eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 48/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2019-0004
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2019
481 Gnutzmann Küster Schramm

Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen

61
2019
Mark Bechtel
Christoph Oliver Mayer
flul4810050
DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 M ARK B ECHTEL , C HRISTOPH O LIVER M AYER * Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen - ein Projekt in der Lehrer(innen)bildung im Fach Französisch Abstract. Whereas professional vision and self-reflection can be considered as two of the most important elements of a teacher’s professionalism, the question is how they can be fostered in subject specific teacher education. The article presents how, within the research project tud-sylber at Dresden University (Germany), students of French as a foreign language work with videos of authentic classroom interactions in order to promote professional vision and self-reflection. By giving one example of a student’s comment on a video of a listening comprehension lesson, the article shows how decisive task-prompts are to generate professional vision and self-reflection. Hence the learning arrangement and the task-prompts need to be reconsidered. 1. Einleitung Wenn man davon ausgeht, dass eine hohe Unterrichtsqualität zur Verbesserung schulischer Bildungsprozesse führt (vgl. H ELMKE 2010: 30), stellt sich die Frage, über welche professionellen Kompetenzen Lehrpersonen verfügen müssen, um erfolgreiche Lernprozesse zu gestalten (vgl. K UNTER et al. 2011: 59; H OLODYNSKI et al. 2016), und wie diese Kompetenzen während des Studiums entwickelt werden können. Als eine wichtige Voraussetzung für ein situationsangemessenes und lernförderliches unterrichtliches Handeln gilt eine professionelle Unterrichtswahrnehmung, die sich dadurch auszeichnet, dass Lehrkräfte lernrelevante Elemente des Unterrichtsgeschehens wahrnehmen und wissensbasiert verarbeiten (vgl. S HERIN / VAN E S 2009: 22; S EIDEL et al. 2010; S TÜRMER 2011: 6; H OLODYNSKI et al. 2016: 283). Bei der Frage, wie man diese Fähigkeit während des Lehramtsstudiums ausbilden kann, hat sich der Einsatz von Videomitschnitten realen Unterrichts als hilfreich erwiesen (s. W EGER in diesem Band). Während Projekte und Studien zur pro- * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Mark B ECHTEL , Universität Osnabrück, Institut für Romanistik/ Latinistik, Neuer Graben 40, 49074 O SNABRÜCK . E-Mail: mark.bechtel@uni-osnabrueck.de Arbeitsbereiche: Didaktik der romanischen Sprachen; Fremdsprachenlehrer_innenbildung; Unterrichtsforschung; Interkulturelles Lernen. PD Dr. Christoph Oliver M AYER , Technische Universität Dresden, tud-sylber, 01062 D RESDEN . E-Mail: christoph.mayer@tu-dresden.de Arbeitsbereiche: Romanische Kulturwissenschaft; Didaktik der romanischen Sprachen; Unterrichtsforschung. Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 51 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 fessionellen Unterrichtswahrnehmung im Fach Mathematik prominent vertreten sind (vgl. S HERIN / VAN E S 2009), sind sie in den fremdsprachlichen Fächern noch relativ selten. Im deutschsprachigen Raum liegen für das Fach Englisch die ersten empirischen Untersuchungen vor (vgl. W IPPERFÜRTH 2015; s. G IEßLER in diesem Band), für die romanischen Schulfächer besteht hier Nachholbedarf. Neben der wissensbasierten Wahrnehmung und kognitiven Verarbeitung lernrelevanter Unterrichtselemente ist die Selbstreflexion ein wichtiger Bestandteil professioneller Kompetenz von Lehrpersonen, also die Fähigkeit, über die eigenen Erfahrungen und das eigene Handeln zu reflektieren (vgl. S CHÖN 1983, K ORTHAGEN 2012, C OMBE / K OLBE 2008, H ELMKE 2010: 118). In der universitären Lehrer(innen)ausbildung bezieht sich die Selbstreflexion i.d.R. auf die eigenen unterrichtlichen Erfahrungen der Studierenden als Schüler(in) bzw. die ersten selbst gewonnenen Lehrerfahrungen im Rahmen eines micro-teaching-Seminars oder eines Schulpraktikums. An der Technischen Universität Dresden wird seit 2016 das Maßnahmenpaket TUD-SYLBER („Synergetische Lehrerbildung im exzellenten Rahmen“) durchgeführt, bei dem die Didaktik der romanischen Sprachen am Teilprojekt „Unterrichtsvideos zur Entwicklung hermeneutischer Fallkompetenz in der Lehrerbildung“ mitwirkt und dabei den Fokus auf den Französischunterricht legt. 1 Die Grundidee des Projekts ist es, Ausschnitte realen Französischunterrichts durch Videoaufnahmen zum Gegenstand universitärer fachdidaktischer Seminare zu machen und die Studierenden somit zu befähigen, eine professionelle Unterrichtswahrnehmung auszubilden und Selbstreflexionen durchzuführen. Das Projekt hat eine Entwicklungs- und eine Forschungskomponente. Die Entwicklungskomponente beinhaltet die Konzeption unterschiedlicher videobasierter Lernarrangements für themenspezifische Seminare zur Französischdidaktik und deren Durchführung. Dabei werden ausgewählte Videomitschnitte von Französischunterricht mit Aufgaben verbunden, die von den Studierenden schriftlich bzw. mündlich bearbeitet werden. Die Forschungskomponente beinhaltet zum einen die Untersuchung der Frage, was die Studierenden in den Videos im Hinblick auf das jeweilige fremdsprachendidaktische Thema wahrnehmen, wie sie das Wahrgenommene verarbeiten und welche Bezüge sie zu ihren eigenen Lehr-Lern-Erfahrungen herstellen. Zum anderen interessiert die Frage, welche Rolle dabei die jeweiligen unterschiedlichen videobasierten Lernarrangements spielen. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, das Verhältnis zwischen den Konstrukten der Professionellen Unterrichtswahrnehmung und der Selbstreflexion zu bestimmen, das Konzept einer videobasierten fachdidaktischen Lehrveranstaltung vorzustellen, die im Wintersemester 2017/ 18 durchgeführt wurde, und anhand eines Fallbeispiels zu überprüfen, ob die Beobachtungsaufgaben die Professionelle Unterrichtswahrnehmung und die Selbstreflexion in zufriedenstellender Weise anregen. 1 Das diesem Aufsatz zugrundeliegende Projekt wurde im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. 52 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 Zunächst gehen wir auf die Konstrukte der professionellen Unterrichtswahrnehmung und der Selbstreflexion ein. Danach werden der Ausbildungskontext und das videobasierte Lehr-Lern-Design des Seminars zum Hörverstehen sowie die konkreten Arbeitsaufträge und die Art der erwarteten Studierendenprodukte dargelegt (Lernarrangements). Anhand eines schriftlichen Kurzberichts eines Studenten zu einem Videoausschnitt zeigen wir, wie er eine der videobasierten Aufgaben gelöst hat. Dabei wird deutlich, was der Student als lernrelevant wahrgenommen und wie er es wissensbasiert verarbeitet hat; wir prüfen, ob dadurch eine Selbstreflexion ausgelöst wurde. Abschließend werden die ersten Erkenntnisse der Datenanalyse zusammengefasst und verdeutlicht, welche Konsequenzen sich daraus für das weitere Vorgehen ergeben. 2. Zum Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung und der Reflexionskompetenz Das von G OODWIN (1994) vorgeschlagene Konzept der professional vision als „Art und Weise […], wie Personen vor dem Hintergrund ihrer Profession Situationen und Ereignisse beobachten und interpretieren“ (S TÜRMER 2011: 8) wurde von S HERIN (2001) auf die Lehrerbildung übertragen (s. W EGER in diesem Band). Bei der professional vision werden zwei grundlegende Prozesse unterschieden (vgl. S HERIN 2007; S TÜRMER 2011: 9; H OLODYNSKI et al. 2016: 284): zum einen die Aufmerksamkeitslenkung auf bestimmte Aspekte des Unterrichtsgeschehens (noticing oder auch selective attention genannt), zum anderen die auf der Grundlage des Professionswissens erfolgende Verarbeitung der selektiv wahrgenommenen Aspekte (knowledge-based reasoning). Das knowledge-based reasoning wird von S HERIN / VAN E S (2009: 24; 28) in die drei Teilbereiche describing (Beschreiben), evaluating (Einschätzen) und interpreting (Interpretieren) untergliedert: Beim Beschreiben wird geäußert, was konkret wahrgenommen wurde; beim Einschätzen werden Aussagen über die Qualität der wahrgenommenen Unterrichtsinteraktion gemacht; beim Interpretieren werden Rückschlüsse auf die Wirkung der beobachteten Phänomene gezogen. S EIDEL et al. (2010: 297) haben das Konstrukt der professional vision von S HERIN (2001) übernommen und im Konzept der professionellen Unterrichtswahrnehmung gleichsam geschärft. Unter noticing verstehen sie „die wissensgesteuerte Identifikation von Situationen und Ereignissen im Unterricht, die aus einer professionellen Sicht entscheidend für den Erfolg von Unterrichtshandlungen sind“ (S EIDEL et al. 2010: 297). Mit knowledge-based reasoning ist wie bei S HERIN / VAN E S (2009) die wissensbasierte Verarbeitung wahrgenommener Unterrichtsaspekte gemeint. Allerdings ist das Verständnis von Wissen bei S EIDEL et al. (2010: 297) ein anderes als bei S HERIN / VAN E S (2009). Erstere verstehen darunter theoretisches Wissen, während: Letztere damit unspezifisch das Wissen der Lehrperson über den Unterrichtsgegenstand, curriculare Anforderungen bzw. vorausgegangene Schüleräußerungen meinen. Ein weiterer Unterschied besteht in der Modellierung des Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 53 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 knowledge-based reasoning. Während S EIDEL et al. (2010: 297) die Kategorie ‚Beschreiben‘ (description) übernehmen, fassen sie im Unterschied zu S HERIN / VAN E S (2009) die Kategorien ‚Bewerten‘ und ‚Interpretieren‘ unter der Kategorie ‚Erklären‘ (explanation) zusammen und fügen mit der Kategorie ‚Vorhersagen‘ (prediction) eine weitere hinzu (vgl. B ARTH 2017: 28f.). S TÜRMER (2011: 9f.) greift die von S EIDEL et al. (2010) definierten Kategorien auf und operationalisiert sie wie folgt: Mit ‚Beschreiben‘ ist die präzise Beschreibung lernwirksamer Unterrichtssituationen auf der Basis theoretischen Wissens, d.h. unter Verwendung adäquater Begriffe und Konzepte gemeint. Das ‚Erklären‘ der Unterrichtssituation verweist auf die Fähigkeit, „die beobachtete Unterrichtssituation wissensbasiert zu klassifizieren und somit theoretisches Wissen um lernwirksame Unterrichtskomponenten mit der Unterrichtspraxis zu verknüpfen“ (S TÜRMER 2011: 9). Das ‚Vorhersagen‘ zeigt die Fähigkeit, die Folgen der beobachteten Phänomene für den weiteren Lernprozess abzuschätzen (vgl. ebd.). Im Unterschied zur Kategorie ‚Beschreiben‘ erfordern die beiden Kategorien ‚Erklären‘ und ‚Vorhersagen‘ die bezüglich der Anforderungen anspruchsvollere Fähigkeit des wissenschaftlichen Begründens. In einigen Konzepten der professionellen Unterrichtswahrnehmung wird eine weitere Kategorie berücksichtigt, nämlich das Generieren alternativer Handlungsstrategien (vgl. S AN - TAGATA et al. 2007: 128; s. auch G IEßLER in diesem Band). Beim Konstrukt der professionellen Unterrichtswahrnehmung steht das theoretische Wissen im Mittelpunkt, auf dessen Grundlage unterrichtliche Lehr-Lern-Prozesse identifiziert und interpretiert werden. In der Lehrer(innen)ausbildung ist der Gegenstand der Professionellen Unterrichtswahrnehmung i.d.R. fremder Unterricht, der in Form von Videoausschnitten vorliegt. Natürlich ist es auch möglich, den eigenen Unterricht selbst anhand der Schritte der Professionellen Wahrnehmung wissensbasiert zu analysieren, wenn er auf Video aufgenommen wurde. Bei der Professionellen Unterrichtswahrnehmung liegt der Fokus auf der wissenschaftlichen Analyse, konzeptuell nicht vorgesehen ist die Selbstreflexion, also der Rückbezug auf sich selbst, auf die eigenen Unterrichtserfahrungen, sei es als Schüler(in) oder als Lehrperson. Gleichwohl kommt gerade der Fähigkeit zur Reflexion im Sinne einer Selbstreflexion für die Professionalisierung einer Lehrperson eine Schlüsselrolle zu (vgl. H ELMKE 2010: 118), einer Profession, die angesichts der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit von Unterricht (vgl. C OMBE / H ELSPER 1996: 12, 41; H ELSPER 2016: 52) mit dem stetigen Reflektieren des eigenen Handelns verbunden und für die der „reflective practitioner“ zum Leitbild geworden ist (vgl. S CHÖN 1983: 49-69, H ELMKE 2010: 114). In der Lehrer(innen)bildung wird das Konstrukt der Reflexion häufig dann ins Spiel gebracht, wenn Studierende oder Lehrpersonen eine eigene Praxiserfahrung machen, während der Handlung bzw. nach der Handlung darüber reflektieren und Konsequenzen für weiteres Handeln ableiten, was in eine neue Praxiserfahrung mündet). Für K ORTHAGEN (2002: 73) ist Reflexion in diesem Sinne: […] der mentale Prozess zu versuchen, eine Erfahrung, ein Problem oder existierendes Wissen oder Einsichten zu (re)strukturieren. Diese Reflexion kann nach einer Handlung 54 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 (Reflexion über die Handlung) oder während der Handlung (Reflexion in der Handlung) stattfinden. Das Konstrukt der Reflexion ist äußerst komplex. A EPPLI / L ÖTSCHER (2016: 82-91) fassen die zentralen Aspekte der Diskussion um Reflexion in der Lehrer(innen)bildung in ihrem „Rahmenmodell für Reflexion“ zusammen. Auf der horizontalen Ebene ist der zeitliche Ablauf einer Reflexion in fünf Reflexionsphasen aufgeführt: (1) Erleben (eine Erfahrung machen), (2) Darstellen (Rückblick), (3) Analysieren (vertiefte Auseinandersetzung), (4) Maßnahmen entwickeln und planen, (5) Anwenden (Maßnahmen erproben). Auf der vertikalen Ebene werden zwei Aspekte von Reflexion unterschieden, nämlich „Konstruktion von Bedeutung“ und „kritisches Prüfen“, für die je nach Phase eine bestimmte Anzahl von Reflexionskategorien bestimmt werden. Insgesamt enthält das Modell 15 Reflexionskategorien, sie entsprechen „Sinneinheiten, in denen reflexives Denken zum Ausdruck kommt“ und werden als „reflexive Momente“ bezeichnet (ebd.: 87). Als Beispiel soll Phase 2 (die rückblickende Darstellung einer Erfahrung) und Phase 3 (die vertiefte analytische Auseinandersetzung mit der Erfahrung) dienen. In Phase 2 kommen die Reflexionskategorien „Benennen des Auslösers, des Anlasses für die Reflexion“, „Beschreibung der Situation“ und „Ausdruck einer kritischen Haltung“ zum Tragen. Diese Phase enthält dann reflexive Momente, „wenn in der Darstellung nicht einfach wiedergegeben wird, was schon ‚gewusst‘ wird, sondern wenn in der Darstellung auf Strukturierung und Nachvollziehbarkeit bzw. Vielschichtigkeit und Komplexität Wert gelegt wird und damit das Bemühen um die (Re-)Strukturierung einer Situation sichtbar wird“ (Hervorh. im Original, ebd.: 89). Die Phase 3 besteht aus den Reflexionskategorien „Interpretation“, „Klare, eindeutige Verwendung von Begrifflichkeiten“, „Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven“ und „Kritischer Umgang mit Aussagen“. Beim „Interpretieren“ geht es um das Herstellen und Prüfen von Beziehungen und Zusammenhängen „zwischen Elementen einer Erfahrung, zwischen dieser Erfahrung und anderen Erfahrungen, zwischen dieser Erfahrung und dem eigenen Wissen oder zwischen dem eigenen Wissen und dem Wissen von anderen“ (ebd.: 90). Zeichen einer vertieften Auseinandersetzung ist zum einen das Heranziehen von Konzepten, Ansätzen, Theorien und empirischen Befunden sowie das Verwenden fachsprachlicher Begriffe, zum anderen die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven. Mit der letzten Reflexionskategorie der Phase 3 ist das „Untersuchen und Prüfen von Ideen, das Aufdecken bzw. die Identifizierung von Argumenten und deren Analyse“ sowie „die Beurteilung und die Bewertung von Behauptungen und Argumenten und die Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Aussagen“ gemeint. Neben den fünf Reflexionsphasen und den zwei Ebenen von Denkaktivitäten sieht das Modell als drittes Strukturelement zwei Blickrichtungen vor, „nach außen“ und „nach innen“. Bei der Blickrichtung nach außen richtet sich der Blick einer Person auf die Außenwelt, d.h. auf „Umgebung, Rahmen, Akteurinnen und Akteuren, den beobachteten Ablauf, Verhalten von anderen, eigenes Verhalten“ (ebd.: 84). Richtet sich bei der Reflexion der Blick nach innen, „so rücken eigene Kompeten- Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 55 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 zen, Gefühle, Überzeugungen, Einstellungen, Bedürfnisse, berufliche Identität oder Mission in den Fokus“ (ebd.: 84). Wenn das Konstrukt der Reflexion so stark an das eigene Unterrichtshandeln gebunden ist, stellt sich die Frage, ob Reflexionsprozesse anhand von Fremdvideos, so wie sie im vorliegenden Projekt verwendet werden, überhaupt angeregt werden können. Zu prüfen ist also, ob die Bearbeitung von Fremdvideos dazu führt, über eigene Unterrichtserfahrungen, die die Studierenden im Praktikum oder als Schüler(in) gemacht haben, zu reflektieren und sich dieser durch (Re-)Strukturierung bewusst zu werden. 3. Konzept eines videobasierten fachdidaktischen Seminars zum Hörverstehen Im Rahmen des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts nimmt das Hörverstehen als eine der rezeptiven Teilkompetenzen einen festen Platz ein (vgl. L ÜTGE 2017). Das hier vorzustellende fachdidaktische Seminar zum Thema Hörverstehen wurde im Wintersemester 2017/ 18 am Institut für Romanistik für Studierende des Fachs Französisch für das Gymnasiallehramt von PD Dr. Christoph Oliver Mayer angeboten. Die Studierenden sollten dadurch mit den Grundlagen des Hörprozesses und einschlägigen Methoden der Hörverstehensschulung vertraut gemacht werden; sie sollten befähigt werden, Hörtexte und Hörverstehensaufgaben in Französischlehrwerken kritisch zu analysieren und selbst Hörverstehensaufgaben zielgruppenspezifisch zu konzipieren. Was bringen die Studierenden als Vorkenntnisse und Erfahrungen mit? Im Rahmen des fachdidaktischen Studiums an der Technischen Universität Dresden befassen sich die Studierenden des Fachs Französisch im dritten Semester in einer Sitzung der Einführungsvorlesung u.a. mit den theoretischen Grundlagen des Hörverstehens. Im Anschluss an die Einführungsvorlesung oder parallel dazu besuchen sie ein Seminar zur Unterrichtssimulation, in dem sie eine Unterrichtsstunde zu je einem ausgewählten fachdidaktischen Themenschwerpunkt selbstständig planen, im Seminar erproben und ihre Erfahrungen dort reflektieren. Im Rahmen der sogenannten Schulpraktischen Übungen (SPÜ) haben die Studierenden in Kleingruppen von durchschnittlich vier Personen die Gelegenheit, über einen Zeitraum von vierzehn Wochen an einem festgelegten Wochentag in einer Französischklasse zu hospitieren und dabei zwei Unterrichtsversuche durchzuführen, die direkt im Anschluss in der Kleingruppe - moderiert durch einen Universitätsdozenten - reflektiert wurden und Gegenstand eines (benoteten) Reflexionsberichts waren. Als weiteres Element des Fachdidaktik-Studiums belegen die Studierenden ein Seminar zu einer zentralen Fragestellung der Fremdsprachendidaktik, so beispielsweise zum Thema Hörverstehen, wie im vorliegenden Fall. Darüber hinaus absolvieren die Studierenden ein vierwöchiges schulisches Blockpraktikum im studierten Fach und reflektieren ihre Erfahrungen in einem Praktikumsbericht. Sie schließen ihr Fachdidaktik- 56 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 studium im Fach Französisch in der Regel mit einer mündlichen Staatsexamensprüfung ab. Im Seminar wurden sechs verschiedene Videovignetten von durchschnittlich sieben Minuten Länge in verschiedenen Lernarrangements eingesetzt, die im Grad der Lenkung, der Art des theoretischen Inputs und des Mediums der Aufgabenbearbeitung (schriftlich, mündlich) variierten. Nach dem Anfertigen einer Mindmap zum Thema Hörverstehen wurde die erste Videovignette ohne vorhergehenden Theorieinput als allgemeiner Einstieg in die Thematik und als Aktivierung des Erfahrungswissens gezeigt. Die Aufgabe für die Studierenden bestand darin, ihre Assoziationen als Notizen niederzuschreiben (Lernarrangement 1). Danach erfolgte eine Theoriesitzung, in der vom Dozenten unter Rückgriff auf den aktuellen Forschungsstand Grundlagen zu den kognitiven Prozessen beim Hören vermittelt wurden. Danach wurde eine zweite Videovignette gezeigt, die die Studierendengruppe im Nachgang ohne Intervention des Dozenten diskutierte, wobei die Ergebnisse der Gruppendiskussion von den Studierenden in Form von Notizen festgehalten werden sollten (Lernarrangement 2). In der Folgesitzung wurde das theoretische Wissen durch die Lektüre von N EVELING (2000) gefestigt und um die Frage der Beschaffenheit von Hörtexten erweitert. Mittels eines mock exam, bei dem Fragen zum Text gestellt wurden, wurde das Wissen überprüft. Nach der Thematisierung des Einsatzes von Liedern als einer spezifischen Form von Hörtexten und der Lektüre eines weiteren, das Hörverstehen als isolierte Fertigkeit kritisch in Frage stellenden Textes von G ROTJAHN (2012) kam eine dritte Videovignette zum Einsatz, die unter Anleitung des Dozenten in Form eines Seminargesprächs besprochen wurde (Lernarrangement 3). Im Anschluss beschäftigten sich die Studierenden mit einschlägigen Französisch-Lehrwerken und hielten Impulsreferate zur Analyse dort vorgeschlagener Übungen sowie zur Erstellung eigener Aufgaben zum Hörverstehen, bevor sie sich mit dem Text von D IETZ (2013) zur Inhaltsbzw. Formfokussierung beim Hörverstehen im Fremdsprachenunterricht vertraut machten. Vor diesem Hintergrund wurde die vierte Videovignette eingesetzt, ein Beispiel, in dem eine Lehrerin mit einer 7. Klasse das Hörverstehen üben möchte (Wegbeschreibung). Zu dieser Videovignette sollten die Studierenden innerhalb von sieben Tagen einen schriftlichen Bericht von zwei bis drei Seiten Länge anfertigen und in getippter Form abgeben. Die Aufgabenstellung bestand darin, das im Video Gesehene zu beschreiben, dann zu bewerten und schließlich Handlungsalternativen zu entwerfen oder sich persönlich dazu zu positionieren (Lernarrangement 4). Mit der fünften Videovignette wurde das in der Sitzung zuvor diskutierte Konzept der Lernaufgabe vertieft, und die Studierenden wurden aufgefordert, mündlich ihre Meinung zum Gelingen des gezeigten Unterrichts zu äußern und eine Analyse der Videosequenz vorzunehmen (Lernarrangement 5). Die letzte Videosequenz bekam die Hälfte der Studierenden zu sehen und hatte die Aufgabe, in Kleingruppen den Studierenden, die das Video nicht gesehen hatten, nach dem bekannten Dreischritt mündlich vorzustellen (Lernarrangement 6). Abschließend wurde das Thema des Testens und Evaluierens von Hörverstehen behandelt und eine Schlussdiskussion über das Seminar geführt. Zusätz- Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 57 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 lich evaluierten die Studierenden das Seminar schriftlich und fertigten analog zur ersten Mindmap zu Beginn des Seminars eine zweite Mindmap zu ihrem Wissensstand am Ende des Seminars an. 4. Fallbeispiel Im vorliegenden Fallbeispiel zeigen wir, wie ein Student den Arbeitsauftrag des Lernarrangements 4 gelöst hat. Dabei wird untersucht, was er angeleitet durch die Beobachtungsprompts in einem Videoausschnitt im Hinblick auf das fremdsprachendidaktische Thema Hörverstehen wahrgenommen, wie er das Wahrgenommene verarbeitet und welche Bezüge er zu seinen eigenen Erfahrungen hergestellt hat. Als Datenerhebungsinstrument wurde die retrospektive Befragung (vgl. H EINE / S CHRAMM 2016: 177-178) eingesetzt. Es handelt sich um eine Stellungnahme, die sich auf Kognitionen einer Person in Bezug auf eine spezifische Handlung bezieht, die i.d.R. nicht länger als 24 Stunden zurückliegt (vgl. H EINE / S CHRAMM 2016: 177). Im vorliegenden Fallbeispiel konkretisiert sich diese Art der Befragung in einem schriftlichen Produkt, nämlich einem Kurzbericht nach dem Anschauen einer Videovignette. 2 Der Kurzbericht des Französischstudenten hat einen Umfang von vier Normseiten. Einleitend erläutert er seine Gliederung gemäß der Beobachtungsprompts in drei Teilen (Z. 3-5): Nach einer wertneutralen Beschreibung der Sequenz findet eine persönliche, das heißt subjektive Wertung statt, in deren Anschluss ich die Frage beantworten möchte, ob ich persönlich die Unterrichtsstunde genauso gehalten hätte […]. Was lässt sich nun über die professionelle Unterrichtswahrnehmung des Studenten aussagen? Bedingt durch die thematische Rahmung des Seminars ist die Aufmerksamkeit (noticing) bereits auf das fachdidaktische Thema des Hörverstehens gerichtet. Innerhalb dieses Rahmens identifiziert der Student im Sinne einer professionellen Unterrichtswahrnehmung eine Reihe lernrelevanter Elemente und verarbeitet sie, indem er sie entsprechend den Vorgaben beschreibt und erklärt. Die Analyse zeigt, dass der Student sich an die Aufgabenstellung hält und zunächst versucht, die im Video gezeigte Unterrichtssituation konkret und detailliert in ihrem chronologischen Verlauf zu beschreiben (Z. 8-10: „Die Sequenz beginnt mit der Ankündigung der Französisch-Lehrerin an die Schülerinnen und Schüler, dass ein Hörverstehen stattfinden wird und sie den Hörtext dreimal hören werden 2 Die 24-Stunden-Regel konnte aus seminardidaktischen Gründen nicht eingehalten werden; den Studierenden wurde für die Anfertigung ihres Kurzberichts eine Woche Zeit gewährt. Zusätzlich wurden im Rahmen des Seminars von jedem/ jeder Studierenden folgende Daten erhoben: zwei Mindmaps, die jeweiligen Reflexionsnotizen zu den Lernarrangements 1 bis 3, die Materialien zum eigenen Impulsvortrag, die Evaluierung des Seminars sowie die videografierte Seminarsitzung (Lernarrangement 3), die als Transkript vorliegt. Diese Daten werden im vorliegenden Beitrag nicht berücksichtigt. 58 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 […]“, Z. 54-55: „[…] Die Videosequenz endet damit, dass die Lehrerin zur linken Tafelseite - aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler - geht und das zweite Hören beendet wird“. Die Aufmerksamkeit ist sowohl auf das Lehrerhandeln als auch auf das Schülerhandeln gerichtet (Z. 47: „Es herrscht eine Unruhe; die Schülerinnen und Schüler drehen sich um, fragen sich gegenseitig, wohin und wieweit sie zeichnen müssen […]. Deshalb gibt die Lehrerin eine Zwischenbemerkung zur Aufgabe und unterbricht das Abspielen kurz […]“). Darüber hinaus wurde auch das eingesetzte Material (hier die Art des Hörtextes) als lernrelevant identifiziert (Z. 22: „Es wird langsam gesprochen und Standardsprache genutzt. Dennoch wirkt der Hörtext relativ abgehackt“). Betrachten wir zunächst, ob die Beschreibung des Studenten wissensbasiert erfolgt. Es kann gezeigt werden, dass der Student eine Reihe fachspezifischer Begriffe („erstes Hören“, „zweites Hören“, „Standardsprache“, „Ankreuzaufgabe“) in adäquater Weise nutzt. Beim Ausdruck „Vorhör- und Hörphase“ (Z. 25) handelt es sich um eine wenig gebräuchliche Übersetzung der in der fachdidaktischen Literatur für das Fach Französisch üblichen französischen fachsprachlichen Begriffe avant l’écoute und pendant l’écoute. Auch im zweiten Teil des Berichts (Bewertung) werden fachsprachliche Begriffe gebraucht (Z. 67, „auf Details der Wegbeschreibung achten“, Z. 68 „Globalverständnis“), ebenso im dritten Teil zu Handlungsalternativen (Z. 111 „Signalwörter“). Was nimmt der Student hinsichtlich des Lehrer- und Schülerhandelns in Bezug auf das Hörverstehen als lernrelevant wahr und wie erklärt er dieses? Als lernrelevant identifiziert der Student beim Hörverstehen zunächst das von der Lehrerin praktizierte dreimalige Anhören, das er mit zwei unterschiedlichen Lernzielen erklärt, nämlich globales und detailliertes Hörverstehen (Z. 65-67: „Dadurch können sich die Schülerinnen und Schüler zu allererst einen globalen Eindruck vom Hörtext machen, bevor sie beim zweiten Hören auf Details der Wegbeschreibung achten sollen“). Der Student macht dabei deutlich, dass er nicht beurteilen könne, ob die erste Aufgabe tatsächlich dem globalen Hörverstehen (Globalverstehen) diene, da die Aufgabe auf dem Video nicht zu sehen sei. Der Student kann hier daher nicht beweisen, dass er in der Lage ist, einen korrekten Bezug zwischen fremdsprachendidaktischer Theorie und einem Praxisbeispiel herzustellen, er zeigt aber damit eine potentielle Bereitschaft, dies zu leisten und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, Praxisbeispiele einer genaueren Analyse zu unterziehen. Als zentraler lernrelevanter Aspekt wird die Aufgabenklarheit wahrgenommen. Im vorliegenden Fallbeispiel verdeutlicht der Student in diesem Zusammenhang, wie lernunwirksam die fehlende Aufgabenklarheit im beobachteten Videoausschnitt für ihn ist (Z. 81: „so dass Unruhe, ein leichtes Chaos, entsteht“, Z. 46 „Die Schülerinnen und Schüler sind mit der Aufgabe überfordert […]. Es herrscht eine Unruhe; die Schülerinnen und Schüler drehen sich um, fragen sich gegenseitig, wohin und wie weit sie zeichnen müssen […]“). Darüber hinaus liefert er eine Erklärung, die er an der fehlenden Angabe der Blickrichtung des Betrachters auf einem Stadtplan festmacht: Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 59 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 Das Problem war, dass der Startpunkt oben im Bild war und die Schülerinnen und Schüler sich vorstellen mussten, dass sie vor dem Gebäude stehen. Dadurch waren plötzlich links und rechts vertauscht. (Z. 87) Der Versuch der Lehrerin, die Aufgabenstellung verständlicher zu machen, identifiziert der Student ebenfalls als nicht lernwirksam: Sie (die Lehrerin) führte weiter aus, dass sie (die Schülerinnen und Schüler) nach links zeichnen müssen, wenn im Hörtext gesagt wird, dass sie nach rechts gehen sollen respektive nach rechts zeichnen müssen, wenn im Hörtext nach links gesagt wird. (Z. 40) Neben einer eindeutigen Klärung des situativen Settings einer Hörverstehensaufgabe (hier Standort und Blickrichtung des Sprechers bei einer Wegbeschreibung) wurde vom Studenten auch die Wiederholung von Wortschatz (hier z.B. der Richtungsadverbien) als lernrelevant identifiziert. Dies wird daran deutlich, dass er die Perspektive der Schülerinnen und Schüler wiedergibt, die vor dem zweiten Hören von der Lehrkraft wissen wollten, was links und rechts auf Französisch heißt. Für generell lernförderlich hält der Student einen vorwiegend in der Fremdsprache geführten Unterricht, bei dem ein punktueller Wechsel ins Deutsche erlaubt sei, um Unklarheiten bei der Aufgabenstellung zu beseitigen. Im vorliegenden Fall schätzt der Student den Wechsel als nicht lernförderlich ein, da er die an sich unklare Aufgabenstellung nicht heilen kann. Als letztes wird die Position des CD-Players genannt, die er für ungünstig hält, was aber nicht weiter erklärt wird. Im vorliegenden Fallbeispiel ist kein Beleg für die Kategorie ‚Vorhersage‘ zu finden. Angeregt durch die Aufgabenstellung erläutert der Student im dritten Abschnitt, ob er die Unterrichtsstunde auch so halten würde. Zunächst stellt er fest, dass er an einem dreimaligen Hören und dem Vorspielen mit Pausen beim zweiten Hören festhalten würde, eine Begründung dafür liefert er jedoch nicht. Im weiteren Verlauf verdeutlicht er, was er anders machen würde, und zeigt somit Handlungsalternativen zum beobachteten Unterricht auf. Als ein klares Beispiel einer wissensbasierten Handlungsalternative erweist sich der letzte Absatz, in dem der Student einen didaktischen Ansatz anführt, der aus einem fachdidaktischen Artikel stammt und der eine Lösung für ein in der Videovignette identifiziertes Problem anbietet (Z. 100: „[…] hätte es sich angeboten im Sinne Dietz‘ ‚Fokus-on-Form Ansatzes‘ (2013), dass man eine Aufgabe eingefügt hätte, die die Signalwörter einer Wegbeschreibung, also links, rechts, geradeaus und dergleichen wiederholt“). Die Handlungsalternative bleibt jedoch unpräzise, da nichts darüber ausgesagt wird, wann die Einführung oder Wiederholung des Wortschatzes im konkreten Fall am besten platziert werden könnte. Eine weitere Handlungsalternative formuliert der Student für die Klärung der Aufgabenstellung, deren Problematik er in der fehlenden Angabe zur Blickrichtung des Rezipienten auf dem Stadtplan beim Hörverstehen einer Wegbeschreibung sieht: Dabei wäre ich schon auf das Problem mit der Karte eingegangen und hätte ihnen den Tipp gegeben, dass sie am besten das Heft drehen, weil sie sich vorstellen sollen, sie wären die Kinder aus dem Hörtext, die nach dem Weg fragen. (Z. 106-109) 60 Mark Bechtel, Christoph Oliver Mayer DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 48 (2019) • Heft 1 Dieser Vorschlag ist ebenfalls wissensbasiert, gründet hier aber nicht auf fachdidaktischem Theoriewissen, sondern auf Erfahrungswissen, das der Student vermutlich als Praktikant oder als Schüler erworben und für sich als lernförderlich abgespeichert hat. Was lässt sich anhand dieses Berichts über die Selbstreflexion aussagen? Die beiden ersten Beobachtungsprompts verlangen von dem Studenten eine Beschreibung von Unterricht und eine Erklärung des Wahrgenommenen. Erst die dritte Aufgabe, nämlich zu überlegen, ob und wenn ja wie man anders handeln würde, kann als Impuls zur Selbstreflexion verstanden werden. Die Beschreibung und Begründung einer Handlungsalternative zur besseren Verständlichkeit der Aufgabenstellung (s.o.) deuten darauf hin, dass das Unterrichtsvideo den Studenten dazu angeregt hat, einen Bezug zu eigenen unterrichtlichen Erfahrungen oder Sekundärerfahrungen herzustellen, auch wenn dieser Rückbezug hier nicht explizit gemacht wird. 5. Fazit und Ausblick Das Fallbeispiel lässt erkennen, dass die Beobachtungsprompts zur professionellen Unterrichtswahrnehmung von Videomitschnitten realen Unterrichts anleiten und im vorliegenden schriftlichen Bericht eines Studenten auch tatsächlich Belege für eine professionellen Unterrichtswahrnehmung zu finden sind. Es zeigt sich auch, dass die Beobachtungsprompts die Art und Weise der Bearbeitung der Aufgabe stark beeinflussen. So verwundert nicht, dass die Aufforderung zum Beschreiben als rein deskriptive Darstellung realisiert wurde. Auch verwundert nicht, dass im Fallbeispiel keine ‚Vorhersagen‘ vorkommen, da der Student nicht konkret danach gefragt wurde. Für Ausbildungszwecke scheint die Auswahl der Beobachtungsprompts von besonderer Bedeutung zu sein, da durch sie die Beschäftigung mit bestimmten lernrelevanten Aspekten fokussiert und gezielt gefördert werden kann. Aus forschungsmethodischer Sicht zeigen die ersten Erfahrungen bei der Datenanalyse, dass die Kategorien zur Operationalisierung der professionellen Unterrichtswahrnehmung geschärft werden müssten, um Aussagen über die Qualität dieser Unterrichtswahrnehmung machen zu können. Dabei bietet es sich für das weitere Vorgehen an, auf die in diesem Band von G IEßLER vorgeschlagene Differenzierung der Kategorien zurückzugreifen. Bei der schriftlichen Darstellung von Unterrichtswahrnehmung müsste darüber hinaus untersucht werden, welchen Einfluss das fachlich-inhaltliche Wissen zu Hörverstehen einerseits und eine generelle sprachlich-stilistische Fähigkeit andererseits auf die Qualität der konkreten Aufgabenbearbeitung haben. Die Analyse des Fallbeispiels macht deutlich, dass das Modell der professionellen Unterrichtswahrnehmung Prozesse der Selbstreflexion nicht im Blick hat, auch wenn die Kategorien ‚Bewerten‘ bzw. ‚Handlungsalternativen‘ auf diese verweisen. Dass im vorliegenden Fallbeispiel keine klaren Belege für Selbstreflexion zu finden sind, ist u.E. dem Umstand geschuldet, dass die Aufgabenstellung nicht explizit Professionelle Unterrichtswahrnehmung und Selbstreflexion schulen 61 48 (2019) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0004 dazu aufforderte darzulegen, welchen Bezug der Student zwischen dem im Videomitschnitt analysierten Handeln der am Unterricht beteiligten Akteure und seinen eigenen Erfahrungen beim Unterrichten oder als ehemaliger Schüler sieht. Für den weiteren Verlauf des Projekts sollen daher zusätzlich zu den Beobachtungsprompts, die auf die Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung abzielen, gezielt Fragen zur Selbstreflexion gestellt werden. Hier könnte der Fragenkatalog von K ORTHAGEN / V ASALOS (2005: 50, 54), der für die Reflexion eigener Unterrichtserfahrungen im Hinblick auf das eigene Verhalten, eigene Kompetenzen und eigene Überzeugungen sowie die eigene berufliche Identität und Mission konzipiert wurde, herangezogen werden, um ihn auf den Kontext der Bearbeitung von Fremdvideos zu übertragen. Literatur A BELS , Simone (2011): LehrerInnen als „Reflective Practitioner“. Reflexionskompetenz für einen demokratieförderlichen Naturwissenschaftsunterricht. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. A EPPLI , Jörg / L ÖTSCHER , Hanni (2016): „EDAMA - Ein Rahmenmodell für Reflexion“. In: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 34.1, 78-97. B ARTH , Victoria L. (2017): Professionelle Wahrnehmung von Störungen im Unterricht. Wiesbaden: Springer. C OMBE , Arno / H ELSPER , Werner (1996): „Einleitung: Pädagogische Professionalität. Historische Hypotheken und aktuelle Entwicklungstendenzen“. 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