eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 45/2

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
aaa
0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
10.2357/AAA-2020-0017
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2020
452 Kettemann

Be- und Entgrenzungen des Raums in Barbara Freys Akademietheater-Inszenierung von Shakespeares Sturm

121
2020
Andreas Mahler
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Be- und Entgrenzungen des Raums in Barbara Freys Akademietheater-Inszenierung von Shakespeares Sturm Andreas Mahler Focusing on the aspect of spatiality in drama and theatre, the article takes into view one particular German-language production of Shakespeare’s The Tempest staged in 2007 by the Swiss theatre director Barbara Frey for the workshop stage of Vienna’s Burgtheater. Intermedially drawing on Peter Greenaway’s movie adaptation Prospero’s Books, the theatre production takes the play’s marked dialectic between a well-nigh ‘classicist’ reduction of its real space and its concomitant expansion into an almost infinite amount of imaginary spaces on the dramatic level and congenially reproduces it on the theatrical level in using an extremely reduced stage (and cast) for an enormous extension of the play’s spatial possibilities, thus proving that, not only in terms of mimetic space but in terms of performance space, too, less is often more. 1. Gegen Ende der Saison 2006/ 7 inszeniert die Regisseurin Barbara Frey für das Wiener Akademietheater, die Werkstattbühne des Burgtheaters, Shakespeares letztes allein verfasstes Stück The Tempest aus dem Jahr 1611. Was die Wiener Presse umgehend mitleidsvoll als “‘Sturm’ für Arme” bezeichnet, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine furiose 75-Minuten-Inszenierung von faszinierendem, vor allem faszinierendem räumlichen Reichtum, in deren als “radikal und virtuos” herausgestellter Umsetzung die Wiener Zeitung den Grund für “einen beglückenden und kurzweiligen AAA - Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik Band 45 (2020) · Heft 2 Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ AAA-2020-0017 Andreas Mahler 140 Abend” sieht. 1 Dabei erscheint vor allen Dingen die allenthalben sichtbare, ortsbedingte ‘ärmliche’ Begrenzung des realen Raumes als Ermöglichungsgrund für eine Fülle vorderhand nicht-sichtbarer imaginärer Entgrenzungen, welche die bespielte Räumlichkeit des Akademietheaters gleichwohl verwandeln in eine gleichsam grenzenlose Vielfalt bespielter Welten. Dem will ich in der folgenden Skizze einer dezidiert raumbezogenen Aufführungsanalyse näher nachgehen. 2 2. Die ‘Zeichen des Raumes’ lassen sich klassischerweise grob gliedern nach der äußerlich-baulichen ‘Raumkonzeption des Theaters’ einerseits und den räumlichen, etwa durch Dekoration, Requisiten, Licht etc. bestimmten Koordinaten des in Szene gesetzten ‘Bühnenraums’ andererseits. 3 Näherhin spezifiziert dies die heutige Theaterwissenschaft zu vier verschiedenen Raumaspekten der Theateranalyse 4 : (1) dem des ‘dramatischen Raums’ als dem durch den Dramentext skizzierten ge- und erspielten Raum der Fiktion; (2) dem des ‘szenischen Raums’ als dem oben genannten bespielten Bühnenraum der Aktion und Performanz, seinen Koordinaten, seiner Ausgestaltung und seiner Nutzbarkeit durch das Spiel der Akteure; 1 So die ersten Reaktionen von Barbara Pietsch in der Presse vom 8.6.2007 sowie von Julia Urbanek in der Wiener Zeitung vom 7.6.2007 [http: / / diepresse.com/ home/ kultur/ news/ 309016/ Sturm-fuer-Arme; http: / / www.wienerzeitung.at/ nachrichten/ kultur/ buehne/ 272382_Die-grosse-kleine-Shakespeare-Welt.html; acc. 24.5.2017]. 2 Es handelt sich hierbei um die überarbeitete Version eines anlässlich des 8. Öffentlichen Interdisziplinären Workshops zu “Theatralität und Räumlichkeit im antiken und modernen Theater” unter dem Thema “Entgrenzung und Begrenzung von Räumen im antiken und modernen Theater” am 8. Juni 2017 an der Karl-Franzens-Universität Graz gehaltenen Vortrag. Ich danke Eveline Krummen und dem leider viel zu früh verstorbenen Kollegen und Freund Hugo Keiper für die freundliche Aufnahme und kompetente Organisation des Workshops sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, insbesondere Walter Bernhart und Werner Wolf, für eine anregende und ausgiebige Diskussion. Alle verbliebenen Mängel fallen selbstredend zu meinen Lasten. 3 Zu den Grundkoordinaten theaterbezogener Raumanalyse siehe aus systematischer Sicht die zusammenfassenden Ausführungen in Fischer-Lichte 1998: 132-160 sowie in kurzer, prägnanter theaterpraktischer Anwendung die Analyse in Fischer-Lichte 1999: 123-126; zu Grundfragen der Relation von Raum und Theater vgl. auch Pfister 1977: 327-359, Elam 1980: 56-69 und 98-117, Esslin 1989: 73-79 und 93-108, für den Versuch einer kommunikativ orientierten Zusammenschau siehe Mahler 2010. 4 So in übersichtlicher Zusammenfassung etwa Balme 2003, 136-146; vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Friedrich 2015. Be- und Entgrenzungen des Raums in Shakespeares Sturm 141 (3) dem des ‘theatralen Raums’ als den baulich-statischen Gegebenheiten des Theaters selbst, dem Spielraum, seinen eigenen materiellen Grenzziehungen und Öffnungen; und (4) dem des ‘ortsspezifischen Raums’ im Sinne der geographischen Verortung des Theaters in der Lebenswelt, seiner Situierung in der Stadt, der Natur etc. Dabei folge ich der Unterscheidung von (vor)gegebener ‘Raumordnung’ und situativ bzw. performativ hergestellter ‘Raumpraxis’, derzufolge sich die soziale Institution ‘Theater’ verstehen lässt als ein ‘Mediendispositiv’ - näherhin als “ein relationales Gefüge, das nur durch die Interferenz von Körperpraktiken und technisch-materiell gestützten Inszenierungs-, Interaktions- und Wahrnehmungsformen beschreibbar ist, wobei sich je nach historischem und kulturellem Kontext divergierende Relationierungen der [jeweiligen] Teilaspekte theatraler Performanz ergeben”. 5 Dementsprechend beruht die “Funktionsweise” des Theaters, wie die “jedes Mediums als eines raumgebenden Dispositivs [...] auf der konstitutiven Wechselwirkung bzw. der Gleichursprünglichkeit von Ordnungsraum und körperbezogener Raumpraxis”. Dies ist eine Relation wechselseitiger Ermöglichung, mit anderen Worten: das Spiel macht den Raum, und der Raum macht das Spiel. 3. Shakespeares Geschichte vom Sturm ist selbst schon dominant raumorientiertes Spiel. Die späte Romanze basiert auf dem Komödienschema syntagmatisch-sekundärer Restitution als Ermöglichungsgrund paradigmatischprimärer Einfälle. 6 Ihr Sujet erzählt - quasi als Vorwand - die Geschichte einer Usurpation samt Flucht und Vertreibung ins Exil und nutzt den so entstandenen Raum der Unordnung zu ‘eigentlichen’ Inszenierungen theatralen Spiels bis hin zur - erwartbaren und erwarteten - finalen Wiederherstellung der ‘alten’ Ordnung. Dies basiert auf einer sujetgebenden Räumlichkeit. Ich beginne also mit einer Analyse des vom Text bestimmten ‘dramatischen Raums’. Es ist dies ein Raum der Grenzen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen. Dies beginnt wörtlich mit dem ‘Sturm’ der ersten Szene. Das Stück inszeniert 5 Zu einer systematischen Begründung dieser Unterscheidung siehe die einleitenden Bemerkungen bei Dünne & Kramer 2009, das Zitat 17, das unmittelbar folgende Zitat 19 f. 6 Für eine grundlegende Diskussion des Komödienschemas als das einer syntagmatischen ‘Anderweitigkeit’, welche die jeweils punktuell bleibenden komischen Paradigmen allererst ermöglicht, siehe den bislang unüberbotenen Theorieaufsatz von Warning 1976; für eine Diskussion des Shakespeare’schen Tempest unter den Struktureigenschaften dieses Schemas siehe die Ausführungen in Mahler 2019. Andreas Mahler 142 gleich zu Beginn eine Grenzerfahrung. Die Bühnenanweisung schlägt als szenischen Raum vor eine Inszenierung von visueller Unüberschaubarkeit und akustischer Bedrohung: “A tempestuous noise of thunder and lightning heard. Enter a Ship-master and a Boatswain.” (Tmp. 1.1.1.SD) 7 Vornehmlich auditiv wird hier zunächst ein Raum der Unordnung und des Chaos hergestellt, in den hinein sich bedrohte Figuren platziert finden, welche versuchen, mit den unkontrollierten Gewalten zurechtzukommen. Was ihnen gleichsam emblematisch fehlt, ist “authority” (1.1.22); unversehens ist bereits zu Beginn sogleich “All lost” (51); das Schiff zerbirst: “We split, we split” (60, 62); und in ironischer Brechung ereignet sich am Anfang schon die Katastrophe: “The wills above be done,” heißt es komisch zum Schluss von 1.1, “but I would fain die a dry death” (67 f.). Dies zeichnet den Ort des Spiels als den Ort einer ‘Enklave’. 8 Das Sujet baut sich auf über den Gegensatz der amorphen See und des - morphologisch zumindest - festen Lands. 9 Es setzt einander entgegen die topologische Relation ‘nah’ und ‘fern’ und verbindet damit semantisch widersprüchlich die Konzeptionen ‘fremd’ - ‘vertraut’, ‘wild’ - ‘zivilisatorisch’ , ‘natürlich rauh’ und ‘kulturell verdorben’; topographisch findet sich dies spezifiziert zur Gegensätzlichkeit eines im Herzogtum Mailand wie im Königreich Neapel konkretisierten, vermeintlich ‘zivilisierten’ ‘Italien’ im Gegensatz zum Schauplatz eines laut dramatis personae “uninhabited island”. 10 Die Insel ist signifikant der einzige dramatische Ort des Stücks. 11 Nach dem jugendlichen Wildwuchs einer sprunghaft optimistischen Zeitwie vor allem Raumgestaltung ist dies, vielleicht in Antwort auf Ben Jonsons klassizistisch angehauchtes Genörgel 12 , das erste und einzige Stück Shakespeares 7 Ich zitiere den Text des Tempest hier und in der Folge in der Angabe ‘Akt.Szene.Zeile’ unter dem Sigel Tmp. nach der exzellenten Ausgabe von Stephen Orgel (Shakespeare 1987). 8 Zu Struktur und Funktion Shakespeare’scher Enklaven siehe die Überlegungen in Mahler 2016. 9 Der Mythos der amorphen - und deshalb zu fürchtenden - See geht bekanntlich zurück bis auf Homer; für einen informativen historischen Abriss der menschlichen Einstellungen zum Meer und dessen Offenheiten und a-strukturalen Gefahren siehe die klassische Darstellung in Corbin 1994. 10 Die Handlungsanalyse folgt dem raumbasierten Sujetmodell bei Lotman 1972: 311- 357; für eine - wie in der Beschreibung durchgeführt - an Lotman orientierte systematische Vorordnung des Topologischen vor das Semantische und des Semantischen vor das oftmals lediglich im Fakultativen verbleibende Topographische siehe Mahler 1998: 6-12, v.a. 7; für die explizite Ortsangabe siehe Shakespeare 1987: 96. 11 Dies unterscheidet The Tempest auf entscheidende Weise von strukturell ähnlichen Sujetbildungen wie etwa As You Like It, King Lear oder Hamlet (siehe hierzu näherhin Mahler 1998: 12-28 sowie Mahler 2016). 12 Am deutlichsten manifestiert sich Ben Jonsons Kritik im Prolog zu seinem Auftaktstück Every Man in His Humour (1598), wo er sein eigenes poetisches Tun polemisch absetzt von seiner Ansicht nach eklatanten Regelverletzungen vor allen Dingen gegen Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit seiner Mit-Autoren, allen voran Shakespeares als Historiendichter, denen er vorwirft : “To make a child, now swaddled, to proceed / Man, and then shoot up, in one beard, and weed, / Past threescore years: Be- und Entgrenzungen des Raums in Shakespeares Sturm 143 mit einer poetologisch überzeugenden, vollkommenen ‘Einheit des Raums’ - wie im übrigen auch das einzige Stück ohne erkennbar imitierte ‘Vorlage’. Die Konflikte entfalten und lösen sich also in etwa einem Tag ausschließlich auf ebendieser Insel. In dieser klassizistischen, kammerspielartigen Begrenzung erfüllt sich die Shakespeare-typische Restitution (Abb. 1). 13 Es ist dies der übliche Parcours A-B-C-A: Prospero, als F 1 -Figur ursprünglich und einstmals gemäß dramatis personae “the right Duke of Milan” (also zu Haus im Oben-Raum A) wird auf Geheiß Alonsos, des Königs von Neapel, durch seinen Bruder Antonio, “the usurping Duke of Milan” (jeweils meine Herv.) seines Amts ‘enthoben’ (hierarchiewidrig nach unten versetzt: B) und flieht mit seiner Tochter unverzüglich auf die Insel (also in die Enklave C), wohin ein mithilfe der Magie entfachter ‘Sturm’ die zufällig vorbeireisenden ‘Verbliebenen’ des Festlands treibt und ebendort schiffbrüchig werden lässt - bis sich schlussendlich alle Wirrungen und Verfehlungen klären und Prospero durch Alonso Mailand zurückerhält, um sich fortan dorthin in Altersweisheit zurückzuziehen (Rückkehr nach A), während Ferdinand und Miranda als neues Königspaar in Doppelung der wiedererlangten Harmonie dazu auserlesen sind, Neapel zu erneuern. Abbildung 1. Restitutionssujet or, with three rusty swords, / And help of some few foot-and-half-foot words, / Fight over York, and Lancaster’s long jars: / And in the tiring house bring wounds, to scars.” (Jonson 1979: Prol. 7-12) Demgegenüber verspricht er ein Stück, “Where neither Chorus wafts you o’er the seas; / Nor creaking throne comes down, the boys to please” (15 f.). 13 Zur Beschreibung von Komödienhandlungen unter dem Begriff des ‘Restitutionsschemas’ siehe Warning 1976: 283-287, näherhin 284; ich übernehme die Grafik aus Mahler 1998: 16. oben unten F 1 B C F 2 A Andreas Mahler 144 Der Parcours führt von einer hierarchisch bestimmten Unordnung oder ‘Verkehrung’ der feudalen Kultur über die neutralisierend-vergleichgültigende Enklave der vermeintlich ‘unbewohnten’, unzivilisierten, wilden Insel zur wiedergewonnenen hierarchischen Ordnung der Feudalkultur und damit zur Feier ihrer erneuten - erneuerten - Geltung. Doch betrifft dies lediglich das Syntagma - die Raumabfolge in der Horizontalen - und bleibt dementsprechend, wie gesagt, nur ‘anderweitig’, sekundär. Denn primär ist, was sich als Möglichkeit hieraus ergibt. Dies ist auf dramatischer Ebene in erster Linie der Möglichkeitsraum der Zauberei. Denn Prospero nutzt über den von ihm gefangen genommenen Ariel vornehmlich - und zudem widerwillig - die weiße Magie, um der Restitution beizuhelfen bzw. sich beihelfen zu lassen. 14 Die Paradigmatisierung zeigt sich vor allem in der Hochzeits-‘masque’ (Tmp. 4.1.60 ff.). Mit ihr öffnet sich ein Raum im Raum und präsentiert - nunmehr vertikal eingelagert und in gewissem Sinn gespiegelt - ein hypodiegetisches, wofern gar ‘heiliges’, Spiel im Spiel 15 , welches bezeichnenderweise eingeleitet wird mit den Worten: “No tongue! All eyes! Be silent! ” (4.1.59) Dieses Spiel zelebriert aus Anlass der Zusammenführung von Ferdinand, dem Sohn des Königs von Neapel, mit Miranda, der Tochter des einstigen Herzogs von Mailand, einen über heidnische Götter- und Nymphenfiguren laufenden und hierüber abgesegneten “contract of true love” (84 und 133), welcher von Prospero in seiner ambivalenten Haltung gegenüber der weißen Magie durch seine unterbrechende Rede zunächst vorerst selbst zerstört und ‘platzen’ gelassen wird (139), ohne dass aber damit der Möglichkeitsraum solcher Spiele im allgemeinen kassiert ist. Der dramatische Raum des Sturm zeigt also, so ließe sich zusammenfassen, auf der horizontalen Ebene eine drastische Begrenzung des fiktiven - syntagmatischen - Spielraums auf den alleinigen Enklavenort der Insel mit einer zugleich potentiellen vertikalen - und paradigmatischen - Entgrenzbarkeit dieses Raumes in die ‘unendlichen Weiten’ der Imagination und Phantasie. Dies entspricht dem generellen Trend der Romanzen in ihrer Funktion als innovationsfreudigen Theaterexperimenten mit den Möglichkeiten des Ästhetischen. 16 14 Zur Rolle der Magie im frühneuzeitlichen Theater siehe die differenzierenden Ausführungen in Tetzeli 1991; für eine Diskussion des Zusammenhangs von Zauberei, Vortäuschung und Illusion in Relation zum elisabethanischen Machtapparat wie insbesondere zum Maskenspiel vgl. auch Orgel 1991. 15 Zu den besonderen Bedingungen des Spiels im Spiel bei Shakespeare, allerdings ohne direkten Bezug auf den Sturm, siehe die nach wie vor einlässigen Ausführungen in Wolfgang Isers einstmaliger Würzburger Antrittsvorlesung (Iser 1962). 16 Für eine knappe Darstellung der These von Shakespeares insbesondere die Romanzen betreffenden Bewegung weg von den Referenzen und dem Historischen hin zu den Möglichkeiten des Spiels und zum Ästhetischen siehe die Überlegungen in Mahler 2009, v.a. 312 f. Be- und Entgrenzungen des Raums in Shakespeares Sturm 145 4. Die Schweizer Regisseurin Barbara Frey hat dies für das Wiener Akademietheater, wie ich meine, in großer Einvernehmlichkeit und Kongenialität in Szene zu setzen gesucht. Auch die Akademietheateraufführung nutzt eine initiale Begrenzung ganz gezielt für eine er/ findungsreiche Fülle paradigmatischer Entgrenzungen auf der Bühne und im Spiel. So konstatiert etwa Annett Baumast anlässlich der späteren Zürcher Aufführung für The Shakespeare Revue, die Inszenierung biete “a very reductionist but congenial approach to The Tempest”, und fügt hinzu: “and certainly one to remember” - wohingegen wiederum Barbara Villiger Heilig für die Neue Zürcher Zeitung noch am Wiener ‘Original’ lediglich eine “Flaute im Wasserglas” zu entdecken vermeint. 17 Die Kongenialität zeigt sich zunächst im reduktiven Cast. Frey bedient sich lediglich dreier Schauspieler; sie streicht die Usurpatoren und besetzt neben dem Zentrum Prospero (verkörpert durch Johann Adam Oest, der kurzzeitig auch noch Trinculo verkörpert) die Figuren Ferdinand und Ariel (und überdies als Drittes auch noch Stephano) mit Joachim Meyerhoff sowie schließlich Miranda und erstaunlicherweise auch Caliban mit Maria Happel jeweils doppelt (dreifach). Das Stück selbst beginnt mit einem auf das Paradigmatische und die Medienbewusstheit der Inszenierung bereits aufmerksam machenden Palimpsest. Der theatrale Raum des Akademietheaters zeigt sich als ein kammerspielartiger offener, breiter Raum ohne Vorhang mit deutlicher Näheerfahrung von allen Sitzen, der begrenzt ist durch - wie von den Rezensionen mehrfach inkriminiert - die als solche sichtbare Brandmauer samt einem schwarz abgesetzten inneren magischen Kreis im Zentrum, welcher wirkt wie durch eine den Bühnenraum nach oben hin abschottende Blende. Der durch die Anlage entstehende Effekt einer kinoartigen Cinemascopesicht wird zugleich in der Gestaltung des szenischen Raums dahingehend genutzt, dass die Bühne neben einem angedeuteten Eingang und seitlich begrenzendem Gerüstwerk samt Kletterstange im Zentrum zwei Tische zeigt als eine Art Schreibtisch oder auch als Probetische mit Stühlen für eine durch die Schauspieler durchzuführende szenische Lesung. Die Bühnengestaltung zitiert mithin Peter Greenaways Tempest-Adaption Prospero’s Books als durchscheinendes Palimpsest; es ist dies eine Art intermediales Rückzitat mit gleichzeitig affichierter Illusionsdurchbrechung: Theater erscheint als Kino sowie zugleich auch als Probe mit vorwiegender Narration, 17 Siehe die Rezensionen von Annett Baumast in The Shakespeare Revue vom 26.10.2011 und Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung vom 7.6.2007 [http: / / shakespeare-revue.com/ play.php? pid=15&action=review&rid=427 ; https : / / www.nzz.ch/ articleF8RI6-1.370149; acc. 24.5.2017]. Andreas Mahler 146 nicht dramatischer Präsentation, der Geschichte im Vordergrund. 18 Der szenisch-theatrale Raum ist also von Anfang an auf das Minimalste reduziert und zugleich palimpsesthaft geschichtet und bleibt so für das gesamte Stück konstant. Den Auftakt macht nach einer längeren synkopischen Pause Johann Adam Oest als Prospero mit einem weiteren Zitat, nämlich von Shakespeares “Sonett 73” als spielgebendem Rahmen. Dieses thematisiert bekanntlich Alter und Vergänglichkeit, Herbst, Abend und nahen Tod - in diesem Falle Prosperos wie nicht zuletzt auch Shakespeares. Das Sonett setzt das Zeichen für das folgende Spiel. Dieses folgt einer weitgehend durchgehaltenen Raumordnung. Frey platziert die Figur des zunächst rezitierend hereinschreitenden und sodann für immer sitzen bleibenden Prospero - und über das Sonettzitat gewissermaßen auch Shakespeare - als Schreibenden und damit zugleich auch als den das zu Sehende gleichsam unmittelbar Produzierenden am Schreibtisch im Zentrum der Bühne und hält ihn dort im szenischen ‘Zauberkreis’ auch weitgehend stabil (Abb. 2). 19 Dies schafft den Eindruck eines unmittelbar von ihm aus emanierenden Spiels, als sei er die Quelle der von uns wahrgenommenen Performanz, und es integriert zugleich nach vorn hin uns als Zuschauer mit ins Spiel in der - nicht unbedingt gewollten - Rolle eindringender Usurpatoren. Maria Happel als Caliban verortet die Inszenierung vorwiegend auf der rechten Bühnenseite und unten am Gerüst (Abb. 3); Maria Happel als Miranda und Joachim Meyerhoff als der mit den Schiffbrüchigen eintreffende Ferdinand stehen zumeist ein klein wenig idiotisch grinsend und schüchtern linkisch linkerhand des Schreibtischs auf der Vorderbühne. Joachim Meyerhoff als Ariel agiert dominant von der linken Bühnenseite aus (Abb. 4) in noch zu erläuternder, vielfältig beweglicher Weise. 18 Für eine ausführlichere Analyse der intermedialen Beziehungen zwischen dem Shakespeare’schen Tempest und Greenaways Prospero’s Books siehe die Überlegungen in Mahler 2019. 19 Alle Bilder folgen der damals aktuell bereitgestellten Webseite des Wiener Burgtheaters (Akademietheater); © Burgtheater Wien. Be- und Entgrenzungen des Raums in Shakespeares Sturm 147 Abbildung 2. Schauspiel als Schreibszene oder Lesung Abbildung 3. Maria Happel als Caliban Abbildung 4. Joachim Meyerhoff als Ariel und Johann Adam Oest als Prospero Andreas Mahler 148 Hierüber gerät die im Zeichen strikter Begrenzung stehende Raumordnung in Bewegung. Die Raumpraxis der Figuren steht entsprechend in der Folge im Zeichen einer sich steigernden, entgrenzenden Dynamisierung: “The story unfolds in fast forward with even faster role changes”, konstatiert einlässig die bereits zitierte Shakespeare Revue. Sie bewirkt zunächst den Eindruck der Verlebendigung der Probenbzw. der Schreibtischarbeit. Aus der Lesung bzw. aus den Verschriftungen Prosperos / Shakespeares entstehen vor den Augen des Publikums zunehmend ‘unmöglicher’ scheinende, gleichwohl für uns sichtbare Szenen. Ähnlich der dramatischen Raumanlage wird dabei auch szenisch-theatral eine offensichtliche horizontale Räumlichkeit - in der Einbeziehung des Publikums sogar gewissermaßen eine sich weiter nach vorn hin öffnende doppelte horizontale Räumlichkeit - zunehmend genutzt für eine sich komplementär, wenn nicht gar supplementär darüberschiebende vertikale. Dies betrifft sowohl die Raumpraxis von Maria Happel in der Rolle des Caliban als ‘Untenwesen’ neben und unter dem Tisch als auch diejenige von Joachim Meyerhoff in der Rolle des Ariel als ‘Obenwesen’, welches vor unseren Augen gleichsam zu ‘fliegen’ und letzten Endes zuweilen auch zu ‘entschwinden’ beginnt, wie sich dies im Stück selbst wiederum anlässlich der noch abgebrochenen Zwischen-masque von Prospero formuliert findet als: “These our actors / [...] were all spirits, and / Are melted into air, into thin air” (4.1.148-150). Der szenische-theatrale Raum entwirft mithin horizontal eine Emanation der Shakespeare’schen / Prospero’schen Imagination von einem ‘Innen’ in ein ‘Außen’ - metonymisch also von der Bühne hinein ins Publikum - und schafft zugleich vertikal eine Vergrößerung der allein sichtbaren Welt über die zwei Schwellen eines weithin unsichtbaren ‘Unten’ wie vor allen Dingen eines den Blicken gänzlich entzogenen ‘Oben’. Zugleich weitet sich so der Raum des sichtbaren Realen in den des mithereingeholten unsichtbaren, lebensweltlich ausgegrenzten Imaginären. 20 Maria Happels Raumpraxis als - im Wechsel mit der staunend-mädchenhaften Miranda - immer auch zugleich glatzköpfig-hässliche Caliban-Figur nutzt dabei das repetitive Auftauchen am Tisch (Abb. 5) etwa als stete Mahnung für Prosperos Ausgrenzungen des von ihm nicht akzeptierten Körperlich- Animalischen und entgrenzt so den eng begrenzten Spielraum des Imaginationsschreibtischs um ein stets bedrohlich brodelndes verdrängtes ‘Unten’. Joachim Meyerhoffs Raumpraxis als akrobatisch ‘schwerelos’ entschwebender Luftgeist Ariel (Abb. 6) entgrenzt den Schreibtischort zugleich um eine dem Menschen und auch Prospero nicht zugängliche empyreische Oben-Sphäre - um eine ‘Leichtigkeit des Seins’, welche vom 20 Zu der von ihm für das Komische und das Lachen in Anspruch genommenen Formel von der ‘Hereinholung des Ausgegrenzten’ als einer ‘Positivierung von Negativität’ siehe die grundsätzlichen Ausführungen bei Ritter 1989; zur Übertragung dieser Formel auf die Komödie und mithin das Ästhetische siehe auch Warning 1976: 325- 329. Be- und Entgrenzungen des Raums in Shakespeares Sturm 149 normal sterblichen Menschen gewiss erträumt, gleichwohl nie erreicht werden kann. Wo Maria Happel als Caliban immerhin noch hörbar ist, ist Joachim Meyerhoff oberhalb der Querblende für das Publikum oftmals definitiv nicht mehr sichtbar - es sei denn, er lässt erahnbar etwas fallen. Abbildung 5. Entgrenzung aus dem Unten Abbildung 6. Entgrenzung ins Oben Raumpraktisch erreicht dies seinen Höhepunkt im szenischen Moment, wo Meyerhoff als Ariel - die einzig völlig frei bewegliche Figur - und zugleich auch als ein von Prospero durch Zauberei herbeigewünschter Hund den für seine gestohlene Insel auf Rache sinnenden, fluchenden Caliban - durch die Lüfte fliegend und am Boden kriechend - wild kläffend vertreibt (Tmp. Andreas Mahler 150 4.1.255 ff.). Obzwar gebunden an Prosperos Herrschaft, ist er mit einem Mal szenisch-theatral sichtwie bestaunbar ein gebietender Herrscher über Himmel und Erde: über das Oberhalb wie auch das Unterhalb der Bühne. Auf diese Weise wird der materiale Theaterraum für uns sichtbar zum ‘performativen Raum’, und er performiert in seiner ostentativen Begrenztheit vor unser aller Augen ‘wunderbar’ die ‘ganze Welt’ und letztlich doch auch nur allein sich selbst. 21 5. Der szenisch-theatrale Raum der Frey’schen Sturm-Inszenierung korrespondiert mithin - und hierin liegt das Kongeniale der Umsetzung - strukturell dem dramatischen Raum des Shakespeare’schen Tempest. Beide basieren auf einer programmatisch eingesetzten, initialen Begrenzung und nutzen diese für eine schier unbegrenzte Einfallsfülle von Entgrenzungen: der dramatische Raum nutzt die syntagmatisch angelegte mimetische Einschränkung auf die ‘reale’ Insel für eine paradigmatische Performanz ‘übernatürlicher’ Imagination (samt einer Fülle komischer Einfälle); der szenischtheatrale Raum nutzt in gleicher Weise den statisch-eng konzipierten, unimaginativen Spielraum der Akademietheaterbühne für ein fulminantes dynamisches Spiel performativer Entgrenzung (samt “quite a lot of situational humour [which] make[s] the evening a funny one, which is not always the case with productions of The Tempest”). 22 In beidem jedoch, so will es scheinen, liegt die Basis der entgrenzenden Überschreitungen vor allem gerade in der willkürlichen, vorgängigen, einschränkenden Begrenzung. Literaturverzeichnis Balme, Christopher ( 2 2003). Einführung in die Theaterwissenschaft [1999]. Berlin: Erich Schmidt. 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