eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 45/1

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
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0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
10.2357/AAA-2020-0011
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2020
451 Kettemann

Samuel Becketts ‘ill seen ill said’

61
2020
Hans H. Hiebel
Die weitgehend deskriptive Interpretation von ‘ill seen ill said’ geht eng dem Text entlang und wählt die wichtigsten Stationen des Ablaufs zur näheren Betrachtung aus; sie ist dem “close reading” verpflichtet. Das Optische hat den Vorrang; es ergibt sich eine Sukzession von durchaus poetischen Gemälden: Zentrum ist eine alte Frau und ihre kleine Klause, die von Steingeröll und Wiesen umgeben ist. Als erdichtete, erschriebene Fantasie erweist sich die Sukzession durch surreale Einfälle: Die Steine häufen sich, die Frau im schwarzen Kleid bleibt von fallenden Schneeflocken unberührt usw. Ihr Besuch bei einem Grab hat die Frage aufgeworfen, ob es sich um eine Reinkarnation der Maria oder der Maria Magdalena handeln könnte. Aber ein Becket-Text lässt sich nicht auf bestimmte Signifikate festlegen.
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Samuel Becketts ill seen ill said Eine Annäherung Hans H. Hiebel Die weitgehend deskriptive Interpretation von ill seen ill said geht eng dem Text entlang und wählt die wichtigsten Stationen des Ablaufs zur näheren Betrachtung aus; sie ist dem "close reading" verpflichtet. Das Optische hat den Vorrang; es ergibt sich eine Sukzession von durchaus poetischen Gemälden: Zentrum ist eine alte Frau und ihre kleine Klause, die von Steingeröll und Wiesen umgeben ist. Als erdichtete, erschriebene Fantasie erweist sich die Sukzession durch surreale Einfälle: Die Steine häufen sich, die Frau im schwarzen Kleid bleibt von fallenden Schneeflocken unberührt usw. Ihr Besuch bei einem Grab hat die Frage aufgeworfen, ob es sich um eine Reinkarnation der Maria oder der Maria Magdalena handeln könnte. Aber ein Beckett-Text lässt sich nicht auf bestimmte Signifikate festlegen. Samuel Becketts ill seen ill said von 1981 1 ist einer der dunkelsten und dichtesten Texte des 20. Jahrhunderts. Alain Badiou hält Schlecht gesehen schlecht gesagt zusammen mit Wie es ist „zweifellos“ für die „größte[] Prosa Becketts“. 2 Da der folgende Versuch einer Erhellung der 61 halbseitigen oder ganzseitigen Kapitelchen vieles im Dunkel belassen wird, kann er nur als eine „Annäherung“ begriffen werden. Die Dichte ergibt sich aus einer eigentümlichen Beckett-Grammatik, die mit Verkürzungen arbeitet: “It it is draws her.” (11) “When not night evening.” (46) Die Dunkelheit resultiert aus mysteriösen Anspielungen: “The others are there. All about. The twelve. Afar. Still or receding.” (15) Auch ist es oft schwierig, festzustellen, worauf sich ein Satz bezieht: “Now the moment or never. But something forbids.” (15) 1 Samuel Beckett, ill seen ill said. (London: John Calder 1981) 2 Alain Badiou: Beckett. Das Begehren ist nicht totzukriegen. (Zürich, Berlin: diaphanes, 2006), S. 46. AAA - Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik Band 45 (2020) · Heft 1 Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ AAA-2020-0011 Hans H. Hiebel 6 Im ersten Kapitelchen werden uns in einer Art Exposition der Hauptschauplatz und die Hauptperson vorgestellt: ein Innenraum und eine alte Frau. “From where she lies when the skies are clear she sees Venus rise followed by the sun.” “At evening when the skies are clear she savours its star’s revenge. At the other window. Rigid upright on her old chair she watches for the radiant one. […] She sits on erect and rigid in the deepening gloom. […] Heading on foot for a particular point often she freezes on the way. Unable till long after to move on not knowing whither or for what purpose. Down on her knees especially she finds it hard not to remain so forever. Hand resting on hand on some convenient support. Such as the foot of her bed. And on them her head. There then she sits as though turned to stone face to the night. Save for the white of her hair und faintly bluish white of face and hands all is black.” (7) 3 Mit den zitierten Worten könnte eine Erzählung beginnen. Wir haben jedoch einige Indizien ausgelassen, die den Text tiefgreifend verändern und den Eindruck, dass wir es mit einer erzählten Geschichte zu tun haben, wieder aufheben. So fällt bereits ein “On” (im Sinne von „Weiter! “) nach dem ersten Satz des ersten Abschnitts: “From where she lies she sees Venus rise. On. From where she lies when the skies are clear she sees Venus rise followed by the sun. Then she rails at the source of all life. On. At evening […].” Die Frau zürnt der Quelle allen Lebens. Das erklärt ihre zeitweilige Erstarrung und macht von Anfang an klar, dass wir es - wie könnte es bei Beckett anders sein - mit dem Unglück, dem menschlichen Leid zu tun haben. Das “On” ist ein metafiktionales Bruchstück, mit dem sich der Sprecher oder Schreiber zum Weitermachen ermuntert, das heißt, es ist ein Indiz einer selbstreferentiellen bzw. selbstbezüglichen Haltung, in der der Sprecher oder Schreiber sich zu seinem eigenen Text verhält. Im französischen Original steht „Encore“, der Übersetzer, Elmar Tophoven, gibt es als „Weiter“ wieder, was der englischen Version eigentlich nähersteht. 4 Der erste Abschnitt endet mit dem Satz: “All this in the present as had she the misfortune to be still of this world.” (8) Noch einmal äußert sich der sich selbstreferentiell auf seinen eigenen Text beziehende Schreiber: Der ganze erste Abschnitt ist im Präsens gehalten. „Als hätte sie das Unglück, noch von dieser Welt zu sein.“ Also geht es um eine Tote, eine Tote, deren - leises und ersterbendes - Leben gleichwohl und paradoxerweise geschildert wird. Sie ‚lebt‘ in einem Jenseits, das freilich nichts mit dem christlichen Jenseits zu tun hat. Auch geht es nicht um eine ‚Untote‘, wie sie in einem fantastischen Genre wie The Walking Dead, sich unter Lebende mischend, erscheinen könnte. Mit dieser ‚sterbenden Toten‘ sind wir im 3 Im fortlaufenden Text werden unter Angabe der Seitenzahl in runder Klammer die Zitate nachgewiesen. 4 Samuel Beckett, Mal vu mal dit. Schlecht gesehen schlecht gesagt. Französisch/ Deutsch. Aus dem Französischen von Elmar Tophoven. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983) (= edition suhrkamp 1119), S. 8 u. 9. Samuel Becketts ill seen ill said 7 „Niemandsland zwischen Leben und Tod“. 5 Wir haben es also mit einer Imagination zu tun, einer Vision. Sie wird sozusagen ‚erschrieben‘, Situationen und Ereignisse erscheinen so in statu nascendi, das heißt, die Phänomene erscheinen in der Schreibgegenwart, und zwar in dem Moment, in dem sie benannt werden. Beckett schildert nicht mehr - wie noch in Malone Dies - Sterbende, sondern Gestorbene, er schildert, genau gesagt, die paradoxe Erscheinung einer sterbenden Gestorbenen. Solche Paradoxien stören den Autor aber nicht, denn sie entsprechen quasi essentiellen Erfahrungen, Erinnerungen. Der zweite Abschnitt beginnt folgendermaßen: “The cabin. Its situation. Careful. On. At the inexistent centre of a formless place.” (8) Die Kamera begibt sich vom Innen ins Außen. Das Bild ist jetzt in der Totalen aufgenommen. Die Klause oder Hütte liegt in einem flachen, kreisförmigen Gelände. “Stones increasingly abound.” (8) Steine häufen sich in einem stetigen Prozess. Dieses unrealistische Faktum macht die Situation (logisch) irreal oder (literarisch) surreal und erweist sie dadurch als imaginiert. Dennoch haben wir ein Bild vor uns, als würde eine - wenn auch fiktive - Welt erzählt. “Ever scanter even the rankest weed. Meagre pastures hem it round on which it slowly gains.” In der fernen Vergangenheit, zur Zeit der Errichtung der Hütte, soll Luzerne bis an die Mauern gereicht haben. Aber dennoch erweisen das “Careful” und “On”, dass hier eine Landschaft erschrieben wird, imaginiert wird. Mit „Attention“ und „Aller“, „Vorsicht“ und „Nur zu! “ 6 ermahnt sich der Schreiber zum vorsichtigen Weitermachen. Das Bild der herabregnenden Steine führt die Mimesis (bzw. Repräsentation) über in das Gebiet des Fiktiven (im an sich schon fiktionalen Diskurs). Wolfgang Iser hat der binären Logik des Gegensatzes von Realem und Erfundenem die Triade „des Realen, Fiktiven und Imaginären“ entgegengesetzt. 7 Das literarische Spiel, das sich durch Selektion und Kombination von Einzelelementen konstituiert 8 , führt in der fiktionalen Literatur zur Modifikation sowohl von Realitätspartikeln wie auch zur Umwandlung des - an sich formlosen - Imaginären: Es kommt zu einer „Irrealisierung von Realem“ und zu einem „Realwerden von Imaginärem“. 9 In seinem Abschnitt zu Samuel Becketts Imagination Dead Imagine 10 konstatiert Iser, dass „das Phantastische die Differenz zwischen dem Mimetischen und dem Wunderbaren besetzt […].“ 11 Im 18. Jahrhundert umfasste der Begriff des „Wunderbaren“ sowohl das Unwahrscheinliche als auch das die Naturgesetze Überschreitende. Im Bild von der wachsenden Anzahl der Steine bei 5 Badiou, Beckett, S. 43. 6 Beckett, Mal vu mal dit, S. 10 u. 11. 7 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 1991), S. 20 f. 8 Vgl. ebd., S. 24 ff. 9 Ebd., S. 23. 10 Ebd., S. 412-425. 11 Ebd., S. 414. Hans H. Hiebel 8 Beckett wird das Letztere imaginiert (im Sinne des „Realwerdens“ des an sich gestaltlosen Imaginären). Dieses Changieren zwischen dem Mimetischen und dem Fiktiven, dieses Spiel mit zwei Modi der Darstellung, zeigt sich immer wieder in Becketts Text, z. B. wenn das schwarze Kleid der Alten vom Schneefall unberührt bleibt (vgl. 33) oder der Schuhknöpfer vibriert (vgl. 18). Damit zeigt sich, dass wir es nicht nur mit einer fiktiven Welt zu tun haben, sondern dass ein Spiel mit dem Fiktiven inszeniert wird, dass das Kreieren selbst anschaulich wird. Nicht Wahrnehmungen werden mimetisch festgehalten, vielmehr werden „Wahrnehmungsbedingungen“ nachgeahmt, wie es Iser für eine offene Welt in nacharistotelischer Zeit für passend hält. 12 “And from it [the cabin] an evil core the what is the wrong word the evil spread.” (9) “And none to urge - none to have urged its demolition. As if doomed to endure. Question answered.” (9) Mit der Frage nach dem “falschen Wort” wird das Thema des Textes - „ill seen ill said“ - aufgenommen. Die radikale Sprachskepsis lässt nicht einmal die Frage nach dem „richtigen Wort“ aufkommen, da es nur falsche Worte und falsche Antworten gibt. Ein Stück ‚Erzählung‘ folgt dem Kommentar: “Chalkstones of striking effect in the light of the moon. Let it be in opposition when the skies are clear.” (9) „Kalksteine von eindrucksvoller Wirkung im Mondschein.“ 13 Venus sinkt im Westen, der Mond steigt auf vor dem Ostfenster. “Let it be in opposition when the skies are clear. Quick then still under the spell of Venus quick to the other window to see the other marvell rise.” (9) Das “Let it be” macht deutlich, dass wir es hier wieder mit Erfindung zu tun haben, mit einer Imagination. Das Erschriebene wird in statu nascendi präsentiert. Es wird Fingieren selbst, Kreation selbst vorgeführt. So erweist sich der Text immer wieder als „Spiel“; Iser spricht in seinem Abschnitt über Beckett von den „letzte[n] Spuren eines Spiels“. 14 Der Begriff „Spiel“ wird vor allem in Isers Kapitel „Mimesis und Performanz“ des Öfteren gebraucht. 15 „Spiel“ gilt als „Infrastruktur der Darstellung“ und ist weitgehend von der „Performanz“ eines Textes abhängig. 16 Der Mond steht in Opposition zur Sonne bzw. zur Venus. „How whiter and whiter as it climbs it whitens more and more the stones.” (9) Je höher er steigt, desto heller leuchtet er und macht die Kalksteine weißer und weißer. Das Bild, das hier evoziert wird, ist von eindringlicher und zugleich sublimer Poesie. Es wird entfaltet wie ein Gemälde. Aber diese Poesie ist kein Indiz von Lebensglück, sie ist vom Unglück umhüllt. Bestenfalls ist der visuelle Eindruck ein Trost. 12 Ebd., S. 488. 13 Beckett, Mal vu mal dit, S. 13. 14 Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 425. 15 Ebd., S. 481-515. 16 Ebd., S. 507. Vgl. auch die Ausführungen zum „Spiel“ in Becketts Romantrilogie in: Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. (München: Wilhelm Fink, 1972). S. 259 f. Samuel Becketts ill seen ill said 9 Der dritte Abschnitt spricht von zwei Zonen, offenbar der Zone der Steinhalde und der Zone der “pastures”, der Triften; sie formen einen runden Bezirk. “Diameter. Careful. Say one furlong.” (9) Also, vorsichtig geschätzt, vorsichtig gesagt, vorsichtig erschrieben: eine Achtelmeile. “Beyond the unknown.” (9) Jenseits das Unbekannte. Dieses „Unbekannte“ macht den Schauplatz zu einem nicht-empirischen Ort, einem visionär geschauten Platz. Die Triften sind grasbewachsen. “Save where it has receded from the chalky soil. Innumerable white scabs all shapes and sizes. Of striking effect in the light of the moon. In the way of animals ovines only. After long hesitation.” (10) Spricht hier wieder der Imaginierer, der lange zögerte, Schafe ins Bild zu bringen? “They are white and make do with little.” (10) Ohne Schäfer streifen sie umher. Die weißen Flecken und die weißen Schafe im Mondlicht formen noch einmal ein poetisches Bild. Blumen? Nur vereinzelt Krokusse. Der Mensch? “Shut of at last? Alas no.” (10) “How many? A figure come what may. Twelve. Wherewith to furnish the horizon’s narrow round.” (10) Irgendeine Zahl möge erscheinen. Wieder erschreibt sich der Imaginierer eine Zahl: Zwölf. Die Zwölf werden später „guardians“ (42), „Wächter“ 17 , genannt. Sie erscheinen in der Ferne, erstarrt oder zurückweichend. Noch nie ging einer von ihnen auf die Frau zu. (Vgl. 10) Abrupt schließt der Abschnitt: “Do they see her? Enough.” (10) In einer selbstbezüglichen Selbstanrede beschließt der Imaginierer: „Enough“. 18 Im vierten Abschnitt ist von Lämmern die Rede. “There had to be lambs.” (11) Aber es bleibt ungewiss, ob sie - innerhalb der Fiktion - tatsächlich vorhanden sind: “A moor would have allowed of them.” (11) Aber ein “moor”, eine Heidelandschaft, wird nicht imaginiert, also dürften sie eigentlich nicht vorhanden sein. Dennoch heißt es: “Lambs for their whiteness”. (11) Ihrer Weißheit wegen. Sind sie also nur in der Form einer Negation vorhanden? Das Bild bleibt in der Schwebe. Vielleicht werden die Lämmer nur gedacht: “Aloof from the unheeding ewes. Still. Then a moment straying. Then still again.” Also nur imaginiert - innerhalb einer bloßen Imagination nur imaginiert? Auch im Hinblick auf „Leben“ ergibt sich eine grundlegende Ambivalenz: “To think there is still life in this age.” (11) Die Protagonistin ist eine lebende Tote. Das „Leben“ in diesem „Jahrhundert“ kann also auch nur ein Leben von Schatten sein. Eine ähnliche Paradoxie ergibt sich in What Where: Dort heißt es: „We are the last five./ In the present as were we still.“ 19 Auch dies ist eine Geister- oder Gespenstergeschichte. Der Abschnitt schließt wieder mit einer Selbstanrede des Imaginierers: “Gently gently.” (11) 17 Beckett, Mal vu mal dit, S. 75. 18 Zum Begriff der „Selbstbezüglichkeit“ und dem Phänomen als solchem in Becketts Gesamtwerk vgl. Hans H. Hiebel: Samuel Beckett. Das Spiel mit der Selbstbezüglichkeit (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2016). 19 Samuel Beckett, What Where. In: S. B., Collected Shorter Plays. (London: Faber and Faber, 1984), S. 307-316. Zit. S. 310. What Where ist von 1983. Hans H. Hiebel 10 Der fünfte Abschnitt beginnt folgendermaßen: “She is drawn to a certain spot. At times. There stands a stone. It it is draws her. Rounded rectangular block three times as high as wide. Four. Her stature now. Her lowly stature.” (11) Es scheint ein Grabstein zu sein. Ist es der Grabstein, der später erwähnt werden wird? (Vgl. 28, 30) Mit geschlossenen Augen fände sie zu ihm. (Vgl. 12) “With herself she has no more converse.. Never had much. Now none. As had she the misfortune to be still of this world.” (12) “But when the stone draws then to her feet the prayer, Take her. […] They take her and halt her before it. There she too as if of stone. But black. Sometimes in the light of the moon. Mostly of the stars alone” (12) Die Frau erscheint immer in Schwarz. Das heißt, die Malerei in Schwarz-Weiß, das poetische Setting wird fortgesetzt; nun ist die Frau außerhalb ihrer Klause zu sehen. Es entwickelt sich ein einziges großes Gemälde; man könnte jedoch auch von einem Bilderzyklus sprechen, da mit jedem neuen Abschnitt ein weiterer Bildaspekt hinzugefügt wird. Das Ganze ist eine elegische Meditation in Form einer Entfaltung dieses Gemäldezyklus. “To the imaginary stranger the dwelling appears deserted.” (12) Kein Zeichen von Leben ist für einen imaginierten Fremden zu sehen. Hinter den zwei Fenstern (im Osten eines und im Westen eines) sind nur schwarze Vorhänge zu erspähen. “She shows herself only to her own. But she has no own. Yes yes she has one.” (13) Wer kann dieser „Angehörige“ sein? Es ist zu vermuten, da kein anderer außer den „Zwölf“ je erscheint, dass es um einen Toten geht, einen Toten unter dem Stein, zu dem es die alte Frau immer wieder hinzieht. Da es nicht klar ist, ob es sich bei dem Steinblock um einen Grabstein handelt, und offen bleibt, um welchen „Angehörigen“ es geht, ergibt sich eine Dunkelheit, die den gesamten Text als aus bloßen Andeutungen konstituiert erscheinen lässt. Diese Dunkelheit korrespondiert mit der wörtlichen Dunkelheit - an Abenden, in Nächten, in Wintern. Fast alle Situationen erscheinen im Zwielicht eines Abends oder in einem Morgendämmer. Wie durch Zauber (“enchantment” (13)) erscheint sie in den Triften und verschwindet wieder. Lange ist sie nicht in der Zone der Steine zu sehen. “But little by little she began to appear. In the zone of stones. First darkly. Then more and more plain. Till in detail she could be seen crossing the threshold both ways and closing the door behind her.” (13) Wie in einem filmischen Fade-in erscheint das Bild der Frau, von Mal zu Mal deutlicher. Dann lange Abwesenheit innerhalb ihrer vier Wände, bis sie dort wieder erscheint. “Then a time when within her walls she did not appear. A long time. But little by little she began to appear. Within her walls. Darkly.” (13) Erneutes Fade-in. “Time truth to tell still current. Though she within them no more.” (13 f.) Wieder begegnet uns ein Widerspruch, eine Paradoxie. Erscheint sie noch - oder nicht mehr? “Time still current” - “no Samuel Becketts ill seen ill said 11 more”. Auf Grund der Widersprüche oder „Aufhebungen“ verstärkt sich der Eindruck der Dunkelheit des Textes. 20 Im Abschnitt 8 kommt es zur Aufhebung der Aufhebung: “Yes within her walls so far at the window only. At one or the other window. Rapt before the sky. And only half seen so far a pallet and a ghostly chair.” (14) Das Thema “ill seen ill said” wird durch das “half seen” vorsichtig angesprochen, dann deutlicher artikuliert: “Ill half seen.” (14) Sie erstarrt bei ihrem Hin und Her: “suddenly stops dead”. Sie hält ein dunkles Album auf ihren Knien. “See the old fingers fumble through the pages.” (14) Vielleicht nur vertrocknete Blumen: “In the meantime who knows no more than withered flowers. No more! ” (14 f.) Who knows? Im nächsten Segment ist Winter, die Frau geht quer über den Schnee. “It is evening. Yet again. On the snow her long shadow keeps her company.” (15) Man erhascht den Rand eines schwarzen Schleiers. (Vgl. 15) Die Malerei in Schwarz-Weiß wird fortgesetzt: Abend, Schnee, schwarzer Schatten, schwarzer Schleier. Es gibt keine Farben. Aber sie ist nicht allein: “The others are there. All about. The twelve. Afar. Still or receding.” (15) Sie erstarrt wieder. “Now the moment or never. But something forbids.” (15) Aber um was für einen Augenblick handelt es sich? Was wird verhindert? Der Text lässt es offen; seine Dunkelheit wird verstärkt, vermehrt durch die vielen Auslassungen und Unbestimmtheitsstellen. Handelt es sich dabei um „Unbestimmtheitsgrade“ und „Leerstellen“, wie sie Wolfgang Iser beschrieben hat? 21 „Nun aber zeigt die Diskussion um Beckett, wie wenig sich die Beckett-Leser mit diesem Ausgesperrtsein zufriedengeben. Dem hohen Unbestimmtheitsgrad wird mit einer massiven Bedeutungsprojektion geantwortet […].“ 22 (Das Gleiche könnte von Franz Kafkas Werken gesagt werden.) Die Texte Becketts „mobilisieren unsere Vorstellungswelt total, allerdings nicht, um in einer gefundenen Bedeutung Beruhigung zu gewähren, sondern eher, um den Eindruck zu vermitteln, daß sich ihre Eigenart erst dann entfaltet, wenn sich unsere Vorstellungswelt als überschritten erfährt.“ 23 Es hat nun den Anschein, als habe Beckett in ill seen ill said sein Konzept der Leerstellen, das spätestens mit der Figur des Herrn „Godot“ beginnt, radikalisiert. Hier hat unsere Vorstellungwelt, so scheint es, überhaupt keinen Ansatzpunkt mehr zum Projizieren. Ist der Steinblock ein Grab? Wer liegt in ihm? Wer ist der Angehörige? Wer sind die „Zwölf“? Was ist dies für ein Augenblick? Was wird verhindert? Die Dunkelheit des Textes nimmt überhand. 20 Vgl. das Kapitel „Subjektivität als Selbstaufhebung ihrer Manifestationen“ zu Becketts Romantrilogie in: Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. (München: Wilhelm Fink, 1972), S. 252-275. 21 Vgl. Wolfgang Iser, „Die Appellstruktur der Texte“. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, hrsg. von Rainer Warning. (München: Wilhelm Fink, 1975). S. 228-252. 22 Ebd., S. 247. 23 Ebd. Hans H. Hiebel 12 Es ist schließlich nichts zu sehen außer dem Schnee im Sonnenlicht: “Where nothing to be seen in the grazing rays but snow. And how all about little by little her footprints are effaced.” (16) Sogar die Fußspuren verschwinden. Aber der Schnee ist gewissermaßen sichtbar. Das Gemälde wird erweitert. Der Bilderzyklus wird fortgesetzt. Aber sowohl im Schwarz der Nacht als auch im blendenden Schnee ist nichts zu sehen. Die Unbestimmtheit erweitert sich in Abschnitt 10: “What but life ending. Hers. The other’s. But so otherwise. She needs nothing. Nothing utterable. Whereas the other.” (16) Wer ist dieser Andere? Kein Anderer wird im Text je auftauchen. Ist der Andere identisch mit dem Imaginierer? Der hier in der dritten Person erscheint? Schließlich gibt es lange Zeiträume, in denen sie verschwunden ist. “Times when she is gone. Long lapses of time. At crocus time it would be making for the distant tomb. To have that on the imagination! ” (16 f.) Nur im Konjunktiv wird der Weg zum „fernen Grab“ evoziert. Aber er scheint zur Vision, der Imagination des Ganzen zu gehören. Die Frau wird mit einem Kreuz und einem Kranz ausgestattet. (Vgl. 17) Aber sie kann urplötzlich verschwunden sein. “No longer anywhere to be seen. Not by the eye of flesh nor by the other.” (17) Weder mit dem fleischlichen Auge noch mit dem inneren. Der Text scheint hier ins Spielerische zu wechseln, als gäbe es überhaupt ein anderes Auge als das innere, als die Imagination. Es gibt keinen Erzähler mit einem fleischlichen Auge, das auf eine erzählte Wirklichkeit blicken würde; es gibt nur die Vision. Reales (innerhalb der Fiktion) und Imaginäres stehen gleichberechtigt nebeneinander; beide verweisen auf echte Erfahrung, etwas Essentielles. 24 John Pilling zufolge „wird das Reale und das Imaginäre als zu verschiedenen Arten der Erfahrung gehörig begriffen“. 25 Daher ist berechtigtermaßen auch die „Verwirrung“ möglich, die “confusion”: “Such the confusion now between real and - how to say its contrary? ” (40) 26 „In jeder Erscheinung scheint das Objekt die Macht zu besitzen, nach Belieben zu erscheinen und zu verschwinden […].“ 27 Das erinnert an harte Schnitte im Film. Im Segment 38 heißt es: “On resumption the head is covered. No matter. No matter now. Such the confusion now between real and - how say its contrary? No matter. The old tandem. Such now the confusion of them once so twain. For it to make what sense of it may. No matter now. Such equal liars both. Real and - how ill say its contrary? The counter-poison.” 24 Nach Alfred Simon ist Beckett der „Schriftsteller des Essentiellen“. Alfred Simon, Beckett. Aus dem Französischen von Michel Bischoff. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988), S. 96. 25 John Pilling, „Eine Kritik der Armut. Schlecht gesehen schlecht gesagt“. In: Samuel Beckett. Hrsg. von Hartmut Engelhardt, (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984), S. 302- 314, Zit. S. 306. 26 Vgl. dazu ebd. 27 Ebd. Samuel Becketts ill seen ill said 13 (40) Lügner sind das Reale wie das Imaginäre (bzw. Fiktive). Gift und Gegengift. Aber scheint nicht eine Wahrheit durch die Doppelbelichtung hindurch? Durch die Mischung aus Realem und Fiktivem hindurch? Becketts Erzählung wird zu einem Diskurs über das Verhältnis von Realem und Fiktivem. Auf ihr, der Frau, Wiedererscheinen wartet der Andere. “Any other than this other. In wait for her to reappear. In order to resume. Resume the - what is the word? What the wrong word? ” Es gibt nur falsche Worte, also wird gleich nach dem falschen gefragt. Das Thema von “ill seen ill said” wird wieder aufgenommen. „Comment mal dire? “, gibt das französische Original. 28 Es scheint, als würde wieder ein Stück ‚Erzählung‘ folgen. “Riveted to some detail of the desert the eye fills with tears. Imagination at wit’s end spreads its sad wings.” (17) Ist die Imagination ans Ende gekommen, ans Ende der Weisheit? Statt einem langsamen Fading-in werden wir mit einem Filmschnitt wieder der Frau ansichtig, der Tränen. Sie rafft den langen Rock und entdeckt ihre Stiefel und Strümpfe. Da hängt ein Schuhknöpfer, ein “buttonhook” (18) an einem Nagel. Die Kamera folgt dem Blick der Frau. “Of tarnished silver pisciform it hangs by its hook from a nail. It trembles faintly without cease.” (18) Das Zittern, grundlos, führt das Stück ‚Erzählung‘ wieder über in Imagination, Fiktion, Vision. Nach langer Pause erscheint im Text wieder ein “Careful”. (18) Einst konnte die Frau noch die Griffe einer Zange zusammendrücken, um den Schuhknöpfer geradezubiegen; dann nicht mehr. “Oh not for weakness. Since when it hangs useless from the nail.” (18) “Close-up then […]. Long this image till suddenly it blurs.” (19) Nicht körperliche Schwäche hindert die Frau am Zusammendrücken der Zange, es muss sich um eine Art Lebensmüdigkeit handeln. Der Imaginierer sieht wie in einer Nahaufnahme den Schuhknöpfer, bis er vor dem Auge, dem inneren Auge, verschwimmt. Wie mit dem Mittel des Films („close-up“) wird das Bild näher herangeholt, dann folgt ein Fadeout. Der 14. Abschnitt beginnt wieder mit einem Filmschnitt: “She is there. Again.” (19) In der Morgendämmerung oder im Abendschummer. Die Vorhänge sind - vielleicht - geöffnet, damit sie den Himmel sehen kann. Im nächsten Abschnitt heißt es: “If only she could be pure figment. Unalloyed. This old so dying woman. So dead. In the madhouse of the skull and nowhere else.” (20) Die Paradoxie von der sterbenden Toten wiederholt sich. Dass es sich um eine Vision handelt, bestätigt die Formulierung vom „madhouse of the scull“. Es wird nicht gesagt, um wessen “scull” es sich handelt. Aber die Vision beruht offenbar auf einer durchaus existentiellen Erfahrung, sie ist nicht reine Schimäre: “If only all could be pure figment. Neither be nor been nor by any shift to be.” Aber es gibt kein “pure figment”. 28 Beckett, Mal vu mal dit, S. 28. Der französische Text kann zuweilen den englischen erhellen. Aber er ist keineswegs deckungsgleich mit dem englischen. Hans H. Hiebel 14 Zwar wird, wie Iser meint, das Reale irrealisiert und das Imaginäre realisiert, aber ganz verschwindet das Wirkliche nicht im Spiel der Fiktion. Handelt es sich um ein Requiem für die Mutter? Offenbar geht es um einen realen Verlust in der realen Welt, eine elegische Klage, in der die reale Welt verschwimmt. Frederik N. Smith spricht von einer „Pastoral Elegy“. 29 Aber natürlich bleibt offen, um wen es sich handelt. Im Abschnitt 16 werden zwei Luken im steilen Dach erwähnt, durch die - bei geschlossenen Vorhängen - ein trübes Licht fällt. Ohne diese Luken läge alles Tag und Nacht im Dunkel. “All in black she comes and goes. The hem of her long black skirt brushes the floor. But most often she is still. Standing or sitting. Lying or on her knees.” (21) Die Kamera leuchtet das Innere der Hütte aus. Ein schwaches Licht also, noch kein vollständiges Dunkel, noch kein Ende. Ein Licht, in dem man schlecht sieht. Eine Mauer entsteht, löst sich auf und bildet sich erneut. “East the bed. West the chair.” (21) “The buttonhook glimmers in the last rays. The pallet scarce to be seen.” (22) Im 18. Abschnitt kehrt das Auge zu den „Zwölf“ zurück. “Out of her sight as she of theirs.” (22) Also muss es um das innere Auge gehen. “To the twelve then for want of better the widowed eye.” (22) Ein Mann in langem dunklen Mantel wird wahrgenommen, es ist ein Winterabend: “Finally the face caught full in the last rays.” (22) Spricht im Folgenden der Imaginierer - oder geht es um das Auge der Frau? „Quick enlarge and devour before night falls.“ (23) Wieder wird ein optisches Mittel bzw. ein filmisches Mittel eingesetzt: die Vergrößerung. Der Eindruck wird rasch verschlungen wie Nahrung, bevor die Nacht kommt. Im Abschnitt 19 ist - wie des Öfteren in den folgenden Segmenten - wieder vom „Auge“ die Rede, als solle alle Spur eines Erzählers getilgt werden: “Having no need of light to see the eye makes haste. Before night falls.” (23) Das Auge beeilt sich, obwohl es auch ohne jedes Licht sieht. Es ist nicht deutlich, ob es um das Auge eines niemals sichtbar werdenden Erzählsubjekts oder um das Auge der Frau geht. Auf jeden Fall ist es das Auge des Lesers/ Betrachters. “[T]orpid under its lid [it] makes way for unreason”. (23) Im Bereich des Wahns, des “unreason”, tauchen wieder sie auf, die „Zwölf“, so muss man annehmen, die sie einkreisen.“What if not her do they ring around? ” (23) “As hope expires of her ever reappearing she reappears. At first sight little changed. It is evening. It will always be evening.” So beginnt Kapitel 20. Wessen Hoffnung erstirbt beinahe? Es ergibt sich eine Leerstelle, die - wie das „Auge“ - einen Erzähler ersetzt. Es gibt kein „Ich“. Offenbar geht es um den Imaginierer, dem die Hoffnung ausgeht. Aber mit schwebendem Schritt erscheint „sie“ auf den Triften; plötzlich erstarrt und plötzlich wieder unterwegs; im Zwielicht. Sie gelangt zur Tür ihrer Klause, einen großen 29 Frederik N. Smith, Ill seen ill said: Beckett’s Pastoral Elegy. (Rock Hill. S.C.: Philological Association of the Carolinas, Winthrop College, Department of English, 1992.) Samuel Becketts ill seen ill said 15 Schlüssel haltend. “[S]he casts to the moon to come her long black shadow.” (24) Sie erstarrt wieder. “All dead still. All save hanging from a finger the old key polished by use. Trembling it faintly shimmers in the light of the moon.” (25) Das Poetische, ja Romantische der Vision kommt noch einmal in einer Art Gemälde zum Ausdruck - im schwachen Schimmer des Mondlichts auf dem pendelnden Schlüssel. Er pendelt oder zittert, “trembling”, wie der Schuhknöpfer. Die Poesie setzt sich - in Abschnitt 21 - fort im Schimmern der Steinplatte vor der Tür. Das Gesicht gibt sich endlich hin. “Wooed from below the face consents at last. In the dim light reflected by the flag. Calm slab worn und polished by agelong comings and goings. Livid pallor. Not a wrinkle. How serene it seems this ancient mask.” (25) “The lids occult the longed-for eyes. Time will tell them washen blue. Where tears perhaps not for nothing. Unimaginable tears of old. Lashes jet black remains of the brunette she was.” (25) Die einzige Farbe in diesem schwarz-weißen Gemälde ist das verwaschene Blau der Augen. Wird hier vielleicht doch eine Geschichte erzählt? Von einer einst Brunetten, von Tränen, von Jettschwarzen Wimpern … Die Steinplatte wird dunkel: “The slab having darkened with the darkening sky. Black night henceforward.” (26) Dem “dim light” folgt die Nacht. Aber immer wieder ist es Abend, Zwielicht, ein schwaches Licht lässt eine Leere sehen, einen schwach erleuchteten Kosmos. “In the dim void” ist der Titel von Gregory Johns‘ Buch über die späte Trilogie Becketts. 30 Gabriele Hartel hat in ihr Buch „… the eyes take over …“ Samuel Becketts Weg zum „gesagten Bild“ ein Kapitel über ill seen ill said aufgenommen. 31 Sie schreibt dort: „Wie mit den ‚Texts For Nothing‘ in die Wege geleitet und in ‚The Lost Ones‘ konkretisiert sind es wieder die künstlerischen Mittel von Malerei und Film, die Beckett in ‚Ill Seen Ill Said’ als Bedeutungsträger einsetzt: Licht und Schatten, die Farbe Blau, Schattierungen von Grau und vor allem die spannungsreichen visuellen Kontraste zwischen Schwarz und Weiß. Die Leinwand (ob nun die Filmleinwand oder die der Malerei) ist wieder ‚inside the scull‘ des Lesers/ Betrachters angesiedelt.“ 32 Obwohl Hartel ihr Augenmerk stark auf das Kamera-Auge richtet und wiederholt den Rezipienten (Leser/ Betrachter) in den Mittelpunkt setzt, geht sie von einem „Erzähler“ aus. 33 Aber gerade die Filmtechnik erlaubt das Verschwinden - oder doch Verbergen - des Erzählers. (Auch in The Lost Ones ist die Verborgenheit des Erzählers auffallend.) 30 Gregory Johns, In the dim void: Samuel Beckett’s Late Trilogy. (Kidderminster: Crescent Moon, 1993) Besprochen werden “Company”, “ill seen ill said” und “Worstward ho.” 31 Gabriele Hartel, „… the eyes take over …” Samuel Becketts Weg zum “gesagten Bild“. (Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2004), S. 146-169. (Filmtechnik als Erzähltechnik in „Ill Seen Ill Said“) 32 Ebd., S. 149. Über Nahaufnahme, Totale, Überblendung, Doppelbelichtung, Verwischung usw. ist dann im Folgenden die Rede. 33 Ebd., S. 149 u. passim. Hans H. Hiebel 16 Gabriele Hartel zieht auch die „Dopppelbelichtung“ in Betracht, also Übermalungen, die den „Leser/ Betrachter mit verschiedenen ‘stages of an image’ konfrontieren.“ „So gelingt Beckett eine Form der Realitäts-Schreibung, nicht Be-Schreibung, die ihren Gegenstand nicht kommentiert, sondern vielmehr zeigt, wie es ist.“ 34 Gabriele Hartel variiert hier praktisch einen Satz Becketts über Joyce: “His [Joyce’s] great work is not about something, it is that something itself.” 35 Abschnitt 22: “White stones more plentiful every year. As well say every instant.” (26) Bald wird alles begraben sein. “First zone rather more extensive than at first sight ill seen and every year rather more. Of striking effect in the light of the moon these millions of little sepulchres.” (26) Die Steine vermehren sich: die Vision wird erweitert. Die poetische Malerei wird fortgesetzt: durch die Millionen winziger Grabsteine im Mondlicht. Mit der Fügung “at first sight ill seen” wird das Hauptthema “ill seen ill said”, das den Titel liefert, wieder aufgegriffen. In verschiedenen Variationen erscheint dieses Thema, das wie die Leitmotive “On”, “Careful” und “Gently gently” als metafiktionales Element gesehen werden kann, mit dem der Schreiber über seinen eigenen Text urteilt. Von weißen Narben ist die Rede, wo das Gras sich von der kalkigen Erde zurückgezogen hat. “In contemplation of this erosion the eye finds solace. Everywhere stone is gaining. Whiteness.” (26) Durch das Bild vom subjektlosen „Auge“ wird erneut ein Auftreten eines Erzählers verhindert. Es ist nicht eindeutig sicher, dass es um das Auge des Imaginierers geht; es könnte auch das Auge der Frau sein, die in den optischen Wahrnehmungen Trost findet. Die Steine werden sich aufeinanderhäufen, bis zum Himmel, zum Mond, zur Venus. (Vgl. 27, Abschnitt 23) Die Irrealität der Vorstellung erklärt das Bild zur erfundenen Vision. “From the stones she steps down into the pastures.” (27, Abschnitt 24) “This great silence evening and night.” (27) Dennoch hört man das dumpfe Geräusch von Steinen, die auf Steine fallen. (Vgl. 28) Das stört nicht das eigentliche Schweigen. Die Frau sitzt in den Triften, vielleicht auf dem Weg „who knows to the tomb“. (28) Vielleicht auch zurück vom Grab. “Face to the further confines the eye closes in vain to see.” (28) Nur mit dem geschlossenen Auge kann man sehen, imaginieren; aber das ist im Augenblick nicht möglich. Das Gemälde schließt mit einer leuchtenden Nebelschwade: “Shroud of radiant haze”. (28) Dort, wo keine Einzelheit mehr auszumachen ist, liegt, offenbar, das Paradies: “Where to melt into paradise.” (28) Das Segment 28 beginnt mit einer Nahaufnahme: “The long white hair stares in a fan.” (28) Das Haar sträubt sich auf Grund eines alten Schreckens. “which say? Ill say.” (29) Welchen Schreckens? Man kann es bestenfalls nur „schlecht sagen“. Im nächsten Kapitel sitzt die Frau, in 34 Ebd., S. 149. 35 Samuel Beckett, Disjecta. Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment. Ed. Ruby Cohn. (London: John Calder, 1983). S. 27. Samuel Becketts ill seen ill said 17 Schwarz, auf den Steinen; den Nacken bedeckt ein schwarzer Spitzenkragen. Die Kamera erfasst nur den Rücken der Frau. “Facing to the north. The tomb. Eyes on the horizon perhaps. Or closed to see the headstone.” (29) Nur mit geschlossenen Augen sieht sie, sieht den Grabstein. Endloser Abend. “She lit aslant by the last rays.” (29) “Let her but go and stand still by the other stone. The white from afar in the pastures. And the eye go from one to the other.” (30) Offenbar gibt es zwei Steine; den oben abgerundeten (vgl. 11), ein Grabstein? Und den definitiven “tombstone” in den Triften, weiß, in der Ferne. Soll er Schluss machen mit seiner Vision? “Nothing for it but to close the eye for good and see her. Her and the rest. Close it for good and all and see her to death.” (30) Soll er sie zutodesehen? Ein für alle Mal, “for good”? Aber dann kommt die Aufhebung: “On to the next. Next figment.” Solange der Autor am Leben ist, gibt es kein endgültiges Enden: weiter zur nächsten Schimäre. „Das Begehren ist nicht totzukriegen“. Beckett „hat das Gedicht des Begehrens zu denken bereitgestellt - jenes Begehrens, das nicht totzukriegen ist.“ 36 Im nächsten Abschnitt, 28, aber wiederholt sich die Frage bzw. Erwägung: “Let her vanish. And the rest. For good. And the sun. Last rays. And the moon. And Venus. Nothing left but black sky. White earth. Or inversely. No more sky or earth. Finished high and low. Nothing but black and white. Everywhere no matter where. But black. Void. Nothing else. Contemplate that. Not another word. Home at last.” (31) Der Schwarz-Weiß-Kontrast ist vollkommen: Schwarzer Himmel. Weiße Erde. Aber - in dieser Panik - wird schon das Ende anvisiert: “But black.” Mit Abschnitt 29 folgt indessen die Fortsetzung der weitgehend schon etablierten Vision: “Panic past pass on. The hands. Seen from above They rest on the pubis intertwined. Strident white.” (31) Wessen Panik ist vorüber? Offenbar die des Text-Subjekts. An den Handgelenken die Andeutung schwarzer Spitze. “Suspicion of lace at the wrists. To go with the frill.” (31) Wie der Spitzenkragen. Die Hände verklammern sich und lösen sich wieder. “Slow systole diastole.” (31) “Rhythm of a labouring heart.” (32) Es ist keine Leichtigkeit in diesem Rhythmus. “It is now the left hand lacks its third finger.” (32) Eine Schwellung am Fingerglied verrät die frühere Unmöglichkeit, den Ehering abzustreifen. (Vgl. 32) Der Ring werde “keeper” genannt. (32) Ein Geschehnisrest spricht von einer dramatischen Handlung, die einem Ehedrama folgte. Dies erinnert an die ewige Wiederholung, wie sie in Play in Szene gesetzt wird. (Auch dieses Stück mit den drei Urnen ist ein Gespensterstück.) Doch wir wissen, alles ‚Erzählte‘ ist imaginär. Im Abschnitt 30 kommt ein neues Element ins sukzessiv entfaltete poetische Gemälde: der weiße Schnee. “Winter evening in the pastures. The snow has ceased. Her steps so light they barely leave a trace.” (33) Dass 36 Badiou, Beckett, S. 67. Hans H. Hiebel 18 dies alles imaginär ist, bestätigt die folgende Bilderfindung: “Obliterated by the snow the twelve are there. Invisible were she to raise her eyes. She on the contrary immaculately black. Not having received a single flake.” (33) Das Auge tritt wieder in Aktion, es muss das Auge des schreibenden Subjekts sein; das Auge ist das Subjekt, damit kein Erzähler erscheine: “The eye discerns afar a kind of stain. Finally the steep roof whence part of the fresh fall has slid.” (33) Die Flocken fallen wieder, die Imagination schreitet fort: “Nothing needed now but for them to start falling again which therefore they do. First one by one here and there. Then thicker and thicker plumb through the still air.” (33 f.) Das Fallen der Schneeflocken wird sozusagen hervorgezaubert, nur des Bildes wegen erfunden. „Es scheint, als beginne der Schnee nur aus optischen Gründen zu fallen […].“ 37 Die Imagination will, dass die Frau wieder verschwindet. “Slowly she disappears.” Das Fade-out macht sie unsichtbar. Dass die Frau mitten im Schnee als makellos schwarz geschildert wird, während die „Zwölf“ vom Schnee ausgelöscht sind, ist einerseits eine poetische Bilderfindung (der mit Kontrasten arbeitenden Schwarz-Weiß-Malerei), andererseits handelt es sich wieder um eine Irrealität oder Surrealität, die die Vision als imaginär - in Iserschen Begriffen: als fiktiv - ausweist. Das Changieren zwischen Mimesis und Fiktivem ist an dieser Stelle offensichtlich; das Spiel mit Selektion und Kombination erreicht eine Präsenz, die den performativen Charakter des Textes deutlich macht. In Isers Kapitel über „Mimesis und Performanz“ wird die Dominanz des Performativen in der Moderne ersichtlich. Zwar heißt es, „daß Repräsentation ohne Performanz undenkbar ist“ 38 , aber in der nacharistotelischen Theorie gewinne die Performanz zunehmend an Bedeutung. Es rücken die „Verfahren der Mimesis“ nun in den Blick: „die aristotelische techne wird selbst Gegenstand der Erörterung“. 39 Mit Gumbrich weist Iser darauf hin, dass das Nachahmungskonzept „vorwiegend als performativer Akt zu denken ist“. 40 „Je mehr Mimesis als Verfahren analysiert wird, desto unabweisbarer drängt sich der performative Charakter der Darstellung auf.“ 41 Wenn nun „Spiel“ als die „Infrastruktur der Darstellung“ gesehen wird, dann wird auch deutlich, dass „Spiel“ und „Performanz“ Hand in Hand gehen. Genau dies ist in Becketts ill seen ill said ersichtlich; immer wieder tritt das Spiel mit den zwei Ebenen des Mimetischen und des Fiktiven (das der Imaginierer Sprache werden lässt) in den Vordergrund und wird das Performative der miteinander verketteten Aussagen unübersehbar. 37 Hartel, … the eyes take over …, S. 155. 38 Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 481. 39 Ebd., S. 487. 40 Ebd., S. 489. 41 Ebd., S. 495. Samuel Becketts ill seen ill said 19 “All dark in the cabin while she whitens afar. Silence but for the imaginary murmur of flakes beating on the roof.” (34) Wir befinden uns im 31. Abschnitt. Der Maler verbindet wieder die Schwärze in der Hütte mit dem Weißwerden der Frau. “Here without having to close the eye sees her afar. Motionless in the snow under the snow.” (34) Es erstaunt, gemessen an der inneren Logik der Vision, dass nun das offene Auge sieht, die Frau in der weiten Ferne wahrnimmt, und zwar nun als unter Schnee begraben und nicht mehr makellos schwarz. Schließlich gibt es ja im Grunde nichts anderes als ein „inneres Auge“, das alles imaginiert. Wir haben es also mit einem Spiel mit den zwei Modi des Sehens zu tun, mit einem - auch Surreales sehenden - offenen Auge und einem imaginierenden geschlossenen Auge. Die Kamera sucht nun den Innenraum ab, Stück für Stück. Wie im Fernsehspiel Ghost Trio, in dem Schritt für Schritt das Fenster, die Liege und die Tür aufgenommen werden. Der Schuhknöpfer kommt ins Bild, die schwarzen Vorhänge, der Stuhl - und eine antike Truhe. (Vgl. 34) “And in its depth who knows the key.” (34) Im französischen Text steht: „Et dans ses profondeurs qui sait le fin mot enfin. Le mot fin.“ 42 „Und in ihren Tiefen, wer weiß, endlich das Schlußwort. Das Wort Schluß.“ 43 Deutlich unterscheidet sich hier der englische Text (“key”) vom französischen (“fin mot”). Zurück zum Stuhl: “Here if she eats here she sits to eat. The eye closes in the dark and sees her in the end.” (35) Wir befinden uns wieder - als Leser/ Betrachter - im Modus des offenkundigen Imaginierens: Das Auge, geschlossen, sieht sie einen Napf auf ihren Knien halten. Vergeblich versucht sie aus dem Napf zu löffeln und zu trinken. Penibel werden die anmutigen, aber von Erschöpfung gezeichneten Bewegungen geschildert: “a movement full of grace.” (35) Immer wieder wird die plötzliche Erstarrung der Frau dargestellt: “Now again the rigid Memnon pose.” (35) Die zwei altägyptischen Memnonkolosse aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. in Luxor bzw. Theben - sie sitzen aufrecht und steif auf einem Thron - geben das Bild für die erstarrte Frau ab. Noch einmal werden Belesenheit und Kenntnis der Kulturgeschichte demonstriert (ein Rest aus den frühen Werken Becketts). Ein neuer Abschnitt beginnt; wieder mit einer neuen Bilderfindung. “One evening she was followed by a lamb. Reared for slaughter like the others it left them to follow her. In the present to conclude.” (36) Es gibt also doch Lämmer, obwohl eine Heide als deren Ermöglichung fehlt. (Vgl. 11: “A moor would have allowed of them.”) Der Autor wäre nicht Beckett, wenn die Schlachtung der Lämmer - und damit der allgegenwärtige Tod - nicht ins Bewusstsein gerückt würde. Die Zeile könnte in den ersten Erzählungen, den Nouvelles, stehen. Noch einmal macht sich der - selbstreflexive - Schreiber bemerkbar: „Im Präsens, um zu enden.“ Will er schon Schluss machen? Mit der Markierung der Imagination als Imagination schließt der 42 Beckett, Mal vu mal dit, S. 60. 43 Ebd., S. 61. Hans H. Hiebel 20 Abschnitt: “Alone night fallen she makes for home. Home! As straight as were it to be seen.” (37) Es geschieht, aber es ist nicht zu sehen. Im Film gibt es keinen Konjunktiv; was imaginiert wird, erscheint als sichtbares Bild. In der Truhe wird ein Zettel gefunden: “Tu 17. Or Th 17.” (38) Der Unbestimmtheitsgrad dieser Stelle ist enorm. Die Hieroglyphen könnten ein Symbol für die Machart des ganzen Textes sein. Oder ein Zeichen dafür, dass ein Datum, das für ein Individuum von Belang ist, für einen Leser von absoluter Beliebigkeit ist. “She reemerges on her back. Dead still. Evening and night.” (38) Unter schwarzer Decke verhüllt, zeigt sie nur ihr Gesicht. “Quick the eyes. The moment they open.” (39) “Gaping pupil thinly nimbed with washen blue. No trace of humour. None any more. Unseeing. As if dazed by what seen behind the lids.” (39) Die einzige Farbe im sukzessiven Gemälde der schattenhaften Dinge und Schwarz-Weiß-Gegensätze ist das verwaschene Blau der Iris. Was hat die Frau gesehen hinter den Lidern? Der Humor der frühen Werke Becketts ist verschwunden. Im Segment 37 erscheint wieder die Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Leben und Tod: “Death again of deathless day. On the one hand embers. On the other ashes.” (40) Im Abschnitt 40 heißt es: “No shock were she already dead. As of course she is.” (41) Sie ist tot, natürlich. Dennoch lebt sie, jetzt den Kopf unter der Decke. “Winter night. No snow. For the sake of variety. To vary the monotony.” (41 f.) Es wird deutlich, dass der Schreiber sich den Schnee oder die Schneelosigkeit sozusagen willkürlich erschreibt. Er erhebt sich auf eine Metaebene und blickt auf seine Erfindungen hinab, selbstreflexiv. „Um Abwechslung in die Monotonie zu bringen.“ So urteilt er. Die Winternacht liefert ein neues Bild für das sich weiterentwickelnde Gemälde. Es ergibt sich eine Bilderfolge, ein Bilderzyklus: “Moonless star-studded sky reflected in the erosions filmed with ice. The silence merges into music infinitely far and as unbroken as silence. […] The stones gleam faintly afar and the cabin walls seen white at last. Said white.” (42) “Said white” deutet an, dass die Weiße nur behauptet wird. Die unendlich ferne Musik ist identisch mit dem Schweigen. Und nun werden die „Zwölf“ näher bestimmt: “The guardians - the twelve are there but not at full muster.” (42) Die „Wächter“. 44 “Well! Above all not understand.” (42) „Nur ja nicht verstehen.“ Hier gibt es nichts zu verstehen, nur die Wahrnehmung ist gefragt. Ähnlich heißt es in dem Geister-Stück What Where: “Make sense who may.” 45 Und Watt schließt mit dem Satz: “No symbols where none intended” 46 - “Weh dem, der Symbole sieht! ” 47 “Such ill seen that night in the 44 Beckett, Mal vu mal dit, S. 75. 45 Beckett, What Where, S. 316. 46 Samuel Beckett, Watt. (London: John Calder, 1963) (= A Jupiter Book) (1. Aufl. 1953), S. 255. Man beachte das “h” in “where”! 47 Samuel Beckett, Watt. Roman. In: S. B., Werke. Band II. Romane. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976) S. 209-475, Zit. S. 475. Samuel Becketts ill seen ill said 21 pastures.” (42) Die schwarze Decke erweist sich als Mantel. (Vgl. 42) Zur Klause heißt es in Abschnitt 41: “White walls. High time. White as new.” (42) Die Tür schwarz. Das Dach gedeckt mit Schieferplatten. “Small slates black too from a ruined mansion. What tales had they tongues to tell.” (43) Aber es wird keine Geschichte erzählt werden. “Such dwelling ill seen ill said.” (43) Hier fällt das erste Mal der Titel des Buches, die zentrale Formel über das insgesamt „schlecht Gesehene“ und „schecht Gesagte“, die metafiktionale Auskunft des selbstbezüglichen Schreibers bzw. Imaginierers. Alain Badiou hat nach jahrzehntelangem Studium Becketts dem Dichter der „Schwärze“ und „Leere“ den Dichter der Harmonie und „Schönheit“ entgegengesetzt. 48 So habe er eine Harmonie zwischen Schlecht-Gesehenem und Schlecht-Gesagtem angestrebt. Das „gute Sehen“ ist das übliche Sehen und Mustern des Gegebenen, das „gute Sagen“ das Sich-der-üblichen-Sprache-Bedienen. „Das ‚gut gesehen‘ verweist uns auf die Indifferenz des Orts, aufs Grauschwarz des Seins.“ Das „Ereignis“ aber wirkt durch Überraschung: „Durch die Überraschung, die er mit sich bringt, vereitelt der formale Glanz des Zwischenfalls, dessen, ‚was passiert‘, das Sehen und das ‚gut Sehen‘.“ „Aber das Ereignis wird auch ‚schlecht gesagt‘, denn das ‚gut Sagen‘ ist bloß die Wiederholung der etablierten Bedeutungen.“ „Dem ‚schlecht gesehen‘ des Ereignisses muß eine verbale Erfindung entsprechen, eine unbekannte Benennung, und ergo, gemessen an den üblichen Gesetzen der Sprache, ein ‚schlecht gesagt‘.“ 49 Es muss ein poetischer Name gefunden werden. „Kurz, dieser Name ist eine poetische Komposition (ein schlecht Gesagtes), eine Überraschung in der Sprache, in Einklang gebracht mit der Überraschung, mit dem ‚plötzlich‘ des Ereignisses (ein schlecht Gesehenes).“ 50 Mit diesem „Einklang“ konstituiert sich „Harmonie“ und Schönheit, ein „‘Hoffnungsschimmer‘“, ja „Glück“. 51 „Alles dreht sich um die Harmonie zwischen einem Ereignis und dem poetischen Auftreten seines Namens.“ 52 Im Abschnitt 42 heißt es: “Winter evenings on her doorstep she imagines she can see it glitter afar.” / 44) “Such ill seen the stone alone where it stands at the far fringe of the pastures.” (44) Mit Blumen wandert die Frau hin zu ihm, dem Grab, ohne Blumen kehrt sie zurück. Dann aber, in Abschnitt 43, gibt es keine Blumen mehr. (Vgl. 45) “Empty-handed she shall go to the tomb. Until she go no more, Or no more return.” (45) Über die Triften und die Steine gleitet ihr Schatten: “the still living shadow slowly glides. […] Under the hovering eye.” (45) Kein Erzähler zeigt sich; das Augen-Subjekt, das Subjekt Auge nimmt den langsam länger werdenden und schwindenden Schatten wahr. 48 Badiou, Beckett, S. 10 und 12f. 49 Ebd., S. 38. 50 Ebd., S. 40. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 39. Hans H. Hiebel 22 Es folgt die Nahaufnahme (“close-up”) eines Zifferblatts mit einem einzelnen Zeiger, mit 60 schwarzen Punkten, keinen Ziffern. Auch dies erscheint wie ein Gemälde. Der Zeiger bewegt sich von Punkt zu Punkt. (Vgl. 45 f.) Diese ‚Uhr‘ ist die Allegorie der Zeitlosigkeit, in die die ganze Vision getaucht ist. Die Kreisform der Zeit verbildlicht die ewige Wiederholung. Zwar gibt es Zeitpunkte und kurze Zeitstrecken, die sozusagen absolut gesetzt sind, aber es ist keine Kontinuität vorhanden. Das Bild spiegelt auch die 61 diskreten Abschnitte, die alle in sich geschlossen sind. Sie zeigen fast immer Abende, letzte Sonnenstrahlen, Dämmer. Der nächste Abschnitt, 45, beginnt mit dem Satz: “She reappears at evening at her window. When not night evening. If she will see Venus again she must open it.” (46) Dann heller Nebel: “Haze sole certitude.” (48) “Dazzling haze. Light in its might at last. Where no more to be seen. To be said.” (48) Dennoch bringt Abschnitt 47 wieder ein neues Bild: “The face yet again in the light of the last rays.” (48) Der Mund im Licht, ein Lächeln? “Ghost of an ancient smile smiled finally once and for all. Such ill half seen the mouth in the light of the last rays. […] Off again to the dark. There to smile on. If smile is what it is.” (49) Spur alter Küsse? “Unlikely site of olden kisses given and received.” (49) Aber vielleicht ist es gar kein Lächeln, letztes Lächeln. “Enough. Away.” (50) Nach vielen Wintern geht es weiter: “Back after many winters. Long after in this endless winter. […] She as when fled. Still or again. Eyes closed in the dark.” (50) Schwaches Licht durch die Luken. Draußen überall Steine. “Day no sooner risen fallen. Scrappped all the ill seen ill said. The eye has changed. And its drivelling scribe.” (51) In der ewigen Nacht ist alles schlecht Gesehene und schlecht Gesagte vergebens verschleudert. Das Subjekt Auge hat sich geändert und zugleich der dazugehörige Körper, der sarkastisch verhöhnt wird. Immer wieder von vorn anfangen, das ist die Devise. “Till fit to finish with it all at last. All the trash. In unbroken night.” (51) Offenbar strebt der Imginierer nun auf ein Ende zu, einer Beendigung der Vision. Dennoch heißt es. “But first see her again. […] Just one parting look.” (51) Nur noch ein Abschiednehmen - vor der unendlichen Nacht. Abschnitt 50 beginnt dann mit der prompten Überraschung: “But see she suddenly no longer there.” (52) Es gilt, schnell den Stuhl zu betrachten, bevor sie wiedererscheint. Der Stuhl ist sich gleich, aber „geringer“: “careful. Less. Ah the sweet one word. Less. It is less. The same but less. […] It will end by being no more. By never having been. Devine prospect.” (52) Der Weg geht vom Geringerwerden zur Nichtexistenz. Becketts Utopie scheint auf: das reine Nichts, das Nichts ohne das Leben, das Leid. Göttliche Aussicht auf etwas, das am endgültigen Ende eintreten wird. Zuvor, im Abschnitt 51, wird aber noch einmal alles erinnert: “Suddenly enough and way for remembrance.” (52) Zunächst die zwei Mäntel, die als Vorhänge dienen. “Alone the eye has changed. Alone can cause to change.” (53) Schuhknöpfer und Nagel sind noch da. “Ope eye and at them to begin. But first the partition. It rid they too would be. It less they by as much.” Samuel Becketts ill seen ill said 23 (53) Das Subjekt Auge bestimmt also offenbar alle quasi-realen und alle imaginären Phänomene der Vision. Die Abschnitte werden jetzt sehr kryptisch. Die grammatischen Beziehungen sind kaum erklärbar. Die Dunkelheit ist kaum zu erhellen. Im Abschnitt 52 heißt es von der “partition”, der Wand im Raum: “It of all the properties doubtless the least obdurate. See the instant see it again when unaided it dissolved. So to say of itself.” (53) Zwei Fragen schließen sich an: “Analogy of the heart? The scull? Hear from here the howls of laughter of the damned.” (53 f.) Hat das Herz oder der Verstand die Mauer verschwinden lassen? Es sind offenbar Fragen, über die die Verdammten in der Hölle der Divina Commedia Dantes lachen. Offen bleibt, ob Herz und Schädel zum Text-Subjekt, das sich scheut, als Erzähler aufzutreten, oder zum Leser/ Betrachter gehören. Solche Ambiguitäten tragen weiter zur Dunkelheit des Textes bei. Ein kurzer Abschnitt, 53, macht deutlich, dass jetzt, da es dem Ende zugeht, alles schwächer, „geringer“ wird. Weiß und Schwarz haben einander bekämpft. 53 In einem Grau verschwimmt alles. Oder im völligen Schwarz. “Enough. Quicker. Quick see how all in keeping with the chair. Minimally less. No more. Well on the way to inexistence. As to zero the infinite. Quick say. And of her? As much. Quick find her again. In that black heart. That mock brain.” (54) Im übernächsten Abschnitt, 55, wird von „ihr“ nur das Gesicht übrig bleiben. “Alone the face remains. Of the rest beneath its covering no trace.” (55) Ein filmisches Einkreisen des Gesichts und ein Fade-out der Umgebung scheint stattzufinden. Dafür kommt ein Geräusch auf. “A slumberous collapsion.” (55) Ein schlaffer Zusammenfall. Geht es dem Ende zu? “the shack in ruins” (55) Die Hütte in Trümmern. “To scrute together with the inscrutable face. All curiosity spent.” (55) „Ohne die geringste Wißbegierde mehr.“ 54 Diese Selbstdefinition des Text-Subjekts erinnert an ein Giacomo-Leopoardi-Zitat in Becketts Proust: In noi di cari inganni Non que la speme, il desiderio è spento. 55 Im vorangegangenen Abschnitt, 54, ist von einem Blatt Papier die Rede. “Finish with the knife. Hack into shreds. Down the plughole.” (54) Also wird das Geschriebene annulliert. Dennoch ist dies noch immer nicht das Ende des Endens: “On to the next. White. Quick blacken.” (54) Die Hoffnung ist noch nicht gestorben, das Textbegehren ist noch wach; noch kann man schwarz auf weiß malen oder schreiben. Aber man musss jetzt eilen. Ein weiteres Geräusch lässt die Illusion eines allgemeinen Zusammenbruchs aufkommen. “Hightening the fond illusion of general havoc in train. 53 Vgl. dazu Hartel, … the eyes take over …, S. 156. Hartel spricht von einem “Kampf zwischen Schwarz und Weiß“. 54 Beckett, Mal vu mal dit, S. 101. 55 Samuel Beckett, Proust. (Zürich: Arche, 1960), S.15. („In uns ist nicht nur die Hoffnung auf süße Täuschungen, sondern auch das Verlangen danach ausgelöscht.“) Hans H. Hiebel 24 Here a great leap into what brief future remains and summary puncture of that puny balloon.” (55 f.) Ein Sprung in das Wenige der Zukunft und ein schließliches Schrumpfen des winzigen Ballons. Schon gibt es letzte Seufzer. “Last sighs. Of relief.” (56) Nun, im Segment 57, verschwinden auch die Vorhänge und der Schuhknöpfer. (Vgl. 56) “First the curtains gone without loss of dark. Sweet foretaste of the joy at journey’s end.” (56) Offenbar steht am Ende der Reise die Freude; aber wie weit ist das Enden schon gediehen? “At the place of the scull. One April afternoon.. Deposition done.” (57) Kreuzabnahme erledigt. Vielleicht an einem 13. April, dem Geburtstag des Autors. Und alles geschieht an der Schädelstätte, dem Ort, an den die Schädel schließlich gelangen. Wie ja überhaupt die ganze Vision im Schädel stattfindet, im Schädel des Schreibers oder des Lesers/ Betrachters. Wie ja auch Endgame in einem Schädel spielt. Das „Auge“ ist sozusagen das Auge des Lesers/ Betrachters und zugleich das des Schreibers. “Full glare now on the face present throughout the recent future. As seen ill seen throughout the past neither more nor less. Less! Collated with its cast it lives beyond a doubt.” (57) Das Gesicht der früher als „tot“ bezeichneten Frau ist lebendig. Die Augen sind geschlossen. “Suddenly the look. Nothing having stirred. Look? Too weak a word. Too wrong.” (57) Die Iris fehlt. Die Pupille scheint sie verschlungen zu haben. (Vgl. 57 f.) Es bleiben “two black blanks. Fit ventholes of the soul that jakes.” (58) „Sehr bald […] zwei schwarze Abgründe vorherzusehen als einzige Seelen-Luftlöcher.“ 56 Pure Schwärze steht am Ende. “Blackness at its might at last”. (58) “Where no more to be seen”. (58) Ist dies nun das Ende? Obwohl Abwesenheit das höchste Gut ist, geht es eventuell noch immer weiter - mit Abschnitt 60: “Absence supreme good and yet. Illumination then go again and on return no more trace. On earth’s face. Of what was never.” (58) Wenn aber ein Rest bleibt, dann “go again. For good again. So on. Till no more trace. On earth’s face.” (58) Aber was ist, wenn das Auge es nicht kann? “And what if the eye could not? ” (58) “Quick say it suddenly can and farewell say say farewell.” (59) Schnell behaupten, es könne. Also Adieu und Aus. Aber es folgen noch zwei Sätze: “If only to the face. Of her tenacious trace.” (59) Von ihr bleibt eine untilgbare Spur. Das heißt, es gibt kein Enden, kein “till no more trace”. Für das Bewusstsein gibt es kein Ende, solange der Körper lebt und nicht stirbt. Keine Spurenlosigkeit “Of what was never”. Gab es das Gezeigte gar nicht? Oder verschwindet am Ende jede Spur, als hätte es die Phänomene nie gegeben? Als wäre nichts gewesen. So ist es. Bevor die gesamte serielle Bildersequenz „widerrufen“ 57 wird, stellt sich die Frage, welcher Gehalt - durchscheinend durch das Spiel mit Mimetischem und Fiktivem - mit den Mitteln der Malerei und des Films in Szene 56 Beckett, Mal vu mal dit, S. 105. 57 Ebd., S. 108. Samuel Becketts ill seen ill said 25 gesetzt wurde. Es geht darum, eine alte Frau nochmals ins Leben zurückzubringen, die letzten Tage ihres Leidens zu vergegenwärtigen und ihren Tod zu reproduzieren. 58 “And is this woman a ghostly shade of Beckett’s own mother? ”, so fragt James Knowlson in seiner Beckett-Biographie - und verweist auf Melanie Kleins Theorie, derzufolge der kreative Schriftsteller motiviert ist durch den Wunsch “‘to rediscover the mother of the early days.’” 59 Knowlson schreibt auch über die “visits to the tomb by this ‘old so dying woman’ recalling the dedicated care that his [Beckett’s] mother lavished on his father’s grave”. 60 In der Tat erhält man in ill seen ill said den Eindruck, es handle sich um eine Art Requiem für die Mutter, eine Elegie über Verlorenes. Aber selbstverständlich bestätigt ein Beckett-Text niemals eine so krude Assoziation. Beckett verwischt - mit den Mitteln des Malens und des Films sowie seinen sprachlichen Mitteln - sämtliche Spuren, die zu einer wie immer gearteten Eindeutigkeit führen würden. Das hat er schon mit Herrn „Godot“ getan. Dennoch gibt es bei ihm als dem „Schriftsteller des Essentiellen“ den Schimmer einer aus mehreren Elementen zusammengesetzten Erfahrung. “The woman herself may be a ghost, a memory or a fiction, or a mixture of all three.” 61 Knowlson erwähnt auch, dass die „Zwölf” an die Apostel erinnern, und schreibt: “Most obviously, the figure of the woman recalls either the mother of Christ or Mary Magdalene visiting his tomb.” Auch John Calder, Freund und Verleger Becketts, geht davon aus, dass die alte Frau, “full of grace”, auf die “Virgin Mary” verweise, die „Zwölf“ auf die Apostel und das Grab auf Jesu Ruhestätte. 62 Aber der Text wäre nicht von Beckett, wenn diese Dinge „gemeint“ wären. Die „Leerstellen“, die diese Phänomene umgeben, lassen eine Eindeutigkeit nicht zu. Allerdings dringt durch die verwischten Oberflächen ein Schimmer einer Erfahrung bzw. der Schimmer mehrerer verdichteter Erfahrungen, die der Leser nur erahnen kann. Beckett hat mit Schauder und Horror auf das Leid des Lebens geschaut; er wollte keine Unterhaltungsliteratur schreiben. Sein Impuls war es, auf dieses Leid, besonders das des menschlichen Bewusstseins, hinzuschauen, in das Gott oder welche Ursächlichkeit immer uns hineingeführt haben. Es sei nochmals in Erinnerung gerufen, dass auch die quasi ‚realen‘ Objekte, wie sie das „offene Auge“ wahrnimmt, imaginär sind. Dieser Befund ergibt sich vor allem dadurch, dass diese Objekte (eine lebende Tote, ein 58 Vgl. diese These bei Lawrence Graver, wie sie James Knowlson zitiert: James Knowlson, Damned to Fame. The Life of Samuel Beckett. (London: Bloomsbury, 1996). S. 670. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 669. 61 Ebd. 62 John Calder, The Theology of Samuel Beckett. (London: Calder, 2012), S. 73. John Calder, The Philosophy of Samuel Beckett. (London: Calder Publications; New Jersey: Riverrun Press, 2001), S. 124. Hans H. Hiebel 26 ewig zitternder Schuhknöpfer, ein unter Schneefall schwarz bleibendes Kleid usw.) irreal bzw. surreal sind. Gleichwohl sind die fiktionsimmanent „imaginär“ genannten oder erscheinenden Objekte, mit „geschlossenen Augen“ gesehenen Phänomene, eben unterschieden von den quasi ‚realen‘. Das Kapitel 61 bringt das absolute Ende, in dem alles „widerrufen“ wird, alles „annulliert“ wird. 63 Nämlich die literarische Schöpfung, aber vielleicht auch die gesamte Schöpfung. Das Kapitel beginnt mit einem kryptischen Satz: “Decision no sooner reached or rather long after than what is the wrong word? For the last time at last for to end yet again what the wrong word? Than revoked.” (59) “Than revoked” gehört grammatisch zum ersten Teil des ersten Satzes: “Decision no sooner reached or rather long after than revoked.” Elmar Tophoven übersetzt das französische Original folgendermaßen: „Entscheidung, nicht eher getroffen, oder vielmehr viel später als, wie es sagen? Wie, um hiermit endlich zu enden, es ein letztes Mal schlecht sagen? Als widerrufen.“ 64 Im Französischen heißt es: „Parti pas plus tȏt ou plutȏt bien plus tard que comment dire? Comment pour en finir enfin une dernière fois mal dire ? Qu’annulé.“ 65 Aber es soll kein abrupter Schluss werden, dieses letzte Mal Enden. “No but slowly dispelled a little very little like the last wisps of day when the curtain closes. Of itself by slow millimetres or drawn by a phantom hand. Farewell to farewell. Then in that perfect dark foreknell darling sound pip for end begun. First last moment. Grant only enough remain to devour all. Moment by glutton moment. Sky earth the whole kit and boodle. Not another crumb of carrion left. Lick chops and basta. No. One moment more. One last. Grace to breathe that void. Know happiness.” (59) Der Vorhang schließt sich langsam wie von einer Phantomhand. Adieu den Adieus. „Dann vollkommenes Dunkel, Vor-Grabgeläut, ganz leise, süßer Klang, los, Anfang des Endes. Erste letzte Sekunde.“ 66 In den letzten Sekunden wird alles verschlungen, Himmel, Erde und aller Kram. Dann die allerletzte Sekunde: „Lang genug, diese Leere zu atmen. Es kennenzulernen, das Glück.“ Das Glück liegt im Enden, dem Enden des Bewusstseins. Oder wird das Ende allen Lebens imaginiert? Nach John Calder wird hier die gesamte Schöpfung „widerrufen“, „annulé“, wie das französische Original sagt. Beckett “has in a sense become the same author as that of Genesis”. 67 “What Beckett has done is finish Genesis and also the New Testament”. 68 Die ganze Schöpfung ist ein Scheitern. Der Tod, die Sterblichkeit, ist das Schlimmste; “death is the final failure that makes nonsense of being born and living”. 69 63 Vgl. dazu: Hans H. Hiebel, Samuel Beckett: Das Spiel mit der Selbstbezüglichkeit. (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2016), S. 298-301. 64 Beckett, Mal vu mal dit, S. 107 u. 109. 65 Ebd., S. 106. 66 Ebd., S. 109. 67 Calder, Theology, S. 71. 68 Ebd., S. 66. 69 Ebd., S. 69. Samuel Becketts ill seen ill said 27 “God is the enemy of happiness and well-being”. 70 Die Schöpfung ist nach Calder die Geschichte “of a blind, creation-hungry God, heedless and unstoppable, creating into eternity”. 71 Calders gewagte und extrem subjektive Interpretation von ill seen ill said geht ganz und gar von dem Wort „revoke“ aus, das Beckett ihm zufolge aus John Milton zitiert. 72 “Beckett at the end has God making the great effort needed to destroy the world and its unsatisfactory inhabitants. In doing so he has to go back in time so that all history and all creation is wiped out […].” 73 Becketts Ideal ist eine Erde ohne Leben, ganz weiß oder ganz schwarz. Aber dem Wunsch nach “Oblivion” steht zumindest der Wunsch gegenüber, so lange zu leben, bis der Wunsch nach Auslöschung literarisch zum Ausdruck gekommen ist. Auf diese Ambivalenz weist das Buch von Christopher Ricks: Beckett’s Dying Words. 74 Nach Calder ist der Sprecher in ill seen ill said Gott, “a conscious God, bored with his creations”. “He created the world, a great mistake, but can he now revoke that decision? Can he wipe out all of history […]? ” 75 “Only when God has accomplished his great task of wiping out the earth and all his creation, including to his obvious regret the Virgin Mary, probably his most favoured person as she is totally without sin, and probably also the last survivor, does God ‘know happiness’.” 76 Die ganze Tragödie aber schließt mit einem Happy End: “One moment more. One last. Grace to breathe that void. Know happiness.” (59) Das aber ist nicht ohne tragische Ironie. Es erinnert an Franz Kafkas „Mann vom Lande“, der sein Leben lang „vor dem Gesetz“ wartet, um eingelassen zu werden. Kurz bevor er stirbt, bricht aus dem Gesetz ein strahlender Glanz. “Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht.“ 77 Das Glück, es überstanden zu haben, ist ein Echo des Lächelns am Ende von That Time. In diesem Stück, das drei ein wenig voneinander geschiedene Stimmen, A, B und C, auf die Bühne bringt, ist ein “Listener’s face” “about 10 feet above stage level” zu sehen. Vom Ende des Stücks kann man sagen: “the eyes take over”. Die Stimmen verstummen. “Silence 10 seconds. Breath audible. After 3 seconds eyes open. After 5 seconds smile, toothless for preference. Hold five seconds till fade out and curtain.” 78 Offenbar ist 70 Ebd., S. 63. 71 Calder, Philosophy, S. 105. 72 Calder, Theology, S. 64. 73 Ebd. 74 Christopher Ricks, Beckett’s Dying Words. (Oxford, New York: Oxford University Press, 1993) 75 Calder, Philosophy, S. 124. 76 Ebd., S. 65 f. 77 Franz Kafka, Der Proceß. Hrsg. von Malcolm Pasley. Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. (Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1990). S. 294. 78 Samuel Beckett, That Time. In: S. B., Collected Shorter Plays. (London, Boston: Faber and Faber, 1984). S. 225-235, Zit. S. 235. Hans H. Hiebel 28 das Ende des nicht totzukriegenden Begehrens erreicht; ein Nirvana, im Sterben. Hans H. Hiebel Institut für Germanistik Karl-Franzens-Universität Graz