen - ungeachtet der Diskussion um geschlechtergerechte Sprache, jedoch nicht ohne ein kritisches Bewusstsein für diese Problematik - das generische Masku‐ linum verwendet. 4 Beobachtungen der gegenwärtige Gesprächspraxis lassen den Schluss zu, dass es sich bei Gesprächen zwischen Ärzten und Patienten noch immer um eher inputals dialog‐ orientierte Kommunikationsformen handelt. kative) Praxis. In den Fokus rückt hier das wohl wichtigste Element der Arzt-Pa‐ tient-Interaktion: das Gespräch. Dass insbesondere die Linguistik mit ihren ei‐ genen Untersuchungsmethoden und ihren fachspezifischen Zugriffsmöglichkeiten auf den Gegenstand „Gespräch“ im Konzert der Disziplinen eine Schlüsselrolle einnimmt, ist aus der Forschungspraxis heraus evident. Diese Rolle wird auch in der Zukunft in dem Maße weiter verfestigt, in dem das Be‐ wusstsein für die Notwendigkeiten der Veränderung im kommunikativen Han‐ deln von Ärztinnen und Ärzten 3 zunimmt. Wenn die kommunikative Praxis künftig den Dialog über den funktionalen Akt der Informationsakquise stellt, werden Studien, die das Gespräch als zentrales Element kommunikativen Han‐ delns weiter systematisch in den Blick nehmen, notwendig werden. 4 Nicht zu‐ letzt wird damit für die Zukunft ein Umdenken in den medizinisch-soziologi‐ schen Disziplinen notwendig, die den Schulterschluss mit den sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Fächern suchen müssen. Auch die Lingu‐ istik ist gefordert, sich ein Stück weit für Probleme mit konkreten Handlungs- und Anwendungsbezügen zu öffnen, was diesem Fach aufgrund seiner unklaren Position zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften er‐ fahrungsgemäß nicht leicht fällt. Einen Vorstoß in diese Richtung wagt die vor‐ liegende Untersuchung, die sich bewusst nicht (oder nicht nur) als linguistische Studie versteht, sondern stattdessen versucht, interdisziplinäre Bezüge herzu‐ stellen, um das Phänomen möglichst ganzheitlich betrachten zu können. 1.1 Rahmenbedingungen - Paradigmenwechsel in der Arzt-Patient-Kommunikation Mit der aktuellen Forderung nach einer aktiveren Patientenbeteiligung im Zu‐ sammenspiel zahlreicher Akteure bei der medizinischen Entscheidungsfindung werden hohe Ansprüche an die kommunikative Kompetenz von Ärztinnen und Ärzten erkennbar. Analysen ärztlichen Gesprächshandelns sind entsprechend darauf ausgerichtet, Defizite sichtbar und Kompetenzziele valide darstellbar zu machen. Ein wichtiges Ziel gesprächsanalytischer Untersuchungen zur Arzt-Pa‐ 14 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten <?page no="15"?> tient-Kommunikation und ihrer Aufarbeitung durch Praktiker ist seit einigen Jahren bereits die Identifizierung spezifischer Kommunikationsmuster für z. T. divergierende oder sich ergänzende Beziehungsmodelle (Paternalismus, Dienstleistung, Kooperation). Aus den Befunden lassen sich sowohl Unter‐ schiede zwischen der Förderung und Verhinderung von kommunikativen Aus‐ handlungsprozessen erkennen als auch Lösungen entwickeln, mit denen Kon‐ zepte partnerschaftlicher Aushandlung praxisnah ausgestaltet werden können. Auch wenn im Prinzip der Anspruch besteht, durch valide Studienergebnisse kommunikative Kompetenzen nachvollziehbar und damit lehr- und sogar prüfbar zu machen, ist zunächst von einer Asymmetrie zwischen professio‐ nellem Wissen und Laienwissen auszugehen, die nicht leicht überwunden werden kann. Jedoch helfen die Ergebnisse aus der Forschung zur Arzt-Pa‐ tient-Kommunikation dabei, diese Asymmetrie im Sinne einer gemeinsamen, qualifizierten Verantwortungsübernahme bei der Entscheidungsfindung zu überbrücken und damit bei aller Verschiedenheit (in den kommunikativen Vo‐ raussetzungen, Interessen und Zielen) so etwas wie partielle Gleichheit herzu‐ stellen. Dazu ist es zwingend erforderlich, die in der Forschungstradition etablierte einseitige Betrachtung zugunsten einer, auch den Patienten und dessen Kom‐ munikationsziele und -voraussetzungen berücksichtigenden, ganzheitlichen Auseinandersetzung um die Patientenperspektive zu erweitern. Auch wenn sich in der Realität das Beziehungsgefüge in der Interaktion zwischen Arzt und Pa‐ tient auf äußerst vielfältige Weise und in der ganzen Breite weit über die Kom‐ munikation im engeren Sinne hinaus entfaltet, lässt sich der unmittelbarste und methodisch erprobteste Zugriff auf das Phänomen „Arzt-Patient-Interaktion“ über das Gespräch als basales Element im gesamten Kommunikations- und In‐ teraktionsprozess herstellen. Im Gespräch kumulieren nicht nur medizinische, sondern auch über biome‐ dizinische Faktoren hinausreichende Einflüsse, die ein gegenseitiges Ver‐ ständnis und Verstehen erleichtern oder erschweren können. Nur auf Basis der Kenntnis und der Berücksichtigung solcher Einflüsse, die sich als sprachliche und außersprachliche Wissensbestände, Emotionen und individualstrategische Ziele beschreiben lassen, so die Annahme hinter der hier vorliegenden Unter‐ suchung, ist eine effektive medizinische Behandlung im Sinne der Ganzheit‐ lichkeit und darüber hinaus ihr nachhaltiger Erfolg möglich. Der Paradigmen‐ wechsel, der mit dieser Betrachtungsweise verbunden ist, ist folgenreich: Standen und stehen traditionell und bisweilen gegenwärtig arztseitige Inte‐ ressen und Vorstellungen im Zentrum kommunikativer Strategien und Bemü‐ hungen, so findet eine Abkehr von dieser arztzentrierten und auf Objektivier‐ 15 1.1 Rahmenbedingungen - Paradigmenwechsel in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="16"?> 5 Der Begriff Paradigmenwechsel ist dabei keinesfalls falsch zu verstehen: In der Lingu‐ istik (beispielsweise unter morpho-syntaktischen oder lexikalischen Gesichtspunkten) versteht man unter Paradigmenwechsel den Austausch eines Elements gegen ein an‐ deres innerhalb einer paradigmatischen Austauschklasse. Der Paradigmenwechsel in der Kommunikation zwischen Patienten und Ärzten soll diesem Muster nicht folgen. Es geht nicht darum, den Patienten und dessen Rolle gegen die des Arztes auszutau‐ schen. Gemeint ist eine Dominanzverschiebung, die sich ergibt, wenn man den Pati‐ enten als Experten seiner Gesundheit dem Arzt als Experten für Krankheiten gleich‐ berechtigt gegenübersetzt. Den Paradigmenwechsel in der Arzt-Patient-Interaktion verstehe ich eher als Aufwertung der Patientenrolle, die eine paradigmatische Ergän‐ zung zur Folge hat. Diese terminologische Einschränkung ist wichtig, weil bisweilen Stimmen laut werden, die ein Verwischen der Rollenvorstellungen und der damit ver‐ bundenen Verhaltensweisen einfordern. Die Stärkung der Patientenrolle durch die Hin‐ wendung zu den patientenseitigen Vorstellungen, Ängsten und Erwartungen kann und darf jedoch nicht zu einer Schwächung der Arztrolle mit den rollentypischen fachlichen, personalen und kommunikativen Kompetenzen führen. Stattdessen verhält es sich wie mit einer Waagschale: Die Aufwertung des Patienten durch die Einbeziehung der Pa‐ tientenperspektive muss im Gegenzug mit der Stärkung insbesondere kommunikativer Kompetenzen (Wissen, Können und Fertigkeiten) auf Seiten des Arztes einhergehen, um ein stabiles Gegengewicht zu bilden. Diese Erkenntnis liegt auch dem Versuch zu‐ grunde, mit diesem Buch einen wissenschaftlich gefestigten Grundstein für die not‐ wendige stärkere Ausprägung kommunikativer Kompetenzen bei Ärzten zu legen. barkeit hin ausgerichteten Kommunikationspraxis statt, indem patientenseitige Vorstellungen (ideas), Ängste (concerns) und Erwartungen (expectations) in den Prozess als zentrale (und zugleich gesprächsstrukturierende) Elemente in‐ tegriert werden. 5 Dieser Wechsel von der auf somatische Fakten begründeten und auf Krankheit ausgerichteten unidirektionalen Arzt-Patient-Kommunika‐ tion hin zu einer, die Gesamtheit des Patienten würdigenden, wechselseitigen Interaktion zwischen Arzt und Patient im Sinne eines (auch gesprächsinterak‐ tional) partnerschaftlichen Austauschs, ist nachgerade als Ent-Ritualisierung in der ärztlichen Beziehungsgestaltung zu bezeichnen. Diese Veränderung, die nur durch einen Perspektivwechsel auf Seiten der professionell agierenden Ak‐ teure im Interaktionsprozess gelingen kann, entspricht zum einen den Forde‐ rungen der Patienten nach einer stärkeren Teilhabe an Ihrer Gesundheit (und zugleich dem gesellschaftlichen Trend nach stärkerer Individualisierung). Zum anderen ist sie - wie zahlreiche Studien, die den Grundstein für die nachfol‐ genden Überlegungen legen, zeigen - zwingen notwendig zur Sicherung wech‐ selseitigen Verständnisses. 16 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten <?page no="17"?> Verständnis ist der passende Schlüssel zum Erfolg im therapeutischen Ge‐ samtprozess. Nur derjenige Patient ist wirklich in der Lage, sich aktiv in diesen Prozess einbringen zu können, der über die notwendigen handlungs‐ leitenden Informationen verfügt. Dabei steht außer Frage, dass es ein institutionell und situativ bedingtes Wis‐ sens- und Kompetenzgefälle zwischen Ärzten auf der einen und Patienten auf der anderen Seite gibt. Ziel gelingender Kommunikation ist beileibe nicht, dieses Gefälle umzukehren oder auszugleichen. Vielmehr muss es darum gehen, Pati‐ enten in der Zukunft mit dem nötigen Wissen auszustatten, welches sie dazu befähigt, die Anweisungen der Ärzte nachvollziehen zu können. Verständnis ist die Voraussetzung für Verhalten. Die Transparenz ärztlicher Entscheidungen versetzt Patienten in die Lage, ein Gefühl eigener Kompetenz im Gesamtprozess entwickeln zu können. Es geht nicht darum, den ärztlichen Wissensvorsprung zu verkleinern oder den Patienten durch eine Flut an Informationen an den Wissenshorizont der Ärzte anzugleichen. Nicht die Aufwertung der tatsächli‐ chen (medizinischen) Kompetenz der Patienten führt zum Ziel, sondern der Prozess der Vermittlung eines Kompetenzgefühls. Nur dann, wenn Patienten das (subjektive) Gefühl entwickeln, im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv im Behandlungsprozess integriert zu sein, werden sie diese aktive Rolle mit ge‐ wünschten Handlungsweisen ausfüllen. In der bisherigen Betrachtung von Par‐ tizipations- und Beteiligungsstrukturen in der Arzt-Patient-Interaktion spielt weniger der Aspekt der gewünschten Verhaltensweisen auf der Grundlage eines starken Kompetenzgefühls eine Rolle, als vielmehr patientisches Fehlverhalten und die Gründe dafür. So sind paternalistische Beziehungsmodelle, die in den letzten Jahrzehnten handlungsleitend waren und zugleich die etablierten Kom‐ munikationstechniken bestimmt haben (z. B. klassische Frage-Antwort-Se‐ quenzen mit starker arztseitiger Themensetzung), darauf ausgerichtet, man‐ gelnde Therapieeinsichten, die quasi per se den Patienten aufgrund ihrer Laienrolle unterstellt wurden, durch eine straffe Führung in die gewünschte Therapietreue umzuwandeln. Eine solche Bevormundung des Patienten, die wohlmeinend oder fürsorglich gemeint sein kann, führt jedoch - wie wir heute wissen - nicht dazu, dass Patienten sich ihren Fähigkeiten und ihren Bedürf‐ nissen entsprechend in den Prozess einbringen. Wir müssen ganz im Gegenteil davon ausgehen, dass das, was man früher als Therapietreue (engl. Compliance) 17 1.1 Rahmenbedingungen - Paradigmenwechsel in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="18"?> 6 Im Sprachgebrauch von Ärzten scheint eine gewisse semantische Kongruenz der beiden Begriffe Compliance und Adhärenz vorzuliegen, die terminologisch an dieser Stelle in‐ sofern aufzulösen ist, als dass der Begriff Compliance negativ konnotiert ist und daher zu vermeiden wäre. Beide Begriffe bilden insofern Gegensatzpaare, wenn man die mit ihnen verwobenen Beziehungsgefüge in den Blick nimmt: So ist der Begriff Compliance semantisch gebunden an ein kooperatives Verhalten des Patienten. Compliance setzt also das Verhalten des Patienten in Beziehung zu den Verhaltensanweisungen des Arztes. Ein Patient verhält sich, dieser Vorstellung entsprechend, dann richtig, wenn er die Handlungsaufforderungen des Arztes erfüllt. Zugleich trägt der Patient allein die Schuld am Misslingen des Prozesses, indem er seinen Verpflichtungen nicht nach‐ kommt. Demgegenüber steht bei dem Begriff Adhärenz die aktive Zusammenarbeit von Arzt und Patient im Sinne einer gemeinsamen Entscheidungsfindung und Therapie‐ zielvereinbarung im Vordergrund. Das bedeutet, dass die patientenseitigen Vorstel‐ lungen, Ängste und Erwartungen bei der Behandlungsplanung mitberücksichtigt werden. 7 Koerfer / Albus 2015: 117. 8 Ich verwende hier den Begriff Gelingensbedingungen in Anlehnung an Searle 1969 (dort: felicity conditions), weil ich der Meinung bin, dass für die Interaktion zwischen Ärzten und Patienten prinzipiell dieselben Anforderungen gelten, wie sie von Searle für Sprechakte im Allgemeinen formuliert wurden. Gelingensbedingungen beziehen sich prinzipiell auf Konventionen oder Regeln für soziale Handlungen und konstituieren so bezeichnet hat und was heute unter dem Label Adhärenz 6 verstanden wird, eher erreicht werden kann, wenn man den Ursache-Wirkungs-Zusammen‐ hang zwischen misslungener Kommunikation und patientenseitigem Fehlver‐ halten betrachtet und dabei Kommunikation als dem Verhalten nicht nur tem‐ poral, sondern auch konditional vorgeschaltet erkennt. Auf diesen wichtigen Zusammenhang, der bislang kaum ausreichend diskutiert worden ist, weisen auch Koerfer und Albus hin: So sehr das Ausmaß der Nicht-Adhärenz und ihre Folgelasten inzwischen gut unter‐ sucht sind, so wenig sind die Ursachen dieses ,Fehlverhaltens‘ bisher ausreichend geklärt. Dabei ist dieses Fehlverhalten nicht einseitig der bloßen „Unvernunft“ von Patienten zuzuschreiben, die es sicher auch geben mag, sondern vielmehr der Art der Beziehung zwischen Arzt und Patient selbst anzulasten, in der offenbar die Kommu‐ nikation vor, während oder nach einer medizinischen Entscheidung ,fehlerhaft’, ,miss‐ verständlich‘ oder ,dysfunktional’ verlaufen oder auch nur einfach ,zu kurz‘ ge‐ kommen ist. 7 Die beiden Autoren setzen einen wertvollen Impuls für weitere Forschung zur Nicht-Adhärenz: Anstatt sich mit den Folgen von sogenannter Non-Adhärenz nach der ärztlichen Konsultation zu beschäftigen, ist es notwendig, sich den Gelingensbedingungen zuzuwenden, die im ärztlichen Gespräch ihre Wir‐ kung entfalten. 8 Störungen und Defizite in der dem Handeln der Patienten stets 18 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten <?page no="19"?> etwas wie den konventionellen Bezugsrahmen, in dem solche Handlungen stattfinden und letztlich in ihrer Qualität bewertet werden können. So nehme ich an, dass es sich bei den Gelingensbedingungen nicht bloß um Dimensionen handelt, innerhalb derer einzelne Sprechakte ge- oder misslingen können, sondern ich halte sie nachgerade für gesprächskonstituierend. Insbesondere für Arzt-Patient-Gespräche gilt: Es existiert ein sozial angeeignetes, übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten kon‐ ventionalen Ergebnis und sowohl die Akteure als auch die Rahmenbedingungen sind passend für die Berufung auf das Verfahren. Wenn die Beteiligten - wie von Searle gefordert - das Verfahren korrekt und vollständig durchführen, wird es gelingen. Zu diesen Gelingensbedingungen gehört u. a. auch die kommunikative Berücksichtigung von Patienteninteressen, wie sie in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen. vorgeschalteten Kommunikation mit Ärzten führen in der Folge zu Defiziten im Handeln der Patienten. Insofern ist Kommunikation (und dabei das kommuni‐ kative Meta-Ziel Verständnis) als Forschungsgegenstand der Erforschung von (Non-)Adhärenz vorgelagert. So ist es wenig sinnvoll und nicht hinreichernd, sich mit den gravierenden individuellen Gesundheitsfolgen (Mortalitätsrisiken und Morbidität) oder den ebenfalls enormen ökonomischen Folgen von feh‐ lender Adhärenz zu beschäftigen. Vielmehr muss die Erforschung der grundle‐ genden und ursächlichen Kommunikation in den Vordergrund rücken. Die zent‐ rale Fragestellung eines solchen Forschungsbemühens muss lauten: Wie kann es gelingen, durch kommunikative Handlungen auf Seiten der Ärzte die ge‐ wünschten Handlungsweisen auf Seiten der Patienten zu bewirken und zugleich die patientenseitigen Perspektiven in diesen Kommunikationsprozess so zu in‐ tegrieren, dass der Erfolg der beiderseitigen Bemühungen nachhaltig gesichert ist? Wie kann kommunikativ das notwendige Kompetenzgefühl vermittelt werden? Und was ist dazu notwendig, wechselseitig Verständnis herzustellen und zu sichern? Dabei ist Verständnis deutlich mehr als Verstehen. Missverständnisse in der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten sind folgenreich für den ge‐ samten Prozess medizinischer Intervention. Längst ist bekannt, dass Verstehen (im Sinne reiner Sprachverarbeitung als kognitive Leistung) außersprachlich eine enorme Wirkung entfaltet. Verstehen dient nicht allein der (sprachlichen) Verständigung, Verstehen ist als Eckpfeiler des Verständnisses handlungsaus‐ lösend und verhaltensändernd. Zudem ist Verstehen als Basis des Verständnisses auch sozial bedeutsam, denn Verständnis ist die Voraussetzung für das in der medizinischen Interaktion zwingend notwendige Vertrauen. Gerade in einem Prozess, der in entscheidender Weise von der Mitwirkung des Patienten ab‐ hängt, ist wechselseitiges Vertrauen wichtig: Vertrauen des Patienten in die Fä‐ higkeiten des Arztes sowie umgekehrt das Vertrauen des Arztes in den Willen des Patienten, die professionellen Empfehlungen in konkrete Handlungsweisen 19 1.1 Rahmenbedingungen - Paradigmenwechsel in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="20"?> 9 Im Folgenden wird von einem ICE-Modell gesprochen. In der Literatur findet man mancherorts auch den Terminus ICE-Konzept. Die Unterscheidung zwischen Modell und Konzept ist m. E. nicht trennscharf möglich, dennoch möchte ich begründen, warum ich mich in dieser Arbeit für den Modell-Ausdruck entscheide. Der Begriff Konzept involviert - zumindest in einer eher didaktischen Lesart - den Aspekt des Erfahrungswissens, wogegen ein Modell als ein (vor-)theoretisches Konstrukt ver‐ standen werden kann. Mit Blick auf das ICE-Modell, das in zahlreiche Theorien einge‐ bettet ist und zugleich nicht ohne Weiteres als ein Handlungsentwurf verstanden werden kann, scheint mir der Ausdruck Modell treffend zu sein. Zugleich reduziert der Modell-Begriff hier die Komplexität der kommunikativen Handlungszusammenhänge und kann im Weiteren dazu dienen, kommunikative Konzepte zu entwickeln. Hierzu wäre es aber notwendig, das ICE-Modell und dessen Komponenten in einen kommu‐ nikativen Handlungsentwurf zu überführen und mit konkreten Techniken zu ver‐ knüpfen. zu überführen. Nur dann, wenn Patienten den Ratschlägen ihrer Behandler folgen, wird der Behandlungsprozess erfolgreich verlaufen. Gegen- und wech‐ selseitiges Vertrauen ist aufgrund der Diskrepanz zwischen Laien- und Exper‐ tenwissen einerseits und des Umstandes, dass Schnittstellen zwischen diesen beiden Wissenssphären vorhanden sind, andererseits nicht nur wichtig, sondern kann als geradezu konstituierend für den medizinischen Gesamtprozess be‐ trachtet werden. Auf welche Weise im Kommunikationsprozess wechselseitig Verstehen und Verständnis gewährleistet werden können, wann und auf welche Weise die Patientenperspektive Eingang in das Gespräch finden soll, und was geschieht, wenn dies ausbleibt, das ist ein wichtiges Forschungsfeld der angewandten Linguistik und der Kommunikationswissenschaft und entsprechend auch Gegenstand dieser Untersuchung. Ziel ist es, anhand des ICE -Modells (als Akronym für ideas, concerns & expec‐ tations) die Bedeutung des Gesprächs insgesamt aus einem neuen und bislang kaum gewählten Blickwinkel hervorzuheben und die Kommunikationsschwie‐ rigkeiten und -gefahren zwischen Arzt und Patient im Spannungsfeld von sub‐ jektiven und wissenschaftlichen Konzepten von Gesundheit und Krankheit auf‐ zuzeigen. 9 Dass es sich beim (auch und vor allem gesundheitspolitisch) postulierten „Jahrhundert des Patienten“ insgesamt um ein soziales Phänomen handelt, das sich in besonderer Weise in einer sich (zumindest in den sogenannten Informa‐ tionsgesellschaften) verändernden kommunikativen Praxis zeigt, wird evident, wenn man einen Blick auf neuere Konzepte und sich daraus ergebende Strate‐ 20 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten <?page no="21"?> 10 Akronym für die in der Kommunikationsausbildung von Ärzten empfohlenen vier Ge‐ sprächselemente Warten, Wiederholen, Spiegeln, Zuhören. gien der Patient-Arzt-Kommunikation wirft. Der Forderung nach einer stär‐ keren Einbeziehung patientenseitiger Vorstellungen und Kompetenzen in alle Prozesse der gesundheitlichen Versorgung (nicht allein die Behandlung, son‐ dern beispielsweise auch die Prophylaxe) entspricht eine, mit diesen Forde‐ rungen korrelierende, Veränderung in den kommunikativen Prozessen. Die (kommunikative) Berücksichtigung patientenseitiger Vorstellungen (ideas), Ängste (concerns) und Erwartungen (expectations) entspricht eben dieser For‐ derung nach Patientenautonomie in besonderer Weise. Diese Erkenntnis, die alles andere als neu ist, gewinnt in Deutschland erst sehr langsam an praktischer Relevanz. Das liegt vor allem daran, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Kommunikation an (gelernten) Techniken ausrichten, die eher gesprächssystematisch ausgerichtet sind und damit als im Kern (rein) prozess‐ orientiert zu beschreiben sind. Daraus ergeben sich kommunikative Schwierig‐ keiten, denn in der ärztlichen Gesprächsführung gibt es im Idealfall keine Tren‐ nung zwischen Prozess und Inhalt, sondern eine Prozess- Inhalt-Korrelation. Es ist also kaum zielführend und wenig erfolgverspre‐ chend, durch Frage-Antwort-Abfolgen oder durch strukturelle Techniken, wie beispielsweise die WWSZ -Technik 10 , die Kommunikation zwischen Arzt und Patient allein gestalten zu wollen. Ohne die Betrachtung und ohne die kommu‐ nikative Einbeziehung der zentralen Gesprächsinhalte, die sich arzt- und pati‐ entenseitig aus unterschiedlichen Bedürfnissen und Wissensbeständen speisen, kann Kommunikation kaum gelingen. Das Wissen über die arztseitigen Bedürfnisse und Wissensbestände ist hinreichend untersucht und soll nicht im Zentrum der nachfolgenden Überle‐ gungen stehen. Dass Ärzte vorrangig somatische Fakten benötigen, ist evident. Welche Bedürfnisse auf Seiten der Patienten bestehen und auf welche Weise diese Bedürfnisse mit Wissensbeständen verwoben sind, dazu ist in der deutsch‐ sprachigen Literatur zur Kommunikation zwischen Patienten und Ärzten wenig zu finden. Die Forschung zur Patient-Arzt-Kommunikation lenkt seit den frühen 1980er Jahren den Fokus stark auf das kommunikative Verhalten von Ärztinnen und Ärzten. Diese eher einseitige Betrachtung, die sich auch terminologisch darin spiegelt, dass vorwiegend von einer Arzt-Patient-Kommunikation gespro‐ chen wird, vernachlässigt die in zahlreichen Studien als bedeutsam erkannte Patientenperspektive. Indem man sich vorwiegend mit dem ärztlichen Frage‐ verhalten beschäftigt (gesprächslinguistische Untersuchungen lenken häufig genau darauf den Blick), geraten die kommunikativen Bedürfnisse von Patienten 21 1.1 Rahmenbedingungen - Paradigmenwechsel in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="22"?> ebenso aus dem Blickfeld, wie die kommunikativen Strategien, mit denen Pati‐ enten ihre Bedürfnisse kenntlich machen und versuchen, ihnen Raum im Ge‐ spräch zu verschaffen. Dies ist umso erstaunlicher, als dass im angelsächsischen Raum bereits seit den 1960er Jahren Studien zu den patientenseitigen Bedürfnissen vorliegen. Während in Deutschland erst seit 2012 durch die Änderung der ärztlichen Ap‐ probationsordnung ein Bewusstsein für die Bedeutung kommunikativer Kom‐ petenzen erkennbar wird, das sich in mehr oder weniger elaborierten curricu‐ laren Vorgaben ausdrückt, konnte bereits 1985 von Leventhal et al. gezeigt werden, dass die kommunikative Berücksichtigung patientenseitiger Vorstel‐ lungen, Ängste und Erwartungen ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg ist. Die Überführung des ICE -Modells in konkrete Handlungsempfehlungen für eine patientenorientierte Kommunikation ist in Deutschland noch nicht gelungen. Bislang lassen sich auch noch keine Versuche erkennen. Im Wesentlichen dürfte dies an der Unkenntnis dieses Modells liegen. Untersuchungen zu diesem Modell sind nachgerade als ein Desiderat zu betrachten. Insbesondere kann das Modell dadurch an Akzeptanz gewinnen, dass es aus verschiedenen Blickwinkeln be‐ trachtet wird. Im Zentrum der hier vorliegenden Untersuchungen stehen (neben einer kommunikationstheoretischen Hinführung) auch gesprächs- und kogni‐ tionslinguistische Dimensionen, die das Modell greifbar machen sollen. Dass eine linguistische Betrachtung fachfremder Kommunikationsmodelle über‐ haupt sinnvoll (und gewissermaßen erlaubt) ist, ergibt sich aus dem spezifischen Gegenstandsbereich: Die Wirkung von Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten entfaltet sich zwar im Kontext medizinischer Entscheidungen und sie ist im Kern medizinisch (wie jedes andere ärztliche Handeln auch), sie entfaltet sich aber eben ausschließlich im Gespräch. Daher steht es Linguisten nicht nur zu, sondern es gehört auch ihrem Selbstverständnis nach zu ihren Kernkompe‐ tenzen, die im Gespräch kumulierenden kommunikativen Rollen, Konzepte und Wirkungen nicht nur zu beschreiben (= Deskription), sondern auch unter nor‐ mativen Gesichtspunkten zu betrachten. Ausgehend von allgemeinen Überle‐ gungen zum Gespräch im medizinisch-institutionellen Rahmen soll im Fol‐ genden ein Kommunikationsmodell auf breiter Forschungsbasis und im Kontext v. a. kognitionslinguistischer Erkenntnisse zu subjektiven Krankheitstheorien skizziert werden, das in der praktischen Anwendung seine Stärken zeigen kann. 22 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten <?page no="23"?> 11 Das Modell wird erstmals erwähnt bei Leventhal 1985. In der vorliegenden Untersuchung wird das ICE -Modell auf der Folie kom‐ munikationstheoretischer Überlegungen näher beleuchtet. Ziel ist es, dieses in Deutschland recht unbekannte Modell vorzustellen und einzuordnen, die wesentlichen kommunikativ-interaktionalen Vorzüge anhand von Studien‐ ergebnissen herauszuarbeiten und das Modell einzubinden in ein kommuni‐ katives Gesamtkonzept. Dazu wird das ICE -Modell w. u. in ein Phasenmodell ärztlicher Gesprächsfüh‐ rung (Calgary-Cambridge-Guides) integriert und mit konkreten kommunika‐ tiven Techniken verknüpft. Die Basis für diese Überlegungen bildet eine Be‐ trachtung interaktionaler Besonderheiten der Arzt-Patient-Kommunikation, die im nächsten Kapitel folgen wird. Wesentlich für die Bewertung des ICE -Modells wird anschließend die Verknüpfung mit dem Modell der Krankheitsrepräsen‐ tation (Common-Sense Model of Illness-Representation) nach Leventhal 11 sein, das gewissermaßen die (kognitionswissenschaftliche) Basis für das ICE -Modell bildet. Verwoben wird dieses mentale Repräsentationsmodell mit Überlegungen zu subjektiven Theorien. Auf dieser Folie werden linguistische Überlegungen zu sogenannten Frames den Blick auf das ICE -Modell weiten. Diese Überle‐ gungen können dabei helfen, Missverständnisse zu erklären, die über die Ak‐ tualisierung falscher Frames (ich nenne das Phänomen weiter unten Fal‐ scher-Frame-Fehler ( FFF )) entstehen können. Ein Exkurs in die Frame-Theorie mit weiterführenden Gedanken zur strukturellen Bestimmung von sprach‐ lichem Wissen in Frames speziell im medizinischen Kontext wird auch unkun‐ digen und fachfremden Lesern das nötige Verständnis ermöglichen. In der Gesamtbetrachtung wird sich zeigen, dass die Exploration der Elemente des ICE -Modells mithilfe eines geeigneten Kommunikationsmodells maßgeb‐ lich zu einer Verbesserung der Patientenversorgung - v. a. über die Faktoren Patientenzufriedenheit und Adhärenz - beitragen kann. 1.2 Das ICE-Modell - Definition, Evidenz und Rahmenbedingungen Während im deutschsprachigen Raum sowohl in der Lehre als auch in der For‐ schung in erster Linie konkrete Techniken der ärztlichen Gesprächsführung im 23 1.2 Das ICE-Modell - Definition, Evidenz und Rahmenbedingungen <?page no="24"?> 12 Als Beispiel dient hier der Leitfaden „Kommunikation im medizinischen Alltag“ der Ärztekammer Nordrhein aus dem Jahr 2015 (künftig zitiert als Ärztekammer Nordrhein 2015b). 13 Vgl. Ärztekammer Nordrhein 2015a: v.a. S. 47-50. 14 Vgl. Emanuel et al.1992, Begenau et al. 2010, Colombo 2012. 15 Tate 2005: 26. 16 Vgl. Charles et al. 1997. 17 Vgl. Härter 2004. 18 Bechmann 2014: 136. 19 Bechmann 2014: 137. Fokus stehen (beispielsweise die WWSZ -Technik oder das NURSE -Schema) 12 , werden seit den 1970er-Jahren vor allem in Nordamerika Modelle der Arzt-Pa‐ tient-Interaktion diskutiert, die für das Verhältnis zwischen Ärzten und Pati‐ enten von besonderer Bedeutung sind und die in gegenwärtigen gesundheits‐ politischen Forderungen auch hierzulande berücksichtigt werden. Kern dieser Überlegungen bildet die Überzeugung, dass es einen Paradigmenwechsel in der Arzt-Patient-Beziehung gegeben hat, der das Ideal der Patientenorientie‐ rung und -zentrierung hervorhebt und eine Abkehr von traditionellen pater‐ nalistischen Rollenvorstellungen darstellt. 13 In der Konsequenz bedeutet dieser Paradigmenwechsel die Einbeziehung der Patientensicht unter der Be‐ rücksichtigung der Patienteninteressen. 14 Kommunikation gilt dann als ge‐ lungen, wenn diese Einbeziehung gelingt. Gelungene Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten kann nachweislich positive Auswirkungen auf den Be‐ handlungserfolg und somit auf die Gesundheit des Patienten haben: „When the advice is ‚congruent‘ with their beliefs, people are more likely to adhere to me‐ dical treatment.“ 15 Fühlen sich Patienten wertgeschätzt und ernstgenommen, stärkt dies die Vertrauensbasis und führt zu einer Verbesserung der Adhärenz. Das Modell des shared decision making ( SDM ) oder collaborative decision ma‐ king  16 ( CDM ) wird in Deutschland mit der Bezeichnung partizipative Entschei‐ dungsfindung  17 ( PEF ) übersetzt und sagt aus, dass ein tragfähiges Beziehungs‐ modell zwischen Ärzten und Patienten auf einem „wechselseitigen Prozess der Berücksichtigung medizinischer und zugleich psychologischer Erfordernisse basiert“ 18 . Dieser Prozess ist untrennbar verwoben mit der Einsicht, dass einzig durch den wechselseitigen Austausch relevanter Informationen a) Verständnis hergestellt und b) Einverständnis erzielt werden kann: Damit der Patient unmittelbar an der Verantwortung beteiligt ist (und nicht nur an der Entscheidung wie im Konsumentenmodell), bedarf es hier der Bereitschaft des Patienten, wichtige Informationen zu teilen, Entscheidungen zu treffen und die Kon‐ sequenzen mitzutragen. 19 24 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten <?page no="25"?> 20 Die Verknüpfung der Elemente des ICE-Modells mit dem gesundheitspolitischen Ideal des CDM ist in der Literatur nicht beschrieben und erfolgt hier eigenständig. 21 Dieser Zusammenhang wird in Kapitel 3.3 näher beleuchtet und an das Common-Sense Model of Illness-Representation rückgebunden. 22 Vgl. Hartog 1993: 115-117. 23 Hartog 1993: 115. Das Teilen von Informationen, das Tragen von Konsequenzen und die Möglich‐ keit, Entscheidungen treffen zu können, korreliert m. E. mit den kognitiven Di‐ mensionen Ideen (ideas), Befürchtungen (concerns) und Erwartungen (expecta‐ tions), die als Grundlage für die Entwicklung des ICE -Modells zu werten sind. 20 1.2.1 Ideas So ist die Informationsebene stets verbunden mit Vorstellungen und Ideen (ideas) über z. B. Krankheitsschwere, Krankheitsdauer oder Krankheitsursa‐ chen. 21 Solche Laienvorstellungen, insbesondere über die Ätiologie von Krankheiten (verstanden als Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge), sind tra‐ ditionell Gegenstand der medizinischen Psychologie sowie der Ethnomedizin. 22 Der Ansatz dieser Forschungsrichtung ist stark geprägt von der Einsicht, dass das Wissen des Arztes über Laienvorstellungen entscheidend dazu beitragen kann, das Beziehungsgefüge zwischen Arzt und Patient positiv zu beeinflussen. Die Vorstellungen und Ideen der Patienten zu kennen ist notwendig, „um sie für eine positive Veränderung von Krankheitsverläufen im Sinne einer verbes‐ serten ,compliance‘ durch den Patienten selbst fruchtbar zu machen“ 23 . Somit stellen die Laienvorstellungen das Fundament dar, auf dem erfolgreiche Auf‐ klärung und die weiteren Schritte auf dem Weg hin zu einer partizipativen Ent‐ scheidungsfindung überhaupt erst einen sicheren Stand finden. Verbunden damit ist die Tatsache, dass es sich bei den meisten Krankheiten 1. um sehr komplexe und abstrakte - und für Laien oft schwer zu fassende - medizinisch-pathologische Zusammenhänge handelt und 2. Ideen von der Pathogenese sowie von den Möglichkeiten der Heilung oft eingebunden sind in ein festes Werte- und Normengefüge, in welchem der Arzt aufgrund seiner Profession eine zentrale Rolle spielt. Insbesondere Erwartungen (expectations) sind eng verwoben mit dieser Vor‐ stellung von der Rolle des Arztes als Heiler (s. u.). Als Problem für die Arzt-Pa‐ tient-Beziehung erweist sich mit Blick auf das (disparate) Wissen der Patienten über Krankheiten die Diskrepanz zwischen den Wissensbeständen der Patienten als Laien und dem Wissen der Ärzte als Experten. Hier gilt es, durch gezieltes 25 1.2 Das ICE-Modell - Definition, Evidenz und Rahmenbedingungen <?page no="26"?> 24 Hartog 1993: 132. 25 Vgl. z. B. Ziem 2008. Erfragen der ideas, eine Vorstellung davon zu bekommen, was Patienten wissen (bzw. glauben) und was nicht. In Zeiten von „Dr. Google“ ist dieses Wissen sehr unterschiedlich ausgeprägt und oft bruchstückhaft. Die Erfragung von Vorstellungen und Ideen ist funktional bedeutsam: Die patientenseitigen Vorstellungen werden sehr häufig von ihnen selbst für Er‐ klärungsversuche eingesetzt, was zu erheblich greifbareren und nachvoll‐ ziehbareren Zusammenhängen beiträgt. Dieser Aspekt könnte für die Arzt-Patient-Interaktion insgesamt förderlich sein: Diese Art des Erklärens, die auf bruchstückhaftem Wissen und heterogenen Vorstel‐ lungen sowie auf Ableitungsregeln mit hinreichendem Allgemeingültigkeitsanspruch basiert, könnte man als ,Laientheoretisieren’ ansehen. Der Umgang der [Patienten] mit ihren eigenen Wissensbeständen innerhalb eines Institutionenkontextes hat einen prozeßhaften Charakter. Gerade der Einblick in diese Prozeßhaftigkeit […] könnte für die Beratungspraxis (insbesondere für die Informationsvermittlung und -bewertung) fruchtbar gemacht werden. 24 Neben die medizinisch-psychologische Betrachtung treten gegenwärtig die kog‐ nitionswissenschaftlichen Disziplinen, die in neuerer Zeit Krankheitsmodelle auf der Basis von kollektiven und individuellen Wissensbeständen entwerfen. So ist etwa aus der Kognitionslinguistik bekannt, dass bereits Krankheitsla‐ bels (Krankheitsnamen) Vorstellungen über solche Parameter (verstanden als konkrete Vorstellungen oder Ideen) evozieren. Die sogenannte Frame-Theorie geht davon aus, dass in Begriffen Sprach- und Weltwissen gemeinsam angelegt sind und dass solche Begriffe abstrakte Vorstellungswelten auslösen. 25 Die Idee von einer Krankheit wird auf diese Weise durch Welt- und Erfahrungswissen maßgeblich beeinflusst. Im Modell des CDM (dt. PEF ) sind die Informationen über die eigenen Vorstellungen und das Wissen über die eigene Erkrankung tragende Säulen des wechselseitigen Aushandlungsprozesses, da dieser wesent‐ lich auf dem Teilen und der Bereitstellung gemeinsam nutzbaren Wissens ba‐ siert. Es handelt sich nämlich um einen „Interaktionsprozess mit dem Ziel […], unter gleichberechtigter und aktiver Beteiligung von Patient und Arzt auf Basis geteilter Informationen zu einer gemeinsam verantworteten Übereinkunft zu 26 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten <?page no="27"?> 26 Loh et al. 2007: A1484 (Hervorhebung durch den Verfasser). 27 Matthys et al. 2009: 31. 28 Levenstein et al. 1986: 25. 29 Matthys et al. 2009: 31. 30 Vgl. Fiehler 2005: 121. 31 Fiehler 2005: 121. gelangen“ 26 . Ideas werden im ICE -Modell verstanden als „every opinion of the patient about a possible diagnosis, treatment, or prognosis“ 27 . 1.2.2 Concerns Auf der Ebene der Konsequenzen sind u. a. Befürchtungen (concerns) ver‐ ortet. Hier wird die emotive Dimension der Arzt-Patient-Kommunikation er‐ kennbar, die ebenfalls von Bedeutung für den w. o. genannten Aushandlungs‐ prozess ist (an dessen Ende im Idealfall gegenseitiges Verständnis und Vertrauen steht). Levenstein et al. erkennen bereits 1986 insbesondere diese emotive Di‐ mension des Patienten-Frameworks als zentral für den Prozess der Patienten‐ zentrierung über den Weg der Zusammenführung von Arztperspektive und Pa‐ tientenperspektive: When a patient consults a physician, he has a certain agenda in mind. We have chosen to define this in terms of his expectations, feelings and fears. The doctor also has his agenda, which in general may be stated as the correct diagnosis of the patient’s com‐ plaints and the implementation of preventive procedures that are appropriate for the patient’s age, sex and risk factors. For individual patients he may have a more specific agenda based on previous knowledge of the patient and his family. In the pa‐ tient-centred method, the physician’s aim is to ascertain the patient’s agenda and to reconcile this with his own. 28 Matthys et al. beschreiben diese emotive Dimension sehr treffend als „the ex‐ pressed fear / worry of the patient about a possible diagnosis or treatment“ 29 . Die gesprächsinteraktionale Berücksichtigung von Ängsten und Befürch‐ tungen stellt eine Abkehr von der traditionellen schulmedizinischen Konzeption dar, in der allein die somatischen Komponenten von Bedeutung sind. 30 Dabei bilden somatische Phänomene und psychische Prozesse eine untrennbare Ein‐ heit, die auch im Gespräch nicht aufgelöst werden darf: „Gegenstand des Arzt-Patienten-Gesprächs sind […] mehr oder weniger gravierende Be‐ schwerden, Krankheiten und somatische Ausnahmezustände, und diese sind unweigerlich mit einem bestimmten, mehr oder weniger starken Erleben und entsprechenden Emotionen verbunden“ 31 . Diese Festlegung gilt nicht nur für 27 1.2 Das ICE-Modell - Definition, Evidenz und Rahmenbedingungen <?page no="28"?> 32 Fiehler 2005: 121. 33 Fiehler 2005: 121. 34 Fiehler 2005: 124 (Hervorhebung durch den Verfasser). 35 Fiehler 2005: 124. Erkrankungen, sondern auch für lebensverändernde Situationen, in denen Ärzte die Rolle des Aufklärers übernehmen. So kann auch die Mitteilung einer Schwangerschaft ohne medizinische Risiken bereits zahlreiche Ängste auslösen. An diesem Beispiel lässt sich die Komplexität psychischer Prozesse infolge eines somatischen Befunds gut zeigen, denn eine Schwangerschaft ist die Einheit aus einer Gravidität und den Sorgen um die Entwicklung des Fetus, Un‐ sicherheiten darüber, welche Veränderungen dies für das eigene zukünftige Leben bedeutet, Überlegungen, ob die Partnerschaft der neuen Situation gewachsen sein wird, und letztlich auch der Freude auf das Kind. 32 Eine Asymmetrie der Informationsinteressen von Arzt und Patient lässt sich in diesem Beispiel, in dem krankheitsbezogene Parameter eigentlich keine Rolle spielen, sehr gut ablesen. Sie zeigt sich in prinzipiell allen Ereignissen, in denen somatische und psychische Komponenten verschmelzen. Für die Medizin kann angenommen werden, dass dies immer dann der Fall ist, wenn Ärzte Diagnosen stellen - seien es schwerwiegende Erkrankungen oder leichtere Verletzungen. Selbst ein gebrochenes Bein „ist so die Einheit aus der Fraktur von Tibia und Fibula und Befürchtungen, Sorgen etc. […]“ 33 über vielerlei Folgen (berufliche Einschränkung, Heilungsdauer und -qualität, Folgeschäden etc.). Insofern spielen Ängste und Befürchtungen, also die Erlebnissituation, in der modernen patientenzentrierten Kommunikation eine wesentliche Rolle: „Im Hinblick auf seine Beschwerden sind beim Patienten Angst, Sorge, Befürchtungen, Unsicher‐ heit und eine Minderung des Selbstwertgefühls […] die wesentlichen Emotionen und Formen des Erlebens“ 34 . In sachorientierten Gesprächen kommen diese psychischen Komponenten der Patientenperspektive kaum zur Sprache, sodass die Abkopplung von Erleben und Emotionen u. U. zu einer Verdrängung dieser Emotionen führt, die sich negativ auf das Befinden des Patienten auswirkt. Dies gilt gleichermaßen auch für die Beziehungsebene zwischen Arzt und Patient selbst: Jegliche Interaktion zwischen Ärzten und Patienten löst aufseiten des Patienten ein „spezifisches Erleben“ 35 aus, das im Idealfall Zufriedenheit und Beruhigung darstellt, in denjenigen Fällen aber, in denen concerns unausgespro‐ chen bleiben, als Enttäuschung, Unzufriedenheit und Verärgerung manifest wird. Gesprächssituationen, in denen Patienten nicht zugleich mit ihren Be‐ schwerden auch ihre Gefühle thematisieren können oder (in der traditionell sachorientierten Anamnese) dürfen, können „als [defizitär, S. B.] empfunden 28 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten <?page no="29"?> 36 Fiehler 2005: 124. 37 Lalouschek 1993: 178. 38 Lalouschek 1993: 178. werden und dazu führen, dass der Patient von der Arzt-Patienten-Interaktion enttäuscht ist“ 36 . Gerade in der Einbindung der emotiven und psychosozialen Dimension in das Gespräch liegt ein wesentlicher Faktor, der für das Gelingen der Inter‐ aktion als Ganzes verantwortlich ist. Nach Lalouschek (1993) erfordert diese Einbindung „neben der Erhebung der somatischen Anamnese die Erfassung des familiären und beruflichen Hinter‐ grunds [der Patienten] sowie deren erlebensmäßig-emotionale Struktur“ 37 . Ge‐ meint ist dabei, die Befürchtungen und Ängste der Patienten (concerns) in den Prozess der Bewertung von patientenseitigen Aussagen einzubeziehen. In dieser Einbeziehung erkennt Lalouschek den Schlüssel zum Erfolg einer patienten‐ zentrierten Kommunikation, die sich als prozesshaftes Erarbeiten eines gemein‐ samen Krankheitskonzepts manifestiert: Über die Herausarbeitung lebens- und krankheitsgeschichtlicher Zusammenhänge erfolgt die gemeinsame Erarbeitung eines Krankheitskonzepts. Dieses Vorgehen ist schließlich die Grundlage einer tragfähigen Arzt-Patient-Beziehung. 38 Der Hinweis auf diesen Integrationsgedanken ist deswegen wichtig und not‐ wendig, weil die Bearbeitung von Emotionen in der Vergangenheit nicht oder zumindest nicht häufig auch Teil der ärztlichen Verantwortung gewesen ist bzw. von den Ärzten als weniger wichtig bewertet wurde. Einen Hinweis auf dieses Problem, der sicher als Mahnung verstanden werden darf, formuliert Lalouschek 1993 auf der Basis ausgewerteter Patientengespräche wie folgt: Wenn PatientInnen Erleben und Emotionen thematisieren, wird die affektive Dimen‐ sion dieser Darstellung normalerweise nicht interaktiv manifestiert, sondern vom Arzt / von der Ärztin als Teil des ,somatischen Problems‘ behandelt oder als dys‐ funktional dethematisiert. Wenn es doch zur Manifestation von Emotionen kommt, wird im Normalfall die somatisch-technische Perspektive wieder etabliert. Bei den kommunikativen Mustern der Emotionsbearbeitung im herkömmlichen Arzt-Pa‐ tient-Gespräch handelt es sich daher vorwiegend um die Regulation von Emoti‐ onen in Form von Glaubensbekundungen und nicht um interaktiv weiter‐ 29 1.2 Das ICE-Modell - Definition, Evidenz und Rahmenbedingungen <?page no="30"?> 39 Lalouschek 1993: 181 (Hervorhebungen durch den Verfasser). 40 Fiehler 2005: 120 (Hervorhebungen im Original). 41 Fiehler 2005: 120 (Hervorhebungen im Original). 42 Vgl. z. B. Buser et al. 2007: 225 ff. oder auch Suchman et al. 1997. 43 Vgl. Lindemann 2015: 155. 44 Lindemann 2015: 155. führende Prozessierungsstrategien wie Fokussierung, Deutung, Eingehen oder Hinterfragen. 39 Bis heute scheint dieses Grundproblem nicht gelöst zu sein. Die Regeln, nach denen Arzt-Patient-Gespräche ritualisiert, formalisiert und institutionell determiniert sind, scheinen sich nur langsam - und wesentlich durch die Kenntnis der patientenseitigen Dimensionen, die im ICE -Modell erst in neuerer Zeit in den Vordergrund treten (in ihrer Wichtigkeit für den Interaktionsprozess zahlreich belegt durch Studien, s. Kap. 3.1) - zu verändern. So stellt Fiehler noch im Jahr 2005 fest: „Arzt-Patienten-Gespräche sind eine besondere Form institu‐ tioneller Kommunikation. Sie dienen der Erfüllung bestimmter Zwecke, und für sie sind eigene Regeln herausgebildet worden, Regeln, die von denen der All‐ tagskommunikation abweichen“ 40 . Diese funktional begründeten Abwei‐ chungen sind problematisch für die Arzt-Patient-Beziehung, weil sie sich v. a. in der Ausblendung von Emotionen manifestieren: Eine der Abweichungen besteht darin, dass das Arzt-Patienten-Gespräch - im Rahmen einer somatisch-naturwissenschaftlichen Konzeption von Medizin - dem Anspruch nach ganz weitgehend sachorientiert auf die Behandlung von somatischen Be‐ schwerden, Krankheiten und Ausnahmezuständen […] bezogen ist und dass das Er‐ leben und die Emotionalität des Patienten wie auch des Arztes weitgehend ausge‐ klammert bleiben. 41 In der neueren Forschung liegen zahlreiche Untersuchungen vor, die insbeson‐ dere auf den hohen Stellenwert der Berücksichtigung von Emotionen hinweisen und die belegen, dass Emotionen einen wichtigen Aspekt medizinischer Kom‐ munikation insgesamt bilden. 42 Diese Erkenntnisse scheinen sich bei den Ärzten selbst noch nicht ausreichend herumgesprochen zu haben. Zugleich weist Lin‐ demann nämlich noch im Jahr 2015 darauf hin, dass Emotionen im Gespräch häufig nur als Randbemerkungen thematisiert, häufig nur implizit angedeutet und bisweilen sogar explizit als nicht relevant bezeichnet werden: 43 „Emotionen zeichnen sich bei genauem Hinsehen vor allem durch ihren nur angedeuteten Charakter, ihre Verneinung oder ihre offensichtliche Problematik für den Ge‐ sprächsverlauf aus“ 44 . Hier kommt es künftig (stärker als bisher) bei der Ent‐ wicklung von Kommunikationscurricula für die Lehre darauf an, diese emotive 30 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten <?page no="31"?> 45 Das gilt im Wesentlichen für alle drei Dimensionen, die in dieser Arbeit unter dem Akronym ICE diskutiert werden. Nach Auffassung des Verfassers scheinen die Dimen‐ sionen ideas und expectations jedoch schon stärker in die klassische Anamnese integriert zu sein als der Aspekt concerns, weshalb dieser Dimension in der Zukunft stärker Be‐ achtung zu schenken ist. Zugleich sei angemerkt, dass die kommunikative Integration von (weniger greifbaren und schwerer zu kommunizierenden) Emotionen / Ängsten grundsätzlich schwieriger ist als die Hinwendung zu (faktisch-konkreten) Ideen oder Erwartungen. 46 Fiehler 2005: 131. 47 Vgl. Lalouschek 1995: 27 ff. Dimension in Modelle ärztlicher Gesprächsführung zu integrieren und fest zu verankern. 45 Modelle wie das ICE -Modell, das als patientenorientiertes Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation vor allem die Erlebensdimension in das traditio‐ nell eher sachorientierte Problemlösungsgespräch integrieren will, helfen dabei, der somatischen Fragmentierung der Patienten entgegenzuwirken. Dass hierbei besonders die Dimension der Ängste und Befürchtungen (con‐ cerns) stärker in den Blick genommen werden muss, liegt in der (untrenn‐ baren) Einheit aus somatischen Phänomenen und psychischen Proz‐ essen begründet, die eine Integration beider Dimensionen in das Gespräch fordert. Zugleich ist es hilfreich, Gefühle zu prozessieren, bevor sie aufgetreten sind, diese also im Gesprächsverlauf zu antizipieren, wodurch sich Ängste kommu‐ nikativ beeinflussen bzw. regulieren lassen: „Eine […] Form des Umgangs mit Erleben und Emotionen besteht in der Prozessierung von Gefühlen, bevor sie aufgetreten sind: der Erlebnisprävention durch den Arzt“ 46 . Diese Form von Gefühlsarbeit basiert auf der Kenntnis der Komponente concerns des ICE -Mo‐ dells, was diesem Element eine zentrale Rolle im Interaktionsprozess zuweist. Verglichen mit den beiden anderen Elementen ideas und expectations werden concerns seltener im Gespräch aktualisiert (sowohl von Patienten als auch von Ärzten), was in der traditionellen Sachorientierung dieser Gesprächsform sowie der Rollenasymmetrie zwischen Ärzten und Patienten begründet sein dürfte. Denn: Auch Patienten besitzen eine sehr genaue (gelernte) Vorstellung davon, welche Inhalte im Arzt-Patient-Gespräch üblich und relevant sind und ver‐ meiden häufig die aktive Bezugnahme auf ihre Erlebnissituation. Lalouschek bezeichnet diesen Umstand als ,doppelte Fragmentierung‘ 47 , weil Patienten zum einen die aus ihrer Sicht medizinisch relevanten Informationen aus ihrem kom‐ 31 1.2 Das ICE-Modell - Definition, Evidenz und Rahmenbedingungen <?page no="32"?> 48 Matthys et al. 2009: 31. plexen Lebenszusammenhang herauslösen müssen, um diese Informationen sprachlich einzubringen, und weil sie zum anderen die Erlebnissituation, die sie für irrelevant halten, ausblenden müssen. Diese traditionelle Rollenvorstellung, die viele Patienten haben, führt dann zu einem Fragmentierungsproblem (so‐ matische Fragmentierung), wenn Ärzte als die Gesprächsverantwortlichen nicht genau dies zu vermeiden wissen. Die Exploration der emotiven Komponente des ICE -Modells ist im Sinne der ganzheitlichen Betrachtung des Patienten als Men‐ schen zwingend erforderlich. 1.2.3 Expectations Für das patientenzentrierte Modell des CDM (dt. PEF ) spielen auch Erwar‐ tungen (expectations) eine wichtige Rolle, weil Arzt und Patient auf der Folie gemeinsamen Wissens mögliche Behandlungsoptionen besprechen und ge‐ meinsam Ziele festlegen sollen. Die Kenntnis der Vorstellungen des Patienten sind für die Planung des weiteren Vorgehens (i. d. R. zum Abschluss der Ge‐ sprächssituation) entscheidend. Wenn Patienten möglichst umfassend in den Behandlungsprozess involviert werden sollen, müssen Ärzte auch in Erfahrung bringen, welche Erwartungen (Präferenzen) patientenseitig vorhanden sind. Konkret werden Patientenerwartungen im ICE -Modell aufgefasst als „the expressed or reported expectations about treatment, a diagnosis, or a certi‐ ficate“ 48 . Matthys et al. beziehen mit dieser Definition den Aspekt der Erwartung nicht nur auf das Behandlungsergebnis (treatment), sondern auch auf die Diagnose und die institutionellen Rahmenbedingungen. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob die so weit gefasste Dimension expectations trennscharf von den beiden an‐ deren Dimensionen unterschieden werden kann. Vorstellungen möglicher Di‐ agnosen (ideas) sind m. E. per se geknüpft an die Erwartung der Diagnoseerhe‐ bung (expectations) als medizinische Leistung sowie an Befürchtungen (concerns), was das Ergebnis einer Diagnose betrifft (positiver vs. negativer Be‐ fund): 32 1 Einleitung - das Jahrhundert des Patienten <?page no="33"?> 49 Vgl. die Beispielfragen und möglichen Antwortoptionen für die studentische Lehre bei Matthys et al. 2009: 31. 50 Dahinter steckt die Vorstellung, dass das ICE-Modell zwar die wesentlichen Bezugs‐ punkte der Patientenperspektive (illness-Dimension) abbildet, aber isoliert betrachtet für die Arzt-Patient-Kommunikation noch nicht greifbar genug ist. Seine Stärke ent‐ faltet dieses Modell erst in der Einbindung in ein Phasenmodell, das Inhalte, Prozesse und Techniken gemeinsam modelliert. Erst in dieser Gesamtheit lässt sich das ICE-Mo‐ dell kommunikativ nutzen, wie in Kapitel 4 dargestellt wird. 51 Einzelne Aspekte werden an anderer Stelle w. u. noch intensiver diskutiert. Was Patienten über Diagnosen und Behandlungen wissen (ideas; z. B. Iden‐ tität, Machbarkeit und (Behandlungs-)Verfahren), ist untrennbar verwoben mit ihren Erwartungen (expectations) zu Diagnosen und Behandlungen und wirkt sich auf der emotiven Ebene unmittelbar auf ihre Ängste (concerns) aus. Dieses Wissen ist z. T. erfahrungsbasiert. Das ICE -Modell, das diese drei Dimensionen ins Zentrum patientenorientierter Gesprächsführung stellt (indem nach diesen Dimensionen zu fragen ist) 49 , ist also nur holistisch zu verstehen. Damit stellt sich das Modell zunächst als ein kognitiver und emotiver Bezugsrahmen für das Arzt-Patient-Gespräch dar, dem allerdings in Deutschland - auch in der Forschung und der konkreten Um‐ setzung in der Lehre - bislang der Bezug zu interaktionalen Techniken und die Phasenorientierung (wann frage ich was und wie? ) fehlt. In Kapitel 4 soll dieses Desiderat in der Betrachtung der Calgary Cambridge Guides ein Stück weit aufgelöst werden. 50 In Kapitel 3 wird zuvor ein systema‐ tischer Überblick über die Entwicklung des ICE -Modells und über Evidenzen zu dessen Wirksamkeit in der Arzt-Patient-Kommunikation gegeben, der den in‐ ternationalen Forschungsstand kondensiert abbildet. 51 Außerdem zeigen kog‐ nitionslinguistische Überlegungen, dass es sich beim ICE -Modell um das Abbild komplexer kognitiver Vorgänge handelt, die für die Organisation von Gesprä‐ chen maßgeblich sind. Im nächsten Kapitel soll zunächst das große Ganze, also der kommunikative Rahmen für die Entfaltung des Modells, in den Blick genommen werden. Der Blick wird dabei vom Allgemeinen (Kommunikation) zum Speziellen (Arzt-Pa‐ tient-Gespräche) geführt. Es wird sich zeigen, dass Arzt-Patient-Gespräche in besonderer Weise geordnet sind und mentalen Skripten folgen, die bislang die soeben skizzierten Dimensionen ideas, concerns und expectations noch kaum in‐ volvieren. 33 1.2 Das ICE-Modell - Definition, Evidenz und Rahmenbedingungen <?page no="35"?> 52 Aufgrund der oftmals sehr engen persönlichen Bindung an die Behandler über viele Jahre und einer Interaktionenkette (zahlreiche Konsultationen von Fachärzten und Kli‐ nikaufenthalte) gilt dies in besonderem Maße für chronisch kranke Patienten. Bei diesen Patienten entwickelt sich durch die Faktoren Zeitverlauf und Schwere der Erkrankung ein Quasi-Expertenstatus, der auch kommunikativ in Erscheinung tritt. Zum einen sind diese Patienten in aller Regel sehr gut informiert, sie verfügen über Expertenwissen. Zum anderen befinden sie sich häufiger und länger in Gesprächssituationen als Pati‐ enten mit akuten Erkrankungen. Zudem handelt es sich häufig um gesprächssensible Patienten, weil ihre Erkrankungen zumeist starke Auswirkungen auf ihr soziales Leben haben. Dies lässt sich auch an den Partizipationspräferenzen ablesen: Chronisch kranke Patienten wollen sehr häufig in den Behandlungsprozess aktiv einbezogen werden. Das Gespräch rückt dadurch als Ort des Austauschs stärker in den Fokus. Auch verändert sich die Gewichtung von Interessen im Gespräch: Während zu Beginn der Behandlung ein ausgeprägtes Interesse an Daten und Fakten besteht (Befunde, Diagnose, Therapie), verlagert sich das Interesse (und damit auch das Themensetting) im Laufe der Zeit in Richtung psychosoziale Aspekte (subjektive Themen und Krankheitserleben). Mangel‐ hafte Kommunikation, also das Fehlen der Möglichkeit, das eigene Erleben sag- und damit wahrnehmbar zu machen, ist aus den genannten Gründen besonders für diese Patienten mit negativen Folgen verbunden. Erst durch das Gespräch können Ideen, Ängste und Erwartungen artikuliert werden. Unter salutogenetischen Gesichts‐ punkten ist das Gespräch zur Problembewältigung notwendig, denn Kommunikation ermöglicht das Verständnis für a) die eigene Erkrankung, b) ihre Handhabbarkeit und c) ihre Sinnhaftigkeit. Diese drei Aspekte sind elementar für das sogenannte Kohä‐ renzgefühl, das als zentraler Aspekt der Salutogenese nach Antonovsky gilt. 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung Die Wirkung von Kommunikation im medizinisch-therapeutischen Bereich ist gut vergleichbar mit dem Bild einer Waagschale: Gelingende Kommunikation kann Krankheiten lindern, mangelhafte Kommunikation kann Krankheitsver‐ läufe und das subjektive Krankheitsgefühl der Patienten negativ beeinflussen. Ein erfolgreiches Gespräch wird sich in vielen Fällen positiv auf die Gesundheit der Patienten auswirken. Mängel in der kommunikativen Interaktion führen in vielen Fällen zu Verschlechterungen des Gesundheitszustands. 52 Diese Zusammenhänge basieren nicht allein auf den subjektiven Empfin‐ dungen von Patienten und Ärzten, es handelt sich nicht um introspektive Ein‐ schätzungen. Zahlreiche internationale Untersuchungen zeigen, dass Kommu‐ <?page no="36"?> 53 Vgl. Bechmann 2014: 1-11, Mead / Bower 2002, Stewart 2003, Kelley et al. 2014. 54 Vgl. Di Blasi et al. 2001: 757-762. 55 Vgl. Kerr et al. 2003: 421-427. 56 Vgl. Graham et al. 2002. nikation ein wesentlicher Wirkungsfaktor in der medizinischen Therapie ist - und damit ein zentrales Instrument zur Qualitätssicherung. 53 So hat sich beispielsweise gezeigt, dass eine einfühlsame Zuwendung und eine patienten‐ zentrierte Kommunikation bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen den Krankheitsverlauf signifikant verkürzen und die Quote der Nebenwirkungen von Medikamenten nachweislich senken können. 54 Wenn Ärzte hingegen die Sorgen und Nöte ihrer Patienten nicht ausreichend berücksichtigen, ihr sub‐ jektives Krankheitserleben nicht hinterfragen und sich auf das Krankheitsmo‐ dell ihrer Patienten nicht einlassen, sinkt deren Lebensqualität bisweilen deut‐ lich. 55 Die Studien zeigen: Ineffektive Arzt-Patient-Kommunikation führt zu unrealistischen Behand‐ lungserwartungen, psychischer Komorbidität, psychosozialer Belastung, Be‐ handlungsunzufriedenheit, geringerer Lebensqualität und zu einer ungüns‐ tigeren Krankheitsbewältigung. Zudem können Mängel in der Kommunikation zu einer emotionalen Belastung mit langfristig negativen Folgen (Burnout) aufseiten der Ärzte führen. 56 Im Sinne der Professionalisierung ärztlichen Handelns ist es notwendig, die „Spielregeln“ zwischenmenschlicher Kommunikation und Interaktion nicht nur zu kennen, sondern zielführend nach ihnen zu agieren. Das Befolgen bestimmter kommunikativer Regeln dient nicht nur der Sicherung des Behandlungserfolgs; auch der ökonomische Erfolg und eine langfristige Patientenbindung sind eng verwoben mit dem Gelingen kommunikativer Bemühungen. Anders als viele andere Berufsgruppen müssen Ärzte daher ihr Sprachhandeln (zu dem auch nonverbale Interaktionsformen zählen) bewusst wahrnehmen, reflektieren und situativ anpassen. Die Kenntnis bestimmter Kommunikationstechniken hilft dabei, das ver‐ bale und nonverbale Handeln an die spezifischen Erfordernisse des Patienten‐ gesprächs anzupassen. Jedoch müssen Gesprächstechniken immer an kommu‐ nikative Bedürfnisse der Beteiligten rückgebunden werden. Aktives Zuhören beispielsweise ist als Gesprächstechnik dann sinnvoll, wenn der Zuhörende weiß, bei welchen Aussagen er genau hinhören muss. Auch das Stellen ziel‐ 36 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="37"?> 57 Vgl. Hoefert 2010: 164 ff. und Böker 2003. 58 Vgl. Bußmann 2002: 354. führender Fragen im Arzt-Patient-Gespräch kann nur gelingen, wenn Ärzte wissen, wonach sie fragen sollen. Somatische Fakten sind oft geknüpft an subjektive Empfindungen, sodass das reine Abfragen von somatischen Informationen oft nur die halbe Wahrheit ans Licht bringt. Häufig kommt es durch die fachwissenschaftliche Fixierung an Objektivitätsidealen zu einer somatischen Fragmentierung der Patienten, weil Patienteninteressen oft nicht abgefragt und berücksichtigt werden. 57 Im Sinne einer ganzheitlichen Beschwerdeerfassung ist die Patientensicht je‐ doch entscheidend. Dazu gehört zwingend das Wissen darüber, mit welchen Vorstellungen (ideas), Ängsten und Befürchtungen (concerns) und Erwartungen (expectations) Patienten ihren Ärzten gegenübertreten. Dieses Wissen ist der entscheidende Schlüssel, um beispielsweise Partizipationspräferenzen antizi‐ pieren zu können. Die Elemente ideas, concerns und expectations stehen im Zentrum des ICE -Modells, das als ein Beispiel für ein patientenzentriertes Kom‐ munikationsmodell skizziert und bewertet werden soll. Bevor die (v. a. institutionell bedingten) Besonderheiten der Arzt-Pa‐ tient-Kommunikation näher betrachtet werden, soll im Folgenden zunächst ein‐ führend diskutiert werden, welcher allgemeingültige Kommunikationsbe‐ griff am ehesten dazu geeignet ist, das komplexe Wechselspiel der zwischenmenschlichen sprachlichen und nichtsprachlichen Interaktionsab‐ folgen in Gesprächen im Allgemeinen zu bestimmen. Unter dem Begriff Kommunikation versteht man dem Wortsinn nach (lat. communicatio) den wechselseitigen Austausch von Informationen mithilfe eines Mediums. 58 Während Bienen beispielsweise über Duftstoffe miteinander in Kontakt treten, dienen in der menschlichen Kommunikation sprachliche und nichtsprachliche Zeichen (Wörter und Gesten) zur Verständigung. Auch in der Arzt-Patient-Kommunikation ist der Austausch von Informationen von Bedeu‐ tung, jedoch - und das gilt für menschliche Kommunikation insgesamt - er‐ schöpft sich unsere kommunikative Kompetenz nicht in der Codierung und De‐ codierung von Informationen in einem Zeichensystem. Vielmehr folgt Kommunikation immer einem Zweck, sodass Kommunikationshandlungen immer als intentionale und finale Handlungen in einem sozialen Bezugs‐ rahmen zu verstehen sind. Der Aspekt der Intention ist für zwischenmenschliche Kommunikation ele‐ mentar. Lehrbücher, die sich mit Kommunikation beschäftigen, verweisen häufig auf das von Watzlawick entworfene Axiom „Man kann nicht nicht kom‐ 37 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="38"?> 59 Watzlawick et al. 1969: 53. 60 Burkart 2002: 22. Hervorhebung durch den Verfasser. munizieren“ 59 . Dieses Axiom fußt auf der Annahme, dass sich a) Menschen stets verhalten, b) Kommunikation eine Form des Verhaltens ist und c) der Beobach‐ tung, dass Verhalten kein Gegenteil hat. Aus eben dieser Beobachtung folgt der Schluss: Man kann sich nicht nicht verhalten. Dieser Schluss ist korrekt, jedoch kann man ihn nicht ohne Weiteres auf den Gegenstand Kommunikation über‐ tragen. Durch die (falsche) Gleichsetzung von Verhalten und Kommunikation und die (korrekte) Auffassung, dass Verhalten kein Gegenteil hat, entsteht das vielzitierte Axiom, demzufolge man nicht nicht kommunizieren könnte. Jedoch ist dieser Analogieschluss problematisch. Wenn man Kommunikation nämlich als das Bemühen versteht, durch soziales Handeln Ziele zu erreichen (beispiels‐ weise eine bestimmte Verhaltensweise bei seinem Gegenüber auszulösen), dann weitet man den Kommunikationsbegriff unangemessen weit aus, wenn man jedem Verhalten ein kommunikatives Potenzial zuweist. Zwar ist jedes kommu‐ nikative Handeln eine Form des Verhaltens, jedoch ist nicht jedes Verhalten Kommunikation. Richtig ist: Intentionale sprachliche Handlungen sind Verhal‐ tensweisen und erlauben damit einen interpretativen Zugriff. Nicht-intentio‐ nale Verhaltensweisen besitzen hingegen kein kommunikatives Potenzial. Da‐ rauf weist auch Burkart hin: Obwohl es zunächst einsichtig erscheint (und auch gar nicht in Abrede zu stellen ist), daß jedes Verhalten gewissermaßen ein ,kommunikatives Potenzial’ besitzt, d. h. Be‐ deutungen vermitteln kann, so hieße es dennoch den Begriffsrahmen über‐ spannen […], wollte man jedes Verhalten mit Kommunikation gleichsetzen: wenn alles Verhalten Kommunikation ist, dann wäre ja z. B. auch das Betragen eines schlafenden Individuums bereits als ,Kommunikation‘ zu bezeichnen. 60 In der kommunikativen Wirklichkeit spielen Bemühungen, Kommunikation willentlich abzubrechen oder sich kommunikativen Situationen bewusst zu ent‐ ziehen, eine besondere Rolle. Zugleich beobachten wir Rituale der Kommuni‐ kationsaufnahme, die wir als Kommunikationsversuche beschreiben können. Solche Bemühungen sind intentionale Handlungen, die über reines Verhalten hinausgehen. Die Fähigkeit, durch unser Verhalten handeln zu können, also be‐ wusste und finale Entscheidungen zu treffen und zugleich gewünschte Wir‐ kungen zu erzielen, ist eine der grundlegenden menschlichen Eigenschaften. Der Begriff Kommunikationsfähigkeit involviert entsprechend einen Hand‐ lungsbegriff, der durch seinen intentionalen Charakter geprägt ist. Für die Un‐ tersuchung zwischenmenschlicher Kommunikation - und damit auch für die 38 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="39"?> 61 Burkart 2002: 23. 62 Vgl. Cicourel 1973. 63 Lat. communicare = gemeinsam machen, mit-teilen, Anm.d. Verf. Modellierung von Kommunikationsprinzipien und -regeln beispielsweise im Kontext der Arzt-Patient-Interaktion - ist diese Sichtweise elementar, weil „menschliches Handeln nicht Selbstzweck (‚ich handle nicht, um des Handelns willen‘), sondern stets Mittel zum Zweck ist“ 61 . Die Sprecherabsichten lassen sich erkennen, beschreiben und kategorisieren. Zugleich können wir erkennen, wann und wodurch Ziele erreicht bzw. nicht erreicht werden, wenn wir Kor‐ pusdaten mit dieser Fokussierung betrachten. Wenn wir kommunikatives Han‐ deln als soziales Handeln ansehen, können wir sozial bestimmte Abläufe re‐ konstruieren und zugleich Basisregeln der Kommunikation identifizieren. Dabei handelt es sich um Idealisierungen, die Menschen in ihrer Verständigungspraxis vornehmen. Die Austauschbarkeit von Standpunkten sowie die Kongruenz der Relevanzsysteme gehören ebenso dazu wie zahlreiche Interpretationsverfahren oder Verstehensmethoden, die wir auf der Folie von Basisregeln anwenden. Ins‐ besondere im Prozess des Aushandelns von Status und Rolle spielen normative Regeln des Kommunizierens eine zentrale Rolle. Im Wesentlichen sind dies (nach Cicourel): 62 • Reziprozität / Gegenseitigkeit der Perspektiven, d. h. die Unterstellung einer für alle gleichermaßen verbindlichen Sichtweise, • die Unterstellung von Normalität bzw. Rationalität des Handelns und • das et-cetera-Prinzip, also die Annahme eines unausgesprochenen Kon‐ senses zwischen den Gesprächsbeteiligten, so dass abweichend erschei‐ nendes Verhalten stillschweigend ergänzt wird, bzw. erwartet wird, dass diese Diskrepanzen durch später nachgelieferte oder nachlieferbare In‐ formationen in ihrer Normalität erkennbar würden. Wenn man Kommunikation als gerichtetes soziales Verhalten begreift, dann sind jegliche kommunikative Bemühungen stets auf einen anderen Menschen hin ausgerichtet (Dialog) - und sie können gelingen oder scheitern. Unter dem Aspekt der Dialogizität, die für Kommunikation schon dem Wort‐ sinne nach bestimmend ist, 63 verbirgt sich die Vorstellung von einem dualen System, in dem Kommunikationspartner ihre Interessen wechselseitig ein‐ bringen. Kommunikation erfordert (neben den rein technischen Einheiten Spre‐ cher und Hörer) die Fähigkeit zur Interpretation. Das bekannte, aus der Infor‐ 39 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="40"?> 64 Vgl. Shannon / Weaver 1976. mationswissenschaft stammende, Sender-Empfänger-Modell von Shannon und Weaver taugt aus diesem Grund zur Bestimmung dessen, was Kommunikation im engeren Sinn bedeutet, wenig. Dieses Modell geht (grob gesagt) davon aus, dass Menschen über den Weg der Informationsverschlüsselung (in Sprache) In‐ formationen austauschen. Dieser Vorgang ist gut vergleichbar mit dem Versenden eines Pakets. Dabei werden Gegenstände, z. B. ein Buch, ein Pullover und ein Paar Socken in einen Karton gelegt, der Karton wird verschlossen und über einen Versanddienst‐ leister auf die Reise geschickt. Wenn das Paket nach ein paar Tagen bei seinem Empfänger angekommen ist - und wenn es auf dem Weg dorthin nicht beschä‐ digt wurde -, findet der Empfänger ganz genau das darin vor, was der Absender zuvor hineingegeben hat. Die Übermittlung der verpackten Waren ist verlustfrei geglückt. Bezogen auf Kommunikation würde dieser Prozess wie folgt ablaufen: Der Sender einer Botschaft verpackt gewissermaßen seine Informationen in Sprache, sendet diese verpackte Information und der Empfänger dieser sprach‐ lich kodierten Nachricht entschlüsselt die Information und wertet sie aus. 64 Was ist an dieser Sichtweise problematisch? Würde das Modell zwischen‐ menschliche Kommunikation korrekt abbilden, müssten wir in der Lage sein, Informationen verlustfrei übertragen zu können. Das Gegenteil ist der Fall: Missverständnisse, die dadurch entstehen, dass der andere etwas nicht so ver‐ steht, wie wir es meinen, sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel beim Kommunizieren. Auch sind unsere Gedanken, die wir sprachlich verpacken und durch die Bildung von Lauten verschicken wollen, nicht in dem Maße gegen‐ ständlich wie ein Buch, ein Pullover oder ein Paar Socken. Dazu ein Beispiel: Der Satz „Dieser Baum ist schön“ ist auf den ersten Blick eine schriftlich fixierte (Kodierung) Sachaussage, die ich mit der Absicht hervorbringe, die Information in den Kopf eines Lesers zu transportieren, der diesen Satz gerade liest. Aber kann mir das überhaupt gelingen? Das Problem beginnt bereits auf der lexika‐ lischen Ebene, wenn es um die Bedeutung der Wörter dieser, Baum, ist und schön geht. Zwar kann ein Leser, der des Deutschen mächtig ist und über das not‐ wendige Regelwissen verfügt, nachvollziehen, dass es sich bei dieser um ein Demonstrativpronomen, bei Baum um ein Nomen, bei schön um ein Adjektiv und bei ist um ein Hilfsverb handelt. Auch lassen sich lexikalische Bedeutungen näherungsweise konstruieren, beispielswiese über semantische Merkmale. So ist die Bedeutung des Wortes Baum durch Merkmale wie lebendig, aus Holz, trägt Blätter oder Nadeln u.v.m. bestimmbar. Jedoch ist weder klar, welcher Baum mit dieser gemeint ist, noch ist selbstverständlich, dass es sich beispiels‐ 40 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="41"?> weise um einen Eichenbaum handelt (es könnte auch ein Bonsai-Baum gemeint sein). Eine Eiche und ein Bonsai sind zwei doch deutlich unterschiedliche Ent‐ itäten, sprachlich werden sie aber beide mit demselben Ausdruck repräsentiert. Missverständnisse entstehen also, weil es keine intersubjektiven Allgemeinvor‐ stellungen gibt. In der Folge lassen sich auch vermeintlich klare Sachinforma‐ tionen nicht verlustfrei vom Kopf des Sprechers in den Kopf des Hörers trans‐ portieren. Das Sender-Empfänger-Modell offenbart hier eine Schwäche, die es prinzi‐ piell untauglich zur Erklärung und Beschreibung menschlicher Kommunikation werden lässt. Zudem entspricht der reine Austausch von Sachinformationen nicht hinreichend dem Kommunikationsbedürfnis von Menschen. Vielmehr verfolgen wir beim Kommunizieren oftmals ganz individuelle Ziele, die wir mit individuellen sprachlichen Mitteln erreichen wollen. Wir wollen überzeugen, überreden, uns erklären, Emotionen zeigen und vieles andere mehr. In der kommunikativen Wirklichkeit, die über Modelle prinzipiell nur äußerst schematisch und damit nie hinreichend abgebildet werden kann, ist der sach‐ liche Informationsaustausch nur ein Kommunikationsziel unter vielen, die wir im alltäglichen Miteinander verfolgen. Unsere kommunikativen Strategien erschöpfen sich bei weitem nicht in Infor‐ mationsakquise und -vermittlung. Außerdem verfügen wir über ein äußerst vielfältiges sprachliches Repertoire, das uns befähigt, beispielsweise etwas an‐ deres zu meinen als wir sagen. Dem Sender-Empfänger-Modell zufolge sind Stilmittel wie Ironie, Metaphern (sprachliche Bilder) oder indirekte Sprechakte (z. B. indirekte Aufforderungen) nicht möglich, denn der Informationsgehalt solcher Äußerungen lässt sich nicht aus der übermittelten Information ableiten. Stattdessen wird in sehr vielen Fällen menschlicher Kommunikation ein prag‐ matisches Schlussverfahren bemüht, um vom Gesagten auf das Gemeinte schließen zu können. Dieses Schlussverfahren kann man als Interpretieren beschreiben. Der Prozess des wechselseitigen Interpretierens ist eine Art sozi‐ ales Gesellschaftsspiel: Der kommunikative Gehalt eines Gesprächs oder einer einzelnen Äußerung in einem Gespräch wandert nicht vom Sprecher zum Hörer, er entsteht vielmehr im Raum da‐ zwischen. Er ist in erster Linie dieser Zwischenraum. Und so erfolgt auch die Kom‐ 41 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="42"?> 65 Bechmann 2014: 32. 66 Wie sich zeigen wird, bilden diese Aspekte den Kern des ICE-Modells und können als wesentlich für die Patientenperspektive gewertet werden. 67 Keller 2003. 68 Keller 2003. 69 Burkart 2002: 27. 70 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 1 zum Unterschied zwischen Verstehen und Ver‐ ständnis. munikation zwischen Arzt und Patient im Raum zwischen beiden Akteuren und nicht etwa durch den ,Austausch’ von Informationen vom einen zum anderen. 65 Interpretation als Verfahren ist funktional bestimmt: Menschen wollen, wenn sie kommunizieren, zahlreiche Ziele erreichen. Der Austausch von Information ist dabei nur eines der Ziele, die Sprecher und Hörer verfolgen können. Gerade in der Arzt-Patient-Kommunikation spielen oft psychosoziale Faktoren (Ge‐ fühle, Ängste, Vorstellungen und Erwartungen) 66 eine sehr viel stärkere Rolle und treten neben objektive Informationen. In Kapitel 2.2.2 werde ich darlegen, dass zwischen Patienten und Ärzten eine Asymmetrie festzustellen ist, die sich auch in unterschiedlichen Informationsinteressen nachweisen lässt. Auch in der Alltagskommunikation sind Faktoren wie Überzeugen, Beeindrucken, zum Nach‐ denken bringen, Erheitern, Loben oder Beleidigen u.v.m. weit häufiger gesprächs‐ bestimmend als der reine Austausch von Informationen. Der Linguist Rudi Keller schlussfolgert daher: „Kommunikation ist nicht die Lösung eines Trans‐ portproblems, sondern eines Beeinflussungsproblems“ 67 . Konkret bedeutet dies: „Allgemein gesagt, heißt also kommunizieren: etwas tun in der Absicht, dass der Adressat etwas Bestimmtes erkennen möge, und dass er außerdem merken möge, dass er ihm eben dies zu erkennen geben will“ 68 . Durch kommunikative Handlungen versuchen Menschen, ihre Interessen (spezielle Intentionen) durchzusetzen. Kommunikation ist somit der Versuch, der Realisierung inhalts- und / oder situationsbezogener Interessen. Kommunikation gilt dann als erfolg‐ reich, wenn die „konkret erwarteten Folgen tatsächlich eintreten“ 69 . Dabei ist das konstante Ziel von Kommunikation die wechselseitige Verständigung über einen bestimmten Sachverhalt (also im Wesentlichen das Verstehen des Ge‐ sagten). Zudem gibt es spezielle Interessen, die darüber hinausgehen. Solche speziellen Interessen sind handlungsleitend, sie lassen Kommunikation über‐ haupt erst entstehen. Auf ihrer Folie werden variable Ziele verfolgt, die man als Interessensrealisierungen charakterisieren kann. Während das konstante Ziel mithilfe sprachlichen Wissens erreicht werden kann, dienen kommunika‐ tive Strategien dem Erreichen variabler Ziele - und letztlich dem Verständnis. 70 42 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="43"?> 71 Bechmann 2014: 49. Das Erreichen des konstanten Ziels ist die Voraussetzung für das Erreichen des variablen Ziels und damit eine notwendige Bedingung im Kommunika‐ tionsprozess, jedoch im Gesamtprozess allein nicht hinreichend. Dass es sich bei dieser Art des Kommunizierens um ein riskantes Unterfangen handelt, erkennt man in der Anfälligkeit für Missverständnisse (die in Arzt-Pa‐ tient-Gesprächen folgenreich sein können). Jede Interpretation sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichen erfolgt prinzipiell auf der Folie sprachlichen Wissens, Weltwissens und Kontextwissens. Zu verstehen, was ein anderer meint, erfor‐ dert die Kompetenz, gewissermaßen auch hinter das Gesagte zu blicken. Dazu gehört auch, zu beurteilen, in welchem Rahmen das Gesagte geäußert wird, welche Rolle der Sprecher einnimmt und wem er gegenübersteht. Besonders in Situationen, in denen Sprecher und Hörer nicht auf Augenhöhe kommunizieren, bleiben viele Informationen (wie Ängste oder Erwartungen) oft unausgespro‐ chen. Diese Erkenntnis ist für die im Rahmen dieser Arbeit besprochene Thematik von besonderer Bedeutung. Ärzte müssen nämlich zum einen in der Lage sein, ihre eigenen kommunikativen Handlungen so zu gestalten, dass Patienten mög‐ lichst wenig Interpretationsspielraum haben (klare und verständliche Sprache trägt beispielsweise dazu bei). Sie müssen darüber hinaus aber - und das ist m. E. deutlich schwieriger - aus den Gesprächsbeiträgen ihrer Patienten deren kommunikative Ziele herausdeuten. Ohne die Kenntnis der Patientenperspek‐ tive auf das Krankheitsbild, die entscheidend durch die Parameter ideas, concerns und expectations bestimmt ist, kann über das Gespräch keine vertrauensvolle Beziehung hergestellt werden. Mit Blick auf Kellers Definition von Kommuni‐ kation als Mittel der Beeinflussung lässt sich sagen: Kommunikation scheitert immer dann, wenn das beabsichtigte Beeinflussungsziel nicht erreicht wird. Insbesondere, wenn der Partner nicht erkennt, wozu man ihn bringen möchte, kommt es regelmäßig zum Scheitern von Kommunikationshand‐ lungen, woraus sich Fehl- und Missverständnisse ergeben können. 71 Da Ärzte als Experten aufgrund der unter 2.2.1 noch näher zu bestimmenden institutionellen Rahmenbedingungen entscheidend für das Gelingen der Kom‐ munikation verantwortlich sind, ist die Kenntnis dieser gerade kurz skizzierten allgemeinen und der im Folgenden zu umreißenden speziellen Grundsätze, 43 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="44"?> 72 Für einen umfassenderen Überblick über die allgemeinen Prinzipien zwischenmen‐ schlicher Kommunikation s. Plate 2013 oder (mit Bezug zur ärztlichen Gesprächsfüh‐ rung) Bechmann 2014: 27-51. Es sei angemerkt, dass die hier präsentierten Kommuni‐ kationskonzepte nur stark verkürzend dargestellt werden konnten - sie dienen allein der Hinführung zum Thema. 73 Das ICE-Modell wurde bereits und es wird in den weiteren Ausführungen an der einen oder anderen Stelle in die Überlegungen einbezogen, weil dieses Modell integraler Be‐ standteil einer patientenzentrierten Kommunikation ist und sich isoliert ebenso schwer betrachten lässt wie der kommunikative Rahmen ärztlichen Gesprächshandelns ohne einen Blick auf die Elemente dieses Modells. Dieses patientenorientierte Modell ent‐ faltet sich im kommunikativen Miteinander, d. h. im Gespräch, weshalb zunächst ein Blick auf den Untersuchungsgegenstand selbst geworfen werden soll. 74 Erving Goffman nennt diese Wechselseitigkeit „zentrierte Interaktion“ (Goffman 1971: 84 f.). 75 Henne / Rehbock 2001: 12. Merkmale und Regeln zwischenmenschlicher Kommunikation von entscheid‐ ender Wichtigkeit. 72 Kommunikation ist in der Arzt-Patient-Interaktion ein gesteuerter Prozess und erfordert eine hohe Reflexionsfähigkeit aufseiten des Arztes, zu der insbesondere die Kenntnis der Patientenperspektive, die im ICE -Modell ihren Kristallisationspunkt findet, entscheidend dazugehört. Bevor in Kapitel 3 das Augenmerk auf dieses Modell gelenkt wird, soll nachfol‐ gend näher auf die kommunikativen Besonderheiten der Gesprächsinteraktion zwischen Ärzten und Patienten eingegangen werden. 73 Auch wenn die Frage möglicherweise banal klingt, so ist sie doch (und gerade wegen des besonderen Stellenwerts innerhalb der Arzt-Patient-Kommunikation) wichtig und bedarf der Klärung: Was ist eigentlich ein Gespräch? 2.1.1 Was ist ein Gespräch? Gespräche sind geordnete Abfolgen (Wechsel) einzelner Kommunikationsakte und sprachlicher Handlungen von Individuen im Prozess sozialer Interaktion. 74 In diesem Prozess besetzt das Gespräch die Position einer „Grundeinheit sprach‐ licher Kommunikation“ 75 . Der hohe Stellenwert des Gesprächs innerhalb der Kommunikation - die auch andere Realisierungsmöglichkeiten kennt - ergibt sich aus der menschlichen Fähigkeit, mithilfe von Sprache intentionale und fi‐ nale Handlungen vollziehen zu können. Mit anderen Worten: 44 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="45"?> 76 Henne / Rehbock 2001: 1. 77 Henne / Rehbock 2001: 6. 78 Humboldt 1963: 138. 79 Bühler 1929: 38. Sprachfähigkeit ist eine wesentliche Bedingung für Kommunikationsfähig‐ keit. Wir können kommunizieren, weil wir eine Sprache haben (und nicht etwa umgekehrt). Dem Gespräch fällt dabei auch unter anthropozentrischen Gesichtspunkten eine tragende Rolle zu: Wenn der Mensch durch seine Sprachfähigkeit erst zum Menschen wird, dann be‐ deutet diese Sprachfähigkeit zugleich, daß der Mensch mit anderen Menschen in ein Gemeinsames und das heißt: in ein Gespräch eintreten kann. Die Kategorie Gespräch muß somit als grundlegend für jede Form menschlicher Gesellschaft angesehen werden. 76 Der Rahmen, in dem das Gespräch aufgespannt wird, ist der Dialog. Das Wesen des Dialogischen, also der dem Dialog zugrunde liegende Dualismus (zwei Ge‐ sprächspartner in Interaktion) ist bereits im Wort Gespräch selbst angelegt. Henne und Rehbock weisen darauf hin, dass auf der morphologischen Ebene der Bildung des Wortes Gespräch dieser, dem Dialog immanente Dualismus sichtbar wird, indem „durch das kollektivierende Präfix gedie Gemeinsamkeit der anredenden und erwidernden Gesprächspartner bezeichnet [wird]“ 77 . Auch unter philosophischen Gesichtspunkten lässt sich dieser Dualismus be‐ schreiben. Zu den Grundkategorien menschlichen Sprachhandelns, Anrede und Erwiderung, heißt es bei Wilhelm von Humboldt: „Es liegt […] in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung [sic! ] bedingt“ 78 . Es ergibt sich daraus ein bis heute gültiger dialogischer Sprachbegriff, der das Gespräch in das Zentrum des Sprachhandelns rückt. Der Dualismus findet auch in den Gedanken des Sprachtheoretikers Karl Bühlers seinen Ausdruck: „Wir folgen einem aus intimer Kenntnis der Dinge oft ausgesprochenen, aber niemals methodisch restlos fruktifizierten Satz, wenn wir den Ursprung der Semantik nicht beim Individuum, sondern bei der Ge‐ meinschaft suchen“ 79 . Auch der kanadische Soziologe Erving Goffman akzen‐ tuiert den dialogischen Sprachbegriff, wenn er von einem grundsätzlichen Paar-Charakter von Sprache spricht: „Whenever persons talk there are very li- 45 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="46"?> 80 Goffman 1976: 257. 81 Bei den Begriffen Darlegung und Erwiderung handelt es sich um deutsche Überset‐ zungen. Goffman verwendet die englischen Begriffe statement und reply. 82 Vgl. auch Henne / Rehbock 2001: 7. 83 Die drei Aspekte Sprecher-Hörer-Rollenwechsel, Wechsel von Themeninitiierung und The‐ menakzeptierung und Akzeptieren des jeweiligen Rechtfertigungsverlangens in Bezug auf Gesprächsstücke finden sich in der allgemeinen sprachkommunikativen Kennzeichnung der Kategorie Gespräch bei Ungeheuer (1974: 4). kely to be questions and answers“ 80 . In der späteren Erweiterung seiner Über‐ legungen geht Goffman davon aus, dass nicht nur Fragen und Antworten einen solchen Paar-Charakter aufweisen. Er schlägt vor, vielmehr von Darlegung und Erwiderung auszugehen, was prinzipiell Humboldts Kategorien Anrede und Er‐ widerung entspricht. 81 Jedoch sind die Humboldt’schen Begriffe - wie auch Henne und Rehbock bemerken - aus kommunikativ-pragmatischer Perspektive als Oberbegriff für alle möglichen Gesprächspaare eher geeignet, weil sie als weiter gefasste, universale Kategorien den Zugriff auf den Gegenstand erleich‐ tern. 82 Mit Blick auf funktionale Aspekte und auf pragmatische Gesprächssituie‐ rungen (v. a. unterschiedliche Gesprächstypen) muss einschränkend erwähnt werden, dass die w. o. konstatierte Gemeinsamkeit der Beteiligten im Gesprächs‐ handeln nur bedingt zutreffend ist. Sie gilt nur für freie Gespräche unter Gleich‐ berechtigten, die in der kommunikativen Wirklichkeit zwar sicher vorkommen, jedoch beileibe nicht als Normalfall des Kommunizierens gelten dürfen. Beson‐ ders für institutionalisierte Gespräche lässt sich feststellen, dass in bestimmten Situationen weder die Themeninitiierung und -akzeptierung noch das gegen‐ seitige Akzeptieren eines Rechtfertigungsverlangens wechselseitig sind. Mit einem Blick auf die kommunikative Wirklichkeit bei Arzt-Patient-Gesprächen ist diese Einschränkung sicher zutreffend, handelt es sich ja um Gespräche, die zwar interpersonal dyadisch sind, jedoch oft direktive Handlungsdimensionen aufweisen, die sich aus einem asymmetrischen, komplementären Verhältnis der Gesprächspartner ergeben. Insbesondere die Themeninitiierung und -akzeptie‐ rung sind nicht wechselseitig. Auch ergeben sich Schieflagen, was das Recht‐ fertigungsverlangen angeht: Patienten befinden sich deutlich stärker in der Rolle, ihr Handeln rechtfertigen zu müssen oder wollen als es umgekehrt der Fall wäre. Lediglich der Rollenwechsel Sprecher-Hörer (turn-taking) findet in allen Gesprächsformen, i. d. R. auch in Arzt-Patient-Gesprächen, wechselseitig statt. 83 Damit tritt v. a. unter sprachkommunikativen Gesichtspunkten ein ge‐ sprächskonstituierendes Merkmal deutlich ins Licht und lässt die anderen Merk‐ male ein Stück weit hinter sich: die Wechselbeziehung zwischen Sprecher und 46 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="47"?> 84 Henne / Rehbock 2001: 8. 85 Vgl. zu den Themen Gesprächsforschung und Interaktionale Linguistik die kondensierten wissenschaftsgeschichtlichen Ausführungen bei Bücker 2018: 41 ff. Es handelt sich um eine gute Überblicksdarstellung über relevante Entwicklungsströmungen und Positi‐ onen in der linguistischen Gesprächsforschung und in der Erforschung mündlicher Kommunikation. 86 Vgl. dazu w. u. die Ausführungen in Kapitel 2.2.2. Hörer. Für jedes Gespräch gilt: „Das Gemeinsame im Wechsel muß in jedem Gespräch von den Gesprächspartnern zumindest unterstellt werden“ 84 . Gespräche dienen - ganz allgemein formuliert - dazu, im Prozess der sozialen Interaktion Struktur und Ordnung herzustellen, die notwendig sind, um die eigenen Gedanken, Ziele und Erwartungen für einen anderen nachvoll‐ ziehbar zu machen und zugleich dessen Gedanken, Ziele und Erwartungen verstehen zu können. 85 In Gesprächen kumulieren soziale Ordnungen, inter‐ aktive Techniken und finale Einzelhandlungen zu einer kommunikativen Einheit. In der linguistischen Forschungstradition haben sich mit der Ethnomethodo‐ logischen Gesprächsanalyse und später mit der Diskursanalyse zwei Dis‐ ziplinen herausgebildet, die sich mit Fragen der internen Strukturiertheit sozi‐ aler Ereignisse im Allgemeinen, mit den darin wiederkehrenden Mustern, und im Besonderen mit den strukturellen Eigenschaften in der Organisation von Gesprächen beschäftigen. In der neueren Forschung geraten insbesondere Fragen der sequenziellen Organisation von Gesprächen (Sprecherwechsel, Paar‐ sequenzen etc.) in den Blick. Einfach ausgedrückt geht es um die Frage: Wer spricht wann, wie zu wem und wie strukturieren die Beteiligten ihre Gesprächs‐ beiträge? Wenn Ärzte mit Patienten sprechen, stehen aufgrund der institutionellen Rahmung des Gesprächs drei wesentliche, gesprächskonstituierende Elemente bereits fest: Thema, Informationsinteressen und Rollenverteilungen 86 . In beson‐ derem Maße gilt das für klassische Anamnesegespräche, bei denen zudem die Gesprächsstruktur (Frage-Antwort-Sequenzen) bereits stark vorgegeben und bisweilen standardisiert ist. Gespräche involvieren im Wesentlichen vier Strukturelemente, die im Zu‐ sammenspiel den Gesprächstyp festlegen. Im Einzelnen sind das • Gesprächszweck, • Institutioneller Rahmen, 47 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="48"?> • Situativer Rahmen und die • Gesprächsrollen. Dabei bestehen zwischen einzelnen Elementen Wechselwirkungen. So ist der Gesprächszweck in der Arzt-Patient-Kommunikation (Beratung, Hilfeersuchen) eng mit dem institutionellen Rahmen (Arztpraxis oder Klinik) verwoben. Zu‐ gleich gibt es Überlagerungen des institutionellen Rahmens mit dem situativen Rahmen: Ort, Dauer des Gesprächs und dessen Zeitpunkt sowie die besonderen Umstände der Situation (etwa die Notwendigkeit einer Terminvereinbarung oder das Warten auf das Gespräch) sind durch den institutionellen Rahmen, in dem diese Gespräche stattfinden, determiniert. Dasselbe gilt für die Ausgestal‐ tung und Verteilung der Gesprächsrollen mit ihren rollentypischen Verpflich‐ tungen. Im institutionellen Gefüge ist insbesondere die Konstellation der ge‐ sprächsübergreifenden Personen-Rollen über das Verhältnis Experte - Laie sowie über Statusrollen und bisweilen Altersunterschiede festgelegt. Zudem sind die Gesprächsrollen auch durch eine besondere Beziehungskonstellation gekennzeichnet, da sich Arzt und Patient in aller Regel fremd oder zumindest nicht näher bekannt sind. Dieses starre Gefüge aufzubrechen, ist Ziel aller Be‐ mühungen um eine Stärkung der Patientenrolle und der damit verbundenen Berücksichtigung patientenseitiger Interessen. Mit dieser Stärkung ist - da sich weder der Gesprächszweck noch der institutionelle oder der situative Rahmen ändern lassen - eine Veränderung der Gesprächsprozeduren sowie der Be‐ ziehungsgestaltung im Gespräch (Ent-Ritualisierung der bisherigen Ge‐ sprächshandlungen) notwendig, die arztseitig durch die Exploration der Pati‐ entenperspektive (ideas, concerns & expectations) erreicht werden kann. In diesem Zusammenhang kann auch ein intensiverer Blick auf den Aspekt der Beziehung und die komplexen kommunikativen Handlungen im Gespräch, die Beziehungsrelevanz aufweisen, erhellend sein. Ein solcher Blick kann helfen, den gesprächsübergreifenden Gesamtzusammenhang der Beziehung für die Arzt-Patient-Interaktion insgesamt in den Mittelpunkt zu rücken - und den Stellenwert des Gesprächs in diesem Gesamtzusammenhang stärker zu kontu‐ rieren. Dies ist auch deswegen wichtig, weil durch die Betrachtung sozialer Phänomene und Konzepte - zu denen Beziehungen zählen - auf der Gesprächs‐ ebene perspektivische Differenzen (unterschiedliche Perspektivierungen von Arzt und Patient) und Asymmetrien deutlich ins Licht treten, die in einem Ge‐ samtkontext an der Bildung gesprächsübergreifender Konzepte (z. B. Beziehung, Vertrauen) maßgeblich beteiligt sind. Das Gespräch formt insofern einen ei‐ genen Wirkungsraum aus, als dass innerhalb der Prozeduren Beziehungsrele‐ vanzen (z. B. durch Fremd- und Selbstbilder) hergestellt und sichtbar gemacht 48 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="49"?> 87 Poro 1999: 48. 88 Poro 1999: 48. 89 Poro 1999: 48. 90 Poro 1999: 49. 91 Poro 1999: 49. werden. So sind Selbst- und Fremdbilder, die durch das Gespräch akzentuiert werden, immer beziehungsrelevante Größen. Dem Gespräch fällt in der Beziehungsrelevanz eine besondere Rolle zu. So stellt Susanne Poro fest, dass „Beziehung nicht gleich dem Gespräch ist, sondern daß im Gespräch Handlungen vollzogen werden, die für das übergeordnete Konzept der Beziehung relevant, konstitutiv sein können bzw. sind“ 87 . So verstanden sind Gesprächshandlungen immer zugleich beziehungsrelevante kommunika‐ tive Handlungen. Beziehung stellt sich dar als „gesprächsübergreifendes so‐ ziales Konzept, das sich neben anderen Möglichkeiten auch im Gespräch reali‐ siert“ 88 . Für die Arzt-Patient-Kommunikation ist eine Festlegung fundamental, weil sie sowohl soziale und institutionelle Rahmen als auch situative Kontexte berücksichtigt und zugleich das Potenzial der Veränderung dieser Interaktions‐ rahmen hervorhebt: „Beziehung [ist] ein inter- und intrapsychisches Phänomen auf der Basis sozialer Rollenverteilung, das sich durch Dynamik auszeichnet“ 89 . Beziehungsrelevante kommunikative Handlungen sind also im Kern dyna‐ misch. Diese Sichtweise evoziert, dass Gesprächshandeln (als eine mögliche Re‐ alisationsform von Kommunikation) Beziehungen verändern und (im besten Fall) stabilisieren kann. Beziehungsrelevante sprachliche Handlungen im Ge‐ spräch, die sich u. a. in der Exploration des ICE -Modells, in Unterbrechungen oder in der Verteilung von Redeanteilen nachweisen lassen, stehen für die Lin‐ guistik im Fokus. Jedoch sind diese beziehungsrelevanten Handlungen nicht gleichzusetzen mit Beziehung als übergeordnetes Konzept: „Beziehung ist nicht identisch mit Gespräch oder Interaktion“ 90 . Richtig ist: „Beziehung kann sich im Gespräch konstituieren, darüber hinaus jedoch auch in nonverbaler Interaktion, in bewußter Nicht-Interaktion und in vorgegebenen sozialen bzw. institution‐ ellen sowie situativen Rollenverteilungen“ 91 . In der nachfolgenden Abbildung, die aus der Studie von Poro zur Bezie‐ hungsrelevanz in der beruflichen Kommunikation entnommen und leicht mo‐ difiziert ist, zeigt sich, dass Beziehungsrelevanz als gemeinsame Schnittmenge zwischen übersituativer Beziehung und aktuellem Gesprächsgeschehen aufge‐ faßt werden kann. 49 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="50"?> Abb. 1: Beziehungsrelevanz in Arzt-Patient-Beziehungen (modifiziert nach Poro 1999: 50) Besonders starre Gesprächsprozeduren und -modi (standardisierte Sequenzen) lassen sich in Anamnesegesprächen finden. Aber auch offene Gesprächsformen innerhalb der Arzt-Patient-Kommunikation sind in einen institutionellen Rahmen eingespannt, auch für sie gelten Ordnungsprinzipien, von denen nur selten abgewichen wird. In erster Linie liegen die Gründe für die weitgehende Geschlossenheit auch vermeintlich offener Gespräche in der w. u. ausführlicher beschriebenen Rollenasymmetrie zwischen Ärzten und Patienten. Dasselbe gilt für Verkaufsgespräche oder Vorstellungsgespräche. In Alltagsgesprächen hin‐ gegen entfalten sich diese Elemente oft erst im Gesprächsverlauf. Im Dialog werden Themen und Rollen im Prozess jeweils aktualisiert. Dennoch gibt es allgemeine Ordnungsprinzipien, denen Sprecher und Hörer unbewusst folgen. Dass beispielsweise Unterbrechungen nicht nur unhöflich sind, sondern zudem das Kommunikationsziel gefährden, gehört zu unserem angelernten Pro‐ zesswissen. Verwoben mit sprachlichen Wissensbeständen können wir Gespräche führen, die einer inneren Logik folgen. Diese innere Logik wirkt im Kommuni‐ kationsprozess stabilisierend. Intuitiv kennen und befolgen wir die Spielregeln, die für Gespräche gelten. Wir kennen Höflichkeitsformen, wissen, wie Ge‐ spräche abzulaufen haben (geordnet, indem erst der eine spricht und dann der andere) und wissen auch, welche Erwartungen in Gesprächen an uns gestellt werden (z. B. Zuhören und auf das Gesagte reagieren, eigene Gesprächsbeiträge geordnet hervorbringen, nicht lügen etc.). Verstöße gegen die ungeschriebenen Gesetze des Kommunizierens werden von den Beteiligten nicht nur erkannt, sie 50 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="51"?> 92 Bußmann 2002: 378. Unter einem Turn versteht man in der Gesprächslinguistik den Ge‐ sprächsschritt oder Redebeitrag. Von besonderer Bedeutung sind Sprecherwechsel als Übergabe des Rederechts (turn-taking bzw. turn-giving). Ein turn gilt als die gesprächs‐ organisatorische Einheit in Gesprächen. 93 Kallmeyer / Schütze 1976: 9. 94 Vgl. Schütz 1962: 12. 95 Henne / Rehbock 2001: 17. werden auch geahndet. Jemand, der beispielsweise in einem Vorstellungsge‐ spräch ohne Begrüßung den Raum betritt, sein Gegenüber ständig unterbricht, sich selbst Rederechte einräumt, die ihm nicht zugewiesen wurden (turn-ta‐ king) oder auf die gestellten Fragen mit Gegenfragen antwortet, wird wohl kaum Chancen auf eine Anstellung haben. Die Art und Weise, wie sich Gesprächs‐ partner kommunikativ verhalten, wie sie beispielsweise ihre Gesprächsbeiträge zu denen ihrer Gesprächspartner in Beziehung setzen (Sprecherwechsel etc.), zeigt auf, „wie sie die sich entwickelnden Aktivitäten verstehen, wie sie den vorangegangenen ,Turn‘ und die entsprechenden Erwartungen der Partner in‐ terpretieren und welche Erwartungen sie selbst in Bezug auf den nächsten ,Turn’ haben“ 92 . Die Spielregeln, die wir im kommunikativen Miteinander gelernt und verin‐ nerlicht haben, entsprechen allgemeinen Basisregeln: Derartige Basisregeln beinhalten die Bedingungen der Möglichkeit von Kommunika‐ tion. Kern dieser Bedingungen ist die Bewältigung der grundsätzlichen Unvergleich‐ barkeit der beteiligten Selbstidentitäten, die Vagheit der ausgetauschten Symbol‐ gesten, die mangelnde Angleichung ihrer wechselseitigen Interpretation. 93 Die Gesprächsbeteiligten müssen in der Gesprächspraxis wechselseitige Idea‐ lisierungen vornehmen, die Schütz als Herstellung einer Kongruenz der Rele‐ vanzsysteme beschreibt. 94 Solche Idealisierungen gelten mithin als wesentliche Prozeduren in Gesprächen. Wechselseitige Idealisierungen garantieren das Ge‐ meinsame innerhalb der Gesprächskommunikation: den Wechsel. Dasselbe gilt für die von Herbert Paul Grice entwickelten Ansprüche an die in der Kommu‐ nikation erzeugten Äußerungen, die sich in Form von Konversationsma‐ ximen beschreiben lassen: „Voraussetzung dafür, daß Gesprächspartner in ein Gespräch und damit in eine Verständigung eintreten, ist die wechselseitige Ak‐ zeptierung dessen, was Grice […] als ,kooperatives Prinzip‘ bezeichnet hat“ 95 . Ausgehend von der Idee, dass beim Kommunizieren prinzipiell das Kooperati‐ onsprinzip gilt, nach dem alle Beteiligten sich kooperativ verhalten, also kom‐ munizieren wollen, und dabei rationalen Prinzipien des Kommunizierens folgen, entwirft Grice Regeln des Kommunizierens, die er als Konversationsmaximen 51 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="52"?> 96 In Anlehnung an Kants Kategorientafel, nach der Qualität, Quantität, Relation und Modalität die vier grundlegenden Urteilsfunktionen des menschlichen Verstandes dar‐ stellen. 97 Vgl. Grice 1975: 249 ff. und Grice 1967: 26 ff. 98 Henne / Rehbock 2001: 17. bezeichnet. 96 Nach diesen Regeln sollte ein Sprecher seinen Redebeitrag im Ge‐ spräch grundsätzlich gestalten: 97 1. Maxime der Quantität • Mache deinen Beitrag (für deinen Gesprächszweck) so informativ wie nötig. • Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig. 2. Maxime der Qualität • Versuche, deinen Beitrag so zu machen, dass er wahr ist. • Sage nichts, das du für falsch hältst. • Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen (was du nicht weißt). 3. Maxime der Relation • Sei relevant (rede nicht um den heißen Brei herum). 4. Maxime der Modalität • Sei klar und deutlich. • Vermeide Unverständlichkeit. • Vermeide Mehrdeutigkeiten. • Sei kurz (vermeide unnötige Weitschweifigkeit). • Der Reihe nach (strukturiere deinen Gesprächsbeitrag). Insbesondere die Maximen der Modalität zahlen auf die sequenzielle Ordnung im Gespräch ein. Verstöße gegen Konversationsmaximen werden mithilfe des w. o. in Kapitel 2.1 beschriebenen pragmatischen Schlussverfahrens als konver‐ sationelle Implikaturen aufgelöst. Der Prozess des Interpretierens, der für Kom‐ munikation im Allgemeinen wesentlich ist, findet im Gespräch in diesem prag‐ matischen Schlussverfahren seinen Fluchtpunkt. Außerdem wird in den Grice’schen Überlegungen eines der (auch für die linguistische Konversations‐ analyse) zentralen Prinzipien der Gesprächsordnung erkennbar bzw. es lässt sich daraus ableiten: Sofern sich […] Gesprächspartner auf der Basis des kooperativen Prinzips in ein Ge‐ spräch einlassen, ist für jedermann einsichtig, daß die Initiierung und Akzeptierung des Gesprächsschrittwechsels oder einfacher: des Sprecherwechsels […] zu den grund‐ legenden Verpflichtungen der Gesprächspartner gehört. 98 52 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="53"?> 99 Vgl. Henne / Rehbock 2001: 26 ff. 100 Diese Aufzählung ist weder vollständig noch hinreichend strukturiert. Sie dient allein dem schnellen Überblick. 101 In Kapitel 4 wird ein etabliertes Phasenmodell zur Arzt-Patient-Kommunikation mit Elementen aus dem ICE-Modell verknüpft. Die Frage nach der konkreten Ausgestaltung von Prozeduren in Gesprächen ist Gegenstand der linguistischen Gesprächsforschung. In Gesprächsanalysen stehen auf der einen Seite die kommunikativ-pragmatisch bedeutsamen Ge‐ sprächskategorien und deren Subkategorien im Mittelpunkt. Nach Henne / Reh‐ bock lassen sich die folgenden zehn Kategorien unterscheiden: 99 1. Gesprächsgattungen (natürliche vs. fiktive / fiktionale bzw. inszenierte Gespräche) 2. Situationeller Kontext (Raum-Zeit-Verhältnis) 3. Konstellation der Gesprächspartner 4. Grad der Öffentlichkeit 5. Soziales Verhältnis der Gesprächspartner 6. Handlungsdimensionen im Gespräch 7. Bekanntheitsgrad der Gesprächspartner 8. Grad der Vorbereitetheit der Gesprächspartner 9. Themafixiertheit des Gesprächs 10. Verhältnis von Kommunikation und nichtsprachlichen Handlungen Auf der anderen Seite interessiert sich die Gesprächsforschung für Phänomene wie Turns, Hörerrückmeldungen bzw. -signale, Sprechakte, Gesprächs‐ schritt-Regelungen (turn-taking, Pausen, Unterbrechungen etc.), Sequenzen als Ordnungen auf mittlerer Ebene und Gesprächsphasen als Ordnungen auf der Makroebene, Gesprächsmuster und Schemakomponenten (Gesprächsteile), Ge‐ sprächskonstellationen (Zweck, Rahmen und Rollen), Prozeduren und Modi sowie deren Markierungen, Beziehungsgestaltungen und Themensteuerungen (z. B. Korrekturen, Reformulierungen oder Wiederaufnahmen). 100 Nicht alle ge‐ rade genannten Aspekte sind für die Untersuchung der Arzt-Patient-Kommu‐ nikation gleichermaßen von Bedeutung. Für die Modellierung eines Gesprächs‐ modells etwa spielen Fragen der Ordnung auf der Makroebene (Phasen) eine wichtige Rolle. 101 Exkurs: Das ärztliche Gespräch in der linguistischen Forschung Den besonderen Stellenwert linguistischer Forschung im Kontext ärztlicher Ge‐ spräche hebt Marlene Sator und Thomas Spranz-Fogasy hervor: 53 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="54"?> 102 Sator / Spranz-Fogasy 2011: 384. 103 Vgl. zu den aktuellen Ergebnissen der Fachsprachenforschung Roelcke 2020. 104 Vgl. dazu Wiese 2018. 105 Nowak / Spranz-Fogasy 2008: 82. 106 Vgl. Sator / Spranz-Fogasy 2011: 380 und Spranz-Fogasy 2010. Zur Frage der Realisierung [einer] vielfach eingeforderten Kommunikationsmaxime, d. h. also wie sich ein besseres Verstehen und eine verstärkte Berücksichtigung der lebensweltlichen Perspektive und der Anliegen von Patienten im Arzt-Patient-Ge‐ spräch konkret umsetzen lässt, kann gerade die linguistische Gesprächsforschung mit ihren hochauflösenden Beschreibungen authentischer Gespräche, die darauf aufbau‐ ende Aussagen über Möglichkeiten der Optimierung kommunikativer Praktiken im Sinne bestimmter aufgestellter Kommunikationsmaximen erlauben, einen wertvollen Beitrag leisten. 102 Nachdem in der Sprachwissenschaft medizinische Aspekte zunächst im Rahmen der Fachsprachenforschung 103 betrachtet worden sind (Fachterminologie 104 , Fachtextualitätsmerkmale, syntaktische Besonderheiten etc.), die Forschung also eher textlinguistisch ausgerichtet war, verlagerten sich die Blickrichtung und das Forschungsinteresse - auch bedingt durch die Etablierung der linguis‐ tischen Gesprächsforschung in den 1970er Jahren - in Richtung Arzt-Pa‐ tient-Gespräch, v. a. unter institutionellen Gesichtspunkten. Diese Entwicklung wurde auch forschungspraktisch durch die Entwicklung technischer Geräte zur Datengewinnung, -sicherung und -auswertung, sowie durch die Etablierung von geeigneten Analysemethoden und -kriterien begünstigt: Die technische Entwicklung von Geräten zur Aufzeichnung und deren Verarbeitung wie auch die methodischen Entwicklungen der Gesprächsforschung machten es mög‐ lich, ärztliche Gespräche in ihrer natürlichen Umgebung zu erfassen und systematisch auszuwerten. Im Mittelpunkt der Untersuchungen standen Arbeiten zu den instituti‐ onellen Orten (Krankenhaus, Allgemeinpraxis) und den verschiedenen Interaktions‐ typen (Anamnese, Visite), zu Besonderheiten bestimmter Krankheitstypen (Krebser‐ krankungen, chronische Erkrankungen) und Patientengruppen (ältere Patienten, Migranten). 105 In der Folge wurden und werden breit angelegte Forschungen sowohl in Deutschland als auch in Österreich und der Schweiz sowohl aus medizinischer als auch aus soziologischer und linguistischer Sicht durchgeführt, z. T. fach‐ übergreifend. In der neueren Forschung stehen linguistische und interaktions‐ bezogene Fragestellungen im Fokus, die sich mit folgenden Aspekten beschäf‐ tigen: 106 54 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="55"?> 107 Eine Metastudie zur deutschsprachigen Forschung hat Peter Nowak (2010) vorgelegt. Nowak entwirft darin eine (nicht abgeschlossene) Systematik sprachlichen Handelns von Ärzten mit 46 Handlungstypen aus neun Gesprächskomponenten. 108 Ankündigung des IDS zur 16. Arbeitstagung zur Gesprächsforschung, 21-23. März 2012 in Mannheim. 109 Ankündigung des IDS zur 16. Arbeitstagung zur Gesprächsforschung, 21-23. März 2012 in Mannheim. • Interaktive Konstitution ärztlicher Gespräche mit Patienten, • Organisation von Rederechten, Durchführungsschritten und Darstel‐ lungsweisen, • Sequenzielle Folgen spezifischer Sprachhandlungen, • Formulierungsweise und -dynamik, • Dokumentation gegenseitigen Verstehens. Aus dem spezifischen Untersuchungsgegenstand ergibt sich die Notwendigkeit, die Analyseergebnisse an konkrete Nutzungsmöglichkeiten zu binden. Die kom‐ munikative Interaktion zwischen Ärzten und Patienten ist entsprechend seit den 1980er Jahren Gegenstand von anwendungsorientierten Untersuchungen der sogenannten Angewandten Linguistik. 107 In den letzten zehn Jahren ist dieses Themenfeld verstärkt in den Blick von Linguisten geraten und erfährt gegen‐ wärtig innerhalb der Disziplin eine beachtliche Aufwertung, auch wenn bei‐ spielsweise Lehrstühle, die sich explizit und interdisziplinär mit diesem Schwer‐ punkt beschäftigen, noch kaum vorhanden sind. Das Interesse ist dennoch groß und es wächst zunehmend mit den gesellschaftlichen Forderungen nach einer besseren, d. h. patientenorientierteren, Kommunikation. Die 16. Arbeitstagung zur Gesprächsforschung des Instituts für deutsche Sprache ( IDS ) fand im Jahr 2012 rund um das Thema „Medizinische Kommunikation“ statt. Die Veranstalter machten in ihrer Ankündigung klar, dass die „[m]edizinische Kommunikation ein bedeutsames Thema der angewandten Linguistik und Gesprächsfor‐ schung“ 108 darstellt. Zugleich wurde betont, dass sich „professionelles medizin‐ isches Handeln als in weiten Teilen kommunikativ organisiert, vielfach klar strukturiert und meist pointiert handlungsbezogen und zielorientiert“ 109 be‐ schreiben lässt. Die Ergebnisse linguistischer Analysen sind für den Bereich der medizin‐ ischen Kommunikation äußerst wichtig und sie entfalten eine Strahlkraft in die medizinische Praxis hinein, weil sich aus ihnen anwendungsbezogene Hand‐ lungsempfehlungen generieren lassen. Leider sind sie aber nur selten einfach zu lesen und sie abstrahieren z. T. sehr stark, was sowohl forschungspraktische als auch interessenbezogene Gründe hat. Die meisten sprachwissenschaftlichen Untersuchungen zu Arzt-Patient-Gesprächen sind daher für Mediziner selbst 55 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="56"?> 110 Bechmann 2014: 20. 111 Sator / Spranz-Fogasy 2011: 381. 112 Sator / Spranz-Fogasy 2011: 381 f. nur schwer greifbar; sie sind sehr stark in der geisteswissenschaftlichen Tradi‐ tion der Deskription verhaftet und verlassen damit nur selten ihre fachwissen‐ schaftliche Sphäre. Anders formuliert: Forschungsbefunde zur Medizinischen Kommunikation werden von Seiten der Linguistik oft so stark theoretisiert, dass sich daraus nur mit Mühe fruchtbares Wissen und Anwendungsmöglichkeiten für die Medizin selbst ergeben könnten: Vorrangiges Ziel sprachwissenschaftlicher Forschung, die sich mit Medizinischer Kommunikation beschäftigt, ist gegenwärtig in erster Linie die Herausstellung be‐ stimmter Interaktionstypen und -muster und die linguistische Analyse von Interak‐ tionsprozessen. Dabei lassen sich für die Praxis bisweilen anwendungsbezogene Richtlinien zur Gesprächsführung ableiten. Es ist aber gleichwohl festzustellen, dass die linguistische Analyse kaum dazu beitragen kann, angehenden Medizinern ein Rüstzeug an die Hand zu geben, das auf der Folie sprachwissenschaftlicher Forschung und kommunikationstheoretischer Erkenntnis die Besonderheiten medizinischer Kommunikation in den Blick nimmt. 110 Auch Marlene Sator und Thomas Spranz-Fogasy weisen auf die Möglichkeiten und die Notwendigkeit der perspektivischen und methodischen Öffnung der Linguistik in Richtung der mit medizinischen Fragen assoziierten Wissen‐ schaften und der Integration fachfremder Methoden hin: Die linguistische Gesprächsforschung zur medizinischen Kommunikation bewegt sich zwar stets in einem professionellen, anwendungsbezogenen Handlungsfeld und ist vielfach auch auf Anwendungszusammenhänge beziehbar. Allerdings bietet dieses Handlungsfeld auch Perspektiven für die Linguistik in theoretischer, me‐ thod(olog)ischer und empirischer Hinsicht. 111 Weiter heißt es dort zu den Forschungsinteressen und -gegenständen: Gut erkennbare institutionelle Bedingungen, Ablaufstrukturen oder Beteiligungsauf‐ gaben ärztlicher Gespräche mit Patienten erlauben es, Form-Funktionszusammen‐ hänge zu bestimmen und interaktionstheoretisch zu hinterfragen oder Grundlagen der Regelhaftigkeit sprachlich-interaktiven Handelns zu erkunden. Ebenso ist eine komplementäre Methodenentwicklung qualitativer und quantitativer Forschung möglich und methodologisch auszudeuten. All dies macht linguistisch-gesprächs‐ analytische Forschung in diesem gesellschaftlich bedeutsamen Handlungsfeld auch für die Linguistik selbst zu einem lohnenswerten Unterfangen. 112 56 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="57"?> 113 Aus diesem Grund sind finden sich in diesem Buch zahlreiche fachübergreifende Über‐ legungen (wie z. B. gesundheitspolitische Positionen oder ökonomische Betrachtungen zum Themenfeld), die eine holistische Betrachtung des Modells ermöglichen sollen. Eine Forderung an die linguistische Forschung muss daher lauten: Im Schulter‐ schluss mit den Medizinern müssen linguistische Forschungsergebnisse so auf‐ bereitet werden, dass sie in konkrete Modelle überführt werden können. Dazu ist neben der gemeinsamen Identifikation von Problemen im Gesprächshandeln ein reger Austausch zum Zweck der Auswertung von Forschungsergebnissen notwendig. Mit den hier vorliegenden Untersuchungen zum ICE -Modell soll ein solcher Austausch gefördert werden. Die - für linguistische Untersuchungen untypische - breite Auffächerung des Themenfeldes in diesem Buch soll dieser Forderung Aus- und Nachdruck verleihen und ihr zugleich Rechnung tragen. 113 Das ärztliche Gespräch - wie es derzeit der Fall ist - nur im Licht komplexer konversationsanalytischer Forschungen zu betrachten, schränkt die Linguistik in ihren Möglichkeiten stark ein und wird dem Phänomen selbst nicht gerecht. Vielmehr muss die Sprachwissenschaft es zukünftig zuvorderst leisten, be‐ reits bekanntes Grundlagenwissen zu menschlichem Kommunikationsver‐ halten praxisnah, anschaulich und zweckgerichtet an die Anforderungen in der Medizin anzupassen, um mit dieser Zielsetzung der medizinischen Aus- und Fortbildung wissenschaftlich fundierte Impulse zu liefern. 2.1.2 Charakteristik und Typologie ärztlicher Gespräche Die große Bedeutung des Gesprächs im Prozess der Aushandlung von Positi‐ onen zwischen Ärzten und Patienten ist bereits zuvor angeklungen. Als Gegen‐ stand multiperspektivischer Betrachtung nimmt das Gespräch in allen Diszip‐ linen eine zentrale Stellung ein. Durch die Möglichkeit, Gespräche aufzeichnen und in Korpusdaten überführen zu können, sind Gespräche auch im Nachhinein gut auswertbar und die aus ihnen gewonnenen Daten liefern aufschlussreiche Ergebnisse. Aber nicht nur wegen des prinzipiell hervorragenden Zugangs zum Gegenstand selbst und den gut erprobten Analysemethoden aus der Gesprächs‐ forschung steht das Gespräch im Zentrum der Betrachtung, wenn es um die Erforschung ärztlichen Kommunikationshandelns geht. Vielmehr belegen zahl‐ reiche Studien, dass das Gespräch neben der somatischen Befunderhebung durch die körperliche Untersuchung a) das wichtigste anamnestische Werkzeug eines Arztes ist und b) nachweislich zu einer Verbesserung mancher Krank‐ 57 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="58"?> 114 Vgl. Martina 1997: 459-465. 115 In dieser Übersicht werden die w. o. skizzierten zehn kommunikativ-pragmatischen Kategorien (unsystematisch) überblicksartig abgebildet. Nicht alle Kategorien und Sub‐ kategorien finden in der Tabelle Berücksichtigung, weil dies auch zu Darstellungs‐ problemen geführt hätte. Ich habe mich auf die wesentlichen distinktiven Merkmale wie etwa die unterschiedlichen Handlungsdimensionen oder das soziale Verhältnis der Akteure beschränkt. heitssymptome beitragen kann. Medizinische Kommunikation ist, sofern sie gelingt, tatsächlich heilsam. Das ärztliche Gespräch nimmt im Praxisalltag großen Raum ein. Neben ana‐ tomischem, physiologischem und therapeutischem Wissen und Können erfor‐ dert der Arztberuf in hohem Maße Empathie und kommunikative Kompetenz. Bei ärztlichen Gesprächen handelt es sich um eine Form der Kommunikation, die in einem Spannungsfeld zwischen der Lebenswelt der Patienten und der professionell-wissenschaftlich und bis heute weitgehend an somatischen Fakten orientierten Welt der Medizin stattfindet. Trotz einer immer differenzierteren Medizintechnik stellt das Gespräch zwischen Patient und Arzt zusammen mit den körperlichen Untersuchungen das wichtigste diagnostische Instrument dar, mit dessen Hilfe bis zu 90 Prozent aller Diagnosen richtig gestellt werden können. 114 Die Kosten, die volkswirtschaftlich durch mangelhafte Diagnosen und damit durch falsche Therapieoptionen entstehen, sind neben dem oftmals hohen Leidensdruck für die Patienten ein wichtiger Grund, die ärztliche Ge‐ sprächsführung auf den Prüfstand zu stellen. Im Folgenden wird das Gespräch zwischen Ärzten und Patienten zunächst unter funktionalen Aspekten betrachtet. Diese funktionale Betrachtung erlaubt es, die vielfältigen Gespräche, die in ambulanten und stationären Kontexten zu beobachten sind, typologisieren zu können. Unter rein funktionalen Gesichts‐ punkten gibt es verschiedene Formen des ärztlichen Gesprächs, die sich v. a. in Inhalt, Dauer und der Arzt-Patient-Beziehung (bekannt vs. unbekannt) unter‐ scheiden. Arzt-Patient-Gespräche lassen sich prinzipiell wie folgt typologi‐ sieren: 115 58 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="59"?> Gesprächsform Besonderheiten / Charakteristik Aufnahmegespräch - institutionalisiert (Klinik) - Feststellung der medizinischen Vorgeschichte, persönlicher und sozialer Informationen, der phy‐ sischen und psychischen Verfas‐ sung und besonderer Gewohn‐ heiten - Informationssammlung - geplant und zielgerichtet - wechselseitig: Patient erhält In‐ formationen(z. B. über die Klinik) und Fragemöglichkeit Anamnesegespräch / Erstgespräch - wie Aufnahmegespräch, aber in erster Linie auf somatische Be‐ funde ausgerichtet - Feststellung der Behandlungs‐ motivation - zielgerichtet - oft unidirektional: i. d. R. durch ärztliches Fragen bestimmt (In‐ terviewstil) - oft arztzentriert Aufklärungsgespräch / Folgege‐ spräch - basiert auf bereits erhobenen Be‐ funden - dient der Entscheidungsfindung für eine Therapie - dient dem Wissenstransfer vom Arzt zum Patienten - erfordert Ruhe und kommunika‐ tive Kompetenz (Verständlich‐ keit) Visitegespräch - institutionalisiert / ritualisiert (Klinik) - basiert ggf. auf veränderten Be‐ funden (Abgleich und Neuaus‐ richtung der Therapie) - kein intimer Gesprächsrahmen - oft durch Zeitmangel gestört - oft unidirektional und direktiv durch den Arztgeführt - meistens arztzentriert Beratungsgespräch - gleichberechtigter Dialog 59 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="60"?> Gesprächsform Besonderheiten / Charakteristik - intimer Gesprächsrahmen - partizipatives Gespräch - hoher Zeitbedarf - patientenzentriert Entlassungsgespräch - institutionalisiert (Klinik) - dient dem Abschluss einer stati‐ onären Behandlung - meist kurze Verabschiedung mit Raum für Fragen des Patienten zur weiteren ambulanten Be‐ handlung - Vermittlung von Informationen für die Weiterbehandlung(z. B. Hinweise zu Medikamenten) - i. d. R. durch Kurzbrief an den Hausarzt begleitet Tab. 1: Ärztliche Gesprächsformen Die vorstehende Tabelle unterscheidet ärztliche Gesprächsformen in erster Linie anhand spezifischer Besonderheiten im Themensetting, in den Beziehungsmo‐ dellen und in ihren situativen und institutionellen Rahmungen. Betrachtet man das ärztliche Gespräch jedoch stärker mit dem Ziel der Unterscheidung zwi‐ schen krankheits- und patientenzentrierter Gesprächsführung, dann lassen sich im Wesentlichen vier Gesprächstypen mit unterschiedlichen Relevanzrastern und verschiedenen Bezugsgrößen (subjektives Erleben vs. medizinisches Rele‐ vanzraster) identifizieren: 1. Das freie Gespräch 2. Die Anamnese 3. Die Exploration 4. Das Interview Diese vier Gesprächstypen sollen im Folgenden ausführlicher kommentiert werden: Freie Gespräche zwischen Arzt und Patient sind durch eine thematische Offenheit gekennzeichnet. In ihnen geht es in erster Linie darum, ein vertrau‐ ensvolles Verhältnis aufzubauen. Freie Gespräche finden in der ärztlichen Praxis häufig nicht anlassbezogen statt und können sich mit anderen Gesprächsformen überlagern. In der Realität muss man wohl von freien Gesprächssequenzen aus‐ 60 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="61"?> gehen, die beispielsweise in die Anamnese eingebettet sein können. So dienen einleitende Fragen, die nicht zwingend erkennbaren Bezug zum Krankheitsge‐ schehen haben, dem Aufbau einer vertrauensvollen Gesprächsbasis, die für die folgenden Schritte auf dem Weg zu einer optimalen Versorgung und Therapie tragfähig sind. Die Exploration der Patientenperspektive über die Elemente des ICE -Modells ist in dieser Gesprächsform gut möglich. Zudem verstärken Botschaften der Selbstoffenbarung in diesen Sequenzen die emotionale Bin‐ dung zwischen Arzt und Patient. Dennoch geht es im freien Gespräch nicht allein um die Herstellung eines guten zwischenmenschlichen Kontaktes und einer Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patient. Auch die Ermittlung von re‐ levanten Daten über die Krankheits- und Lebensgeschichte des Patienten ist - quasi indirekt - Ziel freier Gespräche. So können hier vor allem in Folgege‐ sprächen relevante medizinische Informationen für den Arzt hervorgehen: Indem der Arzt - auf der Basis eines breiten medizinischen Vorwissens über den Patienten - diesen möglichst frei erzählen lässt, gelangt er an Informationen über die patientenseitigen Vorstellungen, Ängste und Erwartungen, über das seelische Befinden oder an Hinweise auf Therapiefehler. Das freie Gespräch ist damit ein wichtiges diagnostisches Mittel in der medizinischen Kommunikation, weil es Patienten dazu ermutigt, medizinisch relevante Informationen preiszu‐ geben, ohne dabei vom Arzt (und von dessen Informationsinteresse) beeinflusst zu sein. Freie Gespräche bzw. Gesprächssequenzen sind stark patientenzent‐ rierte Kommunikationsformen, in denen Narrationen tragfähige Elemente bilden. Es darf aber nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass auch solche freien Gespräche in einen starren institutionellen Rahmen eingefasst sind und dass auch in solchen Gesprächen fixe Rollenvorstellungen und mit ihnen ver‐ bundene Verhaltensweisen zum Tragen kommen. Im freien Gespräch können patientenorientierte sprachliche Handlungsweisen des Arztes jedoch dazu bei‐ tragen, bestehende Asymmetrien ein Stück weit auszugleichen. Einen deutlichen Kontrast zu den freien Gesprächsformen bilden Anamne‐ segespräche. Sie dienen Ärzten in erster Linie dazu, somatische Informationen, medizinisch-therapeutisch relevantes Wissen über die Person sowie Kenntnis über die sozialen Faktoren des Patienten zu erlangen. Daher sind sie in aller Regel an objektiven Kriterien ausgerichtet und in ihrem Ablauf entsprechend standardisiert. In medizinischer Hinsicht umfasst das Anamnesegespräch fest‐ gelegte, medizinisch determinierte thematische Bereiche und Fragestellungen und ist damit wesentlich geschlossener angelegt als das freie Gespräch. Zudem 61 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="62"?> 116 Vgl. z. B. Schettler / Nüssel 1984 oder Hope et al. 1990. 117 Ein Skript als mentales Pendant zum Begriff des Gesprächsmusters beinhaltet prozes‐ sual organisierte Wissensbestände über komplexe Handlungen, Prozesse oder Abläufe. Das Wissen des Arztes über die starre Abfolge von Fragehandlungen in der Anamnese sowie über die Geordnetheit des Gesprächsverlaufs mit der musterhaften Festlegung von Sprecherwechsel und Relevanzmarkierungen ist mental in einem Skript angelegt und organisiert. Skripte sind nach Warnke und Spitzmüller (vgl. 2008: 39) in deren dis‐ kurslinguistischem Analysemodell DIMEAN auf der transtextuellen Ebene verortet. Warnke und Spitzmüller gehen davon aus, dass jeder Text - also auch jedes Gespräch - zahllose Bezüge, intertextuelle Anspielungen und Verknüpfungen mit anderen, z. T. umfassenderen, Diskursen enthält. Neben Skripten lassen sich auf der transtextuellen Ebene noch die Kategorien Intertextualität, Frames, Diskurssemantische Grundfiguren, Topoi, Sozialsymbolik, Indexikalische Ordnungen, Historizität, Ideologien / Mentalitäten und allgemeine gesellschaftliche und politische Debatten unterscheiden. Für die ge‐ sprächsanalytische Betrachtung von Arzt-Patient-Gesprächen mit dem Fokus auf die Patientenperspektive sind m. E. insbesondere Skripte und Frames (die ich w. u. näher beleuchten werde) von besonderer Bedeutung. sind Anamnesegespräche ihrem Wesen nach arztzentriert. Folgende Themen‐ bereiche werden in Anamnesegesprächen aktualisiert: 116 1. aktuelle Beschwerden 2. Kinderkrankheiten 3. frühere Erkrankungen, Krankenhausaufenthalte und Operationen 4. chronische Erkrankungen, Allergien (insbesondere Diabetes, Bluthoch‐ druck, Rheuma etc.) 5. Familienanamnese (vererbliche Krankheiten von Eltern und Geschwi‐ stern, Risikofaktoren) 6. Allgemeinanamnese (aktueller Gesundheitszustand (Appetit, Verdauung, Schlaf), persönliche Daten (Alter, Größe, Gewicht), Alkohol- und Niko‐ tinkonsum, (bei Frauen) gynäkologische Anamnese, Geschlechtskrank‐ heiten, Medikation, Sozialanamnese (Familienstand, Beruf, häusliche Ver‐ sorgung etc.)) Einzelne dieser Schemakomponenten sind obligatorisch, andere wiederum fakultativ. Zumeist liegt diesen Gesprächen ein Skript zugrunde, also ein inneres Planungs- und Erwartungsmuster. 117 Das Anamnesegespräch ist fester Bestand‐ teil eines institutionellen, konventionellen Verfahrens - sowohl in der ärztlichen Praxis als auch in der Klinik. Kommunikativ befinden sich Arzt und Patient in der Anamnese im Modus der Befragung, wobei diese zielgerichtet und unidi‐ rektional vom Arzt ausgeht. Die effektive Erhebung somatischer Daten durch den Arzt hängt also entscheidend von dessen kommunikativer Kompetenz ab. Sequenziell lassen sich feste Abfolgen von kommunikativen Handlungen 62 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="63"?> 118 Sator / Spranz-Fogasy 2011: 383. 119 Lalouschek 2002: 155. 120 Lalouschek 2002: 155. 121 Lalouschek 2002: 155. (Frage-Antwort-Sequenzen) feststellen, die wenig Raum für patientenseitige In‐ teressen geben. In Anamnesegesprächen lassen sich starre Relevanzsysteme erkennen. Besonders hier „findet Arzt-Patient-Kommunikation in einem Span‐ nungsfeld zwischen alltagsweltlich-existenziellen Relevanzen einerseits und professionell-kategorialen Orientierungen andererseits statt“ 118 . Da Anamnese‐ gespräche sowohl in der Klinik als auch in der Praxis als Erstgespräche statt‐ finden, zählen sie zu den ärztlichen Routineaufgaben: „Bei der Aufnahme auf eine Abteilung eines Krankenhauses wird mit jedem Patienten […] eine Anam‐ nese durchgeführt“ 119 . Johanna Lalouschek hat 2002 den strengen, musterförmigen Ablauf dieses Gesprächstyps durch eine diskursanalytische Studie nachweisen können. Sie kommt in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass sich Ärzte in der Anamnese „an einem normierten, fachlich motivierten Ablaufschema [orientieren], was zu starren, musterförmigen Gesprächsverläufen führt, die vorwiegend aus Frage-Antwort-Sequenzen bestehen“ 120 . Diese Gesprächsverläufe sind folgen‐ reich für die Ausgestaltung der Beziehung zwischen Arzt und Patient und sie sind zugleich die Quelle folgenschwerer Verstehensprobleme: „Diese Form der ärztlichen Gesprächsführung schränkt die sprachlichen Handlungsmöglich‐ keiten der PatientInnen in einer für sie relevanten Gesprächssituation in prob‐ lematischer Weise ein und induziert vielfältige Kommunikationsstörungen“ 121 . Aufgrund dieser problematischen Restriktionen im Gesprächshandeln von Pa‐ tienten, und gerade wegen der Vernachlässigung der Patientenperspektive, ist die Anamnese trotz der Möglichkeit der raschen Erfassung biomedizinischer Daten kein geeigneter Gesprächstyp in der modernen (patientenzentrierten) Arzt-Patient-Kommunikation. Unter Exploration versteht man ein ärztliches Gesprächsverhalten, das ge‐ zielt darauf ausgerichtet ist, auf der Basis der Anamnese weitere und ergänzende Informationen über den Patienten und dessen Krankheitserleben zu gewinnen. In gewisser Weise ist die Exploration die Weiterführung der Anamneseerhe‐ bung. Sie ist ebenso standardisiert wie die Anamnese selbst und basiert ebenfalls auf zielgerichteten Frage-Antwort-Sequenzen, die dem Patienten wenig Raum für Persönliches oder für den Ausdruck seines subjektiven Empfindens geben. Im Gegensatz zur Anamnese, in der die Erhebung der Krankengeschichte sowie der somatischen Fakten meist ungerichtet anhand standardisierter Fragen erhoben werden, ist die Exploration ein zielgerichteter Prozess, der vom Arzt 63 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="64"?> 122 Bechmann 2014: 192. 123 Einige Kommunikationstechniken werden beispielsweise bei Bechmann 2014 näher vorgestellt und anhand von Gesprächsbeispielen diskutiert. Vgl. auch den Leitfaden „Kommunikation im medizinischen Alltag“ der Ärztekammer Nordrhein von 2015 (S. 23-35). auf die Erreichung des Ziels hin gesteuert wird. Durch die Exploration gewinnt der Arzt unter Berücksichtigung der Anamnese weitere Informationen über den Patienten. Explorative Gespräche in der medizinischen Kommunikation sind durch den Arzt gelenkt und wenig interaktiv. Die Exploration ist - ebenso wie die ärztliche Anamnese - eine krankheitszentrierte Gesprächsführung, die den Patienten stark fragmentiert und auf somatische Daten und Befunde redu‐ ziert. Beide Gesprächsformen führen zu einer gesprächsinteraktiven Unbeweg‐ lichkeit und sind kommunikativ wenig elastisch. Es sollte aber bemerkt werden, dass sich Gesprächsformen in der Realität häufig überlagern, was zu einer weit positiveren Sichtweise auf Anamnese und Exploration im ärztlichen Gespräch führen kann: Durch die Kombination mit patientenzentrierten Gesprächsformen lassen sich die Explora‐ tion wie auch die Anamnese gesprächsinteraktiv nutzen. Die reine Datensammlung stellt in einer modernen patientenorientierten Gesprächskonzeption nur noch eine Gesprächsphase dar und gilt nicht mehr als eigenständige Gesprächsform. 122 Insbesondere in denjenigen Disziplinen, die in besonderem Maß auf Informati‐ onen aus der persönlichen Lebenswelt der Patienten angewiesen sind, beispiels‐ weise etwa in der Psychiatrie, tritt die Exploration in ihrer funktionalen Wer‐ tigkeit deutlich in den Vordergrund. In ihr kumulieren somatische und psychosoziale Dimensionen in besonderer Weise innerhalb der Interaktion. Das Gespräch als Gegenstand der Betrachtung patientenorientierter Kommunikati‐ onswege und -möglichkeiten gewinnt hier an Bedeutung, da allein über die Ge‐ sprächsführung ein Zugang zu den notwendigen Informationen hergestellt werden kann. Grundlegende Kenntnisse kommunikativer Strategien und die Beherrschung von Kommunikationstechniken sind die Voraussetzungen dafür, dass die Exploration sowohl für den Arzt als auch für den Patienten erfolgreich ist. Im Wesentlichen bedeutet das, dass Ärzte auf die hinter den somatischen Fakten oft verborgenen psychosozialen Probleme und die z. T. äußerst subjek‐ tiven Krankheitstheorien blicken können. Diese Einblicke ermöglichen es ihnen, in Zusammenarbeit mit ihren Patienten ganzheitlichen Lösungsansätze für me‐ dizinische und / oder psychosoziale Probleme entwickeln zu können. Die dabei verwendeten Techniken, die nicht im Zentrum der Betrachtungen in diesem Buch stehen, unterscheiden sich je nach Zielsetzung. 123 Die psychiat‐ 64 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="65"?> 124 Im Gegensatz dazu enthält die Anamnese obligatorische Schemakomponenten, also Gesprächsteile, die im Gesprächsmuster fest vorgesehen sind. In anderen Diktionen spricht man hier von geordneten Gesprächsphasen (im Wesentlichen: Begrüßung, In‐ formationsakquise, Verabschiedung). rische Exploration beispielsweise bedient sich bestimmter verbaler Techniken (z. B. das Stellen offener Fragen), um den psychopathologischen Befund eines Patienten zu erheben. Explorative Anteile finden sich v. a. in freien Gesprächen, die - wie beschrieben - natürlich zwar in der Gesprächsgestaltung eher offen sind, jedoch selbstverständlich finale Gesprächshandlungen involvieren. Innerhalb des freien Gesprächs dienen explorative Anteile der Entscheidungs‐ findung und der Sicherung von Hypothesen durch den Arzt. Durch tradierte Rollenvorstellungen und erlernte Beziehungsmodelle, die implizit das Ge‐ sprächshandeln sowohl von Ärzten als auch von Patienten beeinflussen und lenken, wird die Patientenperspektive in Arzt-Patient-Gesprächen in aller Regel von den Patienten nicht aktiv eingebracht. Die Exploration dient hier der aktiven Zuwendung und Fokussierung durch den Arzt, der über das Themensetting und die inhaltlich-thematische Steuerung, sowie über die gesprächsinteraktive Hin‐ wendung zum Patienten durch die Steuerung der Paar-Sequenzen im Gespräch, insbesondere die patientenseitigen Vorstellungen, Ängste und Erwartungen ex‐ ploriert und diese damit sicht- und greifbar macht. Auf diese Weise ist die Ex‐ ploration auf der einen Seite eng verwoben mit narrativen Gesprächstechniken und auf der anderen Seite geprägt durch eine starke Patientenzentrierung über die bewusste Fokussierung auf relevante Inhalte / Elemente der Patientenper‐ spektive - auch über psychopathologische Inhalte hinaus. Im Vergleich zur Anamnese und zur Exploration ist das Interview wesentlich stärker durch Motivation als durch Information bestimmt. Zudem ist das Inter‐ view, insbesondere im Gegensatz zur Anamnese, nicht standardisiert. Die weit‐ gehend freie Interaktion (bezogen auf das Gesprächsmuster) zwischen Arzt und Patient steht im Fokus dieser Gesprächsform, in der Schemakomponenten eher fakultativ angelegt sind. 124 Insofern erweitert das Interview Anamnese und Ex‐ ploration, indem die Sphäre des somatischen Befunds und der medizinisch-fach‐ lichen Informationen um Elemente der Patientenperspektive ergänzt wird. Per‐ sönliche Fragen, freies Formulieren und gezielte Nachfragen kennzeichnen diese Gesprächsform, die - anders als das freie Gespräch - durch den Arzt ge‐ lenkt wird. Während im freien Gespräch Asymmetrien weitgehend abgebaut sind, ist das Interview als eine offene Form der Befragung im Kern weiterhin asymmetrisch (zugunsten des Arztes). Die Patientenzentrierung zeigt sich we‐ niger anhand des Gesprächsmusters als vielmehr im patientenorientierten Fra‐ geverhalten: Der Arzt stellt im Interview Fragen, die das Gespräch einleiten, 65 2.1 Kommunikation - eine (kurze) Begriffsbestimmung <?page no="66"?> 125 Bechmann 2014: 192 (Hervorhebung im Original). 126 Ärztekammer Nordrhein 2015b: 49. fortführen und neue Themen befördern können. Aktive und passive Redeanteile des Arztes wechseln sich ab, der Patient kann stellenweise frei erzählen, was durch eine offene Fragegestaltung befördert wird. Damit nimmt das Interview eine intermediäre Stellung in der Arzt-Patient-Kommunikation ein: „Das ärzt‐ liche Interview bildet in der modernen medizinischen Kommunikation den Rahmen, in dem sowohl patientenals auch krankheitszentrierte Informati‐ onen ausgetauscht werden können“ 125 . Auf die Eignung des Interviews als pa‐ tientenzentrierte Gesprächsform weisen auch die Autoren des Leitfadens „Kom‐ munikation im medizinischen Alltag“ der Ärztekammer Nordrhein aus dem Jahr 2015 hin: Für das ärztliche Gespräch in der Praxis eignen sich am ehesten Kurzinterventionen nach den Gesprächsprinzipien des ,motivational interviewing‘ […]. Solche Kurzinter‐ ventionen helfen dem Arzt herauszufinden, wieweit der Patient motiviert ist, sein Verhalten zu ändern und wie er dabei am besten unterstützt werden könnte. Im Ge‐ gensatz zu einer paternalistischen, unter Umständen als bevormundend erlebten ärzt‐ lichen Kommunikation, die dem Patienten quasi vorschreibt, was er zu tun hat, setzt das ,motivational interviewing‘ (MI) auf die Aktivierung der Ressourcen des Pati‐ enten. 126 Unabhängig von Fragen des Gesprächstyps lässt sich für Arzt-Patient-Ge‐ spräche an dieser Stelle festhalten: Das ärztliche Gespräch ist Mittel zum Zweck - sowohl für den Arzt als auch für den Patienten. Es ist ein wichtiges ärztliches Instrument sowohl in der Diagnose als auch in der medizinischen Therapie. 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation Arzt-Patient-Kommunikation ist zweierlei: Zum einen fasst man unter diesen Begriff eine bestimmte Art des Kommunizierens, nämlich den Austausch zwi‐ schen Arzt und Patient im Gespräch. Zum anderen ist die Arzt-Patient-Kom‐ munikation selbst medizinisches Handeln, indem das Gespräch Teil des ärztli‐ chen (Be-)Handelns ist. Dabei suggeriert der Begriff Arzt- 66 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="67"?> 127 Bechmann 2014: 6-7 (Hervorhebung im Original). 128 Vgl. Bechmann 2014: 1-11. Patient-Kommunikation, dass es sich um eine genau bestimmbare Kommunika‐ tionsform handle, die festgelegten Abläufen folgt. In Wahrheit jedoch ist jedes Gespräch zwischen Ärzten und Patienten „ein singuläres Ereignis, dessen Er‐ folg oder Misserfolg sich unmittelbar auf die Beziehung zwischen Arzt und Pa‐ tient auswirkt“ 127 . Das Gespräch zwischen Ärzten und Patienten folgt einer Dy‐ namik, die sich aus der jeweiligen Gesprächssituation stets aufs Neue entfaltet. Algorithmen, wie sie ansonsten in der Medizin üblich (und hilfreich) sind, lassen sich für die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten aus diesem Grund kaum sinnvoll entwickeln. 128 Vielmehr gilt es, die Besonderheiten der Gesprächsführung im medizinischen Kontext zu kennen und passgenau in jeder Situation an die spezifischen An‐ forderungen anzupassen. Das Wissen darüber, welche Anforderungen patien‐ tenseitig an das Gespräch gestellt werden, ist der Schlüssel dazu, das Gespräch ärztlicherseits professionell gestalten (also lenken und leiten) zu können. Das ICE -Modell, das in Kapitel 3 ausführlich vorgestellt wird, eignet sich in be‐ sonderem Maße dazu, eben diese patientenseitigen Anforderungen auf der kognitiven (ideas) sowie der emotiven (concerns und expectations) und der antizipatorischen bzw. normativen (expectations) Ebene zu identifizieren. Der Begriff antizipatorisch wird hier hilfsweise aus der Psychologie und der Sozio‐ logie entlehnt und meint die Vorwegnahme eines Ereignisses, verstanden als Erwartung. In der Sozialpsychologie lässt sich diese Form der Erwartung, die das ICE -Modell involviert, am ehesten mit der Auffassung Erwin Goffmans zu Erwartungen bei sozialen Kontakten in Einklang bringen. Eng damit verbunden ist in der Arzt-Patient-Kommunikation zudem der Be‐ griff der Erwartungserwartung. Die beiden Akteure agieren in einem Geflecht wechselseitiger Erwartungserwartungen, Attributionen und habitueller Dispo‐ sitionen, die ihrerseits schon strukturbzw. systembildend wirken, ohne dass überhaupt jemals eine diesbezügliche Absicht oder Intention vorausgesetzt werden muss. Da es sich bei den Erwartungserwartungen um ein zentrales Phä‐ nomen handelt, das in besonderer Weise Gespräche zwischen Ärzten und Pati‐ enten beeinflusst und sich gegenwärtig wandelt, sollen die Zusammenhänge zwischen der arztseitigen und den patientenseitigen Erwartungen kurz näher bestimmt werden. In der klassischen Rollenverteilung zwischen Ärzten als Experten und Pati‐ enten als Laien sind die Erwartungen ebenso wie die Erwartungserwar‐ tungen auf beiden Seiten recht klar geregelt bzw. gerahmt. Der Terminus Er‐ 67 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="68"?> 129 Vgl. Schneider 2002: 259. 130 Die folgenden Ausführungen gehen von traditionellen Rollenvorstellungen aus, die sich trotz eines Paradigmenwechsels noch immer in einer Vielzahl von Gesprächen nach‐ weisen lassen. 131 Als Vorgriff auf die noch weiter zu beschreibenden Anforderungen an künftige kom‐ munikative Kompetenzen von Ärzten lässt sich bereits hier sagen: Ärzte müssen lernen, ihre eigenen Erwartungserwartungen zu hinterfragen, d. h., ihre - i. d. R. nicht vali‐ dierte - Annahme, der Patient würde beispielsweise immer eine Verordnung erwarten. In der Praxis dürfte diese Überprüfung kaum geschehen. Umso wichtiger ist es, die Erwartungen des Patienten nicht (allein) zu antizipieren, sondern sie aktiv zu explo‐ rieren. Ich komme darauf w. u. noch ausführlicher zu sprechen, da insbesondere Er‐ wartungen aus Sicht der Patientenperspektive zentral sind (weshalb sie auch eine der Säulen des ICE-Modells bilden). 132 Terminologisch zeigt sich dieses Gefüge auch im Begriff Verordnung, der in semantische Nähe zum Begriff Anordnung rückt. Sowohl eine Anordnung als auch eine Verordnung wartungserwartung verweist auf den Umstand, dass Menschen neben den Erwartungen, die sie an andere Menschen stellen, auch antizipieren können, welche Erwartungen von ihnen erwartet werden. Zum Teil sind solche Erwar‐ tungserwartungen institutionalisiert. Institutionalisierte Erwartungen müssen nicht mehr überprüft werden, denn sie unterliegen einer universellen und in‐ tersubjektiv geteilten Gültigkeit - oft auf der Basis angelernter Rollenvorstel‐ lungen. Sowohl die Erwartungen als auch die Erwartungserwartungen von Ärzten und Patienten folgen diesem Muster der ,gelernten Rollen‘. Schneider beschreibt das Phänomen so, dass jeder Mensch erwarten können muss, welches Verhalten andere von ihm erwarten. Ohne diese sogenannten Erwartungser‐ wartungen würde jeder riskieren, die unbekannten Erwartungen des anderen zu enttäuschen, was zum Abbruch der Kommunikation, oder gar zur Eskalation führen könnte. 129 Für die Arzt-Patient-Interaktion lassen sich die Zusammen‐ hänge wie folgt bestimmen: 130 Was die Erwartungen angeht, scheinen die Linien klar gezogen: Patienten erwarten (zumindest in der Vorstellung ihrer Ärzte) Heilung oder zumindest Linderung. 131 Ärzte erwarten, dass sich ihre Patienten so verhalten, wie es ihnen vorgeschrieben wird. Der w. o. ausführlicher umrissene Terminus Therapietreue involviert Erwartungen und beschreibt dieses starre und disparate Erwartungs‐ gefüge, indem Patienten genau dann Treue zeigen, wenn sie die Erwartungen der Ärzte erfüllen. Zwar gibt es den Begriff Therapieuntreue nicht, jedoch spricht man auch heute noch vielfach davon, dass sich Patienten non-complient ver‐ halten, also nicht fügsam sind, wenn sie die in sie gesetzten Erwartungen der Ärzte nicht erfüllen. Die Erwartungen des Patienten treten in dieser Denkweise klar in den Hintergrund. 132 68 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="69"?> muss man befolgen. Wenn jemand etwas anordnet, erwartet er Befolgung. Dasselbe gilt für Verordnungen. Nun ist Kommunizieren insgesamt ein eher riskantes Unterfangen, was an der prinzipiellen Unmöglichkeit liegt, völlig verlustfrei Informationen auszu‐ tauschen. Das Gelingenspotenzial kommunikativer Handlungen hängt in ent‐ scheidendem Maße davon ab, dass alle Kommunikationspartner die sozialen Spielregeln kennen, die für die Gesamtsituation selbst und für ihre jeweiligen Rollen in diesem Spiel gelten. Solche Regeln sind sozial angeeignet und sie sind z. T. dynamisch veränderlich. Zwischen Ärzten und Patienten galt und gilt in dieser Hinsicht Folgendes: Ärzte sind medizinische Experten, so dass die Erwartung der Patienten, ein Leiden zu heilen oder zu lindern, qua Profession erfüllt wird. Patienten hingegen sind medizinische Laien, so dass die Erwartung der Ärzte, dass Patienten genau das tun, was Ärzte ihnen vorschreiben, erst erfüllt werden muss. Ärzte erfüllen - in dieser Denkweise - die Erwartungen ihrer Patienten, indem sie Medikamente verschreiben oder Eingriffe vornehmen. Wenn Patienten Ärzte aufsuchen, gehen Ärzte davon aus (heißt: sie erwarten), dass Patienten genau das von ihnen erwarten (= Erwartungserwartung des Arztes). Nicht mehr und nicht weniger. Und nun wird es interessant: Patienten lernen früh, sich den Erwartungen ihrer Behandler anzupassen. Patienten wissen und erwarten nämlich, dass Ärzte von Ihnen Folgsamkeit erwarten (= Erwartungserwartung des Patienten). Auch hier gilt: nicht mehr und nicht weniger. In paternalistischen Beziehungsmodellen entspricht beides der Realität: Patienten erwarten Heilung, Ärzte erwarten Folg‐ samkeit. Da der ärztliche Beruf ein Heilberuf ist, erfüllen Ärzte die Erwartungen der Patienten per se. Ein Nicht-Erfüllen wäre nur mit ärztlicher Untätigkeit zu erklären. Allein das Verordnen eines Medikaments erfüllt den Tatbestand des ärztlichen Handelns. Ob aber die Medikation hilfreich und wirksam ist, hängt vom Befolgen der Anweisungen des Arztes durch den Patienten ab. Auf diese Weise werden Patienten für das Ge- oder Misslingen verantwortlich gemacht. Mehr noch: Die Erwartungen der Patienten sind nur dann erfüllbar, wenn die Patienten die Erwartungen ihrer Ärzte erfüllen. Auf diese Weise werden Pati‐ enten selbst für das Erfüllen der eigenen Erwartungen verantwortlich. Damit ist die Situation vergleichbar mit derjenigen zwischen Lehrern und Schülern. Von Lehrern wird erwartet, dass sie den Schülern etwas beibringen. Erfolgreich ist die Wissensvermittlung aber nur dann, wenn Schüler auch fleißig lernen. Wenn sie das unterlassen, haben die Lehrer die in sie gesetzten Erwar‐ tungen erfüllt, obwohl das Ziel nicht erreicht wurde. Verantwortlich für den Lernerfolg sind die Schüler, die das, was der Lehrer vermittelt, lernen müssen. 69 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="70"?> Schüler wissen das natürlich. Sie erwarten von ihren Lehrern nachgerade, dass diese von ihnen erwarten, dass sie den Unterrichtsstoff lernen (= Erwartungs‐ erwartung eines Schülers). Lehrer, denen es egal ist, ob ihre Schüler lernen oder nicht, haben nicht nur ihren Beruf verfehlt, sie werden vermutlich auch von ihren Schülern als suspekt empfunden. Das liegt daran, dass solche Lehrer die Erwartungserwartungen ihrer Schüler nicht erfüllen. Es herrscht beim Kommunizieren - mit Niklas Luhmann - doppelte Kon‐ tingenz, wie etwa bei einem Schachspiel, bei dem der eine die nächsten Hand‐ lungsschritte des Mitspielers antizipieren muss. Aus der Kenntnis der grundle‐ genden Regeln des Spiels kann der Schachspieler die nächsten Schritte (und damit auch die eigenen Handlungsschritte) voraussehen und sich entsprechend selbst verhalten. Mit anderen Worten: Ein Kommunikationszusammenhang sta‐ bilisiert sich erst durch die Herausbildung von Erwartungen, die über verschie‐ dene Situationen von den Interaktionspartnern verallgemeinert werden. Das gilt auch für die Arzt-Patient-Kommunikation: Patienten haben über Jahrzehnte gelernt zu erwarten, dass Ärzte ihnen helfen und zugleich von ihnen Complience erwarten und einfordern. Dieses Konzept verändert sich gegen‐ wärtig. Patienten erwarten vielfach nicht mehr nur Heilung oder Linderung, sondern zudem auch eine Einbeziehung von Vorstellungen, Ängsten und Er‐ wartungen. Zugleich findet auch ein Umdenken bei vielen Ärzten statt, die nicht mehr Folgsamkeit (Compliance), sondern Mitbestimmung (Partizipation und Adhärenz) erwarten. Diese Entwicklungen führen zu veränderten Erwartungs‐ erwartungen - und darüber zu neuen Themen und Gesprächsmustern in Arzt-Patient-Gesprächen. Insgesamt gilt: Die Verhandlungen der Entscheidungsprozesse in der Interaktion stellen sich als komplizierte soziale Gebilde dar, in denen Verantwortlichkeiten verteilt, verschoben und (re-)attribuiert werden. Dieser Prozess der Neuverteilung, Verschiebung und Attribuierung ist gegen‐ wärtig in Gang gesetzt. Damit dieser Prozess erfolgreich verläuft, müssen Ärzte neue Modelle der Interaktion in den Blick nehmen. Das ICE -Modell ist dabei deswegen hilfreich, weil es erstmals die (sich, wie gerade beschrieben, mehr und mehr verändernden) Erwartungen der Patienten involviert. Durch die Verknüpfung mit bekannten Gesprächstechniken kann das Modell helfen, Arzt-Patient-Gespräche symmetrisch zu gestalten, ohne jedoch einen starren Ablauf vorzuschreiben. Ziel ist es, die institutionell bedingten Rollen‐ 70 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="71"?> 133 Vogel 2007: 2. 134 Menz 2015: 75. 135 Vgl. Menz 2015: 75. asymmetrien, die sich kommunikativ je nach Partizipationspräferenz der Pa‐ tienten häufig eher ungünstig auswirken, durch die Integration der Patienten‐ perspektive ein Stück weit auszugleichen. Die Einbeziehung des Patienten mit seinen kognitiven, emotiven und antizipatorischen Interessen kann dazu bei‐ tragen, die Behandlungsqualität zu verbessern, „da Behandlungsentschei‐ dungen besser auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten abgestimmt werden können“ 133 . Vermehrt setzt sich innerhalb der Medizin - wie auch in den Hilfswissen‐ schaften Soziologie, Psychologie oder Linguistik - die Erkenntnis durch, dass sich das ärztliche Gespräch, trotz rasantem technischen Fortschritt und mögli‐ cherweise sogar wegen der Zunahme der Apparatemedizin, „[a]ls Kristallisati‐ onspunkt ärztlichen Handelns“ 134 einen herausgehobenen Stellenwert in der medizinischen Versorgung verdient. Dass sich daraus die Forderung nach einer evidenzbasierten Professionalisierung der Kommunikationskompetenzen von Ärzten ergibt, ist zwingend und wird w. u. in Abschnitt 2.4 unter berufspoliti‐ schen Gesichtspunkten näher diskutiert. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Gesprächsform in seinen vielfältigen Ausprägungen herauszulösen aus dem institutionellen Korsett, das bestimmt wird über den institutionellen Zweck. Die bisherigen Muster der Arzt-Patient-Kommunikation folgen eben diesem Zweck, der nach Menz (2015) vor allem die nachfolgenden Teil‐ aspekte integrieren muss: 135 • Informationssammlung zum Zweck der Diagnosebildung, • strukturelle Aufgaben der - zeitlichen Planung, - räumlichen Planung sowie der - personellen Planung und • interaktive Beziehungsgestaltung. Die Krux in der Arzt-Patient-Beziehung liegt in der Anerkennung der jewei‐ ligen Rollenkonzepte der Akteure und in den unterschiedlichen, veränder‐ baren Erwartungen, die a) an sie herangetragen werden und die sie b) selbst mitbringen. Veränderbar ist beides in der Hinsicht, dass es keine naturgegebene und hinreichende Rollenfestlegung gibt, weder für die des Arztes, noch für die des Patienten. Beide Rollen sind vielmehr soziokulturell determiniert. Soziale Rollen und folglich auch Erwartungen an soziale Verhaltensweisen (somit auch an kommunikatives Handeln) werden von kulturellen, gesellschaftlichen und 71 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="72"?> 136 Vgl. Braun / Marstedt 2011: 50 f. 137 Der Begriff Patient leitet sich vom Lateinischen patiens bzw. patior (dt.: [er]leiden, [er]dulden, ertragen, aushalten, hinnehmen) ab. Viele traditionelle Vorstellungen sehen die Handlungsgewalt auch heute auf Seiten des Arztes, auf dessen Urteil und damit auch guten Willen sich der Patient verlassen muss (vgl. dazu Braun / Marstedt 2011: 47 sowie Marstedt o. J.). 138 Vgl. etwa Lobenstein-Reichmann 2015 oder Schmid 2017. 139 Flick 1991: 25. 140 Vgl. Bromme / Jucks 2014: 238 f. medialen Entwicklungen und Bedürfnissen beeinflusst und schließlich durch dieselben Faktoren mit der Zeit verändert. 136 Diese Rollen sind stets Spiegel ihrer Zeit und damit (innerhalb gewisser Grenzen) durchaus dynamisch. Auch wenn auf der begrifflichen Ebene die lateinische Wortbedeutung insbesondere dem Patienten eine klare Position mit entsprechenden Verhaltensnormen zuweist, 137 zeigt ein Blick in die Medizingeschichte ein differenziertes, wenn nicht gar ge‐ gensätzliches Bild, von dem sich die Medizin erst in den letzten Einhundert Jahren ein Stück weit entfernt hat. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit war der Arzt maßgeblich von der Mitarbeit und Mithilfe des Patienten abhängig. Dessen Wissen, seine Er‐ fahrung und vor allem sein individuelles physisches und psychisches Empfinden waren von essentieller Bedeutung für die Ursachenermittlung. 138 Erst mit der zunehmenden Etablierung insbesondere der [Schul-]Medizin, aber auch anderer therapeutischer Expertenkulturen sind solche Wissensbestände zunehmend zurück‐ gedrängt worden - zumindest was die Bedeutung betrifft, die ihnen beigemessen wurde. 139 Stattdessen orientiert sich die medizinische Moderne aufgrund der rasanten Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft und Praxis vorwiegend an mess‐ baren biomedizinischen Fakten, die erst über ein angeeignetes Fachwissen (er‐ folgreich nur durch den Experten) erschlossen, gedeutet und in medizinisches Handeln überführt werden können. Zwar sind auf diese Weise standardisierbare und reproduzierbare Behandlungsmethoden möglich (gerade in Zeiten der zu‐ nehmenden Bedeutung von evidenzbasierten Leitlinien im 21. Jahrhundert). Zu‐ gleich aber scheint diese Expertise - im Sinne eines umfangreichen, spezifischen Wissens, das strukturiert und situationsbedingt abrufbar ist 140 - gerade im me‐ dizinischen Umfeld zur Differenzierungsmaxime zwischen Arzt und Patient geworden zu sein: Während der eine über Expertenwissen verfügt und damit die notwendigen Fähigkeiten zur Problemlösung besitzt und zugleich die Ver‐ antwortung und Kontrolle über den medizinischen Prozess zugeschrieben be‐ kommt, sieht sich der andere aufgrund des fehlenden Wissens dem Urteil und 72 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="73"?> 141 Vgl. Bromme / Jucks 2014: 237 f. 142 Vgl. Faltermaier 1991: 76. dem guten Willen des Experten überantwortet, wenn nicht sogar ausgeliefert. Den sozialen Rollen Arzt und Patient werden auf diese Weise diejenigen des (wissenschaftlichen) Experten und Nicht-Experten (oder Laien) zugewiesen. Die sich daraus ergebende Rollenasymmetrie manifestiert sich auch kommuni‐ kativ in einem Zurückdrängen der patientenseitigen Vorstellungen, Ängste und Erwartungen. Sie zeigt sich in einer Dominanz des Arztes, der durch sein kom‐ munikatives Handeln allein für das Gelingen (und im Umkehrschluss auch für das Misslingen) von Kommunikation (mit seinen vielfältigen Implikationen für den gesamten Diagnose- und Behandlungsprozess) verantwortlich ist. Diese soziale Überformung und Determination findet ihren Ausdruck in paternalisti‐ schen Beziehungsmodellen, die für die Arzt-Patient-Interaktion in den vergan‐ genen Jahrzehnten maßgeblich und vielfach noch für die Gegenwart kennzeich‐ nend sind. Besonders in modernen Industriegesellschaften, in denen durch Arbeitstei‐ lung und (Themen-)Spezialisierung Experten für alle Lebensbereiche ausge‐ bildet werden, wird dieser Trend sichtbar. 141 Doch gerade hier zeigt sich das fragile Zusammenspiel von Arzt und Patient, indem das Rollenmodell und die mit ihm verwobenen Konzepte die Beziehung von Beginn an belasten. Obwohl dem Arzt qua seiner Ausbildung und Erfahrung faktisch ein deutlich umfang‐ reicherer medizinischer Wissensfundus zur Verfügung steht, kann und darf auf Seiten des Laien gleichwohl keineswegs von Unwissenheit ausgegangen werden, wie es die relationale Labelisierung auf den ersten Blick nahelegt. 142 Dies gilt insbesondere für die heutige Informationsgesellschaft, in der Laien schnell und umfassend auf Expertenwissen zugreifen können. Die sich dadurch überschneidenden (auch und vor allem sprachlichen) Wissensbestände führen dazu, dass die ehemals scharfen Grenzen zwischen Expertenwissen und Laien‐ wissen zunehmend verwässern. Missverständnisse basieren heute mehr denn je darauf, dass Ärzte und Patienten vermeintlich über dieselben sprachlichen Wis‐ sensbestände verfügen. So kennen Patienten Fachbegriffe und knüpfen daran mentale Konzepte, die nicht immer der Wirklichkeit entsprechen. Zudem führt die Vermischung von Fach- und Alltagssprache dazu, dass subjektive Vorstel‐ lungen von Krankheiten in den Köpfen der Patienten entstehen. Ärzte müssen daher immer häufiger diese subjektiven Theorien ihrer Patienten kommunikativ ergründen, um das wechselseitige Verständnis sichern zu können. Ein wichtiger Schlüssel, mit denen Ärzte die subjektiven Theorien ihrer Pa‐ tienten zugänglich machen können, ist das ICE -Modell, weil es die drei zent‐ 73 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="74"?> 143 Vgl. Bromme / Jucks 2014: 239. 144 Bromme / Jucks 2014: 239. ralen Elemente der Patientenperspektive berücksichtigt und darüber Ärzten Zugang zu den patientenseitigen Vorstellungen verschafft. Ohne diesen Zugang ist eine Beteiligung der Patienten an der Behandlung schon deswegen nicht möglich, weil ihre Wissensbestände, aus denen sich Vorstellungen, Ängste und Erwartungen ergeben, im Verborgenen bleiben. Das ICE -Modell dient also dazu, a) Überschneidungen in den Wissensbe‐ ständen zu erkennen und b) die individuelle Rollenvorstellung und die damit verbundenen Erwartungen des Patienten zu evaluieren. Auf diese Weise kann es gelingen, die sich ohnehin verwässernden Rollen Ex‐ perte und Laie einander näher zu bringen. Was Experten von Nicht-Experten per Definition in erster Linie unter‐ scheidet, ist nicht allein der fehlende Zugang zu Wissen, sondern in erster Linie der fehlende Anspruch des Letzteren auf eine umfassende und nutzbarma‐ chende Aneignung dieses Fach- oder Spezialwissens. Der Laie kann und will nicht über exakt jenes Wissen des Experten verfügen, sondern nimmt statt‐ dessen zum Zweck der konkreten Problemlösung dessen Expertise in Anspruch. Dabei entsteht direkt zu Beginn der Interaktion ein Ungleichgewicht in vielfäl‐ tiger Hinsicht: Zunächst schafft der Laie eine Asymmetrie in Bezug auf das Be‐ ziehungsgefüge, indem er sich als (vermeintlich) unwissend und damit als der‐ jenige zu erkennen gibt, der auf die Expertise des anderen angewiesen und von dieser abhängig ist. Damit gewährt er dem Experten einen Vertrauensvorschuss, da das geteilte Wissen häufig nicht unmittelbar überprüft werden kann und der Laie sich deshalb auf die wohlwollenden Absichten des Experten verlassen muss. 143 Gleichzeitig werden jedoch auch verschiedene Erwartungshaltungen aufgebaut und an den Experten herangetragen. In erster Linie verlangt der Pa‐ tient nach der Lösung seines Problems und strebt mit der Hilfe des Experten nach Entscheidungen, „die dieser ohne die Auswahl und Wertung des Experten nicht wissensbasiert und damit rational treffen kann“ 144 . Für den Experten gilt es, diese Erwartungen zu erkennen, zu berücksichtigen, ggf. aber auch zu kor‐ rigieren. Andernfalls kann es passieren, dass das gewährte Vertrauen als miss‐ braucht betrachtet wird und entsprechend in Misstrauen umschlägt, sodass die Interaktion schließlich scheitert. 74 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="75"?> 145 Vgl. Menz 2015: 79. 146 Vgl. Faltermaier 1998: 70; Marstedt o. J.: 6; Braun / Marstedt 2011: 49; Bittner 2016: 2. Definiert man traditionell sowohl den Arzt als auch den Patienten und deren jeweiliges Rollenverständnis und -verhalten über das dichotome Begriffspaar Experte und Laie, so zeigt sich ab dem ausgehenden 20. Jahrhundert eine Ent‐ wicklung, die auf die Arzt-Patient-Beziehung gegenwärtig massiv einwirkt und die alte Rollenvorstellungen und die mit ihnen verbundenen kommunikativen Praktiken neuerdings auf den Prüfstand stellt. Es ist die Herausbildung des so‐ genannten informierten Patienten. Merkmale dieses Phänomens, das sich bei der eher jüngeren Generation zeigt, sind ein gestiegenes Engagement in Ge‐ sundheitsfragen, ein zunehmendes Informationsbedürfnis und entsprechende Bemühungen. 145 Immer mehr Menschen informieren sich zu Gesundheits‐ themen und -fragen im Internet, unabhängig davon, ob sie Symptome einer Er‐ krankung zeigen, häufig auch aus präventiven Beweggründen. Die Gründe für diese erhöhte Aufmerksamkeit und für das gesteigerte Be‐ wusstsein für die eigenen Möglichkeiten der Gesundheitsvorsorge sind viel‐ fältig, doch scheinen die Zunahme von chronisch-degenerativen Erkrankungen einerseits und der durch das Internet vereinfachte Zugang für Laien zu medi‐ zinischem Fachwissen andererseits plausible Erklärungsansätze zu sein. 146 Der aktuelle Gesundheitsboom ist dabei ein Trend, der das Rollenverständnis des Patienten neu definiert und ebenso verändert wie die Vorstellung von Gesund‐ heit in der Gesellschaft generell. Im Gegensatz zu der (auch unter Ärzten) weit verbreiteten Meinung, Gesundheit sei allein über den Aspekt der Abwesenheit von Krankheit zu definieren, bewerten Laien Gesundheit bisweilen anders. So wird Gesundheit oft im Kontext nicht nur von körperlichem, sondern auch von sozialem und individuellem Wohlbefinden empfunden. Auch die WHO geht davon aus, dass Gesundheit ein Zustand des vollständigen, körperlichen, geis‐ tigen und sozialen Wohlergehens ist und nicht allein durch das Fehlen von Krankheit und Gebrechen bestimmt werden kann. Gesund ist man demnach nicht (allein) dadurch, dass keine somatischen Beschwerden vorhanden sind, sondern in erster Linie dann, wenn neben diese Faktoren auch (schwer mess‐ bare) Parameter des Wohlbefindens treten. Die Abwesenheit von Krankheit ist nicht allein entscheidend für einen Gesundheitsbegriff, der u. a. auch emotive Parameter involviert. Für den Gegenstand der hier vorliegenden Untersuchung zur Arzt-Patient-Kommunikation ist diese Sichtweise auf das Phänomen Ge‐ sundheit zentral: Immer dann, wenn Patienten in ihrem subjektiven Empfinden von Krankheit nicht ernst genommen werden, kann trotz Abwesenheit von Krankheit nicht davon gesprochen werden, dass sie gesund sind. Die (in erster 75 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="76"?> 147 Vgl. hierzu auch Lippke / Renneberg 2006: 7 f.; Birkner/ Vlassenko 2015: 139 f.; Falter‐ maier 1998: 81 f.; Faltermaier 2017: 222. 148 Marstedt o. J.: 4 149 Braun/ Marstedt 2011: 47 f. 150 Vgl. Sator et al. 2008. Linie kommunikative) Berücksichtigung kognitiver, sozialer und emotiver Pa‐ rameter im Gespräch, die über die Elemente ideas, concerns und expectations die Patientenperspektive ausformen. trägt entscheidend zur Gesundheit von Pati‐ enten bei. 147 Die Marke ,Gesundheit’ weckt zusammen mit sich verändernden Umwelt‐ faktoren im besten Fall Neugier oder sie ruft im schlechtesten Fall Ängste hervor, sodass Krankheit als eine Erfahrung empfunden wird, „die zum Verstehen der Hintergründe und Perspektiven drängt, und die man nicht mehr allein ärztlichen Wissen und medizinischer Kompetenz übereignet“ 148 . Der Patient im 21. Jahr‐ hundert will sich nicht mehr in die Rolle des passiven Empfängers von Diag‐ nosen und Rezepten einfügen, sondern als Co-Therapeut verstehen, mitent‐ scheiden, und - im wahrsten Sinne des Wortes - mitreden. 149 Seine kommunikative Rolle im Patient-Arzt-Gespräch verändert sich in eben dem Maß, in dem sich das eigene Rollenempfinden verändert. Jedoch ist zu be‐ obachten, dass diesem veränderten Rollenbild vieler Patienten noch immer das eher paternalistisch geprägte Rollenverständnis vieler Ärzte entgegensteht. Auch die in vielen Bereichen empfundenen Defizite, wie etwa negative Erfah‐ rungen in der Sprechstunde (Zeitdruck oder fehlende Patientenwahrnehmung), die sich besonders auf der Kommunikationsebene bemerkbar machen, können das Informationsbedürfnis der Patienten befördern. Fragen, Ängste und Ein‐ stellungshaltungen bleiben auch heute noch überwiegend unausgesprochen oder unberücksichtigt. 150 Den Ausgleich schafft vielfach die selbstständige Recherche, nicht nur im Internet, sondern auch über soziale Netzwerke. Meinungen und Vorstellungen finden Berücksichtigung und helfen bei der Ausbildung eigener Beurteilungen von Gesundheitszuständen. Die sich über diesen Weg manifestierenden Ge‐ sundheits- und Krankheitsvorstellungen werden mit in die Expertenkonsulta‐ tion getragen. Studien zeigen, dass sie dort aber nicht oder nur selten explizit thematisiert werden. Stattdessen kommen sie oft nur implizit und / oder unbe‐ wusst im Gespräch zur Sprache, was man an sogenannten Relevanzmarkie‐ rungen ablesen kann: „Relevanzmarkierungen sind subtile Hinweise von Pati‐ enten auf für sie besonders wichtige Themen. Sie beinhalten gleichzeitig eine implizite Aufforderung an Ärzte, diese Themen im Gespräch aufzugreifen und 76 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="77"?> 151 Sator / Spranz-Fogasy 2011: 384. 152 Vgl. Sator / Spranz-Fogasy 2011: 384 f. 153 Sator / Spranz-Fogasy 2011: 385. Einschub durch den Verfasser. 154 Vgl. Bittner 2016: 4. 155 Erkennbar ist auch, dass der Arzt im Zuge dieser Entwicklung hin zum Patienten als Kunde und unter dem Druck der zunehmenden Ökonomisierung im Gesundheitswesen sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich in die Rolle eines Dienstleisters gedrängt wird, der, um die Compliance des Patienten bzw. die Patiententreue (Kun‐ weiterzuführen“ 151 . Die Verfahren zur Markierung von besonderer Relevanz sind vielfältig: 152 • selbstinitiative Thematisierungen und Wiederaufnahmen, • Ellipsen und Herausstellungen, • Verwendung bestimmter Partikeln, Adjektive und Adverbien sowie dras‐ tischer Metaphern, • Intonation, Lautstärke, Sprechtempo, Pausen, Lachen, • Hesitationsphänomene wie Verzögerungen, Abbrüche, Versprecher oder Korrekturen, • Mimische und gestische Verfahren und Blickkontakt. Wenn Ärzte auf Relevanzen nicht eingehen oder als relevant markierten Themen nur beiläufig Beachtung schenken, kommt es immer wieder zu Stö‐ rungen des Gesprächsablaufs (z. B. durch häufiges Insistieren der Patienten) oder dazu, dass Patienten sich im Gespräch zurückziehen. In der Folge kann dies „den Informationsaustausch in Hinblick auf Diagnose und Therapie, die thera‐ peutische Beziehung, die Compliance [besser: Adhärenz] der Patienten sowie die Zufriedenheit mit dem Gesprächsablauf auf beiden Seiten beeinträch‐ tigen“ 153 . Zwei Konsequenzen ergeben sich aus den bisherigen Befunden: Unbemerkt oder unberücksichtigt kann die Missachtung der Patientenperspektive dazu führen, dass sich der Patient den Ratschlägen und Therapieplänen der Ärzte aktiv verweigert (Non-Compliance oder Non-Adhärenz). Das passiert meistens dann, wenn das Fachwissen des Arztes sich von dem des Erkrankten so weit unterscheidet, dass kein gemeinsamer Wissens- und Bezugsrahmen (common ground) hergestellt werden kann. Häufig können fehlerhafte Vorstellungen, die nicht korrigiert werden, oder unrealistische Erwartungshaltungen die Ursache dafür sein. 154 Auf der Arztebene zeigt sich ein vergleichbares Bild: Sehen sich Ärzte mit umfangreicheren Wissensbeständen (etwa durch Vorab-Recherchen des Laien) konfrontiert, können insbesondere solche Ärzte, die ein eher tradi‐ tionelles Rollenverständnis haben, ihre Autorität gefährdet sehen - auch dieser Umstand stört und gefährdet die Vertrauensbasis. 155 77 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="78"?> denbindung) abzusichern, auch unrealistische oder nicht zielführende Therapievor‐ stellungen realisieren möchte bzw. muss. Dadurch wird jedoch mit dem Bestreben nach einer Stärkung des mündigen Patienten der Arzt gleichfalls entmündigt. Auch das wirkt sich langfristig negativ auf die Beziehung aus und kann nicht Ziel einer patientenzu‐ gewandten medizinischen Betreuung sein. Vgl. Koefer / Albus 2015: 119 und 129. 156 Vgl. Sator et al. 2008: 158 f. 157 Bechmann 2014: 145. Der Wandel des Patientenbewusstseins wirkt sich folglich nicht nur auf das Rollenverständnis des Patienten, sondern auch auf das des Arztes aus. Tradierte Vorstellungen werden infrage gestellt, was zunächst die Asymmetrie verstärken kann. Aus dem bisher Gesagten lässt sich eines ableiten: Gerade der informierte Pa‐ tient ist angewiesen auf einen Arzt, der seine Vorstellungen, Ängste und Er‐ wartungen ernst nimmt. Mehr noch: Das Wissen darüber, dass viele Patienten an ihrer Gesundheit im Rahmen ihrer Möglichkeiten und im Schulterschluss mit Ärzten und anderen Akteuren mitwirken möchten, sowie der Umstand, dass sie sich zu diesem Zweck beispielsweise im Internet medizinischen Wissen an‐ eignen, erlauben die Forderung nach einer soliden Vertrauensbasis als das na‐ hezu wichtigste Element der Arzt-Patient-Interaktion. Sie ist die Voraussetzung für ein gutes, aber auch stets fragiles Beziehungsgefüge. Gefestigt wird die In‐ stabilität und Fragilität des Verhältnisses im Wesentlichen über ein Gespräch, das in seiner idealen Ausformung zwingend die Patientenseite berücksichtigt - und das sich darüber als das Kernstück der Arzt-Patient-Interaktion erweist. 156 Jegliches ärztliches Handeln findet im Gespräch seinen interaktionalen Flucht‐ punkt. Nachfolgend sollen die gesprächsbestimmenden Rahmenbedingungen der ärztlichen Gesprächsführung dargestellt werden, um in einem nächsten Schritt Gedanken zur ,richtigen’ Kommunikation anstellen zu können. Die Kenntnis der Rahmenbedingungen ist notwendig, damit insbesondere Überlegungen zur Integration der Patientenperspektive in das Interaktionsgefüge auf der Basis fundierten Wissens über die kommunikativen Bedürfnisse auf beiden Seiten (Arzt und Patient) erfolgen können. 2.2.1 Institutionelle Rahmenbedingungen Arzt-Patient-Gespräche sind eingebunden in einen institutionellen Rahmen, der sowohl kommunikativ von Bedeutung ist als auch als „integraler Bestandteil der Arzt-Patient-Kommunikation begriffen und akzeptiert werden muss“ 157 . Die in‐ stitutionellen Rahmenbedingungen der Arzt-Patient-Kommunikation stellen 78 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="79"?> 158 Vgl. dazu Bechmann 2014: 150-155. 159 Bechmann 2014: 151. 160 Menz 2015: 83. den entscheidenden Unterschied zu Alltagsgesprächen dar und sie müssen in Überlegungen zur Gestaltung von Gesprächsmustern mitgedacht und integrativ berücksichtigt werden. Zugleich geht es um die Frage, auf welche Weise sich der Gesprächsrahmen verbessern lässt, indem ärztliches Kommunizieren mit Blick auf die Wünsche und Bedürfnisse der Patienten als Gesprächspartner (und gerade nicht als Gesprächsobjekte) reflektiert wird. In der Integration der Pati‐ entenperspektive liegt der Schlüssel zu erfolgreicher Kommunikation - und damit zu einer tragfähigen Arzt-Patient-Beziehung, die unter ökonomischen Gesichtspunkten zugleich als Kundenbindung von Bedeutung für den wirt‐ schaftlichen Erfolg einer Praxis oder einer Klinik sein wird. Der grundlegende Unterschied zwischen Arzt-Patient-Gesprächen und All‐ tagsgesprächen (mit Freunden oder Bekannten) besteht darin, dass das Gespräch mit dem Arzt aus Sicht des Patienten zum einen ein Dienstleistungsverhältnis begründet (und damit einen Anspruch auf Leistung generiert) und zum anderen an einem Ort stattfindet, der formell ist. Damit wird ein äußerer Rahmen ge‐ schaffen, der unmittelbare Auswirkungen auf den Verlauf des Gesprächs hat. 158 Das institutionalisierte Kommunikationsgefüge, das sich hieraus ergibt, bedingt eigene kommunikative Prinzipien, Abläufe und ein (gelerntes) kommu‐ nikatives Rollenverhalten. Im Gespräch begegnen sich Experten und Laien, deren gemeinsames Ziel der Erhalt oder die Herstellung der Gesundheit des einen ist. Daraus ergibt sich eine Schieflage, die sich (nach Auffassung des Ver‐ fassers) v. a. auf den Ebenen • Wissen, • Können, • Verhalten und • Wollen manifestiert. Mit anderen Worten: „Während der Arzt der medizinischen Heil‐ kunde aus Profession nachgeht […], treibt den Patienten ein gänzlich anderes Bestreben in die Praxis. Der Patient […] hat ein subjektives Bestreben nach Wunscherfüllung im Gespräch, das sich nicht mit dem des Arztes deckt“ 159 . Zahlreiche Analysen von Arzt-Patient-Gesprächen zeigen, dass diese Schieflage „nicht nur den institutionell verallgemeinerbaren Bedingungen von Agent-Kli‐ enten-Verhältnissen geschuldet […] ist, sondern auch durch die Gesprächsfüh‐ rung ko-konstruiert wird“ 160 . Konkret bedeutet das, dass Ärzte ihre eigenen 79 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="80"?> 161 Vgl. Menz 2013, Siegrist 1982, Menz / Plansky 2014. 162 Vgl. Wilm et al. 2004. 163 Vgl. Stunder 2004. 164 Menz 2015: 83. 165 Menz 2015: 83 166 Bechmann 2014: 152. 167 Bechmann 2014: 154. Gesprächsbeiträge i. d. R. länger gestalten als sie es ihren Patienten zubilligen. 161 Unterbrechungsfreie Initialphasen, in denen Patienten ihre Ideen, Ängste und Erwartungen formulieren können, sind in der Forschung als wichtig erkannt, finden in der Realität allerdings kaum statt. Im Gegenteil: In Deutschland wird nach etwa elf bis 24 Sekunden unterbrochen, sodass im internationalen Ver‐ gleich eine sehr kurze initiale Gesprächsdauer konstatiert werden muss. 162 Zu einer signifikanten Verkürzung der Konsultationsdauer führt dies indes nicht. Studien belegen, dass der Eingangsmonolog, der nachweislich bis zu 90 Prozent der relevanten diagnostischen (und persönlichen) Informationen beinhaltet, im Durchschnitt nicht länger als 30 bis 90 Sekunden dauert. 163 Gravierender noch als die unterschiedliche Verteilung der Redezeiten in Arzt-Patient-Gesprächen, die dem Rollenverständnis des Arztes als Experte ge‐ schuldet sein dürfte, ist für Menz (2015) die Beobachtung, „dass Ärzte […] sehr häufig Patienteninitiativen übergehen […] und damit deren Relevanzen eine geringe Priorität einräumen“ 164 . Die Kenntnis des ICE -Modells, das eben diese Relevanzen formuliert, und die kommunikative Einbeziehung dieses Modells in die Gesprächsführung können dabei helfen, die zurecht geforderte Patienten‐ orientierung herzustellen. Bleibt dies aus, können sich daraus „erhebliche […] Komplikationen und Risiken“ 165 ergeben. Die kommunikative Öffnung der Patienten wird durch eine Reihe von insti‐ tutionellen Parametern der Gesprächssituation erschwert. Viele davon „wirken nachgerade gesprächsblockierend, weil sie den institutionellen Cha‐ rakter [der Gesprächssituation, S. B.] deutlich nach außen tragen“ 166 . Konkret handelt es sich dabei um Parameter, die den institutionellen Rahmen bilden und von deren Vorhandensein das Modell der Arzt-Patient-Beziehung entscheidend beeinflusst wird. In der Summe wirken diese Parameter verstärkend auf den institutionellen Rahmen ein, mit der Folge, dass sich eine patientenzentrierte, partnerschaftliche Kommunikationssituation nur schwer herstellen lässt. Im Gegenteil: „Ein starker institutioneller Rahmen korrespondiert häufig mit einem paternalistischen Rollenmodell […] und behindert den Aufbau einer symmetri‐ schen Gesprächssituation“ 167 . In der folgenden Übersicht sind die institution‐ 80 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="81"?> 168 Für eine vollständigere Übersicht s. Bechmann 2014: 154-155. 169 Vgl. Menz et al. 2008. ellen Parameter (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) exemplarisch darge‐ stellt: 168 Institutionelle Parameter Beispiele aus Klinik und Praxis Personale Parameter Kittel, Uniformen, Hierarchien (Chef‐ arzt → Assistenzarzt), Assistenzper‐ sonal, Fachsprache Visuelle Parameter Erscheinungsbild der Praxis, Geräte und Instrumente, Modelle, Materia‐ lien Auditive Parameter Signaltöne med. Geräte, Telefon, Pieper Olfaktorische Parameter Geruch von Desinfektionsmitteln oder Chemikalien Parameter von Zeit und Ort Sprechstundenzeiten, Wartezeiten, Stationen / Abteilungen, versch. Zimmer mit Funktionen (z. B. Labor) Tab. 2: Institutionelle Parameter in der Arzt-Patient-Interaktion (vgl. Bechmann 2014: 172f.) Neben den genannten Parametern gibt es weitere Einflussfaktoren auf das Arzt-Patient-Gespräch, die unmittelbar Auswirkungen auf die Beziehungsge‐ staltung haben. In der traditionellen Bewertung von Gesprächsinhalten spielen medizinisch-fachliche Faktoren eine besondere Rolle, die in der Vergangen‐ heit sowohl für den Arzt als auch für den Patienten leitend waren. In der Lite‐ ratur spielen solche Faktoren, die sich als objektive somatische Kriterien fassen lassen, eine zentrale Rolle in der Modellierung von Beziehungsmodellen. Sie waren in solchen (z. T. noch gelebten) Modellen, die dem Arzt als alleinigem Experten und Entscheidungsträger aufgrund seines Wissens und Könnens eine Schlüsselrolle zuschreiben (paternalistisches Modell), handlungsbestimmend. 169 Auf der Basis von erhobenen Befunden wurden Entscheidungen getroffen, ohne die subjektive Sicht des Patienten einzubeziehen. Eine reine Fixierung auf so‐ matische Befunde ist dabei verwoben mit einer direktiven Gesprächsfüh‐ rung, die das persönliche Erleben des Patienten (das meint im Wesentlichen die Faktoren aus dem ICE -Modell) ausblendet. In der Folge führt eine solche Be‐ 81 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="82"?> 170 Vgl. Kissling 2013: 1056. 171 Vgl. Hoefert 2010: 175. 172 Vgl. Bechmann 2014: 158-159. trachtungsweise zu einer disease-orientierten Arzt-Patient-Kommunikation, die einhergeht mit einer diagnostischen Einengung. Die klassische Anamnese, wie beispielsweise bei Kissling 2013 beschrieben, lässt die subjektive Patientensicht außer Acht und basiert im Wesentlichen auch heute noch auf somatischen Fakten. 170 Kissling fordert daher zwingend die Erweiterung der Anamnese um die Faktoren aus dem ICE -Modell, wie w. u. in Kapitel 3 gezeigt wird. In der modernen ganzheitlichen Sichtweise, die den Patienten und seine Vor‐ stellungen, Ängste, Wünsche und Bedürfnisse berücksichtigt, tritt neben die institutionellen und medizinisch-fachlichen Einflussfaktoren das subjektive Krankheitserleben, verstanden als privates Krankheitsmodell - und zwar so‐ wohl das des Arztes als auch das des Patienten. 171 Die Einbeziehung personaler Einflussfaktoren erfordert personale Kompetenz des Arztes, die sich auf der kommunikativen Ebene als das Zurückstellen von Meinungen, Empfindungen und Wertvorstellungen zeigt. Zugleich spielen diese drei Elemente (Meinungen, Empfindungen und Wertvorstellungen) aus der Patientensicht, also das subjek‐ tive Krankheitserleben mit den Faktoren ideas, concerns und expectations, eine wichtige Rolle, denn sie müssen durch den Arzt zunächst erfragt und dann in den Gesprächs- und Behandlungsprozess integriert werden. 172 Auf welche Weise das gelingen kann, wird in Kapitel 4 anhand des Gesprächsmodells der Cal‐ gary-Cambridge-Guides gezeigt. Die gerade besprochenen Einflussfaktoren wirken gemeinsam und gleicher‐ maßen auf das Arzt-Patient-Gespräch ein, sodass eine der zentralen kommuni‐ kativen Forderungen an ein patientenorientiertes Gespräch in der Balance aller vier Faktoren besteht. Die folgende Darstellung macht diesen Zusammenhang deutlich und integriert die Elemente ideas, concerns und expectations auf der Seite der personalen Einflussfaktoren (Patientenseite): 82 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="83"?> Abb. 2: Einflussfaktoren auf das Arzt-Patient-Gespräch mit ICE-Integration (modifiziert nach Bechmann 2014: 159) 2.2.2 Asymmetrien und Informationsinteressen Die w. o. skizzierten Grundprinzipien der Kommunikation, wie sie beispiels‐ weise in den Grice’schen Konversationsmaximen formuliert sind, basieren auf der Vorstellung, dass die Interaktionspartner grundsätzlich jeweils über die gleichen kommunikativen Zugangsmöglichkeiten verfügen. Diese Auffassung ist mit Blick auf die kommunikative Wirklichkeit simplifizierend, was ihr auf einer vorkommunikativen theoretischen Ebene eine gewisse Gültigkeit ver‐ schafft. Kommunikationsprobleme lassen sich theoretisch als Verstöße gegen gültige universelle Prinzipien in einem gemeinsamen kommunikativen Rahmen erklären, der für alle Beteiligten derselbe ist und neben dem kein weiterer Rahmen existiert. Ein Problem ergibt sich, wenn man der Theorie die Wirklich‐ keit gegenüberstellt. Beobachtbare Ungleichheiten werden in solchen Überle‐ gungen nämlich geflissentlich ignoriert, obwohl sie auch in Alltagsgesprächen und in besonders starkem Maße in der institutionellen Kommunikation wirksam sind. Zwar mögen dieselben Prinzipien für alle Interaktionspartner gelten, je‐ doch unterscheiden sich die Referenzrahmen, beispielsweise von Arzt und Patient, z. T. erheblich. In der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten sind erkennbare Un‐ gleichheiten und Hierarchien wirksam. Wirksamkeit meint hier, dass Ungleich‐ heiten kommunikative Folgen, wie etwa Missverständnisse oder Beziehungss‐ törungen, nach sich ziehen. Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn 83 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="84"?> 173 Watzlawick et al. 1972: 68 ff. Ärzte nicht in der Lage sind, Ungleichheiten a) zu erkennen und b) kommuni‐ kativ auszugleichen, was u. a. durch eine Exploration der subjektiven Theorien der Patienten (und durch die Überführung und Integration dieser Patientenper‐ spektive in die Gesprächsordnung) geleistet werden könnte. Daher sind die pragmatischen Grundannahmen zur Gesprächsführung (Grice etc.) für Arzt-Pa‐ tient-Gespräche zwar gültig, jedoch kaum wirksam, was im Kern zu vielfältigen Problemen führt. Kommunikationsprobleme sind - so die hier vertretende These - in erster Linie Asymmetriefolgen. Daher lohnt es sich, einen kurzen Blick auf diesen Aspekt zu werfen und zu überlegen, auf welche Weise ein Mo‐ dell wie das ICE -Modell hier neue theoretische Leitsätze formulieren (oder be‐ stehende Leitsätze re-formulieren) kann. Zwischen Gesprächspartnern bestehen soziale Verhältnisse, die unter kom‐ munikativ-pragmatischen Gesichtspunkten in Gesprächen Niederschlag finden. Diese Verhältnisse können als symmetrisch oder asymmetrisch beschrieben werden. Paul Watzlawick et al. haben in diesem Zusammenhang den Begriff der symmetrischen und komplementären Interaktion geprägt. 173 Symmetri‐ sche Interaktion ist im Kern so angelegt, dass Interessenkonflikte oder Barrieren nicht vorhanden und Intentionen und sprachliche / weltliche Wissensbestände zumindest angeglichen sind. Symmetrische Kommunikation impliziert Gleichheit in allen relevanten Be‐ zugssystemen (Sprache, Wissen, Rolle, Hierarchie, Kompetenz etc.). Völlige Übereinstimmung in allen kommunikativ bedeutsamen Relevanz- und Bezugs‐ systemen kommt in der Realität jedoch wohl nie vor. Gleichheit als Konzept zeigt sich in der Interaktion allenfalls als normative Dimension, sie lässt sich auch nie vollständig herstellen. Stattdessen sind Menschen in symmetrischen Verhältnissen immer um Ausgleich bemüht. Ausgleich bedeutet jedoch nicht Gleichheit, sondern Abbau von Unterschiedlichkeit - Gleichheit in der Inter‐ aktion ist ebenso eine Utopie, wie Ungleichheit nicht das Gegenteil von Gleich‐ heit ist. In der Denkweise eines tertium non datur kommt Unterschiedlichkeit nicht vor. Richtig ist aber: Das Symmetrieverhältnis zwischen Menschen in der Interaktion ist nicht entweder gleich oder ungleich, sondern gleich oder unter‐ schiedlich. Unterschiede lassen sich erkennen, benennen und in Handlungs‐ möglichkeiten überführen. Die Identifikation von Unterschieden öffnet in der Kommunikation einen Handlungsrahmen, der über die Dichotomie gleich vs. ungleich kaum zu einem Möglichkeitenrahmen wird. Asymmetrische Kommunikation basiert als Kommunikationsform also auf Unterschiedlichkeit und nicht auf Gleichheit. Nach Watzlawick et al. gelten ge‐ 84 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="85"?> 174 Es sollte einschränkend erwähnt werden, dass symmetrische Interaktion immer nur tendenziell symmetrisch ist. Jedoch steht auf beiden Seiten der Abbau partieller Asym‐ metrie im Vordergrund des Gesprächsbemühens. Bei institutionell bedingten Asym‐ metrien - wie in der Arzt-Patient-Interaktion - ist dieses Bestreben nicht integraler Bestandteil des Gesprächshandelns und auch nicht dessen Zweck. 175 Vgl. Henne / Rehbock 2001: 29. 176 Solche Kompetenzen müssen nicht zwingend erlernt und damit auf der Wissensebene mit evidenten Kommunikationsmodellen verwoben sein. Vielmehr handelt es sich oft‐ mals um eine Form der situationsbedingten Gesprächskompetenz, die sich am Ehesten mit dem Begriff Gesprächsroutine im institutionellen Rahmen beschreiben lässt. Je nach Fachrichtung führen Ärzte täglich einige Dutzend Gespräche, während Patienten in aller Regel in der Gesprächsführung in solchen spezifischen Experten-Laien-Konstel‐ lationen nicht geübt sind. Die Quantität der Gesprächsführung sagt jedoch nichts über die Qualität der Handlungsroutinen des Arztes aus. 177 Vgl. für eine Unterscheidung von Macht, Dominanz und Status / Hierarchie z. B. Poro 1999: 54 ff. sellschaftliche oder kulturelle Gründe als Ursachen für asymmetrische Interak‐ tionen. Der Grad der Möglichkeit, Asymmetrien abzubauen, ergibt sich durch institutionelle und gesellschaftliche Konstellationen und Machtverhältnisse. Während symmetrische Beziehungen durch das Streben nach Gleichheit und durch die Verminderung von Unterschieden zwischen den Partnern gekenn‐ zeichnet sind, die Gesprächspartner also um einen Ausgleich von wissensmäßig oder anderweitig bedingten Asymmetrien bemüht sind, folgen asymmetrische Beziehungen von beiden Partnern akzeptierten Gesprächsformen. 174 Solche Ge‐ sprächsformen implizieren per se eine spezifische Asymmetrie der Gesprächs‐ führung. 175 In der Arzt-Patient-Kommunikation kommt es, beispielsweise auf‐ grund des Kompetenzunterschieds zwischen Arzt und Patient (bezogen auf Fachkompetenz) oder wegen organisatorischer Rahmenbedingungen im Kran‐ kenhaus, sehr häufig zu asymmetrischen Kommunikationssituationen. Hinzu kommt, dass Ärzte zumeist auch über bessere kommunikative Kompetenzen verfügen als ihre Patienten, was bestehende Rollen-Asymmetrien häufig noch verstärkt. 176 Asymmetrische Kommunikation führt beim unterlegenen Ge‐ sprächspartner zu Unzufriedenheit und kann insofern Missverständnisse för‐ dern, z. B. wenn der unterlegene Gesprächspartner das Gefühl bekommt, seinen Ideen, Befürchtungen und Bedürfnissen nicht hinreichend Raum geben zu können. Auch wird asymmetrische Kommunikation in der Gesprächsforschung immer in einen engen Zusammenhang mit Macht und Dominanz gesetzt. Ohne hier auf die terminologische Unschärfe beider Begriffe im Spannungsfeld Arzt-Patient-Interaktion im Detail eingehen zu wollen, 177 lässt sich festhalten, dass es sich bei beiden um interaktionsspezifische Kategorien handelt: „Im ak‐ 85 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="86"?> 178 Poro 1999: 55. 179 Poro 1999: 56. 180 Eine Differenzierung von Macht und Dominanz ist deswegen notwendig, weil domi‐ nantes Gesprächshandeln durchaus auch Ausdruck von Machtlosigkeit sein kann. Zu‐ gleich führt Macht nicht zwingend zu einem dominanten Gesprächsverhalten. 181 Foucault 1976: 114 f. 182 Brock / Meer 2004: 203. 183 Brock / Meer 2004: 185. tuellen Gesprächsgeschehen wird machtvolles Handeln nur dann auch als machtvoll empfunden, wenn es als solches von anderen ratifiziert wird“ 178 . Macht ist somit ein Attribut der sozialen Beziehung in fixierten Konstellationen. Dominanz ist gekennzeichnet als „machtvolles Agieren in einer konkreten Si‐ tuation ohne zwingende Korrespondenz mit der überdimensional festgelegten Machtkonstellation“ 179 . Dominanz zeigt sich auf diese Weise situativ und flüchtig in einzelnen Gesprächssequenzen, während Macht übersituationell wirksam ist. 180 Weder Macht noch Dominanz (und auch nicht Hierarchie) bilden Kategorien ab, welche die Heterogenität bzw. Mehrdimensionalität der Ursa‐ chen und Wirkungen der Ungleichheit der Gesprächsbeteiligten hinreichend erfassen oder erklären könnten. Die insgesamt heterogene Gesamtlage mit Blick auf Symmetrie und Asymmetrie in Arzt-Patient-Gesprächen lässt sich an die Überlegungen Foucaults zum Machtbegriff treffend rückbinden: Die Macht ist niemals voll und ganz auf einer Seite. So wenig es einerseits die gibt, die die Macht ,haben’, gibt es andererseits die, die überhaupt keine haben. Die Bezie‐ hung zur Macht ist nicht im Schema Passivität-Aktivität enthalten. […] Die Macht ist niemals monolithisch. Sie wird nie völlig von einem Gesichtspunkt aus kontrolliert. In jedem Augenblick spielt die Macht in kleinen singularen Teilen. 181 Asymmetrie ist daher „macht-, dominanz- und hierarchieneutral zu definieren als kommunikative Ungleichheit in Bezug auf ein spezifisches Kriterium oder Phänomen“ 182 . Aus gesprächsanalytischer Sicht ist die Betrachtung von Symmetrie und Asymmetrie besonders interessant und insbesondere im Kontext der Arzt-Pa‐ tient-Kommunikation wichtig. Jedoch lässt sich hier mit Blick auf Forschungs‐ themen und -methoden ein Mangel konstatieren, da „Fragen nach beobachtbaren Ungleichheiten in Gesprächen in einer Vielzahl von Arbeiten eher ein Randthema darstellen“ 183 . Es ist festzustellen, dass [t]heoretische Leitsätze im Kontext einer systematischen Betrachtung wirksamer Un‐ gleichheiten und Hierarchien in Gesprächen […] weitgehend [fehlen]. Im Gegensatz dazu gehören Vorstellungen prinzipiell gleicher kommunikativer Zugangsmöglich‐ 86 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="87"?> 184 Brock / Meer 2004: 185. 185 Brock / Meer 2004: 185. 186 Brock / Meer 2004: 185. keiten, wie sie sich bei Grice oder Schütz finden, zu verbreiteten Grundannahmen der Pragmatik und Gesprächsanalyse. 184 Problematisch ist hierbei nicht allein die Vernachlässigung dieses Themas, son‐ dern die (möglicherweise ursächliche) implizite Annahme, dass Ungleichheit etwa aufgrund vorkommunikativer Strukturen, wie beispielsweise der institu‐ tionellen Rahmung in der Arzt-Patient-Interaktion, in unauflösbarer Opposition zu Gleichheit stehen müsse. Entweder verfügen beide Gesprächspartner über dieselben kommunikativen Möglichkeiten - oder nicht. Brock und Meer weisen auf dieses Problem und die mit ihm verknüpften methodischen Desiderate hin: Nicht vorgesehen ist aus einer solchen Perspektive ein theoretischer Zugang, der es erlauben würde, Kommunikation als immer schon gesellschaftlich mitstrukturiertes Möglichkeitsfeld zu begreifen, in dem Symmetrien und Asymmetrien gleichzeitig (mit‐ einander und gegeneinander) wirksam werden können. 185 Im Kern geht es also darum, die häufig als unumstößlich geltenden Prinzipien und starren Muster in den Beteiligungsstrukturen zu hinterfragen und Ansätze zu entwickeln, diese Prinzipien aufzubrechen. Das von Brock und Meer be‐ nannte Möglichkeitsfeld impliziert nicht etwa die völlige Auflösung von Asymmetrie, sondern stellt vielmehr auf die „potenzielle Gleichzeitigkeit von Symmetrien und Asymmetrien“ 186 ab. Unter Berücksichtigung der (unterschied‐ lichen) Positionen und der damit verbundenen spezifischen Aufgaben der In‐ teraktionsorganisation kann im Arzt-Patient-Gespräch die Sichtbarmachung der verborgenen Gründe für Ungleichheit (beispielsweise verschiedene Wis‐ sensbestände, unterschiedliche Informationsinteressen, angelernte kommuni‐ kative Rollen oder starre Gesprächsmuster wie in der Anamnese) zu einer An‐ gleichung führen. Durch eine Integration der Patientenperspektive mit den hier besprochenen ICE -Elementen kann es gelingen, kommunikative Ungleichheit ein Stück weit aufzulösen, ohne die grundsätzlichen Prinzipien außer Kraft setzen zu müssen. Das wäre auch kaum möglich, denn der institutionelle Rahmen lässt es nicht zu, Asymmetrien auf allen Ebenen vollständig abzubauen und in symmetrische Interaktion zu überführen. 87 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="88"?> 187 Diese Überlegungen gehen von der Vorstellung aus, dass in der Arzt-Patient-Kommu‐ nikation grundsätzlich eher eine vertikale Asymmetrie anzunehmen ist. Das bedeutet, dass Differenzen in diesem Fall nicht auf unterschiedliche, aber im Grunde gleiche hie‐ rarchieneutrale Aufgaben zurückzuführen sind, sondern dass man vielmehr von einem grundlegend hierarchischen Verhältnis zwischen den Beteiligten im institutionellen Kontext ausgehen muss. Es handelt sich also m. E. nicht um eine funktionale, sondern um eine globale Asymmetrie. Allein durch die unauflösbare Differenz in den Wis‐ sensbeständen, die rechtlichen Implikationen, die ein Handeln des Arztes in bestimmten Fällen auch gegen den Willen des Patienten möglich und nötig machen, sowie die pro‐ fessionelle Verantwortungshoheit des Arztes über die Gesundheit des Patienten zu dessen Wohl in der Behandlung, scheint mir das Verhältnis situations- und kategori‐ enübergreifend, also global (und nicht etwa lokal) asymmetrisch zu sein. Man muss anerkennen, dass es unmöglich ist, in der Arzt-Patient-Kommu‐ nikation für beide Gesprächspartner prinzipiell gleiche kommunikative Mög‐ lichkeiten zu schaffen. Das heißt aber nicht, dass sich die kommunikativen Möglichkeiten der Pati‐ enten, nur weil keine Gleichheit herzustellen ist, nicht verbessern ließen. Wenn Gleichheit als Ideal nicht möglich ist, dann ist doch zumindest Angleichung im gleichzeitigen Wirken von Symmetrie und Asymmetrie anzustreben. 187 Nicht die Überwindung von Ungleichheit (mit all ihren Dimensionen und Implikaturen), sondern die Akzeptanz von Unterschieden ist der Weg zur Lösung des Symmetrieproblems. Angleichung bedeutet dann ganz konkret: Abbau von Unterschieden durch das Sichtbarmachen unterschiedlicher Interessen, Möglichkeiten, Wünsche, Ängste, Ansprüche und Erwartungen. Erst dann, wenn Unterschiede sichtbar geworden sind, können kommunikative Strategien dazu beitragen, asymmetrische Ver‐ hältnisse durch Angleichung (das bedeutet: Kenntnisnahme und Einbeziehung der jeweils sich von der eigenen Perspektive unterscheidenden Perspektive des anderen) in möglichst symmetrisch(er)e Verhältnisse umzuformen. Der erste Schritt dorthin ist das Wissen um und das Verständnis für die Perspektive des anderen. Dabei kann und soll das ICE -Modell helfen. Analysiert man Gesprächssituationen in Bezug auf interaktionale Symmetrie, liegt ein Augenmerk auf dem Ausmaß, in dem die Gesprächspartner in der Kommunikation ihren eigenen Intentionen und Skripten folgen oder auf die des Gesprächspartners eingehen. Dieses Ausmaß wird als Kontingenz bezeichnet. 88 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="89"?> 188 Vgl. Westphale / Köhle 1982. 189 In der Unterscheidung zwischen disease und illness folge ich Boyd 2000. Disease wird dort definiert als „a pathological process, most often physical as in throat infection, or cancer of the bronchus, sometimes undetermined in origin, as in schizophrenia“ (Boyd 2000: 9). Unter illness versteht Boyd „a feeling, an experience of unhealth which is ent‐ irely personal, interior to the person of the patient“ (Boyd 2000: 10). Ich halte diese Unterscheidung mit Blick auf das ICE-Modell für entscheidend. Sie entspricht den Ka‐ tegorien biomedical perspective (= disease) und Patient’s perspective (= illness) bei Kurtz et al. 2003. 190 Vgl. Westphale / Köhle 1982. Wechselseitige oder symmetrische Kontingenz liegt dann vor, wenn beide Ge‐ sprächspartner sowohl eigene Bedürfnisse ausdrücken können als auch auf die‐ jenigen des Gegenübers angemessen eingehen. Aufgrund der Schieflage in den Informationsinteressen (s. u.) sowie den sozial gelernten Rollen ist die Herstel‐ lung von Kontingenz in der Arzt-Patient-Kommunikation für Patienten oftmals so gut wie unmöglich und für Ärzte - insbesondere ohne das Wissen über die patientenseitigen Bedürfnisse und ohne die Kenntnis tauglicher Kommunikati‐ onsmodelle und -techniken - eher schwierig. Westphale und Köhle haben bereits im Jahr 1982 erkannt, dass zwischen den Gesprächspartnern in Arzt-Patient-Gesprächen ein Ungleichgewicht herrscht, das sich sowohl aus den verschiedenen Rollen der Beteiligten (Experte vs. Laie) als auch aus unterschiedlichen Informationsinteressen der Akteure ergibt. 188 Abb. 2 w. o. zeigt, dass sich sowohl das Rollenverhalten als auch die Informati‐ onsinteressen aus den jeweils (differenten) Krankheitsmodellen von Arzt und Patient ergeben. Westphale und Köhle konnten eine deutliche Interessenschief‐ lage anhand von Beobachtungen aus Visitengesprächen ableiten, indem sie die jeweils von den Ärzten und den Patienten eingebrachten Themen betrachtet und aufgrund der Häufigkeit des Vorkommens prozentual zueinander in Bezie‐ hung gesetzt haben. Dabei zeigte sich, dass Ärzte signifikant stärker disease-be‐ zogene Themen einbringen und den illness-bezogenen Themen weniger Ge‐ wicht beimessen. 189 Auf der Seite der Patienten zeigt sich ein anderes Bild: Während das Krankheitserleben nur zu 8,3 Prozent in den ärztlichen Themen‐ settings eine Rolle spielt, stellt dieser Aspekt aus Patientensicht das wichtigste Themenfeld dar (24,8 Prozent). 190 Dies lässt (zumindest für das Jahr 1982) den Schluss zu, dass Ärzte prinzipiell ein hohes Interesse an objektiven und eher disease-bezogenen Informationen haben, was sich auch in sehr engen anam‐ nestischen Fragen mit deutlichem Krankheitsbezug widerspiegelt, während für Patienten oftmals persönliche Informationen im Vordergrund stehen, die zu‐ gleich Ausdruck ihres subjektiven Krankheitserlebens sind (Illness-Bezogen‐ heit). 89 2.2 Gesprächsinteraktive Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="90"?> 191 Die Termini Patient’s perspective und biomedical perspective finden sich bei Kurtz et al. 2003: 807. Dort werden auch die Elemente ideas, concerns und expectations explizit der Patient’s perspective zugeordnet, wogegen die biomedical perspective v. a. die Symptome in den Blick nimmt. In Tabelle 3 sind die prozentualen Mittelwerte der von Ärzten und Patienten eingebrachten Themen (Basis: Visitengespräche) in der Gegenüberstellung ab‐ gebildet. Die Tabelle ist jedoch nicht vollständig. Herausgestellt werden ledig‐ lich Themen, die man entweder der biomedizinischen Perspektive = Disease (Therapie, Diagnose, Befunde) oder der Patientenperspektive = Illness (Krankheitserleben) zuordnen kann. Die Übersicht dient auf diese Weise dazu, zu zeigen, dass die Patientenperspektive (Patient’s perspective), unter die u. a. ideas, concerns und expectations subsummiert werden, aus ärztlicher Sicht we‐ niger häufig thematisiert wird, als dies von den Patienten gewünscht ist. 191 Ärzte hingegen orientieren sich in ihren Themensetzungen im Wesentlichen an der biomedical perspective und thematisieren deutlich seltener (aktiv) die Patient’s perspective. Topos Schwerpunktsetzung durch den Arzt Schwerpunktsetzung durch den Patienten Therapie 21,9 % 15,9 % Diagnose 21,6 % 18,3 % Befunde 14,4 % 7,8 % Krankheitserleben 8,3 % 24,8 % Tab. 3: Themensetting im Arzt-Patient-Gespräch (nach Westphale / Köhle 1982) Aus zahlreichen Studien (s. Kapitel 3.1) lässt sich ableiten, dass eine bewusste Hinwendung des Arztes zu den Informationsbedürfnissen der Patienten die Ge‐ sprächsqualität verbessert und damit zur Zufriedenheit der Patienten beiträgt. Jedoch liegt das Informationsbedürfnis oft im Verborgenen und kann über die Betrachtung der ICE -Elemente durch gezielte Fragestellungen in Erfahrung ge‐ bracht werden. Die Frage nach den Vorstellungen, Ängsten und Erwartungen der Patienten rückt deren Informationsinteresse ins Zentrum der ganzheitlichen Beschwerdeerfassung. Dabei geht es nicht darum, objektive somatische Infor‐ mationen in den Hintergrund zu drängen, sondern das Gleichgewicht herzu‐ stellen zwischen fachlichen und persönlichen Informationen. Letztlich hilft die Kenntnis von ideas, concerns und expectations dabei, die disease-bezogenen In‐ 90 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="91"?> 192 Vgl. Bechmann 2014: 136-140. Zu den Modellen der Arzt-Patient-Interaktion vgl. auch Emanuel / Emanuel 1992: 2221-2226. formationen, auf die Ärzte auch in Zukunft nicht verzichten können, in einen Gesamtzusammenhang zu stellen, der Arzt und Patient gleichermaßen hand‐ lungskompetent werden lässt. Aus den gerade skizzierten Überlegungen ergibt sich die Forderung nach der wechselseitigen Berücksichtigung medizinischer und zugleich psycho‐ logischer Bedürfnisse, die sich am ehesten in einem Modell der partner‐ schaftlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient wiederfindet. 192 Das Modell des shared decision making in der Arzt-Patient-Beziehung stellt aus heutiger Sicht aufgrund der starken Einbeziehung der Patientenperspektive und der Pa‐ tienteninteressen ein geeignetes Modell auch für die Zukunft dar. Dass es sich lohnt, die Gesprächsführung ebenso professionell zu gestalten wie andere ärztliche Tätigkeiten, sie stets zu überprüfen und jederzeit bereit zu sein, Korrekturen vorzunehmen, wenn Gespräche entgleiten, zeigen zahlreiche Untersuchungen zur therapeutischen Wirksamkeit von Kommunikation in der Arzt-Patient-Interaktion, die in Kapitel 3 zusammenfassend betrachtet werden. Aufgrund der nachgewiesenen Effektivität von illness-orientierter Kommuni‐ kation (im Gegensatz zur disease-orientierten Kommunikation, die allein die bi‐ omedizinischen objektiven Daten im Blick hat) spielt das Thema Kommunika‐ tion auch in der akademischen Lehre eine wichtige Rolle. Im Folgenden soll daher kurz skizziert werden, auf welche Weise und wie tief die Integration kommunikativer Kompetenzen in die deutschen Curricula bereits stattge‐ funden hat. 2.3 Ärztliche Gesprächsführung in der universitären Lehre Sowohl die akademische Lehre als auch die Fort- und Weiterbildung sind in der Medizin getragen von der Vorstellung, dass wissenschaftliche Objektivität lei‐ tend sein muss. Der Gedanke, dass neben somatisch-, fakten- und leistungsori‐ entierten Kompetenzen auch kommunikative Kompetenzen Teil der ärztlichen Kompetenz sind, ist vergleichsweise neu, auch wenn ein Mangel an Gesprächs‐ kompetenz seit einigen Jahrzehnten erkannt und - vor allem öffentlich - dis‐ kutiert wird. Lange erwarben Ärzte kommunikative Kompetenz intuitiv ohne ausdrückliche Instruktion und quasi nebenbei. Erst in neuerer Zeit gewinnt die Schulung kommunikativer Techniken an den Hochschulen an Bedeutung, so‐ dass mittlerweile bundesweit Kommunikations-Curricula vorliegen und in den 91 2.3 Ärztliche Gesprächsführung in der universitären Lehre <?page no="92"?> 193 Vgl. Andres / Gaide 2001. 194 Vgl. Kurtz et al. 1998, Neumann et al. 2009, Langewitz 2012, Karger 2013, Frischen‐ schlager / Hladschik-Kermer 2013. 195 So titelt die Ärzte-Zeitung am 30. 05. 2001: Studium: Patientengespräche immer unwich‐ tiger (Anm.d. Verf.). 196 Vgl. Neumann et al. 2011. Verantwortlichkeiten der Universitäten umgesetzt werden. Damit tragen die Hochschulen dem Umstand Rechnung, dass nicht nur Systemkritiker, sondern auch Studierende selbst, in den vergangenen Jahren einen Mangel an kommu‐ nikativer Kompetenzvermittlung im Studium beklagt hatten. 193 Lange Zeit war man der Überzeugung, dass die wesentlichen kommunika‐ tiven Kompetenzen Empathie und wertschätzende Gesprächsführung nicht lernbar - und damit auch nicht transparent lehr- und prüfbar - seien. Mittler‐ weile jedoch zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass kommunikative und psy‐ chosoziale Kompetenzen sowohl lernals auch lehrbar sind. 194 Insbesondere die Erkenntnis, dass die Schulung und Erprobung kommunikativer Fähigkeiten longitudinal in das gesamte Studium integriert werden muss, wird durch Stu‐ dien belegt. Es hat sich gezeigt, dass durch die (von Semester zu Semester zu‐ nehmende) Fokussierung auf somatisches Faktenwissen im Medizinstudium dazu führt, dass Studierende in den höheren Fachsemestern signifikant weniger Interesse an der psychosozialen Situation von Patienten zeigen als beispiels‐ weise Erstsemester. Mit zunehmender Studiendauer sinkt dieses Interesse, was in der Folge den Verlust an kommunikativer und psychosozialer Kompetenz mit sich bringt. 195 Zahlreiche empirische Studien zeigen, dass grundlegende kom‐ munikative und soziale Kompetenzen im Laufe des Medizinstudiums für die Studierenden an Bedeutung verlieren. 196 Grund dafür ist die somatische Frag‐ mentierung der Patienten aufgrund der im Studienverlauf zunehmenden Bezo‐ genheit auf biomedizinische Daten und Fakten in der Lehre sowie in der prak‐ tischen Ausbildung. Die durchgängige Integration kommunikativer Kompetenzen in jede Phase des Studiums kann dieser Entwicklung entgegenwirken und in der Folge zu einer deutlichen Verbesserung der Patientenversorgung durch den Wir‐ kungsfaktor Kommunikation beitragen. Damit Studierende neben medizin‐ ischem Wissen und Können auch kommunikative Kompetenz erwerben und - heilsam - einsetzen können, wird das Themenfeld Kommunikation mittlerweile sowohl in der Theorie als auch in der Praxis fest in die universitären Studien‐ konzepte integriert. Seit 2012 sieht die Approbationsordnung für Mediziner ( ÄA ppO) eine Prüfung im Fach Ärztliche Gesprächsführung verbindlich vor. Zudem liegt mit dem Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog 92 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="93"?> 197 Nach Bechmann 2014: 13-14. 198 Vgl. Bechmann / Karger 2018. ( NKLM ) seit 2015 ein konsentierter Qualifikationsrahmen für das Medizinstu‐ dium in Deutschland vor, der evidenzbasiert kommunikative Kompetenzen einfordert. Kompetenzen werden darin von theoretischem Wissen ohne Praxis- und Realitätsbezüge abgegrenzt. Eine kontinuierliche und (nach Möglichkeit) interdisziplinäre Vermittlung kommunikativer Kompetenzen erfordert ein strukturiertes Vorgehen, das auf der Verkettung der folgenden Einsichten basiert: 197 1. Kommunikation ist ein Prozess der menschlichen Interaktion. 2. Der klinische Zugang zu Patienten wird v. a. kommunikativ vermittelt. 3. In der Medizin wird Kommunikation zielgerichtet eingesetzt. 4. Zielgerichtete Kommunikation ist nicht intuitiv. 5. Zielgerichtete Kommunikation, die nicht intuitiv ist, ist professionelle Kommunikation. 6. Professionelle Kommunikation erfordert kommunikative Kompetenz. 7. Kommunikative Kompetenz setzt sich zusammen aus Wissen, Können und Wollen. Die Vermittlung kommunikativer Kompetenzen gelingt also nicht vorausset‐ zungsfrei: Wenn man Kompetenz im Sinne ganzheitlichen Lernens als die In‐ tegration von Haltungen, Wissen und Fähigkeiten begreift, muss man sich die Frage stellen, was davon trainierbar ist. Kommunikative Fähigkeiten i. S.v. funktionaler Sprachgebrauchskompetenz lassen sich leicht in den Kontext medizinischen Handelns einbinden und damit professionalisieren. Für Hal‐ tungen gilt das nicht, weshalb subjektive Kriterien weder in der Ausbildung noch in der Prüfung eine Rolle spielen dürfen. Eine Fokussierung auf grundle‐ gende Techniken, möglichst in Form von Algorithmen oder Modellen, er‐ möglicht es, Lehrkonzepte zu entwickeln und Prüfungsmodelle transparent zu machen. 198 Das in Kapitel 4 dieser Arbeit auf der Folie der noch folgenden Evi‐ denzen skizzierte Kommunikationsmodell involviert in besonderem Maße über die Elemente ideas, concerns und expectations die Patientenperspektive, ver‐ knüpft Gesprächsinhalte mit Gesprächstechniken und eignet sich m. E. beson‐ ders, in die bestehenden Schulungskonzepte integriert zu werden, weil es sich dabei um die Modellierung von phasenspezifischen Kommunikationsstrategien und Gesprächsroutinen handelt, die Forschungswissen in interaktive Hand‐ lungsempfehlungen transformiert. 93 2.3 Ärztliche Gesprächsführung in der universitären Lehre <?page no="94"?> 199 Bechmann / Karger 2018: 132. 200 Bechmann / Karger 2018: 132 (Hervorhebung durch den Verfasser). 201 Vgl. Bechmann / Karger 2018. An den Bedürfnissen der Studierenden ausgerichtete Lehr- und Lernme‐ thoden können die Sensibilität der Studierenden für kommunikative Dimensi‐ onen des Arztberufs schärfen. Dazu ist es erforderlich, die Schulungsmethoden an der realen Welt des Arztseins auszurichten und Kommunikation erlebbar zu machen: „Das kongruente Erleben der (quasi-)realen Situation ist die Voraus‐ setzung, das eigene Handeln ernsthaft auf den Prüfstand stellen zu können und zu wollen“ 199 . Daher haben sich in der Lehre an vielen Hochschulstandorten der moderierte Einsatz von speziell geschulten Schauspielern (Simulationspati‐ enten) und Video-Feedback-Methoden etabliert. Es hat sich dabei gezeigt, dass solche Formen der Intervention deutlich bewusster reflektiert werden, weil zum einen Praxisbezüge durch die Art der Fallsimulation hergestellt und zum an‐ deren Möglichkeiten der nachträglichen Auswertung (Sicherung durch Auf‐ zeichnungen) gegeben sind. Diese Form des Erlebens im Ausprobieren stärkt nachhaltig die kommunikative Kompetenz: Solche Formen des bewussten Erlebens von Kommunikation in ihren vielfäl‐ tigen Ausprägungen tragen nachhaltig zu einer Kompetenzverbesserung bei. Hierbei kommt es zu einem positiven Zusammenspiel sprachlicher und visueller Kommunikation mit realitätsnahen interaktionalen Abfolge- und Beteiligungsstruk‐ turen, was in der Folge zu einer Abkehr von der arztzentrierten Forschungsein‐ stellung hin zu einer patientenorientierten Betrachtung führen kann. 200 Kommunikative Kompetenzen werden auf diese Weise longitudinal verwoben mit klinischen Kompetenzen, wobei sich im Idealfall eine Kompetenzerweite‐ rung um immer neue Aspekte ergeben sollte (Lernspirale). 201 Die Stärkung der kommunikativen Kompetenz (im Studium und in der be‐ ruflichen Weiterbildung), insbesondere durch Hinwendung zu einer patienten‐ zentrierten Kommunikation (in deren Kern das ICE -Modell verortet ist), wird auch unter gesundheits- und berufspolitischen Gesichtspunkten nicht nur be‐ grüßt, sondern explizit gefordert. Die nachfolgenden Ausführungen zeigen den aktuellen gesundheits- und berufspolitischen Diskurs auf und bekräftigen da‐ rüber den hohen Stellenwert von patientenorientierter Kommunikation für die Versorgungsqualität in Deutschland. 94 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="95"?> 202 Veröffentlicht in der Festschrift „Kommunikation“ der Ärztekammer Nordrhein 2015 (künftig zitiert als Ärztekammer Nordrhein 2015a): 19-25. 203 Henke / Heister 2017: 25 (Hervorhebung durch den Verfasser). 2.4 Berufs- und gesundheitspolitische Bewertung von Arzt-Patient-Kommunikation 2.4.1 Stellenwert der Arzt-Patient-Kommunikation aus berufspolitischer Sicht „Kommunikation ist zentraler Bestandteil jeder ärztlichen Tätigkeit in der Pa‐ tientenversorgung“ - dies ist die Festlegung der Delegierten des 117. Deutschen Ärztetages in Düsseldorf, wie sie in den Düsseldorfer Forderungen zur Stärkung der Arzt-Patienten-Kommunikation festgeschrieben wurde. 202 Mit der Stärkung der kommunikativen Kompetenzen und der Forderung nach besserer Aus- und Fortbildung in diesem Bereich gewinnt das Themenfeld Arzt-Patient-Kommu‐ nikation sowohl im aktuellen Diskurs in der Öffentlichkeit an Bedeutung als auch in der berufspolitischen Debatte. Die w. o. skizzierten Vorteile einer pati‐ entenzentrierten Gesprächsführung stellen die kommunikative Kompetenz des Arztes gleichberechtigt neben medizinisches Wissen und Können. Dass gegen‐ wärtig berufspolitisch den kommunikativen - und damit interaktionalen - Di‐ mensionen des ärztlichen Handelns mehr und mehr an Gewicht beigemessen wird, liegt an einem zunehmenden Wandel des ärztlichen Rollenbildes vom (traditionellen) Heiler hin zum ganzheitlichen Berater. In dem Maße, in dem sich das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten verändert (hin zu einer gleich‐ berechtigten Partnerschaft), geraten die in der Vergangenheit gerne als soft skills betrachteten ärztlichen Kompetenzen ins Blickfeld. Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein ( AEKNO ), und Heiner Heister, Vorsitzender des Ad-hoc-Ausschusses Arzt-Patienten-Kommunikation der AEKNO , bringen die berufspolitische Dimension ärztlichen Gesprächshandelns auf den Punkt: Es dürfte […] unbestritten sein, dass die Frage nach dem ärztlichen Berufsbild un‐ trennbar verbunden ist mit der Frage nach dem Verhältnis von Patienten zu ihren Ärzten. Damit wird die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten zu einem wesentlichen Schlüssel, nicht nur für die einzelne Behandlungssitua‐ tion, sondern auch für die weitere Entwicklung des ärztlichen Berufes insge‐ samt. 203 95 2.4 Berufs- und gesundheitspolitische Bewertung von Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="96"?> 204 Vgl. Stewart 1995. 205 Vgl. Braun / Marstedt 2014. 206 Vgl. Little et al. 2001. 207 Henke / Heister 2017: 26. 208 Vgl. Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen 2012. Berufspolitiker und Vertreter der ärztlichen Interessensvertretungen sehen in der Arzt-Patient-Kommunikation gegenwärtig einen Faktor, der für das Ge‐ lingen von Behandlungen bisweilen genauso bedeutsam ist, wie das bislang im Vordergrund stehende ärztliche Wissen und Können, das sich in der akademi‐ schen Lehre bisweilen in der Vermittlung von therapeutischen oder operativen Techniken erschöpft hat. Insbesondere zur nachhaltigen Sicherung des Erfolges ärztlicher Behand‐ lungen trägt gelingende Kommunikation entscheidend bei. Zahlreiche aktuelle Untersuchungen zeigen, dass die Beziehung zwischen Arzt und Patient für die Reduzierung von Unsicherheitsgefühlen und Ängsten der Patienten entschei‐ dend verantwortlich ist. Eine effektive Arzt-Patient-Kommunikation kann so‐ wohl Outcomekriterien wie emotionales Befinden und krankheitsbezogene Be‐ schwerden positiv beeinflussen. 204 Die gemeinsame Entscheidungsfindung, die auf guter Gesprächskompetenz und dem wechselseitigen Austausch von Infor‐ mationen durch den Arzt basiert (und damit auf der Bereitschaft der Ärzte zu umfassender Informationsvermittlung), entspricht gegenwärtig auch den Wün‐ schen der Mehrheit der Patienten. 205 Gerade in der hausärztlichen Praxis möchte nur etwa jeder vierte Patient mit einem Rezept in der Hand die Praxis ver‐ lassen. 206 Nicht zuletzt deswegen gilt aus berufspolitischer Sicht: Die Stärkung der Kommunikation zwischen Patienten und Ärzten ist ein wesentlicher, vielleicht sogar der entscheidende Beitrag dazu, das ärztliche Berufsbild auch für die Zukunft so zu gestalten, wie es seit jeher dem Selbstverständnis dieses Berufes ent‐ spricht: als empathisches und professionelles Gegenüber für erkrankte Menschen. 207 Hier stellt sich die Frage, wie es aktuell um die Gesprächskompetenz der Ärzte bestellt ist und welche Bedarfe sich für die Zukunft ableiten lassen. Dem zuvor skizzierten Rollenbild, das Ärzte zu professionellen Kommunikatoren erklärt, werden einer Untersuchung aus dem Jahr 2012 zufolge die meisten Ärzte ge‐ recht. Der NRW -Gesundheitssurvey 2012 hat gezeigt, dass zwischen 80 und 90 Prozent der Befragten mit den kommunikativen Fähigkeiten ihrer Ärzte zu‐ frieden sind. 208 Es liegen jedoch auch Zahlen vor, die ein etwas anderes Bild zeichnen. In einer Studie aus dem Jahr 2001 konnte Dierks zeigen, dass sich 93 Prozent der Patienten zwar von ihren Ärzten umfassende und nachvollzieh‐ bare Informationen wünschen, was den Stellenwert der Kommunikation betont 96 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="97"?> 209 Vgl. Dierks 2001. 210 Henke / Heister 2017: 27-28. 211 Vgl. Tamblyn et al. 2007. 212 Vgl. Bechmann / Karger 2018. (und indirekt kommunikative Kompetenz auf ärztlicher Seite fordert). Jedoch ergab diese Befragung, dass gerade einmal 30 Prozent der Ärzte diesem Wunsch befriedigend nachkommen. 209 Welche der Erhebungen auch zutrifft, beide offenbaren (mehr oder weniger ausgeprägte) Defizite im ärztlichen Gesprächsverhalten, die auch gegenwärtig im Jahr 2018 zumindest Gegenstand öffentlicher medialer Diskurse sind. Diese Defizite werden immer dann offenkundig, wenn Beschwerden über Ärzte bei den Ärztekammern eingehen: „Hinter Beschwerden über Ärzte, sei es im be‐ rufsrechtlichen Sinne oder wegen eines Behandlungsfehlers, steht als Anlass oder Ursache häufig eine misslungene Kommunikation“ 210 . Diese Einschätzung basiert nicht allein auf den Erfahrungen der Ärztekammern. Auch Tamblyn et al. konnten 2007 diesen Zusammenhang zwischen Beschwerdeverhalten und Beschwerdegründen nachweisen und zeigen, wie Kommunikationsprobleme zu Behandlungsfehlern führen. 211 Kommunikationsschwierigkeiten haben im medizinischen Bereich bisweilen Folgen, die sich auf die Gesundheit der Patienten auswirken können. Es ergibt sich m. E. eine Kausalitätenkette, die ärztliches Gesprächshandeln in einen konkreten Behandlungszusammenhang stellt - mit allen damit verbundenen Konsequenzen, wenn das Gespräch scheitert: 1. Ärztliches Kommunikationshandeln ist immer auch medizinisches Han‐ deln. 2. Medizinisches Handeln ist Behandeln. 3. Ärztliche Handlungsfehler sind Behandlungsfehler. 4. Ärztliche Sprachhandlungsbzw. Kommunikationshandlungsfehler sind so verstanden ebenfalls Behandlungsfehler. 212 Dass insbesondere 3. und 4. von besonderer Bedeutung sind und zudem als Rechtfertigung für jegliche Bemühungen um eine Professionalisierung im Bereich Kommunikation dienen dürfen (wenn nicht sogar müssen), zeigen u. a. die Forschungsergebnisse aus der Psychoonkologie von Herschbach und Heußner aus dem Jahr 2008: Ineffektive Arzt-Patient-Kommunikation führt ihren Ausführungen nach zu: 97 2.4 Berufs- und gesundheitspolitische Bewertung von Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="98"?> 213 Vgl. Graham et al. 2002. 214 Henke / Heister 2017: 28. • Unrealistischen Behandlungserwartungen, • psychischer Komorbidität, • psychosozialer Belastung, • Behandlungsunzufriedenheit, • geringerer Lebensqualität und zu einer • ungünstigeren Krankheitsbewältigung. Zudem können Mängel in der Kommunikation zu einer emotionalen Belastung mit langfristig negativen Folgen (Burnout) aufseiten der Ärzte führen. 213 Henke und Heister formulieren daher: Deswegen lohnt es sich, […] künftig sehr viel mehr in eine Stärkung der Pa‐ tient-Arzt-Kommunikation zu investieren. Dies gilt allerdings nicht nur deswegen, weil jede einzelne misslungene Kommunikation Schaden anrichten kann. Es gilt umso mehr, als eine Reihe von Rahmenbedingungen die Patient-Arzt-Kommunikation heute und in Zukunft in besonderer Weise herausfordert. 214 2.4.2 Gesundheitspolitische Rahmenbedingungen Auch wenn der hohe Stellenwert der Kommunikation in der ärztlichen Praxis von allen Seiten (Gesellschaft, Politik, Berufsverbände etc.) hervorgehoben wird, stehen Ärzte in der Realität vor Problemen, die sich aufgrund der gesundheits‐ politischen Rahmenbedingungen ergeben. Unter dem Sichtwort der Ökonomi‐ sierung der Medizin werden gegenwärtig zahlreiche Hürden diskutiert, von denen hier nur einige kurz skizziert werden sollen (mit dem Ziel, das Themenfeld Arzt-Patient-Kommunikation möglichst umfassend und auch unter ökonomi‐ schen Gesichtspunkten abzustecken). Ökonomisierung (als negativ konnotierter Begriff) wird gesundheitspoli‐ tisch vom Begriff der (erwünschten) Wirtschaftlichkeit abgegrenzt. Während die Ärztekammern auf Landesebene sowie die Bundesärztekammer als Spitzen‐ organisation der ärztlichen Selbstverwaltung auf Bundesebene Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit begrüßen, wird Ökonomisierung tenden‐ ziell als Einschränkung des ärztlichen Entscheidungsspielraums verstanden und kritisch bewertet. Die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer hat im Jahr 2013 auf den prinzipiellen Unterschied zwischen Wirtschaftlichkeit und Ökonomisie‐ rung und auf die jeweiligen Folgen für den ärztlichen Berufsstand sowie für die 98 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="99"?> 215 Bundesärztekammer 2013 (Hervorhebung durch den Verfasser). 216 Bundesärztekammer 2013 (Hervorhebung durch den Verfasser). Versorgungsqualität der Patienten hingewiesen. Dabei definiert sie Wirtschaft‐ lichkeit als eine möglichst effiziente Allokation von Gütern und Dienstleistungen sowie die Aus‐ richtung auf einen sowohl sparsamen wie auch wirksamen Einsatz vorhandener Mittel. Dazu gehören zum Beispiel die Straffung von organisatorischen Abläufen, der Abbau von Überkapazitäten sowie die Vermeidung von Verschwendung. Das dazu erforderliche ökonomische Wissen hilft dem Akteur, diese Ziele zu erreichen. Ange‐ sichts der Begrenztheit der Ressourcen stellt eine so verstandene Wirtschaftlich‐ keit auch für das ärztliche Handeln einen wichtigen Orientierungspunkt dar, der als solcher zur moralischen Identität des Arztberufes keineswegs im Wider‐ spruch steht. 215 Im Gegensatz zu dieser (prinzipiell gewünschten) Wirtschaftlichkeit in der me‐ dizinischen Versorgung steht aus Sicht der Zentralen Ethikkommission die (in Kritik stehende) Ökonomisierung der Medizin, die dann vorliegt, wenn betriebswirtschaftliche Parameter jenseits ihrer Dienstfunktion für die Ver‐ wirklichung originär medizinischer Aufgaben eine zunehmende Definitionsmacht über individuelle und institutionelle Handlungsziele gewinnen. Die ökonomi‐ sche Überformung medizinischer Vollzüge hat viele Gesichter: Sie tritt in der schritt‐ weisen Einschränkung des ärztlichen Entscheidungsspielraumes durch vor‐ gegebene betriebswirtschaftliche Kennziffern ebenso in Erscheinung wie in der damit einhergehenden Verdrängung fachlicher Entscheidungsgründe durch wirt‐ schaftliche Rentabilitätsgesichtspunkte. 216 Henke und Heister bewerten 2017 die so verstandene Ökonomisierung in zwei‐ facher Hinsicht als negativ für das Verhältnis zwischen Arzt und Patient: Öko‐ nomisierung gefährde einerseits durch - auf das gegenwärtige Vergütungs‐ system zurückzuführende - Personalknappheit und Zeitdruck die Möglichkeit der Zuwendung und den Raum für offene Begegnungen. Durch die Konzentra‐ tion auf nachprüfbare Prozesse, wie sie im DRG -System über das Vergütungs‐ system gefordert sind, fehlten die Kapazitäten für die Patientenbegegnung jen‐ seits der im Vergütungssystem angelegten Prozeduren: 99 2.4 Berufs- und gesundheitspolitische Bewertung von Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="100"?> 217 Henke / Heister 2017: 29. 218 Vgl. Henke / Heister 2017: 29-30. 219 Vgl. Maio 2012. Nimmt der Druck zu, mehr Leistungen in kürzerer Zeit zu erbringen, wird sich die Konzentration auf die Erfüllung der im Vergütungssystem vorgegebenen Parameter richten - zum Nachteil der ,nicht-funktionalen‘, nicht-messbaren Leistungsbestand‐ teile. Dies trifft vor allem die Zuwendung zum Patienten, z. B. die Zeit dafür, sich am Rande des Stationsalltags für kurze Zeit an ein Krankenbett zu setzen und offen für die Fragen und Erwartungen des Patienten zu sein. Wie wichtig solche - wenn auch kurzen - Momente der Begegnung für die Qualität der Behandlung sein können, wissen Ärzte und Patienten aus zahlreichen Erfahrungen. 217 Auf der anderen Seite erkennen Henke und Heister eine Gefährdung für das Arzt-Patient-Verhältnis, das sie als ,von innen heraus‘ beschreiben: Unter den Bedingungen der Ökonomisierung geraten demzufolge auch wesentliche ärzt‐ liche Grundhaltungen unter Druck - mit gravierenden Folgen, wenn die Ökonomisierung Auswirkungen nicht allein auf der monetären, sondern auch auf der affektiven Ebene zeigen wird. 218 Dies könnte im schlimmsten Fall bei Ärzten eine Rückwendung zu einem paternalistischen Rollen- und Kommuni‐ kationsmodell bedeuten, das gewissermaßen in die Grenzen des Vergütungs‐ systems, das über Budgets ärztliches Handeln auf der Basis von Diagnose- oder Krankheitsgruppen determiniert, passt. Es wird befürchtet, dass für eine zuge‐ wandte Haltung, zu der im Wesentlichen auch die Kommunikation gehört, auf‐ grund ökonomischer Restriktionen künftig noch weniger Zeit und Raum bleiben könnte. Auf die Gefahr durch Ökonomisierungstendenzen weist auch Maio im Jahr 2012 hin. Er sieht vor allem die folgenden ärztlichen Grundhaltungen in Gefahr, sollte sich ärztliche Hilfe zum Geschäftsmodell entwickeln: • Wertschätzung für den Patienten, • Grundhaltung des authentischen Helfen wollens und die • Grundhaltung der Sorgebeziehung zum Kranken. 219 Inwieweit die aktuellen ökonomischen Rahmenbedingungen in negativer Hin‐ sicht die Arzt-Patient-Kommunikation beeinflussen, zeigt die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates aus dem Jahr 2016: Der Deutsche Ethikrat weist in dieser Stellungnahme mit Nachdruck hin auf die zunehmend mangelnden Möglichkeiten für eine angemessene interpersonale Kom‐ munikation in der Arzt-Patient[…]-Beziehung sowie die zunehmende Schwierigkeit 100 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="101"?> 220 Deutscher Ethikrat 2016. 221 Henke / Heister 2017: 30. 222 Henke / Heister 2017: 30. 223 Maio 2012. 224 Henke / Heister 2017: 31 (Hervorhebung durch den Verfasser). für die im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen, ihre jeweiligen berufsethischen Pflichten umsetzen zu können. 220 Vor diesem Hintergrund rücken die Bemühungen der Ärzteschaft um eine ver‐ besserte Arzt-Patient-Kommunikation noch stärker ins Licht und gewinnen weiter an Bedeutung. Berufspolitisch heißt das: „Es gilt […], auf Reformen der Vergütungssysteme hinzuwirken, damit diejenigen, die in eine gute Kommuni‐ kation mit den Patienten investieren, sich damit nicht länger ökonomisch selbst bestrafen“ 221 . Neben das Problem der Ökonomisierung treten weitere. So wird die Mög‐ lichkeit der zugewandten Arzt-Patient-Kommunikation eingeschränkt durch Bürokratisierung und Formalisierung. Auch wenn formale Vorgaben und Vorschriften nicht grundsätzlich als hinderlich bewertet werden, ergibt sich im Ganzen doch eine Situation, „in der die patientenfernen ärztlichen Tätigkeiten einen Raum einnehmen, der für die unmittelbare Patient-Arzt-Begegnung zum Problem wird“ 222 . Maio erkennt in den drei Faktoren Ökonomisierung, Bürokra‐ tisierung und Formalisierung die Tendenz einer Entwicklung „von der Selbst‐ verständlichkeit des Gebens zur Rechenschaftspflichtigkeit allen Tuns“ 223 . Ge‐ fordert wird u. a. von den Vertretern der AEKNO daher: Unter solchen Rahmenbedingungen ist eine gelingende Kommunikation nicht mehr das selbstverständliche Ergebnis von natürlicher Begabung und ärztlicher Haltung. Die Ärzteschaft ist deswegen doppelt gefordert: Im unnachgiebigen Benennen und Bekämpfen kritischer Entwicklungen ebenso wie in der konsequenten Stärkung der eigenen kommunikativen Kompetenzen auch unter sich verschärfenden Rahmenbedingungen. 224 Klar ist, dass die so formulierten Postulate der Ärzteschaft nur zu erreichen sind, wenn die individuellen kommunikativen Fähigkeiten der Ärzte - ungeachtet der Frage nach den überindividuellen politischen Lösungen der problematischen Rahmenbedingungen, die ich gerade skizziert habe - mit den kommunikativen Anforderungen mitwachsen. Eine partnerschaftlich gestaltete Patientenbezie‐ hung stellt höhere Anforderungen an die kommunikativen Fähigkeiten des Arztes als es das alte (sicher noch bei vielen Ärzten praktizierte) Modell des Paternalismus getan hat. Für Ärzte gilt es daher, sich in ihrer beruflichen Grund‐ 101 2.4 Berufs- und gesundheitspolitische Bewertung von Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="102"?> haltung und durch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen in der Aus-, Weiter- und Fortbildung auf die kommunikativen Besonderheiten in der Arzt-Patient-Kommunikation einzustellen. Die Kenntnis der kommunikativen und psychosozialen Bedürfnisse der Patienten und die kommunikative Berück‐ sichtigung dieser Ideen und Interessen (ideas), Wünsche und Erwartungen (ex‐ pectations) und Ängste und Befürchtungen (concerns) sind dafür wesentliche Voraussetzungen. Das ICE -Modell kann dazu beitragen, die berufspolitisch geforderten kom‐ munikativen Kompetenzen zu verbessern, wenn dieses Modell in ein Phasen‐ modell patientenzentrierter Kommunikation eingebunden und mit konkreten Gesprächstechniken verbunden wird - und wenn dieses Gesprächsmodell (wie in Belgien) integraler Bestandteil ärztlicher Lehre wird. Der erste Schritt dahin, die Integration des ICE -Konzepts in ein Kommunikationsmodell, wird w. u. in Kapitel 5 erfolgen. 2.5 Gesundheitsökonomische Bewertung von Arzt-Patient-Kommunikation An dieser Stelle bietet es sich an, auch einen kurzen Blick auf ökonomische Aspekte der Arzt-Patient-Kommunikation zu werfen. Wenn man den nachge‐ wiesenen (und hier bereits aus verschiedenen Perspektiven betrachteten) Nutzen patientenorientierter Kommunikation ökonomisch darstellen möchte, stellen sich mehrere Fragen: Welches Kostensenkungspotenzial besteht durch effektivere Kommunikation? In welchem Vergütungskonzept könnte der Faktor Kommunikation eine Rolle spielen (heißt auch: Welche monetären Anreize könnte man setzen, um Ärzte zu einer besseren Kommunikation zu bewegen)? Und: Welche (ökonomischen) Räume lässt das bestehende Abrech‐ nungssystem (trotz Budgetierung) für das Patientengespräch? Diese Fragen sollen im Folgenden zumindest oberflächlich diskutiert werden. Jedoch sei an‐ gemerkt: Die nachfolgenden Überlegungen haben z. T. lediglich Modellcha‐ rakter und müssten durch Studien elaboriert werden. Um den Stellenwert guter (d. h. patientenorientierter) Kommunikation mo‐ netär beziffern zu können, soll die folgende Beispielrechnung zeigen, in welcher Höhe sich Zeit und Geld einsparen lassen könnten, wenn Ärzte die Grundsätze patientenzentrierter Kommunikation befolgen würden. In dieser Modellrech‐ nung wird davon ausgegangen, dass prinzipiell Zeit durch falsche Kommuni‐ kation vergeudet wird, was zunächst eine unzulässige und übergeneralisierende Behauptung darstellt, hier aber zur Sichtbarmachung des grundlegenden Po‐ 102 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="103"?> 225 Vgl. Deveugele et al. 2002: 472. 226 Vgl. Wilm et al. 2004. 227 Vgl. Stunder 2004. 228 Vgl. Wilm et al. 2004. 229 Bechmann 2014: 148. tenzials so angenommen wird. Die sich daraus ergebenden Zahlen sind ent‐ sprechend alles andere als valide, jedoch - wenn sie nur ansatzweise die Realität abbilden - zumindest eindrucksvoll. Für meine Überlegungen gehe ich davon aus, dass die Zahlen des Barmer- GEK Arztreports aus dem Jahr 2010 zur ambulanten Versorgung noch im Wesentlichen zutreffen: Laut diesem Report versorgen deutsche ambulant tätige Ärzte täglich im Durchschnitt 45 Patienten. Auf ein ärztliches Berufsleben bezogen bedeutet dies knapp 150.000 Patientenkontakte - und somit auch 150.000 Gesprächssituationen. Der Report zeigt weiterhin, dass der durch‐ schnittliche Patientenkontakt acht Minuten Zeit in Anspruch nimmt. 225 Im in‐ ternationalen Vergleich sind ambulante Arzt-Patient-Gespräche in Deutschland damit eher kurz. Dennoch belegen zahlreiche Studien, dass es nicht so sehr auf die Dauer des Gesprächs, sondern vielmehr auf die Qualität der Gesprächs‐ führung ankommt. Es ist also durchaus möglich, auch in kurzer Zeit gut, d. h. wirkungsvoll, zu kommunizieren. 226 Ein Kommunikationsmodell, das dabei hilft, die wichtigen Informationen rasch und effektiv verfügbar zu machen, bewirkt sogar, Zeit einzusparen. Dabei kommt es auf eines entscheidend an: auf die unterbrechungsfreie Ge‐ sprächsinitiative des Patienten. Studien zeigen, dass Patienten erschreckend häufig und früh unterbrochen werden, was besonders in einer Hinsicht bedeutsam und folgenreich ist: Der Eingangsmonolog eines Patienten enthält in der hausärztlichen Praxis bis zu 90 Prozent der relevanten diagnostischen Informationen und dauert im Schnitt nicht länger als 30-90 Sekunden. 227 Zu Unterbrechungen kommt es in deutschen Hausarztpraxen jedoch schon nach 11 bis 24 Sekunden. 228 Das bedeutet, dass durch Unterbrechungen wesentliche Informationen verloren gehen, die mühsam durch Fragen des Arztes in Erfahrung gebracht werden müssen. Mit Blick auf das ICE -Modell kann dies Folgendes bedeuten: „Da in solchen Fällen das subjektive Krankheitserleben der Patienten im weiteren Gespräch oft nicht zur Sprache kommt, ist davon auszugehen, dass sehr viele wichtige Botschaften aus der Welt des Privaten für den Arzt im Verborgenen bleiben“ 229 . Unterbre‐ chungen sind somit nicht nur unnötig, sondern kontraproduktiv, weil sie die Verweildauer und damit das Patientengespräch eher verlängern als verkürzen. 103 2.5 Gesundheitsökonomische Bewertung von Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="104"?> 230 Bär 2009: 80. 231 Es handelt sich hierbei um eine fiktive Größe, sodass auch die nachfolgenden Berech‐ nungen keinen Anspruch auf Korrektheit erheben. Im Gegenteil: Sie dienen nur der Sichtbarmachung eines bislang unerforschten gesundheitsökonomisch bedeutsamen Potenzials. 232 Ärztestatistik 2017 der Bundesärztekammer. In: https: / / www.bundesaerztekammer.de / ueber-uns / aerztestatistik / aerztestatistik-2017/ (Stand 10. 4. 2018). Der Zusammenhang von Konsultationsdauer, Patientenzufriedenheit und Qua‐ lität hausärztlicher Arbeit ist vielschichtig. Zu Beginn einer Konsultation aus‐ reden zu können, dürfte zur Zufriedenheit beitragen. Eine längere Konsultati‐ onszeit ist dabei nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Diejenige Zeit, die eventuell durch eine Förderung der Patientenrede aufgewendet werden müsste, könnte im Endeffekt durch eine Zeitersparnis zu einem späteren Zeitpunkt kompen‐ siert werden, „indem weniger häufige Arztkonsultationen und bessere Compli‐ ance erreicht würden“ 230 . Ausgehend von einer Zeitersparnis von nur einer Minute pro Konsulta‐ tion ergibt sich ein enormes Potenzial zur Zeit- und Kostenersparnis. 231 Die gerade skizzierten Zusammenhänge lassen sich auf der Basis dieser Minute mo‐ dellhaft wie folgt in Zahlen fassen: Einsparpotenzial Zeit (Hausarztpraxis) Tag: 45 Patienten / Tag = 45 Minuten / Tag = Zeit für weitere 6 Patienten Woche: 225 Minuten / Woche = Zeit für weitere 30 Patienten bzw. 3,75 Stunden / Woche Arbeitszeit eingespart Jahr: 10.735 Minuten / Jahr = 22,36 Arbeitstage / Jahr Unter Einberechnung der sogenannten kalkulatorischen Arztminute (86 Cent) ergibt dies eine angenommene Kosteneinsparung in Höhe von 9.232,- Euro / Arzt / Jahr. Unterbrechungen - so der Umkehrschluss - kosten jährlich knapp 9.000,- Euro je niedergelassenem Arzt und führen zu einem Mehraufwand von 22 Arbeitstagen. Führen wir diese Rechnung fort, ergibt sich gesamtwirtschaftlich folgendes Bild: Die Kennzahlen der Bundesärztekammer aus dem Jahr 2017 belegen, dass im niedergelassenen Bereich gegenwärtig 118.536 Ärzte tätig sind. 232 Nur durch Verkürzung der Konsultationsdauer um eine einzige Minute durch effektive Kommunikationstechniken und das Vermeiden von Unterbrechungen ergibt sich ein jährliches Kosteneinsparpotenzial in Höhe von 1,03 Milliarden Euro. 104 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="105"?> 233 Vgl. Burgdorf et al. 2009. Im Umkehrschluss heißt das: Jede nicht sinnvoll genutzte Minute lässt Kosten in dieser Höhe entstehen. Effektive Kommunikation spart (vermutlich) Zeit und Geld. Dieser Zusam‐ menhang ist leider bislang weitgehend unerforscht. Offensichtlicher ist hin‐ gegen der Zusammenhang zwischen guter Kommunikation und Patientenzuf‐ riedenheit. Ebenso gut erforscht ist der Zusammenhang zwischen schlechter Kommunikation und den darauf zurückzuführenden Krankheitsfolgen. Da schlechte Adhärenz und ein subjektiv schlechterer Heilungsverlauf infolge von Missverständnissen o. Ä. durchaus hohe Kosten verursacht (z. B. durch Mehr‐ fachuntersuchungen oder längere Krankheitsdauer), ist es überlegenswert, An‐ reize für eine stärkere Patienteneinbeziehung zu setzen - und damit den Faktor Kommunikation als Wirkungsfaktor zu vergüten. Eine Möglichkeit, dies zu tun, wäre die Berücksichtigung kommunikativer Kompetenzen im Rahmen einer Performance-Messung zur Patientenzuf‐ riedenheit. In einem erfolgsorientierten Vergütungsmodell (Pay for Per‐ formance) 233 könnte die subjektive Beurteilung der kommunikativen Kompetenz der Ärzte durch die Patienten erfolgen. Die Qualität von Kommunikation könnte darin den Stellenwert eines Prozessindikators einnehmen. Für Ärzte hätte dies den Vorteil, dass ihre kommunikativen Bemühungen auch finanziell belohnt würden. Neben Patientenbefragungen könnten auch Kommunikationsstan‐ dards als messbare Indikatoren fungieren. Innerhalb solcher Standards könnte das ICE -Modell einen zentralen Platz einnehmen, denn über dieses Modell wird die Patientenperspektive maßgeblich abgebildet. Gegenwärtig liegen solche Ge‐ sprächsstandards jedoch nicht vor, sodass auch dieser Gedanke der erfolgsori‐ entierten Vergütung und des Faktors Kommunikation als Prozessindikator nur hypothetischer Natur ist. Weniger hypothetisch ist die Aufwertung des Gesprächs durch die in Deutschland gegebene Möglichkeit, im ambulanten Bereich die Gesprächs‐ ziffer 03 230 abzurechnen. Seit der Änderung des Einheitlichen Bewertungs‐ maßstabs ( EBM ) im Jahr 2013 können niedergelassene Ärzte ein problemorien‐ tiertes ärztliches Gespräch von mindestens zehn Minuten Dauer abrechnen - egal, ob dieses mit dem Patienten selbst oder mit dessen Angehörigen geführt wird. Auf diese Weise soll die hausarzttypische Gesprächsleistung gefördert werden. Durch Wegfall der Beschränkung auf Patienten mit lebensverän‐ dernden Erkrankungen im Jahr 2013 kann diese Ziffern wesentlich häufiger ab‐ gerechnet werden als früher. Selbst bei Budgetüberschreitung erfolgt eine ab‐ gestaffelte Vergütung, sodass durch die Möglichkeit der Abrechnung der 105 2.5 Gesundheitsökonomische Bewertung von Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="106"?> 234 Es ist jedoch anzumerken, dass die konkrete Umsetzung viele Ärzte vor das Problem stellt, dass bei besonders hohen Fallzahlen Plausibilitätsprobleme entstehen, die zu Re‐ gressforderungen führen könnten. Dies ist dann der Fall, wenn grundsätzlich bei jedem Gespräch die Gesprächspauschale abgerechnet wird, was offenbar - wenn man den medialen Diskurs verfolgt - bei vielen Ärzten üblich ist. Somit stellt sich die Frage, ob die Gesprächsziffer tatsächlich dazu führt, die Gesprächsdauer und damit die Ge‐ sprächsqualität zu verbessern. W. o. habe ich in der Referenz auf Wilm et al. darauf hingewiesen, dass Qualität und Dauer eines Gesprächs nicht zwingend miteinander korrelieren müssen. Unter diesem Gesichtspunkt kann und sollte die Gesprächsziffer durchaus kritisch betrachtet werden. Gesprächsziffer der Anreiz zu einer patientenzentrierteren Gesprächsführung entstehen könnte. 234 106 2 Arzt-Patient-Kommunikation - Grundbegriffe, Definitionen und Dimensionen <?page no="107"?> 235 Vgl. Pendleton et al. 1984: 35. 236 Pendleton et al. 1984: 35. 237 Vgl. Levenstein et al. 1986. 238 Vgl. Silverman et al. 1996: 85. 3 Das ICE -Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation 3.1 Das ICE-Modell in der Forschung - ein systematischer Überblick Das ICE -Modell wurde erstmalig 1984 von Pendleton et al. beschrieben. Es geht - aufgrund der starken Fokussierung auf das Patienten-Framework - davon aus, dass insbesondere Anamnesegespräche erfolgreicher verlaufen, wenn die Vorstellungen, Befürchtungen und Erwartungen der Patienten ausreichend be‐ rücksichtigt werden. 235 Pendleton interessierte sich in seinen Untersuchungen vor allem für die Beweggründe, die Patienten in die Sprechstunde führen. Dabei fand er heraus, dass besonders diese drei Dimensionen wesentlich sind für eine ganzheitliche Beschwerdeerfassung. Neben dem fachlichen Austausch mit medizinischen Kollegen nimmt auch die Arzt-Patient-Kommunikation einen hohen Stellenwert bei der Diagnose und Behandlung von medizinischen Leiden ein. Pendleton et al. beschreiben diese Interaktion als „spiral staircase which gradually forces the doctor and patient in the direction of increasingly effective care.“ 236 Eine explizite Verknüpfung der Patientenagenda mit der Arztagenda (History, Physical Examination und Laboratory Investigation) stellten zuerst Levenstein et al. zwei Jahre später her. 237 Erste Versuche, einen Leitfaden für ein patientenzentriertes Anamnesege‐ spräch in Kommunikationstraining und Lehre zu integrieren, stammen von Sil‐ verman et al. Der Calgary-Cambridge Guide aus dem Jahr 1996 beschreibt einen strukturierten Prozess, wie ein patientenorientiertes Gespräch verlaufen sollte: 1. Gespräch eröffnen. 2. Informationen sammeln. 3. Beziehung aufbauen / Patienten integrieren. 4. Erklären und planen. 5. Gespräch beenden. 238 <?page no="108"?> 239 Lilleker 2009: 100. 240 In Kapitel 4 wird das Phasenmodell der Calgary Cambridge Guides ausführlicher vor‐ gestellt und mit dem ICE-Modell verknüpft. 241 Silverman et al. 2013: 96. 242 Leventhal et al. 1985: 115. 243 Leventhal et al. 1985: 130. Anhand dieser Gesprächsphasen wird deutlich, dass der Einbeziehung der Pa‐ tientenperspektive im Gesprächsablauf an unterschiedlichen Stellen Gewicht zufällt. Es ist wichtig, dass Ärzte die Sorgen und Erwartungen ihrer Patienten aktiv in das Gespräch miteinbeziehen. Das ICE -Modell, das Vorstellungen, Be‐ fürchtungen und Erwartungen der Patienten berücksichtigt, ist dabei ein viel‐ versprechender Ansatz: „If done correctly it allows the patient to give you all the answers you need, and often the diagnosis, without interruption.“ 239 Auf diese Weise stellt sich das ICE -Modell (jedoch nur in der konkreten Ausgestal‐ tung in Verbindung mit Gesprächstechniken) als zielführender Ansatz zur Ver‐ besserung der medizinischen Versorgung dar. 240 Um eine Beziehung zum Patienten aufzubauen und seine ideas, concerns und expectations im Anamnesegespräch zu ergründen, gibt es verschiedene Strate‐ gien: „The first is by directly asking for the patient’s ideas, concerns, expecta‐ tions and feelings. The second is by picking up cues (i.e. verbal and nonverbal hints) provided by the patient during the course of the consultation.“ 241 Offen bleibt jedoch, auf welche Weise dieses asking oder das picking up cues erfolgen sollte. Erste Studien, die Effekte des ICE -Modells belegen, stammen aus den 1980er-Jahren. In einer Untersuchung mit Hypertonie-Patienten fanden Leven‐ thal et al. heraus, dass die Vorstellungen, die Patienten von Erkrankung und Therapie haben, den Therapieerfolg maßgeblich beeinflussen: „The data suggest that patients develop implicit models or beliefs about disease threats, which guide their treatment behavior, and that the initially most common model of high blood pressure is based on prior acute, symptomatic conditions.“ 242 Wichtig ist dabei vor allem das Verhalten des Arztes während des Behand‐ lungszeitraumes. Berücksichtigt er die Sorgen und Vorstellungen, die ein Patient von seiner Erkrankung und den damit einhergehenden Symptomen hat, wirkt sich dies positiv auf die Adhärenz und somit indirekt auch auf den Behand‐ lungserfolg aus: „The perception that treatment had beneficial effects on symp‐ toms was critical in the prediction of compliance. Such effects were not con‐ trolled for in prior studies.“ 243 Die Studie von Leventhal et al. liefert somit die Grundlage für die Entwicklung eines patientenzentrierten Vorgehens in Anam‐ nesegesprächen. 108 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="109"?> 244 Levenstein et al. 1986: 24. 245 Levenstein et al. 1986: 27. 246 Lang et al. 2000: 222. 247 Lang et al. 2000: 222. 248 Tate 2005: 26. 1986 beschreiben Levenstein et al. erste Versuche einer strukturierten und me‐ thodischen Vorgehensweise, welche die zuvor gewonnenen Erkenntnisse be‐ rücksichtigt. ,The Patient-Centred Clinical Method‘ 244 wurde entwickelt, um die Erkrankung des Patienten mit seinen Vorstellungen und Befürchtungen zu ver‐ knüpfen: The key to the patient-centred method, as its name implies, is to allow as much as possible to flow from the patient. The crucial skill is to be receptive to cues offered by the patient. By attentive listening, the doctor is able to respond to these cues, thereby helping the patient to express his expectations, feelings and fears. 245 Dabei sind ein empathisches Vorgehen und Fingerspitzengefühl von Bedeutung, um die Sorgen und Vorstellungen des Patienten umfassend zu ergründen: „Only a minority of patients spontaneously disclose or ‚offer‘ their ideas, concerns, and expectations“ 246 , so Lang et al. in einem Aufsatz zu aktivem Zuhören in Patientengesprächen. Dies stellt den Arzt vor besondere Herausforderungen, da sein eigenes privates Krankheitsmodell sowie sein eigenes subjektives Krank‐ heitserleben häufig von denen des Patienten abweichen: „Decades of research have richly documented the discrepancy between physicians‘ clinical orienta‐ tion toward disease and patients’ experiences of illness.“ 247 Dieses Erleben der eigenen Erkrankung und mögliche Erklärungen für ihre Entstehung werden im ICE -Modell durch die Komponente der Vorstellungen des Patienten (ideas) erklärt. Peter Tate definiert sie wie folgt: Ideas are unemotional thoughts about the nature, cause and likely course of any change in bodily function that catches our attention. Some ideas may trigger a health-seeking response; for example, a person with severe sore throat may develop the idea that she needs antibiotics. 248 Bereits 1992 betont Peppiatt den Aspekt der ideas in einer Untersuchung von 1000 Anamnesegesprächen, in denen die Patienten berichten sollten, welche Auslöser ihrer Meinung nach hinter ihren aktuellen Erkrankungen stecken. Die Studie ergab, dass 30 Prozent der geäußerten ideas dem Arzt halfen, einen Ein‐ blick in die Befürchtungen des Patienten zu erhalten. 20 Prozent leisteten einen 109 3.1 Das ICE-Modell in der Forschung - ein systematischer Überblick <?page no="110"?> 249 Vgl. Peppiatt 1992. 250 Vgl. Lang et al. 2000: 99-100. 251 Kissling 2013: 1056. 252 Vgl. Kissling 2013: 1056. maßgeblichen Beitrag zur Feststellung der Ursache für die aktuellen Be‐ schwerden. 249 Das Bemühen, die Ängste und Vorstellungen der Patienten im Anamnesege‐ spräch zu zentrieren, gelingt allerdings nicht immer, wie Lilleker anhand eines Patientenbeispiels aus seiner Praxis beschreibt. Mit dem Versuch, sich in den Patienten einzufühlen, stellte der Arzt Fragen zu Ängsten und Sorgen des Pati‐ enten. Der Patient, der sich bis zu diesem Zeitpunkt einzig Sorgen über seine Verdauung machte, da eine Obstipation ihn in die Sprechstunde führte, war mit den Fragen des Arztes allerdings überfordert - das (ungewohnte) Fragever‐ halten des Arztes und die Erfahrungen des Patienten in Anamnesegesprächen waren nicht kongruent, was den Patienten die Fragen des Arztes fehlinterpre‐ tieren ließ. So hatte der Patient sein Leiden als nicht sehr gravierend eingestuft, bis der Arzt ihn danach fragte, ob er Krebs als möglichen Auslöser für seine Obstipation in Betracht ziehe. Durch den Versuch, die Sorgen und Erwartungen des Patienten einzubeziehen, wurden Befürchtungen geschürt, die vorher nicht dagewesen waren. 250 Statt den Patienten in den Mittelpunkt der Anamnese zu rücken, wurde hier der Fehler begangen, eine Krankheit zu benennen und damit - über das Label ,Krebs‘ und die damit verbundenen kognitiven Frames - Vorstellungen und Ängste überhaupt erst zu evozieren. Kissling spricht in diesem Zusammen‐ hang von einem „Rückfall in ein biozentrisches und ‚disease‘-zentriertes Ar‐ beiten - ‚disease‘ im Sinn von ‚objektivierter‘ Krankheit im Gegensatz zu ‚ill‐ ness‘, dem individuellen Krankheitserleben und Kranksein des Patienten.“ 251 Diesen Ansatz des Krankheitserlebens versucht Kissling in die medizinische Anamnese zu integrieren, indem er ihn als 8. Dimension eines Symptoms beschreibt. Die bekannten sieben Dimensionen berücksichtigen vorrangig so‐ matische Dimensionen, ohne die Aspekte des ICE -Modells einzubeziehen: 1. Lokalisation und Ausstrahlung; 2. Qualität; 3. zeitliches Auftreten; 4. Schweregrad; 5. Verstärkung / Abschwächung; 6. Begleitsymptome; 7. Grad der Behinderung. 252 110 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="111"?> 253 Kissling 2013: 1056. 254 Vgl. Kissling 2013: 1056. 255 Kissling 2013: 1056 (Hervorhebung durch den Verfasser). 256 Vgl. Matthys et al. 2009. 257 Matthys et al. 2009: 31. Kissling erweitert das bestehende Anamnesemodell um das ICE -Modell und spricht somit dem individuellen Krankheitsempfinden des Patienten einen hö‐ heren Stellenwert zu: „ ICE bezieht den Patienten als zentralen Teil seines Symp‐ toms umfassend mit ein. Dies bewirkt eine integrierende Synthese zwischen dem Leidenden und seinem Symptom.“ 253 Konkret bedeutet das, den Patienten nach seinen Vorstellungen zu fragen, zu eruieren, wie er die Krankheit beurteilt, woher er seine Informationen über die Krankheit bezieht und was er sich vom Arztbesuch erhofft. Auch wenn die Vorstellungen des Patienten von denen des Arztes abweichen, sollte der Arzt diese nicht leichtfertig abtun. Ansonsten schwindet das Vertrauen und der Patient fühlt sich nicht ernstgenommen. 254 Kissling stellt (auch mit dem Fokus auf eine Verbesserung der (ökonomischen) Effizienz und der Effektivität von Gesprächen mit ICE -Bezug) fest: ICE bezieht den Patienten als zentralen Teil seines Symptoms umfassend mit ein. Dies bewirkt eine integrierende Synthese zwischen dem Leidenden und seinem Symptom. Beide haben miteinander zu tun, können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. ICE als achte Dimension eines Symptoms unterstützt ein patientenzentriertes Verständnis und zielgerichtetes Handeln - ohne wesentlichen Zeitaufwand. Im Ge‐ genteil, ICE spart Zeit und hilft sinnlose Leerläufe verhindern. 255 Dass ein solches patientenzentriertes Vorgehen unter Einbeziehung der 8. Di‐ mension erfolgsversprechend ist, zeigt eine Studie der Universitätsklinik Gent, in der 613 Patientengespräche analysiert wurden. Der Fokus der Untersuchung lag auf dem Zusammenhang zwischen der Einbeziehung von Elementen des ICE -Modells und der Verschreibung von Medikamenten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in Anamnesegesprächen, in denen die Befürch‐ tungen und Erwartungen der Patienten thematisiert wurden, weniger häufig neue Medikamente verschrieben wurden als in solchen Fällen, in denen keine ICE -Aspekte thematisiert werden konnten. 256 Die einzelnen Aspekte wurden dabei wie folgt definiert: ,Idea‘ was defined as every opinion of the patient about a possible diagnosis, treatment, or prognosis; ,concern‘ as the expressed fear / worry of the patient about a possible diagnosis or treatment; and ,expectation‘ as the expressed or reported expectation about a treatment, a diagnosis, or a certificate. 257 111 3.1 Das ICE-Modell in der Forschung - ein systematischer Überblick <?page no="112"?> 258 Vgl. Matthys et al. 2009: 34. 259 Tate 2005: 26. 260 Mustafa et al. 2014: 33. 261 Mustafa et al. 2014: 33. Zudem konnte in der Studie festgestellt werden, dass ideas und concerns häufiger in Anamnesegesprächen zu neu auftretenden Leiden und expectations eher in Folgegesprächen geäußert wurden. 258 Dennoch kann aus der Studie nicht abge‐ leitet werden, ob die Anwendung des ICE -Modells sich positiv auf die Patien‐ tengesundheit auswirkt. Eine longitudinale Anschlussstudie, in der die Behand‐ lungserfolge und -misserfolge dokumentiert werden, könnte weitere Ergebnisse bringen. Eine Studie zu den Erwartungen von Patienten wurde 2014 von Mustafa et al. durchgeführt. Die Untersuchung greift eine These Tates auf, der die Schwierigkeit mit patientenseitig geäußerten expectations wie folgt beschreibt: „Expectations are a different problem, because increasing evidence shows that doctors commonly assume what their patient expects and feel pressure to act accordingly.“ 259 Ausgehend von der Hypothese, dass mehr Antibiotika ver‐ schrieben werden, wenn Patienten explizit den Wunsch danach äußern, wurden Anamnesegespräche analysiert, in denen Patienten mit Infektionen der oberen Atemwege einen Arzt aufsuchten: „These expectations, if voiced, could prove difficult for physicians to alter, and the expectation could well become a source of disagreement if they wanted to deny antibiotics.“ 260 Die Studie sollte zeigen, wie Mediziner vorgehen, um den Wunsch nach einer Verschreibung von Anti‐ biotika zu erfragen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine indirekte Erfragung der Patientenwünsche die Problematik entschärft, da ein direktes Fokussieren auf den Wunsch nach Antibiotika den Arzt möglicherweise in die Position versetzt, einen Patientenwunsch ausschlagen zu müssen: „One physician commented, ’To bring it up means you got to say no. Whereas, if you don’t say anything, then you might get through the whole consultation without it being confrontati‐ onal.‘“ 261 Die Studie zeigt somit, dass Patientenwünsche zwar in Anamnesege‐ spräche eingebunden werden sollten, dies bedeutet aber nicht, dass es zielfüh‐ rend ist, den Forderungen in jedem Fall nachzugehen. Vielmehr kann eine indirekte Kommunikationsstrategie helfen, Erwartungen des Patienten so in das Gespräch einzubinden, dass diese sich nicht übergangen fühlen, wenn die Empfehlung des Arztes den Forderungen nicht entspricht: Rather, clinicians prefer to use open questions and build a foundation for nonantibiotic management by using strategies to indicate their reasoning and influence expecta‐ tions, such as running commentary on physical examination findings, all the while 112 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="113"?> 262 Mustafa et al. 2014: 34. 263 Vgl. Charn et al. 2013. 264 Lang et al. 2000: 222. 265 Vgl. Weiss et al. 2013. avoiding conflict and potential threats to ongoing physician-patient relationship and trust. 262 Eine weitere Studie wurde in Singapur mit 41 Patienten, die unter einer Bell-Lähmung litten, durchgeführt. Analysiert wurden Erstgespräche, die nach Eintritt der Erkrankung zwischen Ärzten und Patienten stattgefunden haben. Interessant an dieser Untersuchung war, dass die Patienten selber einschätzen sollten, wodurch ihrer Meinung nach die Fazialisparese ausgelöst wurde. 78 Prozent vermuteten einen Schlaganfall, 36,6 Prozent dachten an Stress, 9,8 Prozent glaubten, dass die Ernährung ausschlaggebend war und ein Patient (2,4 Prozent) äußerte die Sorge, übernatürliche Kräfte könnten die Gesichtsläh‐ mung hervorgerufen haben. 263 Die Ergebnisse dieser Studie zeigen besonders deutlich die Relevanz, die der Einbezug des ICE -Modells in Anamnesegesprä‐ chen - insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern - einnehmen kann: „Active listening is a skill for recognizing and exploring patients‘ clues. Without this communication skill, patients’ real concerns often go unrecognized by health care professionals.“ 264 Beachtet der Arzt explizit die Sorgen, Erwartungen und Vorstellungen des Patienten, kann er gemeinsam mit ihm Strategien entwickeln, wie die Er‐ krankung bewältigt und mit ihr gelebt werden kann. Beispielsweise nimmt der Ratschlag, dass die Gesichtslähmung nicht durch fal‐ sche Ernährung entstehen kann, dem Patienten die Sorge, er selbst trage Schuld an seiner Erkrankung. Ähnliche Erkenntnisse gewannen Forscher aus Südengland, die in den Jahren 2009 bis 2011 eine Studie mit 51 Gesundheits- und Krankenpflegern, Apothe‐ kern und Hausärzten durchführten. Jeder von ihnen war berechtigt, Medika‐ mente zu verschreiben. In 533 Patientengesprächen wurde explizit untersucht, inwieweit die Patienten durch offene Fragen oder ähnliche Kommunikations‐ strategien ermutigt wurden, von ihren Vorstellungen, Sorgen und Erwartungen zu berichten. 265 In 75 Prozent der Fälle wurden die Patienten nur einmal zu einem Bericht ermutigt, in 10 Prozent zweibis dreimal und in 15 Prozent der 113 3.1 Das ICE-Modell in der Forschung - ein systematischer Überblick <?page no="114"?> 266 Vgl. Weiss et al. 2013: 714. 267 Weiss et al. 2013: 717. 268 Vgl. Olde Hartmann 2013. 269 ,P’ steht in diesem Minimaltranskript für Patient, ,D‘ für Doctor / Arzt. Konsultationen wurden sie gar nicht gefragt. 266 Die Forscher schlossen aus den Ergebnissen, dass Patienten insgesamt mehr Gelegenheiten eingeräumt werden sollten, von ihren Vorstellungen und Sorgen zu berichten: „The extended prescribing team needs to be effectively provided with appropriate communication skills training in this and other key aspects of the consultation process.“ 267 Weiterhin analysierte eine niederländische Studie 2784 Patientengespräche mithilfe von Videoaufzeichnungen. Aus allen Fällen wurden diejenigen ausge‐ wertet, in denen die teilnehmenden Patienten unter Symptomen litten, die me‐ dizinisch nicht erklärbar waren. 20 Videoaufzeichnungen entsprachen den Kri‐ terien für die Studie. In der Untersuchung wurden gezielt Textstellen identifiziert, in denen die Vorstellungen und Befürchtungen der Patienten the‐ matisiert wurden. Dabei lenkten in 16 der Anamnesegespräche die Patienten das Thema in Richtung ihrer Sorgen und Vorstellungen. In neun Gesprächen initiierten die Ärzte das Thema. Durchschnittlich lag der Gesamtanteil dieser Gesprächsinhalte bei 18,7 Prozent des gesamten Textumfangs. Diese Textstellen teilten sich auf in 4,8 Prozent, die durch den Arzt eingeleitet wurden, und 13,9 Prozent, in denen der Patient selbst das Gespräch in diese Richtung lenkte. 268 Oftmals bezogen die Ärzte die geäußerten Sorgen der Patienten jedoch nicht in die Diskussion ein, so wie in folgendem Beispiel 269 : (Patient concerns) P: I’m having problems with my throat, esophagus again. I feel it when I am doing exercise. It doesn’t have anything to do with my heart, does it? I have it every time I roll over at night. D: Yes P: I don’t know but I think that it’s lower. It’s like something is stuck there. (Reason for encounter and patient concerns) P: I’ve also had chest pains so I wanted to ask if you could be willing to take a look. I’m a little concerned. I’d just like to know for sure that there’s nothing going on. D: If we know that it’s your throat and not your heart, then that’s good. P: Yes. (Explanation) P: I was also really busy earlier this week. I’ve been feeling kind of hurried the last while so I took a seresta pill and the pain in my throat went away. 114 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="115"?> 270 Olde Hartmann 2013: 358. 271 Olde Hartmann 2013: 359. 272 Lang et al. 2000: 222. D: Yes, that could mean that the tension that you feel inside is coming out through your throat, like your throat is literally being choked. P: Yes, I do have that kind of feeling. (Patient response) P: But my heart has nothing to do with it? D: No, your heart has nothing to do with it. 270 Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass dem Patienten zwar die Zeit eingeräumt wird, seine Symptome ausführlich zu beschreiben, seine Befürchtungen allerdings nicht angemessen in die Diskussion einbezogen werden. Die Verfasser der Studie ziehen daher folgendes Fazit aus ihren Analyseergebnissen: Although consultations with persistent MUS [medically unexplained symptoms] pa‐ tients seemed quite patient-centered as patients have much opportunity for telling their story, patients might benefit more from a structured consultation focused on the exploration of their ideas, concerns and expectations. 271 Die Beschreibung der Symptome aus Sicht des Patienten weicht dabei häufig von der Einschätzung und Vorgehensweise des Arztes ab: Patients often organize symptoms into a construct of possible meanings, interpreta‐ tions, and explanatory models, which results in a unique set of related concerns and expectations - the patient’s perspective on illness (PPI). 272 Es ist daher zentrale Aufgabe des Arztes, die narrativen Äußerungen des Pa‐ tienten aus medizinischer Sicht einzuordnen und zu interpretieren. In einer Untersuchung mit 55 Patienten lenkten Lang et al. den Fokus auf ver‐ steckt geäußerte Sorgen und Vorstellungen der Patienten und entwickelten aus den Studienergebnissen einen Leitfaden, anhand dessen Ärzte Äußerungen des Patienten im Anamnesegespräch anhand des ICE -Modells strukturiert klassifi‐ zieren können: We propose a taxonomy of clues that includes (1) expression of feelings (especially concern or worry), (2) attempts to understand or to explain symptoms, (3) speech clues that underscore particular concerns of the patient, (4) personal stories that link the 115 3.1 Das ICE-Modell in der Forschung - ein systematischer Überblick <?page no="116"?> 273 Lang et al. 2000: 222. 274 Vgl. Lang et al. 2000: 222. 275 Lang et al. 2000: 222. 276 Lang et al. 2000: 226. 277 Schrans et al. 2018: 1. 278 Schrans et al. 2018: 4. patient with medical conditions or risks, and (5) behaviors suggestive of unresolved concerns or unmet expectations. 273 Fragt der Arzt gezielt nach, spürt er auch die Sorgen der Patienten auf, die nicht explizit geäußert wurden. Auf diese Weise verbessern sich die Patientenzufrie‐ denheit und das Resultat der Behandlung. 274 Erfolg versprechende Kommunikationsstrategien sind gezieltes Fragen nach den Vorstellungen des Patienten oder aktives Zuhören: „Direct questioning, for example, asking the patient, ’What do you think may be causing your problem? ’ results in greater sharing of patient’s ideas, concerns, and expectations.“ 275 Ob ein Anamnesegespräch zielführend verläuft, hängt also zu einem Großteil von den kommunikativen Kompetenzen des konsultierten Arztes ab: „While the use of active listening carries certain challenges, identifying the patient’s real con‐ cerns usually results in a new level of understanding of the patient, increased satisfaction for both patient and physician, and improved medical manage‐ ment.“ 276 Einen weiteren Schritt zur Konturierung des ICE -Modells machten 2018 Schrans et al., indem sie anhand der Datengrundlage der Genter Studie aus dem Jahr 2009 untersuchten, ob sich ideas, concerns und expectations von Patienten durch den ICPC -2 (2. Version des International Classification of Primary Care) kodieren lassen. Insgesamt fanden die Forscher in den Daten der 613 Patien‐ tengespräche 672 ICE -bezogene Äußerungen, wovon 123 nicht durch die be‐ stehenden Kategorien erfasst werden konnten. Daher definierten sie acht wei‐ tere Kategorien, welche die bisher nicht erfassten Äußerungen abdecken sollten: concern about the duration / time frame; concern about the evolution / severity; con‐ cern of being contagious or danger to others; patient has no concern, but others do; expects a confirmation of something; expects a specific procedure; and expects that something is not done. 277 Im Ergebnis zeigte sich, dass sich weitere 114 ICE -bezogene Äußerungen mit‐ hilfe dieser Methode klassifizieren ließen. Lediglich neun Äußerungen waren zu unspezifisch, um sich anhand dieser Klassifizierung einordnen zu lassen. 278 Das Modell von Schrans et al. erweitert die bestehende Methode, nach der die 116 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="117"?> 279 Schrans et al. 2018: 1. 280 Schrans et al. 2018: 2. 281 Vgl. Speierer 1985. Gründe des Patienten für den Arztbesuch („reasons for encounter“ 279 ) anhand der ICPC -2-Klassifikation eingeordnet wurden. „Exploring the ICE within or behind the RFE is one way to take the patient’s preferences and values into account“ 280 . Die Einstufung der ICE -bezogenen Äußerungen stellt einen wei‐ teren Schritt auf dem Weg zum patientenzentrierten Anamnesegespräch dar. 3.2 Funktionale Einbindung des ICE-Modells in Arzt-Patient-Gespräche Zur Beantwortung der Frage, auf welche Weise Patientenorientierung über das Gespräch zustande kommt und was ein Arzt-Patient-Gespräch sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf den Kommunikationsprozess funktional leisten können muss, lassen sich nach Speierer vier grundlegende Dimensionen ableiten, die als die Hauptaufgaben des ärztlichen Gesprächs einzustufen sind. 281 Diese vier Dimensionen lassen sich in nahezu allen ärztlichen Gesprächen nachweisen, auch wenn konstatiert werden muss, dass sie weder inhaltlich noch gesprächs‐ strukturell trennscharf voneinander abzugrenzen sind. Zudem sind sie nicht in jedem Fall hinreichend oder notwendig für die Bestimmung eines Gesprächs als ärztlicher Gesprächstyp. Dimension des ärztlichen Gesprächs Funktionen / Charakteristik Kommunikative Dimension Partnerschaftliche Beziehungsge‐ staltung - Berücksichtigung der psychoso‐ zialen Situation des Patienten Diagnostische Dimension Diagnostische Sammlung und Do‐ kumentation krankheitsrelevanter Daten - Gewinnung objektiver und sub‐ jektiver Aspekte durch Beobach‐ tung und Zuhören - Gewinnung von Daten über das Beziehungsangebot 117 3.2 Funktionale Einbindung des ICE-Modells in Arzt-Patient-Gespräche <?page no="118"?> 282 Vgl. Lazare et al. 1995 und Müller 2005: 61 ff. Dimension des ärztlichen Gesprächs Funktionen / Charakteristik - Informationsvermittlung vom Patienten zum Arzt Informative Dimension Aufklärung über Ursache, Befund, Diagnose, Pathogenese, weitere diag‐ nostische und therapeutische Schritte, (medizinische und soziale) Prognose, Therapieoptionen, Risiken und Wirkungen, Nebenwirkungen - Informationsvermittlung vom Arzt zum Patienten Beratende / (psycho-)therapeutische Dimension Partizipative Entscheidungsfin‐ dung - Beratung und Rückversicherung durch den Arzt - Möglichkeit der Rückmeldung bzw. für Rückfragen durch den Patienten Tab. 4: Funktionale Dimensionen ärztlicher Gespräche (nach Speierer) Nach Lazare et al. sind die Inhalte und Bezugspunkte ärztlicher Gespräche in drei funktionale Bereiche zu unterteilen, die jeweils kommunikativ eng mitei‐ nander verbunden sind und die sich auch inhaltlich weitgehend über‐ schneiden. 282 Diese Funktionsbereiche kommunikativen ärztlichen Handelns entsprechen im Wesentlichen inhaltlich den zuvor skizzierten Dimensionen ärztlicher Konversationen nach Speierer und werden an dieser Stelle der Voll‐ ständigkeit halber nur ergänzend aufgeführt: 1. Problembestimmung, Datenerhebung und Diagnose - Wissen über die Erkrankung des Patienten und über dessen Krank‐ heitserleben erlangen. - psychosoziale Daten des Krankheitsverlaufs erheben. - biomedizinische, psychologische und soziale Daten des Patienten sammeln. - persönliche und krankheitsbezogene Daten zueinander in Beziehung setzen und verstehen. 118 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="119"?> 283 Zusammenfassung bei Müller 2005: 101. 2. Entwicklung und Pflege einer vertrauensvollen therapeutischen Bezie‐ hung - Die Beziehungsebene zwischen Arzt und Patient definieren. - professionelles Kommunizieren und zugleich Kommunizieren von Professionalität. - wertschätzend kommunizieren (Interesse, Respekt, Empathie, Kon‐ gruenz). - Kommunikationsstörungen erkennen und beheben. 3. Aufklärung und Kontrolle - den Patienten umfassend medizinisch, therapeutisch und psychoso‐ zial aufklären und informieren. - partnerschaftlich Entscheidungen zu diagnostischen Verfahren und zu Therapieoptionen finden, festlegen und überwachen. - auf die Einhaltung des Therapieplans achten, Korrekturen vor‐ nehmen und Probleme erkennen und beheben. Die beschriebenen funktionalen Dimensionen ärztlicher Gespräche und die darin verwobenen Bezugspunkte ärztlichen Kommunikationshandelns erfor‐ dern bestimmte, breit gefächerte kommunikative und soziale Kompe‐ tenzen. Weston und Lipkin haben grundlegende kommunikative Kompetenzen identifiziert und formuliert, indem sie die Funktionen, die ärztliche Gespräche erfüllen müssen, weiter aufgefächert haben. 283 Bei Weston und Lipkin werden sechs Funktionen ärztlicher Gespräche unterschieden: 1. Erhebung der Kran‐ kengeschichte, 2. ein diagnostisches Gespräch führen, 3. den Patienten informieren und bilden, 4. Verantwortung für die Versorgung des Patienten übernehmen, 5. Zusammenarbeit mit dem Patienten und 6. mit schwierigen Situationen und Per‐ sonen umgehen. Auch wenn die Festlegung der jeweils erforderlichen kommu‐ nikativen Kompetenzen recht vage ist (s. Tabelle 5), scheinen insbesondere bei den Funktionen Verantwortung für die Versorgung des Patienten übernehmen und Zusammenarbeit mit dem Patienten patientenzentrierte kommunikative Kom‐ petenzen durch, die konkret in der kommunikativen Anwendung des ICE -Kon‐ zepts Gestalt annehmen können. Die Exploration der ICE -Elemente in der Patientenperspektive kann in diesem groben Kompetenzrahmen erweiternd hinzugefügt werden (in der Tabelle durch Fettdruck hervorgehoben): 119 3.2 Funktionale Einbindung des ICE-Modells in Arzt-Patient-Gespräche <?page no="120"?> Funktionen ärztlicher Gespräche Kommunikative ärztliche Kompetenzen Erhebung der Krankengeschichte - Hervorbringen und Aufzeichnen von Daten - Einsatz grundlegender Fragetechniken - nach zusätzlichen Informationen for‐ schen → Exploration von ideas - unbeschwerter Umgang mit sensiblen Themen Ein diagnostisches Gespräch führen - Einsatz offener Fragetechniken - auf den Patienten, nicht nur auf die Krankheit konzentrieren - sich auf einen Dialog einlassen - Einsatz klinischer Expertise, um wichtige Informationen nicht zu verpassen - empathisches Zuhören Den Patienten informieren und bilden - relevante Informationen klar und ver‐ ständlich präsentieren - Informationen kohärent organisieren - das Verständnis des Patienten sicher‐ stellen Verantwortung für die Versorgung des Patienten übernehmen - Verantwortung übernehmen - eine umfassende Behandlung sicher‐ stellen - auf die Sorgen des Patienten eingehen → Exploration von concerns - Gefühle und Empfindungen besprechen - ein Gefühl von Teamarbeit fördern Zusammenarbeit mit dem Patienten - Kommunikationsfertigkeiten der Zu‐ sammenarbeit und Verhandlung ein‐ setzen - die Bedürfnisse des Patienten einbe‐ ziehen → Exploration von expecta‐ tions Mit schwierigen Situationen und Personen umgehen - direkt kommunizieren anstatt zu ver‐ meiden - Strategien für schwierige Patienten vor‐ bereiten Tab. 5: Kommunikative Kompetenzen im ärztlichen Gespräch nach Weston / Lipkin (um ICE-Elemente erweitert) 120 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="121"?> 284 Birkner / Vlassenko 2015: 135. 285 Vgl. Flick 1991: 10 ff. 286 Vgl. Flick 1991: 22. 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells 3.3.1 Subjektive Theorien in der Krankheitsbewältigung Jeder Mensch hat subjektive Vorstellungen und Erklärungsansätze für alltags‐ relevante Sachverhalte, die nicht auf wissenschaftlichen Theorien basieren. Diese Vorstellungen beruhen auf persönlichen Erfahrungen und bestimmen unser Denken und Handeln: So wie die Wissenschaften stellen Menschen Theorien auf, die ihnen helfen, die Welt zu verstehen und sich darin einzurichten, allerdings aus einer persönlichen, partiku‐ lären Perspektive. Solche Subjektiven Theorien befördern das Verstehen und dienen dem Handlungsentwurf. 284 Insgesamt beschäftigen sich die Subjektiven Theorien also mit den Beweg‐ gründen menschlichen Verhaltens, das aus kognitiven Prozessen erwächst und auf sie zurückzuführen ist. So bildet das Modell sowohl Kommunikationsals auch Reflexionsfähigkeiten ab und verbindet diese beiden Fähigkeiten mit menschlichem Handeln. Der Ansatz der Subjektiven Theorien dient als wissenschaftlicher Weg der Erforschung des Alltagswissens bzw. der Alltagskonzepte über Gesundheit und Krankheit. Diese Herangehensweise ist jedoch nicht der einzige Weg, sich sol‐ chen Konzepten zu nähern. Im angelsächsischen Raum bedient man sich des Folkmodels, in dem vielfach linguistische Konzepte als Ausgangspunkt dienen, um im Alltag vorherrschende gesundheits- und krankheitsbezogene Begriffe und ihre Strukturen und Relationen zu analysieren, während eine typisch fran‐ zösische Tradition jene der sozialen Repräsentationen ist. 285 Im Gegensatz zum Konzept der Subjektiven Theorie setzt die Idee der sozialen Repräsentationen nicht am individuellen Wissen an, sondern geht davon aus, dass Vorstellungen (so auch jene über Gesundheit und Krankheit) prinzipiell sozial geteilt sind. 286 Der Ansatz der sozialen Repräsentationen ist insbesondere dazu geeignet, die kollektiven Vorstellungen der sozialen Gruppe der Ärzte zu beschreiben - vor allem in der Abgrenzung Experte-Laie und mit dem Fokus auf Rollenasymmetrien, die sozial determiniert sind. Jedoch sind die Subjektiven Theorien der im deutschen Sprachraum vorherrschende Zugang zu (v. a. pati‐ 121 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="122"?> entenseitigen) Konzepten. Dieser Ansatz wurde und wird daher den anderen genannten vorgezogen. In der folgenden Abbildung lassen sich die Zusammenhänge zwischen sozi‐ alen Repräsentationen und (patientenseitigen) Subjektiven Theorien (in der Ab‐ grenzung zum professionellen Erfahrungswissen über Gesundheit und Krank‐ heit auf Seiten der Ärzte) ablesen: Abb. 3: Gesellschaftliches Wissen (Quelle: Flick 1991: 24) Im Gegensatz zu den objektiven wissenschaftlichen Theorien, die auf Empirie und systematischer Forschung beruhen, beschreiben die Subjektiven Theorien einen individuellen Erklärungsansatz für Erlebtes, der auf dem persönlichen Erfah‐ rungshorizont basiert. Der Begriff der Subjektiven Theorie wurde dabei zunächst in Analogie zum wissenschaftlichen Theoriebegriff konzeptualisiert, wonach das Subjekt im Alltag, ähnlich einem Wissenschaftler, bestimmte Annahmen über die Welt hat, 122 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="123"?> 287 Vgl. Flick 1991: 14. 288 Vgl. Bischoff et al. 1989. die untrennbar miteinander verbunden sind und die thematisch miteinander verwoben sind. 287 Jedoch ergeben sich bei genauem Hinsehen funktionale Un‐ terschiede zwischen Subjektiven Theorien und wissenschaftlichen Theorien. Besonders mit Blick auf die Arzt-Patient-Interaktion sind diese Unterschiede relevant, denn sie manifestieren sich auch in unterschiedlichen kommunika‐ tiven Strategien. Nach Bischoff und Zenz unterscheiden sich Laien- und Expertentheorien vor allem in zwei Aspekten voneinander: Einerseits zeigt sich der Unterschied in einem (sozial angelernten) Rollenverhalten von Arzt und Patient, das (vor allem in patriarchalischen Beziehungsmodellen) zu einer Rollenasymmetrie führt, die sich auch kommunikativ mit den Methoden der linguistischen Gesprächsana‐ lyse nachweisen lässt (z. B. über Beitragskoordinierung, Redeanteile, Relevanz‐ markierungen, turn-takings, gaps oder overlaps/ Unterbrechungen). Der Arzt ist hier aufgrund seines Wissens der Experte, während Patienten aufgrund feh‐ lenden Fachwissens lediglich als Laien betrachtet werden. Andererseits versu‐ chen Patienten die Krankheit aufgrund ihrer persönlichen Betroffenheit mit Hilfe ihrer Subjektiven Theorien zu verstehen, was auch Überlegungen zu den Folgen für das weitere Leben involviert. In diesem Prozess des Verstehens über‐ lagern sich die Elemente des ICE -Modells: Ausgehend von den laienhaften Vor‐ stellungen des Patienten manifestieren sich Ängste und Erwartungen, die in der Subjektiven Theorie des Patienten kumulieren. Der Arzt hingegen will die Krankheit mit seiner Expertentheorie erklären. Das ärztliche Verstehen unter‐ scheidet sich funktional grundlegend vom Verstehensprozess auf Patienten‐ seite. 288 Subjektive Theorien dienen insbesondere in der Krankheitsbewältigung für Patienten der situativen Einordnung des Geschehens und der Orientierungsge‐ wissheit. Sie ermöglichen als kognitive Konzepte die Erklärung eingetretener Ereignisse und die Vorhersage künftiger Entwicklungen und sie erleichtern auf diese Weise die Entwicklung von Handlungsempfehlungen. Dieser Umstand ist aus ärztlicher Sicht besonders relevant: Die Einbeziehung Subjektiver Theorien in den kommunikativen Prozess ermöglicht die wechselseitige Verständigung über therapierelevantes Vorgehen, weil nur auf diese Weise in der Interaktion Adhärenz, Vertrauen und letztlich Behandlungserfolg herbeigeführt werden können. Anderenfalls stehen Subjektive Theorien und Expertenwissen unver‐ eint nebeneinander und behindern gegenseitig eine vertrauensvolle Zusam‐ menarbeit. 123 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="124"?> 289 Bischoff et al. 1989: 137. 290 Bischoff et al. 1989: 137. 291 Mutzek 1988: 73. 292 Groeben et al. 1988. 293 Groeben et al. 1988: 3. 294 Groeben et al. 1988: 17. Die Exploration patientenseitiger Vorstellungen, Ängste und Erwartungen ( ICE ) ist damit der Schlüssel, mit dem Ärzte überhaupt erst den nötigen Zu‐ gang zur Subjektiven Theorie ihrer Patienten erhalten können. Die Dichotomie des objektiven und subjektiven Ansatzes wird von Birkner und Vlassenko als „Gegensatz zwischen Alltag vs. Institution, […] Laienvs. Exper‐ tentum bzw. Subjektivität vs. Objektivität“ 289 beschrieben. In Bezug auf das An‐ sehen der beiden Konzepte stellen die Autoren fest, dass sie „mit sehr unter‐ schiedlichen Geltungsansprüchen verbunden [sind], was dazu führt, dass Laienvorstellungen häufig keine Relevanz zugewiesen wird.“ 290 Doch obwohl den Subjektiven Theorien oft die Rationalität und Strukturiertheit abgesprochen wird, nehmen sie einen hohen Stellenwert bei der Theoriebildung und Erklärung alltäglicher Phänomene und Sachverhalte ein. Laut Mutzek ist ihnen eine zumindest implizite Argumentationsstruktur zuzuerkennen, d. h. sie bestehen nicht nur aus isolierten Einheiten, sondern es handelt sich um subjektiv (aus der Sicht des Handelnden) aufeinander bezogene oder aufeinander aufbauende Ele‐ mente. 291 Solche Wissenskonzepte lassen einen Rückschluss auf innere Denkprozesse und Kognition zu. Sie sind unmittelbar mit der Biografie des Betroffenen verwoben, wodurch sie mit ihr im reziproken Verhältnis stehen. Bereits in den 1970er-Jahren entwickelten Psychologen mit dem „For‐ schungsprogramm Subjektive Theorien“ 292 ein Verfahren, das diese persönli‐ chen Vorstellungen und Erklärungsansätze einordnen sollte. Die Autoren defi‐ nieren die „Reflexivität und die darauf aufbauende Fähigkeit, im und durch Alltagsdenken die Realität so weit wie möglich angemessen zu erkennen und zu verändern“ 293 als zentrales Element der menschlichen Sprach- und Kommu‐ nikationsfähigkeit. Das Konzept der Subjektiven Theorien ordnen die Verfasser im Allgemeinen den Kognitionstheorien zu und streben durch diesen Ansatz eine „Binnenstruk‐ turierung auf dem Gebiet der Kognitionspsychologie“ 294 an. Sie definieren die Subjektiven Theorien im weitesten Sinne als 124 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="125"?> 295 Groeben et al. 1988: 19. 296 Groeben et al. 1988: 48. 297 Groeben / Scheele 2010: 137. 298 Vgl. Groeben et al. 1988: 35. 299 Groeben et al. 1988: 36. • Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, • als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentations‐ struktur, • das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt. 295 Groeben et al. führen an, dass es in Bezug auf die Anwendbarkeit und Gültigkeit der Subjektiven Theorien vor allem darum gehe, in Parallelität zu wissenschaftstheoretischen Rekonstruktionen der Strukturaspekte wissenschaftlicher Theorien Konzepte wie (Subjektive) Problemstellungen, Kon‐ strukte, Definitionen / Explikationen, Daten, Erklärung, Prognose, Technologie als Teilinstanzen Subjektiver Theorien zu explizieren. 296 So sehen Groeben und Scheele in den Subjektiven Theorien eine Einsatzmög‐ lichkeit in Bezug auf die Erklärung und Einordnung alltagsrelevanter Sachver‐ halte, für die bisher keine systematischen wissenschaftlichen Theorien exis‐ tieren. 297 Unter diesem Gesichtspunkt wird das Konzept der Subjektiven Theorien eher als parallel verlaufende Ergänzung der objektiven wissenschaftlichen Theorien verstanden, anstatt dass es diese als gegenläufiges Konstrukt in ihrer Geltung zu beschränken versucht. Allerdings zeigen Groeben et al. auch Grenzen ihrer Theorie auf. Da das „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“ sich mit bewussten Denk- und Er‐ klärungsprozessen befasst, ist es evident, dass die Einsetzbarkeit des Modells ihre Grenzen erreicht, wenn es in den Bereich des Unter- oder Unbewussten des menschlichen Denkens und Handelns geht, ein Sachverhalt sich also dem be‐ wussten Zugriff entzieht. 298 Die Verfasser sprechen in diesem Zusammenhang von Reflexen und Automatismen: Reflexe verstehen wir als automatisch ablaufende Organismusreaktionen auf Um‐ weltreize, die angeboren sind, während Automatismen erlernt sind. Auch für solche erlernten automatischen Reaktionen wird das FST vom Grundansatz her zunächst einmal keinen Erklärungsanspruch erheben. 299 125 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="126"?> 300 Vgl. Faller 1993: 357. 301 Flick 1998: 7-8. 302 Filipp et al. 1987: 1. Im Laufe der Jahre wurde die Forschung im Bereich der Subjektiven Theorien weiter vorangetrieben und auf verschiedene Bereiche des menschlichen Lebens und Erlebens angewendet. Ein Forschungszweig beschäftigt sich beispielsweise mit der Anwendbarkeit Subjektiver Theorien auf den Bereich der Didaktik und den Einfluss persönlicher Vorstellungen auf Lehren und Lernen. 3.3.1.1 Subjektive Theorien in Bezug auf Krankheit und Gesundheit Im Bereich der Medizin und Gesundheitspsychologie behandeln zahlreiche Stu‐ dien die Frage nach persönlichen Vorstellungen und Gedanken der Patienten in Bezug auf ihr Leiden, die Ursachen für ihre Erkrankung und mögliche Thera‐ pieansätze. 300 Dies beinhaltet ebenfalls die Vorstellung, die ein Mensch von Ge‐ sundheit und die Gesundheit beeinflussenden Faktoren hat. So interessieren sich die Subjektiven Theorien unter anderem für folgende Frage: „Welche alltägli‐ chen Wissensbestände zum Thema Gesundheit und Krankheit finden sich neben den wissenschaftlichen Wissensbeständen, werden von diesen verdrängt, er‐ setzt oder auch erst im Kontakt mit ihnen herausgebildet? “ 301 Es geht also vor allem um eine stärkere Berücksichtigung der Patientenperspektive in Ergän‐ zung zur ärztlichen Expertenperspektive. Filipp et al. beschreiben Subjektive Krankheitstheorien „als individuelle Wis‐ sens- und Überzeugungssysteme […], in denen krankheitsbezogene Vorstel‐ lungen, Assoziationen, Sinndeutungen, Ursachenzuschreibungen und Verlauf‐ serwartungen organisiert sind“ 302 . Patienten greifen also auf eigene Erfahrungen zurück, um neu auftretende Symptome einer eventuellen Erkrankung zu deuten und in ihr individuelles Krankheitskonzept einzuordnen. Die Erkenntnis, dass Menschen alltagsrelevante Sachverhalte aus dem ei‐ genen Erfahrungshorizont heraus verstehen, betrifft die Arzt-Patient-Kommu‐ nikation in hohem Maße. Bezieht der Arzt die Vorstellungen, Ängste und Er‐ wartungen ( ICE ) des Patienten in den Anamneseprozess mit ein, fördert dies das Vertrauensverhältnis, was zu einer verbesserten Adhärenz und Therapie‐ treue führen kann. Dies kann positive Auswirkungen auf den Behandlungser‐ folg haben, da sich die Chancen erhöhen, dass der Patient in die empfohlene Therapie einwilligt und therapeutische Maßnahmen unterstützt. Zudem kann die Reflexion über eigene alltagsrelevante Sachverhalte die Di‐ agnosefindung partizipierend beeinflussen, indem der Patient selbst Erklä‐ rungsversuche unternimmt und mögliche Ursachen für sein Leiden identifiziert, 126 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="127"?> 303 Ackermann 2006: 254. 304 Bermejo et al. 2006: 322-323. 305 Vgl. Rotter 1966 und Hornung 1984. 306 Köhler, et al. 2009: 239. 307 Vgl. Köhler, et al. 2009: 254. die sich dem alleinigen Expertenwissen entziehen. Ackermann zeigte am Bei‐ spiel von Patienten mit Tinnitus, dass eine biographische Haltung, die von einem Selbstverständnis als Handlungssub‐ jekt und/ oder dem Vertrauen in das eigene Entwicklungspotenzial dominiert wird, nicht nur die Mobilisation von Bewältigungsressourcen befördert. Sie begünstigt auch, dass Betroffene die Körpersymptome als eine Aufforderung begreifen, lebens‐ weltliche Belastungspotenziale zu erkennen und abzubauen. 303 Dieses Erkennen von Belastungspotenzialen und Krankheitskausalitäten scheint im interkulturellen Vergleich zu differieren. So fanden Bermejo et al. in einer Vergleichsstudie mit Menschen deutscher und spanischer Herkunft he‐ raus, „dass Deutsche familiären und innerpsychischen Problemen bei einem Herzinfarkt mehr Gewicht zuschreiben als Spanier, während Spanier äußeren Faktoren mehr Bedeutung beimessen.“ 304 Das Ergebnis bestätigt die Bedeutung kultureller und gesellschaftlicher Einflüsse in Bezug auf kognitive Verarbei‐ tungsprozesse und Erklärungsansätze. Die Forschung unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen internalen und externalen Kontrollüberzeugungen. 305 Köhler et al. definieren diese wie folgt: External locus of control means that causations for illness are sought in factors outside the own person, that is, coincidence, destiny, powerful others (doctor, God), and so forth. Internal locus of control, by contrast, consists of a belief in the determination of illness occurrences through the own person, for example, through abilities and health behaviour. 306 Diese Kontrollüberzeugungen sind also eng mit den Subjektiven Krankheits‐ theorien des Patienten verwoben. Sie entsprechen meist nicht den rationalen wissenschaftlichen Theorien, die der behandelnde Arzt vermittelt, sondern ba‐ sieren auf persönlichen Erfahrungen und Emotionen. Die Zuschreibung von internalen oder externalen Kontrollüberzeugungen ist wesentlicher Bestandteil der Krankheitsbewältigung und nimmt Einfluss auf die Therapieadhärenz. 307 Ein weiteres Forschungsinteresse, welches das Modell der Subjektiven Krank‐ heitstheorien einschließt, ist der Zusammenhang zwischen optimistischer bzw. pessimistischer Erwartungshaltung und Behandlungsverlauf. Eine Studie von 127 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="128"?> 308 Vgl. Bethge et al. 2010: 390-391. 309 Birkner / Vlassenko 2015: 138. 310 Vgl. Flick 1998: 16. Bethge et al. untersuchte den Behandlungserfolg von Knie- und Hüftpatienten nach Gelenkersatz. Die Ergebnisse zeigen, dass Patienten mit einer optimisti‐ schen Behandlungserwartung einen günstigeren Verlauf erlebten als Patienten, deren Annahmen bezüglich ihrer Therapie von Sorgen und Ängsten geprägt waren. Die Forscher erklärten dieses Phänomen dadurch, dass Menschen, die geringe Erwartungen an die Behandlung stellen, sich anders verhalten als Men‐ schen mit optimistischer Einstellung in Bezug auf die Behandlung. Erwartet ein Patient eine schnelle Genesung, wird er früher mobil sein und sich den Aufgaben seines täglichen Lebens stellen, wohingegen eine pessimistische Einstellung eher zum Vermeiden bestimmter Tätigkeiten verleitet. Der günstige Verlauf ist also mit der persönlichen Erwartung des Patienten eng verknüpft. 308 Auf Basis dieser Ergebnisse ist es also durchaus sinnvoll und zielführend, den Patienten in die Entscheidungsfindung für ein geeignetes Therapiekonzept aktiv einzubeziehen und seine Ängste und Sorgen zu berücksichtigen: Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung und nicht zuletzt dank der vielfältigen medialen Möglichkeiten, sich über Gesundheitsfragen zu informieren, verändern sich sowohl die Einstellungen der Menschen gegenüber Gesundheit und Krankheit als auch ihr Gesundheits- und Krankheitsverhalten. Patient / innen wollen über den Be‐ handlungsverlauf mitentscheiden. 309 Wählt der behandelnde Arzt eine Therapie, die mit der Subjektiven Krankheits‐ theorie des Patienten korreliert, wird der Patient eher einwilligen als bei einem Therapieansatz, der für ihn nur schwer nachvollziehbar ist und mit seinem per‐ sönlichen Wissens- und Erfahrungshorizont kollidiert. Das Ignorieren der Sub‐ jektiven Krankheitstheorien des Patienten gilt folglich als eine der hauptsäch‐ lichen Quellen für verringerte Adhärenz und fehlende Compliance. 310 Dies unterstreicht die Wichtigkeit einer umfassenden Aufklärung des Patienten über seine Erkrankung, Ursachen und Therapiemöglichkeiten. Es unterstreicht zudem die Notwendigkeit, die Vorstellungen, Ängste und Erwartungen des Pa‐ tienten, die zwingend mit dessen Subjektiver Krankheitstheorie verwoben sind, zu explorieren und in den Prozess einzubeziehen. Interaktional geschieht dies durch die Anwendung geeigneter Kommunikationstechniken und die profes‐ sionelle Lenkung der Interaktion durch den Arzt. Faltermeier erkennt den Vorteil der Integration der Subjektiven Theorien des Patienten in das Arzt-Patient-Gespräch in einer Abholung des Patienten von seinem Wissensstandpunkt und einer Weiterentwicklung seines Wissenshori‐ 128 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="129"?> 311 Faltermeier 2003: 75. 312 Faller 1993: 369. 313 Köhler et al. 2005: 400. zontes durch überzeugende Argumentation und Aufklärung: „Die Theorien von Experten und Klienten begegnen sich in einem professionellen Setting und ge‐ raten im besten Fall in einen produktiven Dialog, der den Klienten neue Opti‐ onen für das Gesundheitshandeln im Alltag aufzeigt.“ 311 Neben den Chancen der Subjektiven Krankheitstheorien für die Arzt-Pa‐ tient-Kommunikation dürfen aber auch die Grenzen nicht außer Acht gelassen werden. In einer Studie mit Patienten, bei denen ein Bronchialkarzinom diag‐ nostiziert wurde, zeigte Faller die Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit, die Subjektive Krankheitstheorien mit sich bringen. So sollten die Patienten mög‐ liche Ursachen für das Auftreten eines Bronchialkarzinoms im Allgemeinen und in ihrem speziellen Fall identifizieren. Viele Betroffene gaben Rauchen als Hauptursache für ein Bronchialkarzinom an, schlossen diese Erklärung für ihren individuellen Fall allerdings eher aus. Faller versucht folgende Erklärung für dieses Phänomen: Die Inkonsistenz rührt daher, daß die Dissonanz zwischen wahrgenommenem Ge‐ sundheitsverhalten (Zigarettenrauchen mit der vorhersagbaren Konsequenz der Er‐ krankung) einerseits und die Schuld andererseits dadurch reduziert werden kann, daß der Zusammenhang zwischen Risikoverhalten und Erkrankung aufgelockert/ negiert wird. 312 Eine distanzierte Betrachtung der eigenen Situation, die Selbstverschulden als Krankheitsursache in Betracht zieht, scheint im Rahmen der Subjektiven Krank‐ heitstheorien auf Basis dieser Datenlage also eher unwahrscheinlich. Vor allem beim Bewältigungsprozess existenzbedrohender Erkrankungen rückt die rationale Betrachtung der eigenen Situation in den Hintergrund. Köhler et al. fanden in einer Untersuchung mit Patienten, die an Leukämie er‐ krankt waren, in den untersuchten Interviews überwiegend entweder dramatische, durch überwäl‐ tigende Vernichtungsbedrohung gekennzeichnete Schilderungen, oder aber bagatel‐ lisierende, rational-nüchterne, auf Daten und Fakten reduzierte Berichte, während abgestufte Beurteilungen, welche die objektive und die subjektive Perspektive ver‐ mitteln, weitgehend fehlen. 313 Da zwischen der Diagnosestellung und den Interviews erst eine Woche ver‐ gangen war, befanden sich die Patienten in einer emotionalen Ausnahmesitua‐ tion, in der sie ihre Erkrankung noch nicht verarbeiten konnten. Die Ergebnisse 129 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="130"?> 314 Vgl. Köhler et al. 2005: 400. 315 Faller / Jelitte 2010: 155. 316 Vgl. Antonovsky 1979. 317 Vgl. Adler / Matthews 1994. 318 Faltermeier et al. 1998: 311. 319 Faltermeier et al. 1998: 324. 320 Vgl. Faltermeier et al. 1998: 324. verdeutlichen die Relevanz der Würdigung des Verarbeitungsstadiums der Pa‐ tienten, da Menschen kurz nach Diagnosestellung anders mit ihrer Erkrankung umgehen als solche, bei denen die Diagnosestellung schon länger zurückliegt. Die Forscher schlagen vor, Schwierigkeiten beim Verständnis der Erkrankung sowie Verleugnungsprozesse aktiver im Arzt-Patient-Gespräch zu themati‐ sieren, um die Therapieadhärenz des Patienten nachhaltig zu fördern. 314 In einer weiteren Studie mit Krebspatienten nahmen Faller und Jelitte die Strategien der Krankheitsbewältigung und „das Erleben, selbst etwas tun zu können, um das eigene Wohlbefinden günstig zu beeinflussen“ 315 in den Blick. Im Ergebnis zeigte sich, dass die Betroffenen durch die Berücksichtigung ihrer Subjektiven Theorien Kontrolle erfahren und aktiv an ihrem Genesungsprozess mitwirken können. Dieser, auf dem Konzept der Salutogenese 316 beruhende, Ansatz rückt die Wiederherstellung der Gesundheit und die dafür notwendigen Mittel in den Fokus, statt den Patienten auf seine Erkrankung zu reduzieren. Für die Krank‐ heitsentstehung spielt das Verhalten des Patienten in Bezug auf sein Risikover‐ halten, aber auch in Bezug auf gesundheitsfördernde Strategien also eine be‐ deutende Rolle, die inzwischen von der Forschung erkannt und bestätigt wurde. 317 Zu diesem Schluss gelangen auch Faltermeier et al., wenn sie schreiben: Von zentraler Bedeutung für das Gesundheitshandeln sind die subjektiven Vorstel‐ lungen von Gesundheit: Wenn Laien in ihrem Alltag Maßnahmen zum Erhalt ihrer Gesundheit ergreifen, dann müssen sie nicht nur Gesundheitsmotive haben, sondern auch komplexe Vorstellungen und Wissensbestände über Gesundheit. 318 Faltermeier et al. erkannten darin einen neuen Aspekt der Gesundheitsfor‐ schung, der zeigt, dass die Wissenssysteme von Laien meist auf „dominanten kognitiven Orientierungen [beruhen], die in der Regel ihre zentrale Basis in Lebenserfahrungen haben.“ 319 Diese Vorstellungen von Gesundheit und Krank‐ heit seien weiterhin eng mit dem Konzept der Salutogenese verbunden und spiegeln die Inhalte dieser Theorien, die auf die Erhaltung und Wiederherstel‐ lung von Gesundheit abzielen, in bedeutendem Maße wider. 320 130 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="131"?> 321 Wüstner 2001: 316-317. 322 Wüstner 2001: 317. 323 Wüstner 2001: 318. 324 Vgl. Leventhal et al. 1985: 129. Für den Erkrankten ist es für die Entwicklung von Bewältigungsstrategien von erheblicher Bedeutung, ob er sich durch seine Krankheit determiniert fühlt oder ob er trotz seiner Erkrankung weiterhin aktiv über sein Leben bestimmen kann. 3.3.1.2 Die Verschmelzung von objektiver und subjektiver Theorie Krankheiten werden häufig aus diesem Ansatz heraus als zu beeinflussende Ereignisse verstanden, auf die man aktiv einwirken und die man vermeiden kann. Wüstner spricht in diesem Zusammenhang von einer „Entpathologisie‐ rung und Normalisierung“ 321 . So beobachtete sie in einer Studie mit Eltern ge‐ netisch kranker Kinder die Unfähigkeit der Eltern, abstrakte Zusammenhänge, auf die sie keinen Einfluss haben, nachvollziehen zu können. Stattdessen ord‐ neten sie die Ursachen der Erkrankung in ihren konkreten Erfahrungs- und Wissenshorizont ein: So scheint bei der Unfähigkeit, das Syndrom des Kindes auf eine Spontanmutation zurückzuführen, die Überlegung aufzukommen, irgendwer oder irgendetwas müsse doch schuld daran sein. Familiäre Ereignisse oder als potenziell schuldhaft angenom‐ menes Verhalten der Eltern wird nach Kausalitätszusammenhängen abgesucht. 322 Neue Informationen, beispielsweise aus einem Aufklärungsgespräch mit dem Arzt, werden in das bereits bestehende subjektive Krankheitsbild integriert und so umgeformt, dass eventuelle Dissonanzen abgebaut werden. Der objektive medizinische Blick auf die Erkrankung verschmilzt mit der Subjektiven Theorie des Patienten. Ein Arzt muss aus diesem Grund die Subjektiven Krankheits‐ theorien seines Patienten erfragen und sie in das Gespräch einbinden, „um Fehl‐ interpretationen zu korrigieren oder unbegründete Ängste zu zerstreuen.“ 323 Diese Idee der Ursachenzuschreibung in Bezug auf umfeldbezogene Einfluss‐ faktoren basiert auf der Theorie des Common-Sense Model of Illness Representa‐ tion von Leventhal et al. aus den 1980er-Jahren. In einer Studie mit Patienten, die an Bluthochdruck litten, fanden die Forscher heraus, dass die Patienten ihre Symptome auf verschiedene äußere Einflussfaktoren wie Arbeit, Umwelt, Fa‐ milie, Stress oder Ernährung zurückführten. 324 Auch die Studie von Birkner und Vlassenko mit an HIV erkrankten Menschen bestätigt die Annahme, dass Patienten spezielle Vorstellungen zur Kontrollier‐ barkeit ihrer Erkrankung haben: 131 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="132"?> 325 Birkner / Vlassenko 2015: 149. 326 Vgl. Birkner / Vlassenko 2015: 150. 327 Vgl. Salewski 2002: 158. Internale Einflussmöglichkeiten auf den Infektionsverlauf der Betroffenen ergeben sich z. B. dadurch, dass Adhärenz den Verlauf positiv oder die absichtsvolle Nicht-Ad‐ härenz negativ beeinflussen kann. Dies wird als Entscheidungsspielraum erfahren; auf der einen Seite betrifft es die Einnahme der Medikamente, auf der anderen Seite den Umgang mit der Infektion, wie beispielsweise die Bagatellisierung der HIV-In‐ fektion durch das Praktizieren von ungeschütztem Geschlechtsverkehr, bei dem das Risiko von Neuinfektionen in Kauf genommen wird. 325 Diese Überzeugung, die Infektion kontrollieren zu können, steht in Verbindung zum Wissen über die Erkrankung im Allgemeinen und im speziellen persönli‐ chen Fall, nämlich dann, wenn Untersuchungen ergeben, dass durch eventuelle Interventionen die Viruslast rückläufig ist. An dieser Stelle besteht die Gefahr, dass Betroffene davon ausgehen, sie seien nicht mehr infektiös, weil die Virus‐ last unter die Nachweisgrenze gesunken ist. 326 Solche subjektiven Annahmen müssen vom Arzt identifiziert und im Arzt-Patient-Gespräch thematisiert werden. 3.3.1.3 Inhaltliche Kategorisierung Subjektiver Krankheitstheorien Salewski führte 2002 eine Studie mit an Neurodermitis erkrankten Jugendlichen durch, für die sie eine Kategorisierung der Inhalte Subjektiver Krankheitstheo‐ rien vornahm. Insgesamt identifiziert sie acht Bereiche der Subjektiven Krank‐ heitstheorien, die zwar bereits zuvor in der Forschung thematisiert wurden, über deren Anerkennung und Vollständigkeit allerdings keine Einheitlichkeit be‐ steht: 1. Vorstellungen von Symptomen und Einordnung dieser in bestimmte Krankheitsbilder 2. Annahmen über den Verlauf und die Entwicklung des Leidens 3. Zuschreibung von Ursachen für die Krankheitsentstehung 4. Vorstellungen von den Folgen der Erkrankung 5. Vorstellungen von Behandlungsmöglichkeiten der Erkrankung 6. Vorstellungen über die Beeinflussbarkeit und Kontrollmöglichkeit der Erkrankung 7. Vorstellungen von Heilungschancen der Erkrankung 8. Sinnzuschreibungen in Bezug auf die Krankheit 327 132 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="133"?> 328 Salewski 2002: 166. 329 Vgl. Salewski 2002: 168. 330 Vgl. Goldbeck / Bundschuh 2007: 17. 331 Goldbeck / Bundschuh 2007: 17. 332 Goldbeck / Bundschuh 2007: 14. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass ein signifikanter Unterschied zwischen der Krankheitsbewertung Jugendlicher mit hoher und geringer Krankheitsbe‐ lastung besteht, der sich vor allem in den Kategorien der Sinnhaftigkeit und Ursachenzuschreibung sowie bei den Krankheitsfolgen manifestiert. So machten die hoch belasteten Jugendlichen zahlreiche Angaben, „die sowohl auf einen differenzierten Umgang mit den Krankheitserfahrungen als auch auf eine hohe Sensibilität für die negativen und positiven Folgen der Erkrankung schließen lassen.“ 328 Die Auseinandersetzung mit ihrer Erkrankung erfolgt auf einem wesentlich intensiveren Level als es in der Gruppe der gering belasteten Jugendlichen der Fall ist. Für die Therapieplanung ist es besonders wichtig, die Vorstellungen der Jugendlichen zu kennen und potenzielle Ängste und Sorgen im therapeutischen Vorgehen zu berücksichtigen, um ein kooperatives Ver‐ hältnis zu erzeugen. 329 Auch Goldbeck und Bundschuh gelangen zu der Erkenntnis, dass subjektive Überlegungen der Patienten bereits in einer frühen Phase in die Diagnostik und Therapieplanung einbezogen werden sollten, um eine effektive Krankheitsbe‐ wältigung anstreben zu können. 330 Sie konnten in einer Studie mit Kindern und Jugendlichen, die unter somatoformen Störungen oder Asthma bronchiale litten, und deren Eltern eine „Komplexität und Multidimensionalität subjektiver gesundheitsbezogener Theorien in den untersuchten Patientengruppen“ 331 aus‐ machen. Dabei entdeckten die Forscher, „dass Kinder und Jugendliche keine qualitativ anderen, jedoch insgesamt weniger differenzierte krankheits- und gesundheitsbezogene Kausalattributionen vornahmen als ihre Eltern.“ 332 Die Er‐ gebnisse zeigen, dass die Überlegungen der Eltern und Patienten in Bezug auf ihre Erkrankung und deren Ursachen keineswegs eindimensional und festge‐ fahren sind. Daraus ergibt sich ein Interventionsansatz, der es dem Arzt als Ex‐ perten ermöglicht, bestimmte Sichtweisen der Patienten zu hinterfragen, falsche Ansätze zu korrigieren und sachlich fundierte Theorien zu bestätigen. Um Zugang zum Erleben und zur Binnenperspektive erkrankter Menschen zu erhalten, ist der Einbezug ihrer subjektiven Krankheits- und Gesundheits‐ theorien unumgänglich. Diese Subjektiven Theorien vermitteln, wie Betrof‐ fene über die Entstehung, Eigenschaften und Therapiemöglichkeiten ihrer 133 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="134"?> Krankheit denken und welche Sinndeutungen sie in Bezug auf ihre Erkran‐ kung vornehmen. Der Einblick in solche Krankheitskonstruktionen von Menschen kann Ärzten in der Kommunikation mit ihren Patienten helfen, einen Zugang zu ihnen zu finden und sie im Bewältigungsprozess zu unterstützen. Ärzte, die die Subjek‐ tiven Theorien ihrer Patienten bezüglich Krankheit und Krankheitsursachen berücksichtigen, fördern die Therapieadhärenz, was nachhaltige Behandlungs‐ erfolge wahrscheinlicher macht. Auch internale und externale Kontrollüber‐ zeugungen und Bewältigungsstrategien werden maßgeblich durch die Subjek‐ tiven Krankheitstheorien des Patienten beeinflusst. Je früher ein Arzt die subjektiven Einstellungen und Theorien seines Patienten erkennt und in die Behandlung einbezieht, desto eher kann er sie beeinflussen, um beispielsweise mögliche Fehlinterpretationen zu korrigieren. Zu berücksichtigen ist zudem, dass sich die subjektive Perspektive des Pati‐ enten auf seine Erkrankung im Verlauf des Krankheitsprozesses ändern kann - Subjektive Theorien sind also keine starren Konzepte. Auch eine Wissenser‐ weiterung durch den Arzt im Rahmen eines Aufklärungsgesprächs kann Sub‐ jektive Theorien verändern und Patienten in ihrer Sicht auf die Erkrankung beeinflussen. Zur Krankheits- und Symptombehandlung ist durch den Einbezug des Konzepts der Subjektiven Theorien eine weitere Aufgabe für den Arzt hin‐ zugekommen: die Förderung von Gesundheit und die Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung. 3.3.2 ICE-Elemente und das Common-Sense Model of Illness-Representation Bislang konnte gezeigt werden, dass das subjektive Krankheitsmodell des Pati‐ enten, also dessen Perspektivierung von Krankheit und Gesundheit, maßgeblich in die Ausgestaltung ärztlicher Gespräche einbezogen werden sollte. Die im Abschnitt zuvor paraphrasierten Studienergebnisse zeigen deutlich, dass die Berücksichtigung der zentralen Elemente der Patientenperspektive (ideas, con‐ cerns, expectations) einen hohen Einfluss auf den Behandlungserfolg haben kann. Es ist daher anzuraten, diese Dimensionen in Kommunikationsmodelle einzubinden. Sie bilden zentrale Kategorien der Gesprächssteuerung und sind entscheidend für die kommunikative Ausgestaltung patientenzentrierter Ge‐ spräche. Die Elemente des ICE -Modells sind integrale Bestandteile der Krankheits‐ konzepte von Patienten. Daher ist es in der kommunikativen Umsetzung not‐ 134 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="135"?> 333 Vgl. Aymanns / Filipp 1997. 334 Vgl. Leventhal et al. 1985. 335 Vgl. Leventhal et al. 2003. wendig, das jeweilige Patientenkonzept zu explorieren, was über verschiedene - in Kapitel 4 näher definierte - Kommunikationstechniken gelingen kann. Zur Exploration eignet sich das Common-Sense Model of Illness-Representa‐ tion von Leventhal et al., das als kognitionswissenschaftliche Basis des ICE -Modells angesehen werden kann. Im Wesentlichen handelt es sich bei diesem Modell um die Darstellung von kognitiven Kategorien. Das Modell geht davon aus, dass Menschen grundsätz‐ liche Vorstellungen von Krankheiten haben, die sich - zwar in unterschiedlicher Ausprägung - als komplexe Konzepte beschreiben lassen. Die Grundannahme dieses Modells der Krankheitsrepräsentation lautet: Menschen bilden unter Nutzung relevanter Gedächtnisinhalte eine kognitive Repräsentation von Krankheit. Das bedeutet: Jegliche Assoziationen und Vorstellungen, die infolge der Krank‐ heitsbedrohung gebildet werden, können als Subjektive Krankheitstheorien zu‐ sammengefasst werden. Es handelt sich dabei um komplexe Wissenssys‐ teme, die in bestimmter Weise geordnet und dargestellt sind. 333 Die Aktivierung dieser Wissenssysteme führt - ausgelöst durch z. B. Krank‐ heitsbegriffe (Labels) - zur Herausbildung eines subjektiven Krankheitskon‐ zepts mit Annahmen über die Symptomatik, den Verlauf, die Konse‐ quenzen, die Ursachen und die Behandlungsmöglichkeiten einer (tatsächlichen oder befürchteten) Erkrankung. 334 Daraus ergibt sich ein kom‐ plexes Wissenssystem, das aus fünf Kernkomponenten besteht: 1. Identität (identity) • Symptome • Krankheitslabel (namentliche Laiendiagnose; Krankheitsbezeich‐ nung) 2. Zeitlicher Verlauf (time line) 3. Ursachen (cause) 4. Konsequenzen (consequences) 5. Behandelbarkeit / Kontrollierbarkeit (control) 335 Diese fünf Komponenten stehen miteinander in Beziehung und beeinflussen sich wechselseitig. Die Identität einer Krankheit ist in diesem Modell gekenn‐ 135 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="136"?> 336 Vgl. Weinman et al. 1996 und Skelton / Croyle 1991. 337 Glattacker / Heyduck 2016: 34. zeichnet durch mit der Krankheit assoziierte Symptome und die namentliche Diagnose (diagnostische Krankheitslabel). In dieser Dimension lässt sich die Frage nach dem WAS stellen, die arztseitig beantwortet werden muss. Im zeit‐ lichen Verlauf (Frage: WIE LANGE ? ) manifestieren sich Erwartungen und Ein‐ schätzungen zur Dauer (zyklisch, chronisch, akut, kurz- oder langwierig etc.) einer Erkrankung sowie zur Dauer der sich anschließenden Maßnahmen (z. B. Reha). Die Suche nach Ursachen für eine Erkrankung wird mit der Frage: WARUM ? formuliert. Es werden außerdem Erwartungen zu den Konsequenzen einer Krankheit (Frage: WELCHE ? ) gebildet, die sich auf verschiedene Lebens‐ bereiche beziehen können (z. B. sozial, finanziell) und die Ausdruck konkreter oder abstrakter Befürchtungen sind. Zuletzt spielen Fragen nach dem WIE der Behandlung eine entscheidende Rolle, in der sich der Wunsch nach der eigenen Kontrolle über die eigene Krankheit ebenso wiederfindet wie Erwartungen über die mögliche Heilung und damit verbunden Erwartungen an die Heilung (was den Arzt als Verantwortlichen involviert). Diese fünf Dimensionen Subjektiver Krankheitstheorien sowie ihr Zusammenwirken sind in zahlreichen Studien gut untersucht und gelten damit als empirisch gesichert: 336 „Insbesondere die pos‐ tulierten Zusammenhänge zwischen subjektiven Krankheitskonzepten und Be‐ wältigungsverhalten einerseits bzw. gesundheitsbezogenen Ergebnissen (,Out‐ comes‘) andererseits können als belegt gelten“ 337 . Für das ärztliche Gespräch ergibt sich aus dem zuvor Gesagten die Notwen‐ digkeit, die Fragen • Was (habe ich)? • Wie lange (dauert das? ) • Warum (habe ich das)? • Welche (Konsequenzen hat das für mich / meine Familie etc.)? • Wie (kann man das behandeln)? zu antizipieren und - sofern sie nicht patientenseitig formuliert werden - zu präformulieren und die hinter den Fragen liegenden Vorstellungen zu explo‐ rieren. Auf diese Weise werden die Dimensionen ideas, concerns und expectations Gegenstand des Gesprächs, was zu einer starken Patientenorientierung beiträgt. Die Exploration dient der Bewusstmachung evtl. divergierender Konzepte und hilft dabei, Verstehensproblemen entgegenzuwirken. 136 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="137"?> 338 Glattacker / Heyduck 2016: 34. 339 Glattacker / Heyduck 2016: 34. 340 Glattacker / Heyduck 2016: 35. Wenn Patienten mit Krankheiten konfrontiert werden, bilden sie unter Ein‐ beziehung von Welt- und Erfahrungswissen sowie von Sprachwissen kom‐ plexe Wissensrahmen, in denen sich die Elemente des ICE -Modells wieder‐ finden. Die Elemente 1 bis 3 des Common-Sense Models of Illness-Representation de‐ cken sich prinzipiell mit dem Element ideas des ICE -Modells. Die Vorstellung von den Konsequenzen einer Erkrankung korrelieren mit dem ICE -Element concerns. Vorstellungen von der Behandelbarkeit einer Erkrankung und von deren Kontrollierbarkeit finden ihre Ausprägung im ICE -Element expectations, weil damit eng verwoben prinzipiell auch die Erwartung an den Arzt und dessen Handeln ist. Diese Wissenssysteme basieren also auf „subjektiven Vorstellungen bzgl. der wahrgenommenen Gesundheitsbedrohung oder Krankheit, die auch als ,sub‐ jektive Krankheitskonzepte’ oder ,kognitive Repräsentationen‘ bezeichnet werden“ 338 . Wie man unschwer erkennen kann, sind diese Vorstellungen eng geknüpft an die Elemente des ICE -Modells. Die Exploration dieser Krankheitskonzepte ist eine zentrale Aufgabe ärztli‐ cher Gesprächsführung, weil sich dadurch positive Effekte auf das Bewälti‐ gungsverhalten der Patienten erzielen lassen. Konkret steuern die subjektiven Krankheitskonzepte „die Auswahl, Ausführung und Aufrechterhaltung von Be‐ wältigungsverhalten wie z. B. die Einnahme von Medikamenten, Bettruhe oder die Umsetzung von Selbstmanagementstrategien“ 339 . Auf diese Weise lässt sich das Bewältigungsverhalten der Patienten über die Exploration und Einbezie‐ hung der Elemente des Modells (im Wesentlichen sind dies ideas, concerns und expectations) steuern. In der Steuerung des Bewältigungsverhaltens lag auch das vorrangige Ziel bei der Entwicklung des Common-Sense Models in den 1980er-Jahren. Es ging bereits damals darum, „edukative Interventionspro‐ gramme zu entwickeln, die in der Lage sind, Einstellungen, Verständnis und Verhalten von Patienten im Hinblick auf Krankheit und Gesundheit zu erweitern und belastende emotionale Reaktionen zu verringern“ 340 . Das Modell der mentalen Krankheitsrepräsentation bildet das kognitionsthe‐ oretische Grundgerüst, auf dem das ICE -Modell (als Modell zur inhaltlichen Modellierung von Gesprächen) stabilen Halt findet. In der konkreten Ge‐ sprächspraxis ist es erforderlich, Patienten durch zielgerichtete Gesprächstech‐ 137 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="138"?> niken zum Erzählen zu bringen, um die z. T. erheblich divergierenden Konzepte von Patient und Arzt sichtbar zu machen und auf diese Weise zu konsentieren. Gerade in Zeiten von „Dr. Google“ ist der Wissensbestand von Patienten oftmals durch unzureichende oder falsche Informationen beeinflusst, sodass in vielen Fällen Krankheitsvorstellungen nicht mit der Realität übereinstimmen. Insbe‐ sondere Krankheitsbegriffe können bei Patienten zu Missverständnissen führen, weil das medizinische Wissen des Arztes nicht mit dem Wissen des Pa‐ tienten übereinstimmt. Für die kognitive Modellierung der ICE -Elemente in der Patientenperspektive kann dies folgenreich sein. Krankheitsbegriffe beein‐ flussen das gesamte Modell der mentalen Krankheitsrepräsentation in allen fünf Komponenten und auf diese Weise auch die ideas, concerns und expectations. 3.3.3 ICE und Framing - ein kognitionslinguistischer Zugang zum Modell In der sprachlichen Wirklichkeit zeigt sich nicht selten eine Schwierigkeit, die sich wie folgt beschreiben lässt: Die Aktualisierung unterschiedlicher Wissens‐ rahmen (Frames mit den Dimensionen des ICE -Modells) führt durch unter‐ schiedliches verstehensrelevantes Wissen zu einem semantischen Kongruenz‐ problem, also zu Missverständnissen. Diesen Zusammenhang - und die damit verbundene Bedeutung der Exploration des ICE -Modells (bzw. der Patienten‐ perspektive mit den Elementen des ICE -Modells) durch den Arzt im Gespräch - möchte ich im Folgenden darstellen. Dazu ist eine Festlegung wichtig, weil sie gewissermaßen den Kern der lin‐ guistischen Frame-Konzeption bildet: Begriffe sind untrennbar an Vorstellungen gebunden. Jedes Wort, das wir hören, löst bestimmte Assoziationen in unseren Köpfen aus. Zugleich akti‐ vieren Begriffe auch benachbarte Konzepte und Vorstellungen. Das Wort Geburtstagsfeier evoziert beispielsweise Vorstellungen von der Dauer der Feier (mehrere Stunden), dem Umfeld (es sind Gäste anwesend, wahrschein‐ lich gibt es Geschenke) und der Gefühlslage (eine angenehme Situation). Zudem entstehen Assoziationsverbindungen zu benachbarten Begriffen (Geschenk, Torte, Konfetti etc.). Verwoben sind solche kognitiven Elemente in sogenannten Frames, also in komplexen Wissensrahmen. Wissen ist jedoch nicht gleich Wissen. Es gibt auf der einen Seite sprachli‐ ches Wissen (Wissen über Wörter und Sätze) und auf der anderen Seite Welt‐ 138 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="139"?> wissen (unser Erfahrungswissen sagt uns z. B., dass man bei Geburtstagen Ge‐ schenke bekommt). Indem Menschen sowohl über sprachliche als auch über erfahrungsbasierte Wissensbestände verfügen, können sie Begriffe mit Vorstel‐ lungen verbinden. Dabei ist die Ausprägung der Vorstellung, die ein Wort evo‐ ziert, subjektiv und individuell verschieden. Die konkrete Vorstellung von einer Geburtstagsparty etwa wird bei jedem Menschen ein wenig anders ausfallen. Der eine stellt sich eine Torte vor, ein anderer ein Fass Bier. Es existieren keine intersubjektiven Allgemeinvorstellungen, was in der kommunikativen Wirk‐ lichkeit leicht zu Missverständnissen führen kann. Wenn Sie beim Wort Urlaub an Südsee und ihr Gesprächspartner an Nordpol denken, werden Sie sich even‐ tuell nicht richtig verstehen, obwohl sie beide die Bedeutung des Wortes Urlaub zu kennen glauben. Die Deutung eines Begriffs ist abhängig von den jeweils evozierten Frames. Nur dann, wenn die Frame-Konzepte mehr oder weniger deckungsgleich übereinander liegen, ist Verständigung hergestellt. Dieses Phä‐ nomen ist für den Gegenstandsbereich Arzt-Patient-Kommunikation deswegen so interessant, weil selbstverständlich auch in solchen Gesprächen Frames ak‐ tiviert werden. Dieser Prozess läuft beispielsweise immer dann ab, wenn Patienten mit Krankheitsbegriffen konfrontiert werden. Menschen bilden dann unter Nut‐ zung relevanter Gedächtnisinhalte eine kognitive Repräsentation von Krankheit (Common-Sense Model of Illness-Representation). Über die Exploration des je‐ weiligen Krankheitskonzepts des Patienten können und sollen die Vorstel‐ lungen, Ängste und Erwartungen ( ICE ) der Patienten zur Sprache gebracht werden. Über bewusste Wortwahl und geschickt gewählte sprachliche Bilder lassen sich Krankheitskonzepte zudem verändern (Framing). Bevor dies an einem Beispiel gezeigt wird, sollen im Folgenden einige Framing-Ansätze kurz näher erläutert und für den hier im Fokus stehenden Gegenstandsbereich greifbar gemacht werden. Frames sind - nach George Lakoff - sowohl auf der sprachlichen als auch auf der außersprachlichen Ebene verortete Wissenskonstrukte, wobei diese beiden Ebenen untrennbar miteinander verwoben sind: Es gibt zwei Arten von Frames: ‚Surface Frames‘, durch die wir die Bedeutung ein‐ zelner Worte und Sätze erfassen, also Frames auf der sprachlichen Ebene, und ‚Deep Seated Frames‘. Deep Seated Frames sind in unserem Gehirn tiefverankerte Frames, die unser generelles Verständnis von der Welt strukturieren, unsere Annahmen von der Welt zum Beispiel auf Grund unserer moralischen und politischen Prinzipien, und 139 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="140"?> 341 Lakoff / Wehling 2008: 73. 342 Vgl. Ziem et al. 2018: 156. 343 Scheufele 2003: 46. 344 Matthes 2007: 18. 345 Ziem et al. 2018: 158. 346 Ziem et al. 2018: 155. 347 Ziem et al. 2018: 157. die für uns schlicht ‚wahr‘ sind - die also unseren eigenen Common Sense ausma‐ chen.“ 341 Der Framing-Ansatz wird in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen betrachtet und je nach Erkenntnisinteresse anders ausgedeutet. In der Literatur stößt man bei dem Begriff Frame auf unterschiedliche Definitionen. Je nach Blickrichtung und Forschungsinteresse wird der Frame-Begriff in den Disziplinen unter‐ schiedlich verwendet. Frame-Konzepte werden vor allem in der Linguistik, aber auch in der Kognitionspsychologie, der Medien- und Kommunikationswissen‐ schaft oder auch der politischen Kommunikation entworfen, diskutiert, spezi‐ fiziert und jeweils an spezifische Aufgabenstellungen rückgebunden. Ausge‐ hend von der Vorstellung, dass an sprachliche Begriffe bestimmte Vorstellungen geknüpft sind, die wiederum weitere Vorstellungen auslösen, werden Frames als komplexe Wissensrahmen beschrieben. Die jeweiligen Framing-Konzepti‐ onen weisen allerdings hinsichtlich der Methoden, Anwendungsfelder und Ex‐ planationskräfte Unterschiede auf, die durch das Ziel der jeweiligen Forschungs‐ richtung bedingt sind. 342 Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen sind sich jedoch einig, dass dieser interdisziplinäre Ansatz im We‐ sentlichen auf demselben Fundament basiert. So bezeichnet beispielsweise Bertram Scheufele Frames als „Interpretationsmuster […], die helfen, neue In‐ formationen sinnvoll einzuordnen und effizient zu verarbeiten“ 343 . Nach Jörg Matthes sind Frames als Sinnhorizonte zu verstehen, die „gewisse Informati‐ onen hervorheben und andere ausblenden“ 344 . Einflussreich für die Linguistik, in der die Frame-Theorie traditionell eher in einem semantischen Kontext untersucht wird, sind vor allem die Arbeiten Charles Fillmores. Fillmore betrachtet Frames „als konzeptuelle Strukturen, die den Gebrauch und das Verstehen von sprachlichen Ausdrücken motivieren“ 345 . So werden nach Ziem et al. Frames „zur Beschreibung von Wissensordnungen und deren Rolle in Verstehens- und Interpretationsprozessen herangezogen“ 346 . Zentrales Element stellt dabei der kognitiv aufrufbare Wissensbegriff dar. Dieser geht von „verbalen Elementen und darin ausgedrückten semantischen Struk‐ turen“ 347 aus. Solch ein Wissensrahmen besteht aus unzähligen Elementen, welche nicht voneinander getrennt betrachtet werden können. Vielmehr löst 140 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="141"?> 348 Vgl. Busse 2018: 79 f. 349 Vgl. Busse 2018: 75, 79. 350 Vgl. Ziem 2012: 72. ein Framing-Begriff die Aktivierung vieler weiterer Elemente aus. Es entsteht dadurch ein Frame-Netzwerk. Dietrich Busse unterteilt linguistische Frames in allgemeine kognitive und speziellere linguistische Frames. Mit den Merkmalen der Konventionalität und der Iterativität verweist Busse auf die Abhängigkeit von Frames von gesell‐ schaftlichen Prägungen und auf die Notwendigkeit der Wiederholung und somit Verfestigung eines Frames im regelmäßigen Gebrauch der frameauslösenden Begriffe. 348 Konstruiert und geordnet wird das Wissen in Frames durch soge‐ nannte Standardwerte (default-Werte), die feststehende, zentrale Wissensele‐ mente aus bereits gesammeltem Weltwissen abbilden. Weitere Teilelemente in einem Frame werden durch Leerstellen (slots) abgebildet, die wiederum mit Füllelementen (fillers) besetzt sein können. 349 Die sprachliche Konkretisierung von Wissensaspekten (Leerstellen/ slots) im Gespräch vollzieht sich durch soge‐ nannte Prädikationen. Dabei sind solche Prädikationen (also einem Referenz‐ objekt zugeschriebene Prädikate) entweder sprachlich realisierte Werte (filler) oder Standardwerte (default-Werte), die inferentiell durch Kontext- und Hin‐ tergrundwissen erschlossen werden. Die Verfestigung von Prädikaten durch die sprachliche Referenzialisierung erfolgt durch rekurrente Verwendungszusam‐ menhänge. Auf diese Weise können sich Prädikate zu Standardwerten verfes‐ tigen. 350 Diese Zusammenhänge können wir uns anhand eines Beispiels aus der Arzt-Patient-Kommunikation deutlich machen. Ich verwende an dieser Stelle ein Beispiel, dass uns w. o. schon begegnet ist. Die dort besprochenen Schwie‐ rigkeiten lassen sich auch framesemantisch zeigen, weshalb sich das Beispiel m. E. an dieser Stelle gut eignet. Die lexikalische Konstruktion „Therapietreue“ öffnet eine Vielzahl an Leerstellen, die das Referenzobjekt näher bestimmen. Solche Leerstellen lassen sich systematisch erfragen, beispielsweise durch die folgenden Fragen: • Wer zeigt wem gegenüber ein Treueverhalten? • Wie wird Treue dabei definiert? • Welchem Ziel dient die Therapietreue? • Auf welche Weise wird Therapietreue erreicht? • usw. Auf diese Fragen lassen sich nun typische Antworten als prädikative Zuschrei‐ bungen geben, die - wenn diese Antworten rekurrent auftreten - die Prädikate 141 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="142"?> 351 Proposition meint hier den semantischen Inhalt. als Standardwerte verfestigen. Auf diese Weise werden Referenzobjekte (hier: Therapietreue) spezifiziert, so dass sich daraus die Grundstruktur des ent‐ sprechenden Frames entwickelt. Der Frame ist dann die Bedeutung bzw. die Proposition 351 des Wortes Therapietreue. Diese Grundstruktur eines Frames lässt sich für das gewählte Beispiel folgendermaßen grob darstellen: Proposition Referenz Therapietreue Prädikation betrifft das Verhältnis Patient → Arzt Patient folgt den Anweisungen des Arztes optimaler Behandlungsablauf Folgsamkeit des Patienten Frame Therapietreue Leerstelle Wer ist wem gegenüber treu? Wie wird Treue definiert? Welchem Ziel dient die Therapie‐ treue? Auf welche Weise wird Therapietreue erreicht? Standard-Wert betrifft das Verhältnis Patient → Arzt Patient folgt den Anweisungen des Arztes optimaler Behandlungsablauf Folgsamkeit des Patienten Tab. 6: Grundstruktur eines Frames für das Lexem Therapietreue Für die in diesem Buch im Vordergrund stehende Thematik ist das Wissen um Frame-Strukturen aus zwei Gründen wichtig: 1. Patienten-Frames und Arzt-Frames sind häufig nicht deckungsgleich. 2. Die Leerstellen in Patienten-Frames involvieren ICE -Elemente aus dem - w. o. skizzierten - Common-Sense Model: a. Welche Idee verbindet man mit einem Krankheitsbegriff ? (ideas) • Was ist das? (identity) • Wie lange dauert das? (time line) • Ist das heilbar? • Ist das eine schlimme Erkrankung? 142 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="143"?> 352 Beispielsweise, indem a) falsche oder fehlende Vorstellungen (ideas) von einer Erkran‐ kung durch gezielte Wissensvermittlung korrigiert bzw. erweitert, b) unbegründete Ängste (concerns) genommen und c) unrealistische Erwartungshaltungen (expecta‐ tions) berichtigt werden. 353 Busse 2018: 76. 354 Busse 2018: 76 f. 355 Vgl. Busse 2018: 81-83. • Was ist die Ursache für die Erkrankung? (causes) b. Welche Konsequenzen hat diese Erkrankung für mich? (conse‐ quences/ concerns) c. Wie lässt sich das behandeln? (control/ expectations) • Was kann / muss ich tun? • Was kann / muss der Arzt tun? Die Antworten auf diese Fragen (Prädikationen) entsprechen den möglichen Werten in Leerstellen. Je nachdem, wie diese Antworten ausfallen, ergeben sich bei Ärzten und Patienten unterschiedliche Frames, was in der Folge zu Miss‐ verständnissen führen kann. Ich werde das w. u. anhand des Beispiels „eine verbogene Nasenscheidewand begradigen“ exemplarisch zeigen. Die wirk‐ samste Methode, wechselseitiges Verständnis herzustellen, ist also, die Prädi‐ kationen im Gespräch zu verändern. Mit anderen Worten: Wenn Prädikationen Antworten auf Fragen entsprechen und wenn diese Fragen Referenzobjekte systematisch bestimmbar machen - und damit Referenzobjekte semantisch qualifizieren -, dann kann die Antizipation der Fragen im Gespräch die Propo‐ sition eines Frames (positiv) beeinflussen. 352 Da sich die möglichen Fragen über das Common-Sense Model of Illness Representation sehr genau ableiten lassen, können Ärzte die Wissensstrukturen ihrer Patienten problemlos formen. Indem Ärzte die kognitiv verankerten ICE -Elemente explorieren, können sie Prädika‐ tionen in denjenigen Fällen reformulieren, in denen die Ideen, Ängste und Er‐ wartungen der Patienten (die über Krankheitslabels Leerstellen mit Werten füllen) nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Eine weitere Differenzierung innerhalb der Frame-Elemente kann zwischen strukturalen und funktionalen Elementen getroffen werden. Dabei beziehen sich die strukturalen Frame-Elemente „[…] auf Attribute wie FARBE , FORM , GEWICHT bei physikalischen Entitäten; ORT , ZEIT , ZIEL usw. bei Hand‐ lungen, Ereignissen […]“ 353 . Funktionale Frame-Elemente hingegen betreffen „menschen-, benutzungs-, und zweckbezogene funktionale Eigenschaften von Dingen“ 354 oder Sachverhalten. Busse unterscheidet des Weiteren unterschied‐ liche Typen von Frame-Systemen: 355 143 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="144"?> 356 Vgl. Scheufele 1999: 106. 357 Vgl. Ziem et al. 2018: 156. 1. Frames als Frame-Systeme: Unterframes durch die Relationen Attribut - Wert. 2. Taxonomien: Makro-Frame-System mit Unterframes durch die Relation Hierarchie. 3. Kongruenz-Netzwerke: Merkmal der Übereinstimmung einzelner Wis‐ senselemente durch die Relation Parallelität. 4. Serialitäts-Netzwerke: Merkmal der Aufteilung von Frames in einzelne oder Gruppen von Frame-Elementen durch die Relation Folge - Bezie‐ hung. 5. Assoziative Netzwerke: Relationen wie Kontiguität, Ähnlichkeit, parallele Kongruenz, (prozeduralen) Korrelation. Als Vertreter eines kommunikationswissenschaftlichen Ansatzes nimmt Dietram Scheufele eine systematische Unterteilung von Frames auf fünf Ebenen vor, wobei er zwischen medialen und individuellen kognitiven Frames differen‐ ziert. 356 1. Die terminologische Ebene reguliert die rein formale Darstellung und Um‐ setzung des Begriffs. 2. Die ontologische Ebene sieht die Funktion von Frames als Erklärung ver‐ schiedener, meist im weitesten Sinne kognitiver Phänomene. Dabei kann zwischen Theorien, die Frames als kognitive Entitäten auslegen und solchen, die Frames als ein formales Beschreibungsmodell für kogni‐ tive Prozesse deuten, unterschieden werden. 3. Die strukturelle Ebene befasst sich mit der Zusammensetzung von Frames, den Frame-Elementen (z. B. zentraler Knoten, Slot und Filler, Constraints etc.), ihrer Bestimmung und Relation. 4. Die funktionale Ebene betrachtet Frames als Repräsentationen, die bei Er‐ innerungsprozessen, Typisierungsvorgängen, Sprachverstehen und -produktion oder kulturgebundener Interpretation zum Einsatz kommen. 5. Die epistemologische Ebene sieht die Funktion von Frames in der Reprä‐ sentation von Wissen. Vergleicht man die zahlreichen Frame-Ansätze in den Kognitions- und Sozial‐ wissenschaften, so lassen sich hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Annahmen folgende Gemeinsamkeiten aufzeigen: 357 144 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="145"?> 358 Entman 1993: 52. 359 Vgl. Scheufele 1999: 107. 360 Diese These kann im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit nur knapp und anhand von Einzelbeispielen vertreten werden. Es fehlen Studien, die sich explizit mit Framing in der Arzt-Patient-Kommunikation beschäftigen und die Framing-Strategien systema‐ tisch in den Blick nehmen. M. E. handelt es sich hier um ein Forschungsdesiderat. Stu‐ dien zu Framing in der Arzt-Patient-Kommunikation könnten auch im Sinne der Ver‐ 1. Frames sind zum einen im individuellen, kognitiven System verankert und können zudem auch stark durch überindividuelle soziale Prozesse beeinflusst werden. 2. Frames werden mit Begriffen wie Kategorisierung, Perspektivierung, Se‐ lektion und Salienz in Verbindung gebracht. 3. Frames werden als Strukturen erfasst, welche aus Frame-Elementen be‐ stehen. Eine der umstrittensten, weil folgenreichsten, kommunikationswissenschaftli‐ chen Definitionen in der Framing-Forschung stammt von Robert Entman: To frame is to select some aspects of a perceived reality and make them more salient in a communicating text, in such a way as to promote a particular problem definition, causal interpretation, moral evaluation and / or treatment recommendation. 358 Demnach sei Framing als ein aktiver Prozess zu verstehen, welcher bestimmte Realitätsaspekte selektieren oder hervorheben kann. Als Resultat dieses Pro‐ zesses entsteht bei der Vermittlung einer Botschaft ein Interpretationsrahmen, ein Frame. Durch das exklusive Abbilden eines gewissen Teilausschnittes durch Framing, also durch die bewusste Verwendung oder Vermeidung bestimmter Begriffe, die eher starre Frames hervorrufen, kann die Vorstellung des Rezi‐ pient / Interpretant gezielt beeinflusst werden. 359 Mit anderen Worten bedeutet das: Das Verwenden (oder Vermeiden) von Begriffen kann das Denken eines anderen in genau die Richtung lenken, die zum Erreichen eines Ziels aus der Sicht des Sprechers notwendig ist. Auf diese Weise können Menschen durch Sprache nicht nur beeinflusst, sondern manipuliert werden, wenn ihr Denken konkretes Handeln auslösen soll. Der Begriff Manipulation muss hier gar nicht negativ konnotiert werden. Wenn Ärzte beispielsweise in der Mitteilung einer Diagnose einen Fachbegriff durch einen Begriff aus der Alltagssprache ersetzen, kann dies durchaus im positiven Sinne zu einer subjektiv besseren Wahrneh‐ mung durch den Patienten führen. Framing, also die Beeinflussung patienten‐ seitiger Vorstellungen durch Begriffsverwendung oder -vermeidung, spielt in der Arzt-Patient-Kommunikation eine zentrale Rolle. 360 145 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="146"?> besserung kommunikativer Kompetenzen von Ärzten äußerst fruchtbare Ergebnisse liefern. 361 Vgl. Schemer / Kühne 2014: 196. 362 Vgl. Schemer 2013: 154. 363 Vgl. Matthes 2007: 104. 364 Vgl. Schemer 2013: 154 f. 365 Matthes 2007: 105. 366 Vgl. Matthes 2007: 105. 367 Vgl. Scheufele 2003: 63. 368 Vgl. Matthes 2007: 105 f. In der Literatur werden zahlreiche Erklärungsansätzen zur Wirkung von Fra‐ ming beim Rezipienten genannt. Die Grundlage bildet dabei meist ein Modell gedächtnisbasierter Meinungsbildung. 361 Der folgende Abschnitt soll dieses Mo‐ dell beschreiben und weiterführend das Wirkungsmodell nach Price und Tews‐ bury vorstellen, um darauf aufbauend den Schema-Ansatz von Bertram Scheu‐ fele (2003) grob zu skizzieren. Dem Modell der gedächtnisbasierten Meinungsbildung zufolge ist das menschliche Informationsverarbeitungssystem als ein Netzwerk unterschied‐ lich stark verknüpfter Kognitionen und Emotionen 362 beziehungsweise Wis‐ senseinheiten 363 anzusehen. Nach Schemer (2013) sind es die Knotenpunkte in‐ nerhalb eines assoziativen Netzwerks, die positive oder negative Wertungen aufweisen. Wird ein Knoten in einem Netz aktiviert, so führt das zu einer Ak‐ tivierung weiterer, in Verbindung stehender, Knotenpunkte. Die Dichte der Ver‐ knüpfungen hat dabei Einfluss auf den Aktivierungsgrad. 364 Das Modell zur Wirkung von Frames von Price und Tewksbury unterscheidet zwischen Langzeitgedächtnis, dem Arbeitsgedächtnis und dem Stimulus. Ähn‐ lich wie im Wirkungsmodell nach Schemer besteht das Langzeitgedächtnis aus einem Netzwerk mit einer Vielzahl objektbezogener Informationen. Das Ar‐ beitsgedächtnis besteht aus „momentan ablaufende[n] Informationsverarbei‐ tungsprozesse[n]“ 365 , die sich dabei auf das Langzeitgedächtnis und den darin enthaltenden Konstrukten beziehen. Interessant ist dabei, dass die Aktivierung solch eines Konstrukts durch das Individuum als irrelevant eingestuft werden kann und das Framing dann nicht stattfindet. 366 Beim Schema-Ansatz werden diejenigen Konstrukte aktiviert, deren saliente Attribute am ehesten mit denen des Stimulus übereinstimmen. 367 Dadurch ent‐ steht beim Framing der sogenannte Anwendbarkeitseffekt: Der Frame, durch den Stimulus vorgegeben, bestimmt welches Konstrukt zur kognitiven Verar‐ beitung herangezogen werden kann. In Konkurrenz treten dabei die durch den Frame aktivierten Konstrukte mit anderen, dauerhaft zugänglichen Kon‐ strukten. 368 146 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="147"?> 369 Vgl. Scheufele 2003: 63. 370 Vgl. Matthes 2007: 106. Ein wichtiger Effekt zur Bestimmung der Zugänglichkeit eines Konstrukts ist der sogenannte Priming-Effekt. Dieser Effekt beschreibt, dass bei jeder Akti‐ vierung eines Konstrukts gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Aktivierung steigt. Nach Scheufele besteht bei jeder Aktivierung ein residuales Erregungsniveau für eine gewisse Zeit fort und der Frame bleibt so längerfristig aktiviert. 369 Bei einer Vielzahl von Wiederholungen der Aktivität kann das Kon‐ strukt dauerhaft verfügbar werden. Framing gewinnt dadurch einen prozess‐ haften Charakter. Somit sind Framing-Effekte nicht nur kurzzeitig wirksam, sondern bestehen als Langzeit-Effekte fort. 370 Der Prozess des Framings in der Arzt-Patient-Kommunikation, also der be‐ absichtigte Prozess der (möglichst langfristigen und interaktiv positiv wirk‐ samen) Veränderung des Krankheitskonzepts durch Sprache, lässt sich für Ärzte einfach gestalten, wie das folgende Beispiel zeigen soll: Der Fachterminus Rhi‐ nitis und der Alltagsbegriff Schnupfen bezeichnen dasselbe Krankheitsbild, je‐ doch werden über den Fachbegriff (Label als Teil der o. g. Dimension Identität) divergierende Vorstellungen zu Ursache, Dauer, Folgen und Behandlung aus‐ gelöst als es beim alltagssprachlichen Begriff der Fall ist. Die Frames unter‐ scheiden sich grundlegend: Während für das Krankheitslabel Rhinitis die Leer‐ stellen für die drei ICE -Elemente innerhalb des Frames mit Attributen einer folgenschweren Erkrankung gefüllt werden, löst der Alltagsbegriff Vorstel‐ lungen von schneller Heilung und leichter Selbstmedikation aus (s. u.). Krankheitslabels sind auf diese Weise im Wesentlichen verantwortlich für kognitiven Krankheitsrepräsentationen. Da Patienten in aller Regel durch gute Zugänge zu (ungefilterten) Gesundheitsinformationen im Internet mit zahlrei‐ chen Labels konfrontiert sind, bildet sich bei Ihnen - schon vor der Konsultation eines Arztes - ein mehr oder weniger verfestigtes Frame-Netz aus. Das w. o. skizzierte Common-sense-Modell organisiert ein solches Frame-Netz und formt es aus, indem auf der strukturellen Ebene Leerstellen (Slots) für die Elemente des ICE -Modells angelegt sind. Innerhalb dieses Krankheits-Frame-Netzes werden die Leerstellen (Slots) mit Füllwerten besetzt. Bezogen auf das Beispiel Rhinitis vs. Schnupfen (unter Einbeziehung des Common-Sense Models) ergibt sich folgendes (unscharfes und unvollständiges) Bild eines Krankheits-Frame-Netzes bzw. zweier z. T. deutlich unterschiedlicher Krankheitskonzepte, in denen ICE -Elemente als Slots jeweils mit anderen At‐ tributen (Füllwerten) gefüllt sind: 147 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="148"?> Fachbegriff Rhinitis Alltagsbegriff Schnupfen Ideas Identity? Symptoms? Time Line? Cause? unbekannt eher langwierig Infektion Nase läuft eher kurz Wetter, Kleidung Concerns Consequences? schwere Erkrankung, Hospitation notwendig, Medikation erforder‐ lich, Ansteckungsge‐ fahr, evtl. nicht heilbar Tee trinken hilft, keine Medikation erforder‐ lich, nicht ansteckend, heilbar Expectations Control? Ärztliche Behandlung Eigenmedikation Tab. 7: ICE-bezogene Krankheitskonzepte (eigene Erhebung, nicht repräsentativ) Verwenden Ärzte in ihren Gesprächen Übersetzungen und sprachliche Bilder, hilft dies, Fachbegriffe kognitiv zu entschärfen und das Konzept der Krank‐ heitsrepräsentation positiv zu verändern. Ob das Konzept, das Patienten hinter einem Fachbegriff vermuten, den Tatsachen entspricht oder nicht, muss jedoch zunächst in Erfahrung gebracht werden. Es empfiehlt sich, über das ICE -Modell, also über die Abfrage von Vorstel‐ lungen, Ängsten und Erwartungen, das jeweilige subjektive kognitive Re‐ präsentationsmodell des Patienten zu explorieren. Das kostet kaum Zeit und hilft, Missverständnisse effektiv zu vermeiden. Im Bereich der Medizin und Gesundheitspsychologie behandeln zahlreiche Studien die Frage nach persönlichen Vorstellungen und Gedanken der Patienten in Bezug auf ihr Leiden, die Ursachen für ihre Erkrankung und mögliche Thera‐ pieansätze. Dies beinhaltet ebenfalls die Vorstellung, die ein Mensch von Ge‐ sundheit und die Gesundheit beeinflussenden Faktoren hat. Die Erkenntnis, dass Menschen alltagsrelevante Sachverhalte aus dem eigenen Erfahrungshorizont heraus verstehen, betrifft die Arzt- Patient-Kommunikation in hohem Maße. Bezieht der Arzt die Vorstellungen des Patienten in den Anamneseprozess mit 148 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="149"?> ein, fördert er damit das Vertrauensverhältnis, was zu einer verbesserten Ad‐ härenz führen kann. Dies kann positive Auswirkungen auf den Behandlungs‐ erfolg haben, da sich die Chancen erhöhen, dass der Patient in die empfohlene Therapie einwilligt und therapeutische Maßnahmen unterstützt. Wählt der be‐ handelnde Arzt eine Therapie, die mit der Subjektiven Krankheitstheorie des Patienten korreliert, wird der Patient eher einwilligen als bei einem Therapie‐ ansatz, der für ihn nur schwer nachvollziehbar ist und mit seinem persönlichen Wissens- und Erfahrungshorizont kollidiert. Das Ignorieren der Subjektiven Krankheitstheorien des Patienten gilt folglich als eine der hauptsächlichen Quellen für verringerte Adhärenz. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, die Vorstellungen, Ängste und Erwartungen des Patienten, die mit dessen Subjek‐ tiver Krankheitstheorie verwoben sind, zu explorieren und in den Prozess ein‐ zubeziehen. In der konkreten Gesprächspraxis ist es erforderlich, Patienten durch zielgerichtete Fragen zum Erzählen zu bringen, um die z. T. erheblich divergierenden Konzepte von Patient und Arzt sichtbar zu machen und auf diese Weise zu konsentieren. Gerade in Zeiten von Dr. Google ist der Wissensbestand von Patienten oftmals durch unzureichende oder falsche Informationen beeinflusst, sodass in vielen Fällen Krankheitsvorstellungen nicht mit der Realität übereinstimmen. Insbe‐ sondere Krankheitsbegriffe können bei Patienten zu Missverständnissen führen, wenn das medizinische Wissen des Arztes nicht mit dem Wissen des Patienten übereinstimmt. Fachsprachliche Ausdrücke können, wie das Schnupfen-Beispiel zeigt, dazu führen, dass Patienten Frames entwickeln, die problematisch sind. Die Vorstellungen von Schweregrad, Ursache, Dauer und Verlauf einer Erkran‐ kung gemäß dem oben skizzierten Common-Sense Modell werden maßgeblich davon beeinflusst, wie sich der verwendete Begriff für einen Laien anhört. Jedoch ist das Problem nicht automatisch dadurch zu lösen, dass Ärzte grund‐ sätzlich auf Fachausdrücke verzichten und stattdessen sprachliche Bilder (Metaphern) verwenden. Oft entsprechen die Alltagsbegriffe nämlich nicht wirklich den medizinischen Diagnosen, was ebenfalls falsche Vorstellungen von der Schwere der Erkrankung auslöst. Patienten, die beispielsweise der Meinung sind, sie leiden an einer Zahnfleischentzündung, werden u. U. weniger in ihre Mundhygiene investieren als solche, denen die (schwerwiegender klingende) Diagnose Parodontitis mitgeteilt wird. In diesem Beispiel kann - anders als beim Schnupfen - die Verwendung des Alltagsbegriffs u. U. nachteilig wirken, weil der Begriff Entzündung bisweilen Frames aktiviert, in denen die Attribute Zeit‐ verlauf und Kontrolle mit falschen Werten gefüllt werden: Entzündungen gehen in aller Regel von alleine wieder weg oder sie werden medikamentös wirkungs‐ voll bekämpft. Eine akute Parodontitis führt jedoch zu einer chronischen Paro‐ 149 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="150"?> 371 Die nachfolgenden Überlegungen basieren auf Schilderungen von Patienten zu ihren Vorstellungen, Ängsten und Erwartungen, die durch die sprachlichen Konstruktionen „einen Weisheitszahn ziehen“ und „eine verbogene Nasenscheidewand begradigen“ auf der Folie von Alltagswissen (Laienperspektive) ausgelöst und - so die These des Ver‐ fassers - in Frames als ICE-Elemente in falscher Weise in Frames aktiviert werden. Die w. u. anhand des Beispiels „eine verbogene Nasenscheidewand begradigen“ entwor‐ fenen Frame-Darstellungen (Patienten-Frame vs. Arzt-Frame) und die vermuteten kom‐ munikativen Probleme (Missverständnisse) konnten durch Ärzte bestätigt werden. In‐ sofern sollen die Überlegungen zu dem von mir hier erstmals Falscher-Frame-Fehler genannten Phänomen erste Impulse für weitere kognitions- und gesprächslinguistische Analysen geben. Die sehr schematisch angelegten Frame-Konzeptionen haben einen modellhaften Charakter und dienen allein der Anschaulichkeit. Ein Anspruch auf Kor‐ rektheit wird nicht erhoben. Jedoch könnte sich das Phänomen Falscher-Frame-Fehler als kognitionswissenschaftliches Erklärungsmodell für Missverständnisse in der Arzt-Patient-Kommunikation für die Erklärung von Kommunikationsstörungen als durchaus tauglich erweisen. Die Integration des Frame-Ansatzes in die zukünftige For‐ schung zur Arzt-Patient-Kommunikation scheint mir insgesamt äußerst lohnenswert. Die kognitive Theorie des Falschen-Frame-Fehlers lässt m. E. Ergebnisse mit einer hohen Explanationskraft erwarten, die über andere methodische Zugänge (z. B. rein ge‐ sprächsanalytisch) kaum zu erreichen sind. dontose, wenn Patienten ihr Mundhygieneverhalten nicht grundlegend ändern. Anders als bei anderen Entzündungsreaktionen im Körper reichen die Selbst‐ heilungskräfte nicht aus, die Parodontitis auszuheilen. Wenn - wie in diesem Beispiel - Patienten verstehen sollen, dass der Schweregrad der Erkrankung eine Verhaltensänderung erforderlich macht, kann es durchaus sinnvoll sein, die u. U. zu harmlos klingenden Alltagsbegriffe nicht zum Framing zu ver‐ wenden. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang, wenn man sich das Phänomen des Falschen-Frame-Fehlers ( FFF ) in der Arzt-Patient-Kommunikation näher anschaut. Dieses Phänomen wird hier erstmals näher beschrieben, es liegen noch keine Evidenzen dazu vor. Es entfaltet sich zum heutigen Zeitpunkt als ein theoretisches Modell, das an der konkreten sprachlichen Wirklichkeit erst noch erprobt werden muss. 371 Die nachfolgenden Überlegungen sollen die grundle‐ genden kognitionslinguistischen Aspekte dieses, durch falsches Framing be‐ dingten, Kommunikationsproblems ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz aufzeigen - und im Idealfall zu weiterer Forschung anregen. Im Grunde basiert das Phänomen Falscher-Frame-Fehler auf den w. o. bespro‐ chenen Framing-Theorien und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Begriffe können falsche Frames evozieren (Falscher-Frame-Fehler). Das ist immer dann der Fall, wenn die Vorstellung des Patienten (Patienten-Frame) nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Auch sprachliche Bilder (Metaphern), die eigent‐ lich dazu dienen sollen, komplexe Sachverhalte besser zu verstehen, sind im 150 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="151"?> medizinischen Kontext nicht immer unproblematisch oder in jedem Fall hilf‐ reich. Ein Beispiel aus der zahnärztlichen Praxis soll dies verdeutlichen: Die sprachliche Äußerung der Konstruktion einen Weisheitszahn ziehen aktiviert Frames, in denen u. a. die Frame-Elemente Dauer der Maßnahme, Hilfsmittel, Folgen/ Nachwirkungen und Schweregrad des Eingriffs eine Rolle spielen. Wie beim ,normalen‘ Zähneziehen könnte sich dieser Frame wie folgt kognitiv aus‐ gestalten: Mit einer Zange wird ein Zahn (in einem Ruck) gezogen. Diese (stark vereinfachte und nicht ganz auf den medizinischen Sachverhalt zutreffende) Vorstellung liegt in der Bedeutung des deutschen Verbs ziehen begründet. Zur Semantik dieses Wortes gehören Aspekte wie mit einem Werkzeug (Hilfsmittel) oder schnell (Dauer). Dass es sich in vielen Fällen bei der Extraktion eines Weis‐ heitszahns um einen oralchirurgischen Eingriff handelt, wird durch das sprach‐ liche Bild gewissermaßen verschleiert. Dies könnte bei Patienten Irritationen auslösen, weil das sprachliche Bild der Wirklichkeit nicht entspricht. Missvers‐ tändnisse lassen sich also insbesondere im medizinischen Kontext dadurch ver‐ meiden, dass man zwar sprachliche Bilder bemüht, um ein erstes Verständnis herzustellen, zugleich aber das Bild mit weiteren Informationen ausschmückt. Das Reden in Metaphern ist in der Medizin auf der einen Seite hilfreich, es kann aber zu Missverständnissen führen. Dies möchte ich an einem weiteren Beispiel verdeutlichen, auf das ich erst‐ mals im Gespräch mit einem Kollegen im Austausch über die Verstehensprob‐ lematik zwischen Ärzten und Patienten aufmerksam geworden bin. Mittlerweile haben mir sowohl Ärzte als auch Patienten bestätigt, dass dieses Beispiel dazu taugt, Missverständnisse in der Kommunikation zu erklären, denn die im Fol‐ genden vermuteten Zusammenhänge spiegeln sich auch in der Realität wider. Es handelt sich im Folgenden um den Versuch, Patienten-Frames und Arzt-Frames über das Common-sense Modell und über die Elemente aus dem ICE -Modell zu modellieren und daran zu zeigen, welche negativen Folgen das Streben nach bildhafter Sprache in Einzelfällen haben kann. Solche negativen Folgen vermute ich in denjenigen Fällen, in denen sprachliche Ausdrücke, auf‐ grund einer hohen kognitiven Salienz der Wortbedeutungen einzelner Elemente in den sprachlichen Konstruktionen, Frames aktivieren, die sich grundlegend von dem tatsächlich gemeinten Referenzobjekt unterscheiden. Dabei spielen - da es sich um Krankheitsvorstellungen handelt - die w. o. beschriebenen Di‐ mensionen der kognitiven Krankheitsrepräsentation (vgl. Tabelle 7) eine zent‐ rale Rolle. So kann vermutet werden, dass sich für Krankheitsbegriffe ebenso wie für komplexere grammatische Konstruktionen (Phrasen, lexikalische Kon‐ struktionen etc.) u. a. die folgenden Leerstellen (slots) ergeben, die mit Werten (fillers) gefüllt werden: 151 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="152"?> Leerstellen (slots) Füllwerte (fillers) Ideas Identity? Time Line? Cause? Name der Erkrankung, Schweregrad der Erkrankung, Symptome kurzer / langer Verlauf Grund / Ursache für die Erkrankung Concerns Consequences? (Persönliche) Folgen der Erkrankung Expectations Control? behandelbar / nicht behandelbar beeinflussbar / nicht beeinflussbar heilbar / nicht heilbar ambulant / stationär Handlungen des Arztes Eigene Handlungen(z. B. Medikamen‐ teneinnahme) Tab. 8: Slots und Fillers in Krankheits-Frames (unvollständig) Für die Erforschung der kognitiven Krankheitsrepräsentation anhand von Krankheitslabels sind diese Zusammenhänge elementar. Die These, die ich ver‐ treten möchte, lautet: Die Aktualisierung „falscher Frames“ führt zu Missvers‐ tändnissen. Es kommt durch metaphorischen Sprachgebrauch zu einem se‐ mantischen Kongruenzproblem aufgrund der Aktualisierung unterschiedlicher („falscher“) Frames durch unterschiedliches verstehensrelevantes Wissen. Diese Überlegung fußt auf der Überzeugung, dass metaphorischer Sprachge‐ brauch (und insbesondere die Interpretation einer Metapher im medizinischen Kontext) an der Schnittstelle zwischen Ärzten und Patienten im Gespräch auf jeweils unterschiedliche Wissens- und Erlebenswelten zurückgreift. So sind Metaphern, die Ärzte verwenden, immer durch medizinisches Wissen und durch den medizinischen Diskurs geprägt. Bei der Interpretation eines sprachlichen Bildes greifen Ärzte auf eben dieses Wissen zurück, so dass sie das sprachliche Bild mit dem medizinischen Kontext verweben und auf diese Weise korrekt auflösen können. Patienten hingegen lösen Metaphern in aller Regel allein auf der Folie ihres Sprach- und Weltwissens auf, das sich aus ihrem Erfahrungs‐ wissen und ihrem lexikalisch-semantischen Wissen speist (vgl. Abb. 4): 152 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="153"?> Abb. 4: Metaphern im Arzt-Patient-Gespräch Das Beispiel, anhand dessen ich die These belegen möchte, dass Arzt-Frame und Patient-Frame in der kommunikativen Wirklichkeit nicht immer deckungs‐ gleich sind und anhand dessen ich außerdem zeigen werde, dass eine Überset‐ zung eines medizinischen Sachverhalts in Alltagssprache zu Missverständnissen führen kann, lautet: eine verbogene Nasenscheidewand begradigen. Medizinisch handelt es sich bei diesem Eingriff um eine Operation (Septumplastik bei Sep‐ tumderivation), die wie folgendermaßen gekennzeichnet ist: • unter Vollnarkose • kleiner Schnitt im Bereich des Naseneinganges entlang der Septumvor‐ derkante • Lösen der Schleimhaut vom Knorpel und Knochen • Anritzen und Durchtrennen des Knorpels • Abtragung und Entfernung knöcherner Sporne oder Leisten • Einbringen einer Schaumstofftamponade in die Nase für 1-3 Tage • Dauer des Eingriffs 30-40 Minuten • 4-5 Tage klinischer Aufenthalt Diese Füllwerte, die man in die meisten der in Tab. 8 skizzierten Leerstellen einsetzen kann, spezifizieren den Gegenstand (die Operation) aus medizinischer Sicht. Sie werden dem Referenzobjekt im Akt der Prädikation zugewiesen. Me‐ dizinisches Hintergrundwissen ist für die prädikativen Zuschreibungen erfor‐ derlich. Das sprachliche Bild Begradigung einer verbogenen Nasenscheidewand ersetzt in der Kommunikation mit Patienten die fachsprachliche Konstruktion Septum‐ plastik bei Septumderivation, die - wie gezeigt - ohne das notwendige medizi‐ nische Wissen keine Vorstellungen in den Köpfen der Patienten auslösen kann. Weder die Begriffe Septum und Plastik (im medizinischen Kontext) noch der 153 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="154"?> 372 Evozieren bedeutet das Aufrufen eines Frames durch eine Lexikalische Einheit bzw. das Aufrufen einer Konstruktion durch ein konstruktionsevozierendes Element. Terminus Derivation evozieren Frames bei Patienten. 372 Aus diesem Grund ver‐ wenden Ärzte ein sprachliches Bild - in aller Regel mit der Absicht, Patienten mögen möglichst korrekt erkennen, um welchen Eingriff es sich handelt. Um Differenzen zwischen fachsprachlichem und alltagssprachlichem Wissen zu überwinden, eignen sich Metaphern grundsätzlich hervorragend. Sie sind aller‐ dings dann problematisch, wenn der medizinisch-fachliche Kern aus dem Bild nicht herausgelöst werden kann. Mit anderen Worten: Wenn Patienten allein auf der Grundlage ihres Sprach- und Weltwissens sprachliche Bilder interpretieren müssen, die medizinische Sachverhalte nicht korrekt codieren, führen Interpretationen in die Irre. Das wird deutlich, wenn man einen Patienten-Frame für die Konstruktion eine verbogene Nasenscheidewand begradigen modelliert, der auf dem Sprachwissen eines medizinischen Laien fußt. Ein solcher Frame ergibt sich (durch das Kopf-rechts-Prinzip in der Morphologie im Deutschen) aus der Bedeutung des Wortes Wand sowie aus der Bedeutung des Wortes begradigen (= gerade biegen). Der Wortbedeutungs-Frame für Wand ist u. a. bestimmt über die Objekteigen‐ schaften starr, stabil und fest sowie über den funktionalen Wertebereich Tren‐ nung, Schutz. Eine Nasenscheidewand hat tatsächlich eine trennende Funktion und zugleich handelt es sich um ein (mehr oder weniger) festes oder starres Gebilde: einen Knorpel. Da es sich beim Wort Nasenscheidewand um ein Deter‐ minativkompositum handelt, dessen Gesamtbedeutung durch den linken Wort‐ bestandteil näher bestimmt wird (eine Wand innerhalb der Nase im Gegensatz etwa zu einer Kellerwand), taugt das sprachliche Bild zur Beschreibung der En‐ tität Septum sehr gut. Patienten können korrekt erschließen, dass sich die ver‐ bogene Wand innerhalb der Nase befindet. Der (äußerst schematische und bei Weitem nicht vollständige) Wortbedeutungs-Frame für das Wort „Nasenschei‐ dewand“ lässt sich wie folgt darstellen: 154 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="155"?> Abb. 5: Wortbedeutungs-Frame für das Wort Nasenscheidewand Aus diesem - im Prinzip korrekten - sprachlichen Bild erwächst nun die Prob‐ lematik, dass Patienten den durch den Ausdruck Begradigung einer Nasenschei‐ dewand versteckten medizinischen Eingriff nicht ohne Weiteres korrekt ent‐ schlüsseln, d. h. erkennen können. Problematisch ist das deswegen, weil falsche Vorstellungen von der Dauer der Intervention und von den Folgen für den Pa‐ tienten den Kommunikationsprozess insgesamt stören. Ein Patient, der sich einen harmlosen ambulanten Eingriff vorstellt, wird irritiert sein, wenn er sich plötzlich in stationärer Behandlung wiederfindet. Solche Missverständnisse lassen sich frame-semantisch erklären, wenn man sich mit dem Terminus Be‐ gradigen näher befasst. Dabei fällt der Bedeutung des Wortes biegen eine be‐ sondere Rolle zu, denn es ergibt sich eine kontextspezifische Assoziation: begradigen = (gerade) biegen. Der Wortbedeutungs-Frame für biegen involviert u. a. Leerstellen für Dauer und Hilfsmittel, die das Verständnis gefährden. So sind in diesem Frame Vorstellungen von einer kurzen (ruckartigen) Handlung mit Vorstellungen von einem geeigneten Hilfsmittel, etwa einer Zange verwoben. Diese Assoziationen basieren auf dem Welt- und Erfahrungswissen der meisten Menschen (beispielsweise, wenn ein verbogener Nagel geradegebogen werden muss). Der sich daraus ergebende Patienten-Frame (s. Abb. 6) könnte folgen‐ dermaßen beschrieben werden: Ein starres Gebilde in der Nase wird durch Kraftanstrengung mittels eines Werkzeugs (Zange o. ä.) geradegebogen. Das 155 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="156"?> Ganze ist von kurzer Dauer (vielleicht sogar sofort machbar). Vergleicht man nun diesen Patienten-Frame mit den w. o. umrissenen Merkmalen einer Sep‐ tumderivation, offenbart sich eine gravierende Diskrepanz zwischen den pati‐ entenseitigen Vorstellungen und der medizinischen Wirklichkeit. Abb. 6: Wortbedeutungs-Frame für das Wort biegen Die Aktualisierung eines falschen Frames beim Patienten durch metaphorischen Wortgebrauch des Arztes führt in diesem Beispiel u. U. zu deutlichen Missvers‐ tändnissen. Die Befolgung der Regel, im ärztlichen Gespräch grundsätzlich Fachsprache zu vermeiden, kann zur Evozierung falscher Frames führen - mit eher negativen Folgen. Daher ist es ratsam, über die bewusste Verwendung oder Vermeidung bestimmter Wörter, auch Fachwörter, die patientenseitigen Frames zu steuern. Dabei gilt: Jedes Wort löst Frames aus, weshalb die richtige Wortwahl entscheidend ist. Zumal einmal aktivierte Frames sich nur schwer korrigieren lassen. Zugleich ist es gut möglich, im Framing über die bewusste Wortwahl und durch geschickt gewählte sprachliche Bilder Krankheitskonzepte positiv zu ver‐ ändern. Framing meint dann die Beeinflussung des Verhaltens eines Kommu‐ nikationspartners durch die zielgerichtete Formulierung einer Botschaft. So können in der sprachlichen Realität identische Sachverhalte oft unter‐ schiedlich ausgedrückt werden. Studien legen den Verdacht nahe, dass insbe‐ sondere bei Präventionsmaßnahmen in der Gesundheitsvorsorge eher positive Bilder und Formulierungen dazu geeignet sind, die Patienten zu einer ge‐ 156 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="157"?> 373 Vgl. Rothman 1993 und Rothman / Salovey 1997, Jones et al. 2003 sowie Meyerowitz / Chaiken 1987. wünschten Handlung zu bewegen. 373 Formulierungen wie Wenn Sie noch ein wenig gründlicher Ihre Zähne putzen, werden Sie Ihr Lächeln lange behalten (= Gain Frame) sind demnach zielführender als Sätze wie Wenn Sie nicht besser putzen, wird sich Ihr Zahnfleisch noch stärker entzünden (= Loss Frame). Auch neigen wir alle in Gesprächen unbewusst dazu, Sachverhalte so auszudrücken, dass sie negativ besetzte Begriffe enthalten. Beobachten Sie einmal, wie häufig Sie selbst oder andere die Formulierung nicht schlecht statt gut verwenden. Auch die Floskel kein Problem ist weitverbreitet. Auch wenn etwas kein Problem ist, operieren wir sprachlich mit dem Begriff Problem, der negative Frames akti‐ viert - obwohl wir genau das Gegenteil beabsichtigen. Negationen im Gespräch bewirken oftmals, dass sich die gesamte Formulierung negativ anhört. In den allermeisten Fällen lassen sich negierte Satzaussagen ganz problemlos durch positive Formulierungsalternativen ersetzen, ohne die Bedeutung der Aussage zu verändern: Wenn etwas nicht unmöglich ist, dann ist es gut möglich. Eine Sache, die gar nicht übel ist, ist vermutlich sogar ziemlich gut. Und wenn Sie etwas nicht versprechen können, dann können Sie immerhin versprechen, es zu versuchen. Dasselbe gilt auch für Sätze, in denen wir Wörter verwenden, die in unserem Sprachsystem prinzipiell eher mit negativen Emotionen und Assozia‐ tionen verbunden sind. Der Satz Morgen regnet es den ganzen Tag löst nur bei wenigen Menschen positive Gefühle aus. Die inhaltlich nahezu identische Aus‐ sage Morgen scheint die Sonne nur selten bringt diesen Sachverhalt um einiges positiver zum Ausdruck. Das liegt daran, dass die Begriffe Regen und Sonne in unserer Sprache gegensätzliche Gefühle erzeugen und semantisch zueinander in Opposition stehen: Das eine schließt das andere in der Regel aus. Zahlreiche Begriffe unserer Alltagssprache lassen sich positiv umformulieren: Wenn je‐ mand vor einem Problem (= negativ) steht, dann ist dessen Lösung für ihn zu‐ gleich eine Herausforderung (= positiv). Und wenn ein Mensch zu etwas unfähig ist, dann ist er sicher in etwas anderem begabt. Positive Formulierungen sind nicht nur freundlicher und höflicher, sie helfen auch dabei, Missverständnisse zu vermeiden. Denn: Kognitiv ist die Bedeutung einer positiv formulierten Aussage insgesamt leichter zu erschließen. Während man über die Negierung einer Aussage (etwas ist nicht schlecht) nur durch einen gedanklichen Umweg zur eigentlichen Bedeutung (etwas ist gut) gelangt, sind positive Formulierungen klarer und eindeutiger. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wörter und komplexe sprachliche Aus‐ drücke (Sätze oder Phrasen) im medizinischen Kontext aktivieren bei Patienten 157 3.3 Kognitionswissenschaftliche Einordnung des ICE-Modells <?page no="158"?> Vorstellungen (Frames), die ein subjektives Krankheitsmodell ausformen. Um die patientenseitigen Frames zu verändern, ist die Wahl der richtigen Worte von Bedeutung. Durch gezielte Fragen gilt es, die durch Krankheitsbegriffe ausgel‐ östen Vorstellungen (z. B. von den Ursachen, der Dauer oder dem Schweregrad einer Erkrankung), Ängste und Erwartungen in Erfahrung zu bringen. Oft de‐ cken sich die Vorstellungen der Patienten nicht mit der medizinischen Wirk‐ lichkeit. Die Veränderung bestehender Frames durch Erklärungen und v. a. positive Begriffe ist eine der zentralen Aufgaben ärztlicher Gesprächsführung. Dabei können sprachliche Bilder helfen. Jedoch ist Vorsicht geboten: Unscharfe Bilder können unabsichtlich falsche Frames aktivieren und damit zu Missverständnissen führen. 158 3 Das ICE-Modell in der Arzt-Patient-Kommunikation <?page no="159"?> 374 Vgl. Schettler / Nüssel 1984; Hope et al. 1990. 375 Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel 3.1. Dort wurden die sieben Dimensionen eines Symptoms nach Kissling dargestellt und das ICE-Modell als achte Dimension der Anamnese den bekannten Diagnoseebenen hinzugefügt. 4 Anwendung des ICE -Modells - Modellierung eines patientenzentrierten Kommunikationsmodells Ärztliche Gespräche sind in aller Regel zugleich funktional als auch ritualisiert. Bestimmte Interaktionsabfolgen, die häufig als Standard definiert und in erster Linie an objektiven Kriterien orientiert sind, haben sich in der Vergangenheit herausgebildet. Besonders die klassische Anamnese folgt als Bestandteil eines institutionellen, konventionellen Verfahrens über Suggestivfragen und Präfor‐ mulierungen dem Ideal der Objektivierung patientenseitiger Äußerungsinhalte. Folgt man den Ausführungen bei Schettler und Nüssel 1984 oder bei Hope et al. 1990, dann umfasst das klassische und traditionelle Anamnesegespräch die fol‐ genden, rein somatisch orientierten Themenbereiche, die über bestimmte (und in der Vergangenheit gelehrte) Fragetechniken exploriert werden: 374 • Aktuelle Beschwerden • Kinderkrankheiten • Frühere Erkrankungen, Krankenhausaufenthalte und Operationen • Chronische Erkrankungen, Allergien • Familienanamnese • Allgemeinanamnese (persönliche Daten, Gesundheitszustand, Sozial‐ anamnese, Alkohol- und Nikotinkonsum etc.) Bei Kissling wird der Themenbereich Aktuelle Beschwerden (Symptom) noch ge‐ sondert herausgestellt und als das für viele Ärzte zentrale Element einer Anam‐ nese betrachtet. 375 Diese Sichtweise widerspricht der Idee der ganzheitlichen Beschwerdeerfas‐ sung, denn auf diese Weise werden Patientenäußerungen durch die Fragepraxis der Ärzte in medizinisch relevante Einzelaspekte zerlegt, ohne dass die Patien‐ tenperspektive mit den wichtigen Dimensionen ideas, concerns und expectations berücksichtigt wird. Wie u. a. Geisler feststellt, vernachlässigt eine solche - rein auf medizinischen Fakten basierende - Gesprächsführung die Individualität des Kranken und führt auf diese Weise zu einer nur bruchstückhaften Datenerhe‐ <?page no="160"?> 376 Geisler 2004: 5-6. 377 Vgl. Böker 2003. 378 Bechmann 2014: 197 (Hervorhebungen im Original). 379 Die Phasen des Modells wurden w. o. bereits an einigen Stellen erwähnt. Da dieses Modell die Elemente ideas, concerns und expectations involviert, wurde an der ent‐ sprechenden Stelle bereits auf die Evidenz hingewiesen. Im Folgenden geht es nun um die genauere Darstellung als Kommunikationsmodell. bung. 376 Ziel moderner Gesprächsführung muss daher die Auflösung bzw. Ver‐ meidung funktionaler Ritualisierungen in Arzt-Patient-Gesprächen sein. Böker schlägt gewissermaßen zur Ent-Ritualisierung eine bestimmte Abfolge von Annäherungen in der Arzt-Patient-Interaktion vor, die eine vertrauensvolle, empathische Arzt-Patient-Beziehung fördert: 377 • Hinzutreten • Anamnese • Befunderhebung • Körperliche Untersuchung • Sicherung rein technisch-medizinischer Daten • Zurücktreten • Synoptische Erfassung der Gesamtpersönlichkeit des Patienten • Neuerliche Zuwendung • Übermitteln der Befunde • Versuch der partnerschaftlichen Entscheidungsfindung Besonders im Zurücktreten und in der neuerlichen Zuwendung zeigt sich eine Patientenorientierung, die auf Partnerschaft, Patienteninitiative und -partizi‐ pation sowie auf Mitbestimmung und Mitverantwortung basiert und die ent‐ sprechend die Ideen, Ängste und Erwartungen ( ICE ) der Patienten berücksich‐ tigt. Diese Berücksichtigung von patientenseitigen Themen und Informationsinteressen erfordert die Anwendung eines Kommunikations‐ modells, das Themen und Inhalte mit kommunikativen Techniken und Inter‐ aktionsabfolgen sinnvoll verbindet. Konkret muss ein solches Modell Inhalte und Prozesse miteinander verweben, um auf diese Weise dem Gespräch eine Struktur zu geben: „Jedes ärztliche Gespräch besitzt einen strukturellen Aufbau, in dem Aufgaben, Inhalte und Kommunikationsanforderungen einzelnen Phasen zugeordnet werden können“ 378 . Als geeignet, auch die ICE -Elemente ausreichend abzubilden, erscheint das aus Kanada stammende, patientenzentrierte Phasenmodell der Calgary-Cam‐ bridge-Guides, welches weltweit in der klinischen Ausbildung von Ärzten ein‐ gesetzt wird und sowohl evidenzbasiert als auch international erprobt ist. 379 160 4 Anwendung des ICE-Modells - Modellierung eines Kommunikationsmodells <?page no="161"?> 380 Bechmann 2014: 198. 381 Kurtz et al. 2003: 802. 382 Kurtz et al. 2003: 804. 383 Die Übersicht gibt die Inhalte im englischen Originalwortlaut wieder (vgl. Kurtz et al. 2003: 806). Dieses Modell eignet sich insbesondere deswegen, weil es die traditionelle Be‐ trachtung somatischer Befunde verknüpft mit der Patientenperspektive. Es han‐ delt sich also „um die Kombination von medizinisch relevantem strukturellen Vorgehen und patientenorientierter Gesprächsführung“ 380 . Den Autoren dieses Konzeptes ging es von Anfang an darum, ein Kommunikationsmodell insbe‐ sondere für die Lehre zu entwickeln als eine „comprehensive clinical method that explicitly integrates traditional clinical method with effective communica‐ tion skills“ 381 . Den hohen Anwendungsbezug ihres Modell heben Kurtz et al. explizit hervor. Der gesamten Konzeption nach handelt es sich nicht um die theoretische Lösung eines Kommunikationsproblems durch methodologische Überlegungen, sondern um die konkrete Ausgestaltung eines praktikablen Kommunikationsmodells: „The Calgary-Cambridge guides were developed to delineate effective physician-patient communication skills and provide an evi‐ dence-based structure for the analysis and teaching of these skills in the medical interview“ 382 . Die in diesem Modell angelegten fünf Gesprächsphasen (Initialisierung, Informationsakquise, körperliche Untersuchung, Befunderklärung und Pla‐ nung, Gesprächsabschluss) werden flankiert von zwei Aufgaben, die als kom‐ munikative Grundfunktionen institutionalisierter Gesprächsführung durch den Arzt durchgängig zu bewältigen sind: • Lenkung und Strukturierung des Gesprächs und • Herstellung und Aufrechterhaltung der Arzt-Patient-Beziehung. Kurtz et al. entwerfen in ihrem Modell ein auf Gesprächsinhalte fokussiertes Abfolgeschema, das den fünf Gesprächsphasen mehr oder weniger genaue Inhalte zuordnet. Wie in der folgenden Übersicht erkenntlich wird, besteht die Stärke dieses Kommunikationsmodells in der Berücksichtigung patienten‐ seitiger Bedürfnisse. Die Gesprächsinhalte sind im Folgenden den jeweiligen Phasen zugeordnet: 383 161 4 Anwendung des ICE-Modells - Modellierung eines Kommunikationsmodells <?page no="162"?> Gesprächsphase Inhalte Initiating the Session Preparation Establishing initial rapport Identifying the reason(s) for the con‐ sultation Gathering Information Exploration of the patient’s problem to discover: • Biomedical perspective • The patient’s perspective • Background information - con‐ text Physical Examination Explanation and Planning Providing the correct amount and type of information Aiding accurate recall and understan‐ ding Achieving a shared understanding: incorporating the patient’s illness fra‐ mework Planning: shared decision making Closing the Session Ensuring appropriate point of closure Forward planning Tab. 9: Gesprächsphasen und Inhalte der Calgary-Cambridge-Guides Die Trennung der biomedizinischen Perspektive von der Patientenperspektive in der Phase der Informationsakquise bzw. die gleichrangige Betrachtung beider Perspektiven erlaubt es, die Elemente des ICE -Modells einzubeziehen. Ohne explizit von einem ICE -Modell zu sprechen, finden sich die Elemente dieses Modells in den Calgary-Cambridge-Guides in der patient’s perspective wieder. Während für die biomedizinische Perspektive v. a. Symptome und Krankheitsverlauf bestimmend sind, involviert die Patientenperspektive Ideen und Vorstellungen, Wünsche und Ängste sowie Erwartungen und Gefühle. Damit folgen die Autoren der Calgary-Cambridge-Guides früheren Überle‐ gungen zur Ausgestaltung einer patient’s agenda bei Levenstein et al. aus dem Jahr 1986. Dort wird eine patient-centred clinical method modelliert, die bereits expectations und fears als zentrale Bestandteile einer patient’s agenda formuliert. Diese frühen Überlegungen dienten dazu, eine Methode zu entwickeln, anhand derer Ärzte in die Lage versetzt werden, die Patientenperspektive in ihre Inter‐ 162 4 Anwendung des ICE-Modells - Modellierung eines Kommunikationsmodells <?page no="163"?> 384 Levenstein et al. 1986: 25. 385 Die in diesem Modell angelegten ICE-Elemente expectations und fears/ feelings sind hier zur besseren Darstellung schattiert unterlegt. aktionen einzubeziehen: „In this initial phase of our study, we have concentrated on developing a method by which physicians can understand the patient’s agenda“ 384 . Die folgende Abbildung zeigt diese frühe Modellierung eines Kommunikati‐ onsmodells, das die Patientenperspektive näher bestimmt und diese - das ist das Besondere - gleichberechtigt neben die doctor’s agenda stellt: 385 Abb. 7: The patient-centred clinical method (nach Levenstein et al. 1986: 25) Die Calgary-Cambridge-Guides erweitern diese patient’s agenda bei Levenstein et al. um weitere Elemente, wobei sie ideas, concerns und expectations ins Zentrum ihrer illness-bezogenen patient’s perspective stellen. Die folgende Dar‐ stellung zeigt die Ausdifferenzierung der Phase 2 Gathering Information, die ICE -Elemente sind darin hervorgehoben. 163 4 Anwendung des ICE-Modells - Modellierung eines Kommunikationsmodells <?page no="164"?> Abb. 8: Gathering Information (aus Kurtz et al. 2003: 807) Um das Modell der Calgary-Cambridge-Guides sinnvoll nutzen zu können, sind übergeordnete kommunikative Kompetenzen aufseiten des Arztes not‐ wendig, die dieses Modell nur bruchstückhaft abbildet. So sind beispielsweise Kenntnisse der Prinzipien gewaltfreier Kommunikation ebenso wichtig wie die Kenntnis von Fragetechniken, das Beherrschen verbaler und nonverbaler Kom‐ munikation, Techniken des Spiegelns von Patientenaussagen, Beachtung von allgemeinen Konversationsmaximen u.v.m. Da die Verknüpfung des Phasen‐ modells, das im Wesentlichen a) Gesprächsinhalte und Funktionen sowie b) kommunikative Prozesse abbildet, mit konkreten Gesprächstechniken zum einen den Rahmen dieser Überblicksarbeit sprengen würde und zum anderen aus Darstellungsgründen nicht in einem Schaubild erfolgen kann, verweise ich auf Bechmann 2014 (Seiten 203-205) und skizziere abschließend das modifi‐ zierte Modell der Calgary-Cambridge-Guides unter Einbeziehung des ICE -Modells, das gewissermaßen in diesem Kommunikationsmodell aufgeht. Die folgende Abbildung zeigt ein auf dem ICE -Modell und den Calgary-Cam‐ bridge-Guides basierendes Kommunikationsmodell, das zur patientenorien‐ 164 4 Anwendung des ICE-Modells - Modellierung eines Kommunikationsmodells <?page no="165"?> tierten Struktur ärztlicher Gespräche dienen kann. Die Ausführungen dieser Untersuchung zum ICE -Modell in ärztlichen Gesprächen finden gewissermaßen darin ihren Fluchtpunkt. Abb. 9: Phasenmodell patientenorientierter Kommunikation (eigene Darstellung) Zweierlei Aspekte werden aus der Abbildung nicht ersichtlich. Zum einen stellt das Modell die einzelnen Phasen aus Anschauungsgründen in einer geordneten Reihenfolge dar, die eine trennscharfe Abgrenzung der einzelnen Phasen ge‐ geneinander vermuten lässt. Diese Annahme ist falsch, da sich in der Ge‐ sprächspraxis sowohl Phasen überschneiden als auch wiederholen können. Zum anderen müssen nicht alle Phasen zwingend durchlaufen werden und die Rei‐ henfolge bestimmter Inhalte ist beliebig. Das gilt natürlich nicht für die Ge‐ sprächseröffnung und den Gesprächsabschluss. Ob aber in der Phase der Infor‐ mationsakquise zunächst die biomedizinische Perspektive und dann erst die Patientenperspektive kommunikativ eingebracht (exploriert) wird, ist nicht festgelegt. Insofern lässt das Modell dem Arzt, der das Gespräch führen soll (Strukturierung und Themensetting), gewisse Handlungsspielräume. Diese Handlungsspielräume sind notwendig, da Patienten über unterschiedliche kom‐ munikative Kompetenzen und Partizipationspräferenzen verfügen. Solche 165 4 Anwendung des ICE-Modells - Modellierung eines Kommunikationsmodells <?page no="166"?> 386 Vgl. Rotter et al. 2010: 4 f. 387 Nowak 2015: 351. Kompetenzen und Präferenzen kann ein Modell nicht angemessen abbilden. Auch ist anzunehmen, dass es Patienten geben wird, die eine deutlich aktivere Rolle in der Gesprächsführung einnehmen als es das Modell implizit behauptet. Zum Schluss stellt sich die Frage, ob ein Modell wie das der Calgary-Cam‐ bridge-Guides mit den darin verwobenen ICE -Elementen als eine Art Leitlinie im ärztlichen (Kommunikations-)Handeln taugt. Aufgrund seines Status als evi‐ dence based method wäre es durchaus denkbar, dass dieses Modell als praxis‐ taugliche Leitlinie Eingang in das ärztliche Handeln finden könnte. Betrachtet man die von Rotter et al. skizzierten Entwicklungs- und Implementierungsbe‐ dingungen für Leitlinien, weist das Modell einige Merkmale auf, die für eine erfolgreiche Umsetzung in der Zukunft sprechen: 386 1. Der Leitlinieninhalt ist evidenzbasiert. 2. Die Inhalte sind an den lokalen Anwendungszusammenhang angepasst. 3. Die Leitlinie wurde gemeinsam mit klinisch tätigen Ärzten entwickelt. 4. Eigene Implementationsteams unterstützen die Einführung. 5. Vorweg wird die Lücke zwischen klinischer Praxis und vorliegender Evi‐ denz identifiziert. 6. Mögliche Veränderungsbarrieren werden identifiziert. 7. Erinnerungssysteme für die Alltagspraxis werden miteingeführt. 8. Rückmeldesysteme für die Anwender werden implementiert. 9. Spezifische Schulungsmaßnahmen werden gesetzt. 10. Lokale Meinungsbildner werden in den Einführungsprozess einge‐ bunden. Peter Nowak weist darauf hin, dass „für die Wirksamkeit von Leitlinien sowohl die Qualität der Leitlinie selbst als auch die Bedingungen ihrer Implementierung entscheidend sind“ 387 . Leitlinien zur ärztlichen Gesprächsführung, die auf den zusammengestellten und miteinander in Beziehung gesetzten Studien in dieser Untersuchung basieren, könnten diese Vorgaben erfüllen. Das hier vorgestellte Phasenmodell patientenorientierter Kommunikation erfüllt wesentliche inhalt‐ liche und methodische Anforderungen, die es zu einer guten Ausgangsbasis für die Entwicklung und Implementierung von Leitlinien macht. Zudem liegen mit dieser Arbeit deutschsprachige Ergebnisse vor, die bislang noch nicht greifbar waren. Auch die Verknüpfung von medizinisch-fachlichen mit sprachlich-in‐ teraktionalen und psychologisch-emotiven Aspekten in den vorstehenden Aus‐ führungen dürfte dem ICE -Modell mit seinen zahlreichen Verstrickungen in 166 4 Anwendung des ICE-Modells - Modellierung eines Kommunikationsmodells <?page no="167"?> 388 Nowak 2015: 353. 389 Nowak 2015: 355. 390 Nowak 2015: 357. 391 Vgl. Nowak 2015: 357 f. 392 Nowak 2015: 358. besonderer Weise für Leitlinienüberlegungen tauglich machen. Ob sich daraus letztlich Leitlinien ergeben werden, ist allerdings fraglich, denn es muss insge‐ samt konstatiert werden, dass in den deutschsprachigen medizinischen Leitli‐ nien die ärztliche Gesprächsführung - wenn überhaupt - nur äußerst ober‐ flächlich und kaum hinreichend Raum findet. Die meisten Leitlinien thematisieren Aspekte der Gesprächsführung „[t]rotz der […] kommunikativ und psychosozial offensichtlich herausfordernden Betreuungssituation […] in einer sehr beschränkten und nicht weiter begründeten Auswahl“ 388 . Zwar exis‐ tieren Handreichungen und Manuale, wie etwa der Leitfaden „Kommunikation im medizinischen Alltag. Ein Leitfaden für die Praxis“ der Ärztekammer Nord‐ rhein oder die Leitlinie „Hausärztliche Gesprächsführung“ der Leiliniengruppe Hessen, jedoch Hinweise zur Erstellungsmethodik sowie die „systematische Ableitung der gegebenen Empfehlungen aus dem aktuellen Stand der For‐ schung“ 389 . Peter Nowak stellte 2015 nach einer Sichtung verschiedener deutsch‐ sprachiger Leitlinien mit dem Schwerpunkt Gesprächsführung fest: „Allen […] Leitlinien ist gemeinsam, dass sie ihre Empfehlungen nicht (nachvollziehbar) aus systematischen Literaturrecherchen ableiten“ 390 . Die Empfehlungen in den bestehenden Leitlinien lassen vier Ebenen der Betrachtung und Formulierung von Inhalten erkennen: 1. Medizinisch-inhaltliche Ebene, 2. Gesprächssetting, 3. Psychosoziale Ebene und 4. Sprachlich-interaktive Ebene. 391 Insbesondere die Empfehlungen zum sprachlich-interaktiven Handeln sind sehr unsystema‐ tisch - und sie werden kaum sinnvoll mit den anderen Ebenen verwoben. Mit der hier vorliegenden Untersuchung meine ich gezeigt zu haben, dass eine Integration medizinischer, psychosozialer und sprachlich-interaktionaler Aspekte durch die Einbettung des ICE -Modells in das patientenorientierte Pha‐ senmodell der Calgary-Cambridge-Guides möglich und fruchtbar ist. Sollten die hier vorgelegten Untersuchungen Eingang in den medizinischen Qualitätsdis‐ kurs finden, würde dies insgesamt den Stellenwert sprachwissenschaftlicher, medizinsoziologischer und medizinpsychologischer Forschung erhöhen und diese Forschungsrichtungen stärken. Diese Stärkung wäre auch notwendig, denn gegenwärtig „werden vorliegende Studien und Ergebnisse der deutsch‐ sprachigen Gesprächsforschung als Evidenzbasis für Leitlinienentwick‐ lungen […] fast vollständig ignoriert“ 392 . Das gilt insbesondere für Arbeiten, die auf die Wirkmechanismen zwischen Gesprächsführungselementen und Patien‐ 167 4 Anwendung des ICE-Modells - Modellierung eines Kommunikationsmodells <?page no="168"?> 393 Nowak 2015: 359. tengesundheit und -zufriedenheit abzielen. Bislang haftet solchen Arbeiten ein Mangel an, den ich mit diesem Buch ein Stück weit beheben möchte: Solche Wirkmechanismen sind „bisher nur in groben Zügen konzipiert […] und nicht systematisch durch empirische Studien belegt“ 393 . Ich hoffe, dass auf der Basis der vorliegend präsentierten Untersuchungen und Überlegungen in der Ver‐ knüpfung mit Arbeiten zu idealtypischen Handlungsschemas (z. B. Nowak / Spranz-Fogasy 2008 oder Nowak 2010) Leitlinien entwickelt werden können, die auch die systematischen Zusammenhänge zwischen a) sprach‐ lich-interaktionalem Handeln, b) medizinischen Inhalten und Gesprächsmus‐ tern sowie c) psychosozialen Aspekten der Patientenperspektive herstellen. Das in diesem Kapitel entwickelte patientenorientierte Kommunikationsmodell, in dem die Elemente des ICE -Modells mit Elementen der Arzt-Perspektive in einem prozessualen Rahmen verstrickt sind, kann den Grundstein für die Entwicklung von Leitlinien legen, die medizinische Inhalte mit sprachlich-interaktivem Han‐ deln sowie wesentlichen Aspekten der psychosozialen Beziehungsgestaltung und dem Gesprächssetting und letztlich erprobten kommunikativen Techniken praxisnah verbinden. 168 4 Anwendung des ICE-Modells - Modellierung eines Kommunikationsmodells <?page no="169"?> 394 Vgl. Goedhuys / Rethans 2001; Mallinger et al. 2004; Zandbelt et al. 2007. 395 Vgl. Kelley et al. 2014; Mead / Bower 2002; Stewart 2003. 396 Vgl. Arora 2003. 5 Schlussbetrachtung Ziel dieser Ausarbeitung war es, den besonderen Stellenwert der Arzt-Pa‐ tient-Kommunikation für die Qualität der Behandlung von Patienten auf der Basis einer systematischen Literaturrecherche darzustellen und das Konzept des ICE -Modells in diese Überlegungen zu integrieren. Die zahlreich vorliegenden Studien aus den letzten drei Dekaden zeigen, dass insbesondere die Einbezie‐ hung patientenseitiger Vorstellungen, Ängste und Erwartungen entscheidend zur Patientenzufriedenheit beitragen kann. 394 Einige neuere Untersuchungen belegen eindrucksvoll, dass Patientenzentrierung im Sinne des gegenwärtig be‐ vorzugten partnerschaftlichen Beziehungsmodells, das als shared decision ma‐ king bekannt ist, zudem auch das klinische Outcome verbessern kann. 395 Stu‐ dien aus der Psychoonkologie und der Placeboforschung verifizieren sogar, dass Patienten auf eine zugewandte und einfühlsame Haltung des Arztes mit endo‐ gener Opioidausschüttung reagieren können, was in der Folge zu einer gerin‐ geren Schmerzwahrnehmung führt. 396 Dieses Beispiel zeigt: Effektive Arzt-Patient-Kommunikation, die auf der Berücksichtigung von Patienteninteressen beruht, ist heilsam und einer der zentralen Wirkungs‐ faktoren in der ärztlichen Behandlung. Das ICE -Modell beachtet in besonderer Weise die als wesentlich erkannten Be‐ dürfnisse von Patienten, indem Vorstellungen (ideas), Ängste (concerns) und Er‐ wartungen (expectations) gleichberechtigt neben biomedizinische Informati‐ onen gestellt werden. Ein Kommunikationsmodell, das diese Dimensionen explizit einbezieht, ist nachgerade vorbildhaft, weil die Patientenperspektive darin die ihr gebührende Beachtung findet. In der Integration der ICE -Elemente in die Arzt-Patient-Kommunikation liegt der Schlüssel zu einer vertrauens‐ vollen Interaktionsbasis, die - ganz im Sinne der partnerschaftlichen Entschei‐ dungsfindung - die Partizipationspräferenzen der Patienten berücksichtigt. Die Exploration der ICE -Komponenten im Gespräch stellt somit eine der zent‐ ralen Aufgaben ärztlichen Kommunikationshandelns dar und kann als ebenso <?page no="170"?> bedeutsam wie die Sammlung anamnestischer Daten (Symptome etc.) bewertet werden. Während die Akquise somatischer Informationen Ärzten tendenziell eher leicht fällt, ist die Exploration subjektiver Informationen mit der Kenntnis grundlegender kommunikativer Techniken verbunden, die traditionell im Stu‐ dium nicht vermittelt wurden. Die Ausrichtung auf objektive Fakten im Studium hatte (und hat) zur Folge, dass kommunikative Kompetenzen bei Ärzten nicht in ausreichendem Maße ausgeprägt wurden. Daher können sie ihrer wichtigen Aufgabe als Kommunikatoren vielfach nicht hinreichend gerecht werden. Um dies zu verbessern, findet gegenwärtig ein Paradigmenwechsel statt, der eine stärkere Hinwendung zu patientenseitigen Interessen zur Folge hat und sich konkret in elaborierten Kommunikationscurricula an den Hochschulen wieder‐ findet. Damit tragen die Hochschulen dem Umstand Rechnung, dass nicht nur von den Patientenverbänden, sondern auch vonseiten der Gesundheitspolitik sowie von den Berufsverbänden eine Stärkung des Faktors Kommunikation dringend gefordert wird. Das in der vorliegenden Studie dargestellte ICE -Modell ist für diesen Para‐ digmenwechsel aus den w. o. genannten Gründen und besonders wegen der gut gesicherten Evidenz von hoher Wichtigkeit. In Kapitel 3 habe ich exemplarisch gezeigt, welche positive Wirkung die Einbeziehung der ICE -Elemente in kom‐ munikative Bemühungen haben kann. Jedoch muss festgestellt werden, dass es sich bei diesem Modell rein um die inhaltliche Ausgestaltung der Patientenper‐ spektive handelt, dass es also eher theoretischen Wert besitzt und erst in der Einbindung in ein Kommunikationsmodell Wirkung entfaltet. Das ICE -Modell, so das Fazit meiner Betrachtungen, ist kein Kommunikati‐ onsmodell, sondern ein wesentliches Element eines auf Ganzheitlichkeit aus‐ gerichteten Kommunikationsmodells. Um als Kommunikationsmodell gelten zu können, müssen die Inhalte des ICE -Modells (zusammen mit den biomedizini‐ schen Inhalten) verwoben werden mit a) Gesprächsprozessen (Phasen) und b) kommunikativen Techniken. Nur in der Verschmelzung dieser drei Dimensi‐ onen Inhalte, Prozesse und Techniken kann das Modell seinen Wert entfalten und nur auf diese Weise lässt es sich praktisch anwenden. Eine isolierte Betrachtung der ICE -Elemente stärkt zwar das Bewusstsein für patientenseitige Interessen. Jedoch sollte die Exploration m. E. nicht isoliert und ohne Struktur erfolgen, sondern im Idealfall als Teil eines standardisierten Gesprächsverlaufs routine‐ mäßig stattfinden. Dazu müssen die ICE -Elemente passgenau eingebunden werden in einen größeren Interaktionsprozess, aus dem sie ursprünglich he‐ rausgelöst worden sind. 170 5 Schlussbetrachtung <?page no="171"?> 397 Kapitalmarktanalyse 2010 der Allianz Global Investors. Das patientenorientierte Phasenmodell der Calgary-Cambridge-Guides in‐ volviert die ICE -Elemente in der Phase der Informationsakquise. Dieses Modell, das international als Leitlinie für patientenzentrierte Kommunikation fungiert - in Deutschland aber wenig Beachtung findet-, eignet sich in besonderer Weise, die Bedürfnisse und Erwartungen von Patienten adäquat zu berücksichtigen. Das in Deutschland zwar bekannte, aber (nach dem Kenntnisstand des Verfas‐ sers) kaum angewendete Kommunikationsmodell sollte künftig stärker in den Blick genommen werden. Es kann zu einer Verbesserung kommunikativer Kom‐ petenzen bei Ärzten beitragen und sollte (neben den grundlegenden Kommu‐ nikationstechniken) als übergreifendes Gesprächskonzept, das Gespräche pha‐ senweise modellieren hilft, zum Gegenstand patientenorientierter Gesprächsausbildung gemacht werden. Patientenorientierung, die sich in einem veränderten Kommunikationsver‐ halten der Ärzte z. B. in der Einbeziehung von ICE -Elementen zeigt, ist kein vorübergehender Trend, sondern ein tatsächlicher Paradigmenwechsel. Dieser Verdacht liegt zumindest nahe, wenn man die gegenwärtige gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung in Deutschland betrachtet. Ökonomen gehen davon aus, dass das Thema Gesundheit mit all seinen Ausformungen (Wellness, Ernährung etc.) in der Zukunft gesellschaftlich und konjunkturell bestimmend sein wird. Gegenwärtig zeichnet sich eine Konjunkturwelle ab (6. Kondra‐ tieff-Zyklus), in der das größte Produktivitätspotenzial in der Heilung und Vermeidung von Krankheit gesehen wird. 397 Experten sehen besonders in der psychosozialen Gesundheit einen wesentlichen Faktor für die Zukunft - und zugleich stecken darin Herausforderungen, die Ärzte v. a. kommunikativ be‐ wältigen müssen. Die sich abzeichnende gesellschaftliche Transformation (hin zu einem stärkeren Bewusstsein für Gesundheit) wird informiertere und inte‐ ressiertere Patienten hervorbringen, die in noch viel stärkerem Maß an ihrer eigenen Gesundheit teilhaben wollen. Ärzte, die dann nicht willens oder fähig sind, die Vorstellungen, Ängste und Erwartungen ( ICE ) ihrer Patienten zu be‐ rücksichtigen, werden mit dieser Entwicklung kaum Schritt halten können. In dem Maße, in dem Patienten partizipativ beteiligt sein wollen, müssen Ärzte in der Lage sein, die Patientenperspektive angemessen zu würdigen. Dazu benö‐ tigen sie das kommunikative Rüstzeug. Auch aus ökonomischer Sicht ist eine Anpassung an die kommunikativen Bedürfnisse der Patienten wichtig: Vergü‐ tungsmodelle wie pay for perfomance (p4p) könnten über Zufriedenheitsmes‐ sungen diejenigen Ärzte stärker belohnen, die (aus Sicht der Patienten) besser kommunizieren können. 171 5 Schlussbetrachtung <?page no="172"?> 398 Vgl. Baumann / Czerwinski 2015. Technischer Fortschritt hilft in der Zukunft dabei, Krankheiten zu vermeiden, jedoch wird die Informationsgesellschaft durch zunehmende Digitalisierung auch dazu beitragen, dass Patienten immer mehr Informationen immer weniger gut verarbeiten können. Die Rezeptionskompetenz für Gesundheitsinfor‐ mationen wird kaum mit dem Angebot mitwachsen können. Laut Gesund‐ heitsmonitor 2015 der Bertelsmann-Stiftung ist das Internet inzwischen eine der wichtigsten Informationsquellen über Gesundheitsthemen - mit steigender Tendenz. Mindestens jeder fünfte Patient recherchiert vor und nach dem Arzt‐ besuch im Internet. Durchschnittlich mehr als drei Quellen werden von deut‐ schen Patienten genutzt, um sich über Gesundheitsthemen zu informieren. 398 Studien zu Dr. Google zeigen schon heute, dass sowohl Patienten als auch Ärzte Schwierigkeiten haben, valide Quellen im Internet zu identifizieren. Für das Thema der hier vorliegenden Betrachtung ist dieser Aspekt gewissermaßen als Ausblick wichtig. Denn: Schlecht oder gar falsch informierte Patienten bringen Ideen, Ängste und Erwartung mit in die Praxis, auf die Ärzte künftig noch stärker eingehen müssen. Die Exploration der ICE -Elemente ist schon allein deswegen wichtig, weil in der Informationsgesellschaft kaum ein Patient gänz‐ lich uninformiert einen Arzt konsultiert. Dass sich aus den gesammelten Infor‐ mationen im Netz zwangsläufig Ideen, Ängste und Erwartungen ergeben, dürfte evident sein. Auch aus diesem Grund sollten Ärzte in der Lage sein, diese Ebenen patientenseitiger Vorstellungen explorieren zu können. Zudem hat sich gezeigt, dass insbesondere dort, wo Menschen keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsinformationen haben (z. B. in Schwellenländern), Patienten mit Befürchtungen in Sprechstunden kommen. Die Einbeziehung des ICE -Modells ist daher nicht nur in Informati‐ onsgesellschaften, sondern gerade auch in solchen Schwellenländern von be‐ sonderer Bedeutung. Abschließend soll noch ein weiteres Schlaglicht auf einen Zukunftsaspekt geworfen werden, der zu einer Veränderung der Kommunikationskultur zwi‐ schen Ärzten und Patienten führen wird. Gemeint ist die Tatsache, dass ver‐ mehrt Ärzte aus anderen Kulturkreisen in Deutschland tätig werden. Es handelt sich dabei um Ärzte, die z. T. ein gänzlich anderes Bewusstsein für Rollenmodelle aus ihrer Heimat mitbringen. In vielen Ländern gilt das Prinzip des shared de‐ cision making nicht, stattdessen sind noch traditionelle Rollenvorstellungen (Paternalismus) verbreitet, die sich selbstverständlich auch (und vor allem) im Kommunikationsverhalten manifestieren. Die Verbesserung kommunikativer Kompetenzen von Ärzten mit anderem kulturellen Hintergrund erschöpft sich 172 5 Schlussbetrachtung <?page no="173"?> bei weitem nicht in der Vermittlung (fach-)sprachlicher Kompetenzen, sondern muss (und kann über das ICE -Modell) auch die kommunikative Würdigung pa‐ tientenseitiger Vorstellungen, Ängste und Erwartungen umfassen. Hier kann das Modell dazu dienen, Ärzte aus anderen Kulturen für die kulturspezifische Perspektive deutscher Patienten zu sensibilisieren. Zugleich sollten deutsche Ärzte mithilfe des Modells lernen, mit welchen Besonderheiten bei Patienten mit anderer kultureller Identität zu rechnen ist. Die Vorstellung davon, welche Ursache eine Krankheit hat, wer für die Heilung zuständig ist (Arzt, Patient oder beide) oder wie stark die Partizipationspräferenz des Patienten ausgeprägt sein kann bzw. darf, ist kulturspezifisch verschieden. 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Bechmann 2014: 172f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Tab. 3: Themensetting im Arzt-Patient-Gespräch (nach Westphale / Köhle 1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Tab. 4: Funktionale Dimensionen ärztlicher Gespräche (nach Speierer) . . . 117 Tab. 5: Kommunikative Kompetenzen im ärztlichen Gespräch nach Weston / Lipkin (um ICE-Elemente erweitert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Tab. 6: Grundstruktur eines Frames für das Lexem Therapietreue . . . . . . . . 142 Tab. 7: ICE-bezogene Krankheitskonzepte (eigene Erhebung, nicht repräsentativ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Tab. 8: Slots und Fillers in Krankheits-Frames (unvollständig) . . . . . . . . . . . . 152 Tab. 9: Gesprächsphasen und Inhalte der Calgary-Cambridge-Guides . . . . 162 <?page no="190"?> Vorstellungen, Ängste und Erwartungen auf Seiten der Patienten spielen in der Erforschung der Arzt-Patient-Kommunikation eine bislang kaum beachtete Rolle. In der vorliegenden Untersuchung wird das sog. ICE-Modell (ideas, concerns and expectations) auf der Folie kommunikationstheoretischer, linguistischer und gesundheitswissenschaftlicher Überlegungen näher beleuchtet. Ziel ist es, dieses in Deutschland unbekannte Kommunikationsmodell vorzustellen und einzuordnen, die wesentlichen kommunikativ-interaktionalen Vorzüge anhand von Studienergebnissen herauszuarbeiten und das Modell einzubinden in ein kommunikatives Gesamtkonzept. ISBN 978-3-8233-8394-9 IDEAS, CONC ERNS AND EXPE C TATIONS (IC E ) IN DER ARZT-PATIENTEN-KOMMUNIKATION Sascha Bechmann Sascha Bechmann IDE AS, CONCERNS AND EXPEC TAT IONS (ICE ) IN DER ARZ T-PAT IENTEN- KOMMUNIKAT ION Untersuchungen zu einem patientenorientierten Kommunikationsmodell KO MMUNIZIE R E N IM B E R U F BA N D 3 18394_Umschlag.indd Alle Seiten 18394_Umschlag.indd Alle Seiten 18.06.2020 09: 16: 53 18.06.2020 09: 16: 53