eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 48/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2019-0021
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/81
2019
482 Gnutzmann Küster Schramm

Sprachmittlung als Unterrichtsprinzip im inklusiven Türkischunterricht

81
2019
Almut Küppers
flul4820074
DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 48 (2019) • Heft 2 A LMUT K ÜPPERS * Sprachmittlung als Unterrichtsprinzip im inklusiven Türkischunterricht Abstract. In the Companion Volume with new descriptors, mediation is conceptualized as social agency. As such, it is argued in this contribution, mediation can be seen as a general attitude in teaching. In highly diverse (foreign language) classrooms, mediation can even be employed as an overall teaching principle. Within inclusive settings characterized by plurilingual learners with various needs and profound competence differences, opportunities for authentic mediation emerge and can be harnessed for linguistic, social and intercultural learning as well as for the development of reflexive learner autonomy. The article focuses on a school development project at the end of which an inclusive concept for Turkish as a foreign language emerged. The concept is based on a teamteaching and peer-learning approach and complemented by an open, dynamic curriculum in which mediation plays a key role. As part of the proposal to upgrade Turkish as a fully-fledged subject at the school, the concept and curriculum were finally approved by the KMK in 2018. Thus, reflections on mediation will be twofold, taking into account the teaching level as well as that of the language policy level. 1. Einleitung Im Zentrum dieses Beitrags steht die Sprachmittlung als eine inklusive Haltung aller am Fremdsprachenunterricht Beteiligten. Im Rückgriff auf den vor kurzem erschienenen Companion Volume with New Descriptors (CV) zum GER (C OUNCIL OF E UROPE 2018) und die aktuelle Diskussion um die Inklusion wird argumentiert, dass in einem inklusiven Fremdsprachenunterricht die Sprachmittlung zum Unterrichtsprinzip erhoben werden kann. Bislang geht es bei den vorliegenden Aufgabenformaten der Sprachmittlung üblicherweise darum, (imaginierten) Dritten einen Text oder eine Kommunikationsabsicht zu sprachmitteln. Unterrichtsprozesse, die durch (sprachliche) Vielfalt und große Kompetenzunterschiede gekennzeichnet sind - wie im Englischunterricht oder im Herkunftssprachenunterricht - bieten jedoch auch vielfältige Gelegenheiten, in denen authentische Sprachmittlungssituationen entstehen und plurilinguale/ plurikulturelle Kompetenzen der Lernenden nutzbar gemacht und * Korrespondenzadresse: Dr. Almut K ÜPPERS , Institut für England- und Amerikastudien, Abt. Sprachlehrforschung/ Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt, Norbert-Wollheim Platz 1, 60323 F RANK - FURT / M. E-Mail: a.kueppers@em.uni-frankfurt.de Arbeitsbereiche: Lehrerbildung (Englisch, Türkisch), Sprachenpolitik, Spracherwerb und Migration Sprachmittlung als Unterrichtsprinzip im inklusiven Türkischunterricht 75 48 (2019) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 entwickelt werden können (vgl. R EIMANN 2016). Die theoretische Rahmung dieses Beitrages nimmt das Bildungspotenzial der Sprachen der Migration und des sogenannten Herkunftssprachenunterrichts in den Blick sowie deren ungeklärte Position im Konzept der durchgängigen Sprachbildung. Einblicke in die Unterrichtspraxis des Türkischunterrichts illustrieren, welche Potenziale der Sprachmittlung in der weiten Auslegung des Begriffes als social agency (C OUNCIL OF E UROPE 2018) für die Entwicklung einer reflexiven Lernerautonomie (S CHMENK 2018) und überfachlicher, personaler und interkultureller Kompetenzen innewohnen. Die dargestellten Überlegungen zum Team-Teaching, Tandemlernen und Peer-Learning beziehen sich auf ein Schulentwicklungsprojekt, in dessen Mittelpunkt ein von der KMK genehmigtes Sprachenkonzept für Türkisch als 2. oder 3. Fremdsprache steht; Teil dessen ist wiederum ein offenes, dynamisches Curriculum, in dem der Sprachmittlung eine Schlüsselrolle zukommt. 2. Kontextualisierung und bildungspolitische Rahmung Weltweit sind nationale Bildungssysteme derzeit Baustellen. Äußerst dynamische und globale gesellschaftliche Umwälzungen zwingen die Schulen auch in Deutschland zu drastischen strukturellen und konzeptionellen Veränderungen und zur kritischen Überprüfung der stets relevanten Frage „Was ist eigentlich gute Bildung? “ Im Zeitalter der „flüssigen Moderne“ (B AUMAN 2000) darauf schlüssige Antworten zu finden, erscheint schwieriger denn je. Denn wie muss guter Unterricht aussehen, um die nachfolgenden Generationen bestmöglich auf eine Zukunft vorzubereiten, von der wir weniger denn je wissen, wie sie in zehn, zwanzig oder gar dreißig Jahren aussehen wird? Während also alte Gewissheiten von technologischen Innovationen und gesellschaftlichen Umbrüchen zunehmend in Frage gestellt werden, nimmt die Vielfalt in den deutschen Klassenzimmern beständig zu. Dazu tragen nicht nur Mobilität, Migration und Flucht, soziale sowie ökonomische Disparitäten und die Folgen von Globalisierung und Digitalisierung bei, sondern auch der Umbau zur inklusiven Schule, die vor allem als sprachlich inklusive Schule verstanden werden muss. Als eine Antwort darauf hat sich mittlerweile das Konzept der durchgängigen Sprachbildung (G OGOLIN 2011) etabliert. 2.1 Das Konzept der durchgängigen Sprachbildung und die Sprachen der Migration Sprachliche Bildung kann als Querschnittsaufgabe aller Fächer betrachtet werden. Nahezu alle Bundesländer arbeiten an Konzepten für die Integration der durchgängigen Sprachbildung in der Lehrerbildung, die sich in der Regel aus folgenden Ansätzen speisen: Deutsch als Zweitsprache für alle Fächer, sprachsensibler Fachunterricht und Fremdsprachenunterricht sowie bilingualer Unterricht. Durch die Ansprüche der Mehrsprachigkeit werden in nahezu allen Fächern auch diversitäts- und mehrspra- 76 Almut Küppers DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 48 (2019) • Heft 2 chigkeitssensible Diskurse entwickelt und Überlegungen angestellt, wie sich die Familiensprachen einer immer größer werdenden Gruppe an Schülern - in urbanen Zentren z.T. 50% - 75% eines Jahrgangs - in die Unterrichtspraxis der einzelnen Fächer integrieren lassen. Die Bedeutung der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit als Bildungsressource für die Gesellschaft zeigt sich somit in einer deutlich veränderten pädagogischen Haltung und einer Offenheit und Neugier gegenüber den Herkunftssprachen, die für Sprachvergleiche, Sprachreflexionen, Sprachvernetzungen und damit die Entwicklung von Sprachbewusstsein genutzt werden. Als eigenständige Fächer führen die Sprachen der Migration jedoch nach wie vor nicht nur in der Unterrichtspraxis, sondern auch auf Verbandsebene oder an den Universitäten ein klägliches Schattendasein. Angestoßen durch Empfehlungen der KMK sieht die Erlasslage in einigen Bundesländern (z.B. NRW, Niedersachsen, Hessen) zwar die Möglichkeit vor, Herkunftssprachen in den Stundentafeln der Schulen zu integrieren und für alle interessierten Lernenden zu öffnen, doch Angebote für schulischen Fremdsprachenunterricht werden traditionell dominiert von wenigen europäischen Nationalsprachen, allen voran Englisch als globale Weltsprache. Die Sprachen der Migration gehören bislang nicht zum Kanon der Schulfremdsprachen. 2.2 Fremdsprachenunterricht, Mehrsprachigkeit und Inklusion Die gelebte Sprachenvielfalt in Deutschland bildet sich bislang also weder im schulischen Fremdsprachenlernen ab, noch wird sie dafür genutzt. Im europäischen Vergleich des Lower Secondary Level in Education (ISCED 2) zeigt sich, dass im deutschen Schulsystem nur etwa ein Drittel (34,5%) aller Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe 1 zwei oder mehrere Fremdsprachen lernen (E UROSTAT 2017). Im Verhältnis sind das 1,3 Fremdsprachen pro SchülerIn, wobei eine davon die Pflichtfremdsprache Englisch sein dürfte. Damit belegt Deutschland im europäischen Ranking des institutionellen Fremdsprachenlernens einen der untersten Plätze. Da das Lernen einer 2. oder 3. Fremdsprache i.d.R. mit der Schulform Gymnasium korreliert, kann ebenfalls davon ausgegangen werden, dass (vornehmlich mehrsprachige) Schülerpopulationen im Bildungsgang Haupt- und Realschule lediglich die Pflichtsprache Englisch erlernen. Gleichzeitig wird deutlich, dass Lernende mit Zuwanderungsgeschichte unter ihren Potenzialen bleiben, früher die Schule verlassen, weniger hohe Bildungsabschlüsse erreichen und häufiger das Studium abbrechen (vgl. E UROPÄISCHE K OMMISSION 2015: 9). Vielfach fehlt ihnen auf dem Weg zu höheren Bildungsabschlüssen auch der Nachweis über eine zweite Fremdsprache. Mit der Forderung nach einer inklusiven Schule tritt nun das brachliegende Potenzial der gelebten Mehrsprachigkeit noch deutlicher zutage und verweist auf die Notwendigkeit, Konzepte zu entwickeln, um die mitgebrachten Kompetenzen in den Familiensprachen - auch für höhere Bildungsabschlüsse - zu nutzen. Die E UROPÄISCHE K OMMISSION (2015: 14) fordert mittlerweile entsprechend, „(to) establish flexible policies towards foreign language learning which include the most frequently spoken mother tongues and their recognition in school qualifications and examinations of foreign language compe- Sprachmittlung als Unterrichtsprinzip im inklusiven Türkischunterricht 77 48 (2019) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 tences“. Studien legen zudem nahe, dass gerade inklusive Angebote hier nicht nur die Entwicklung individueller Mehrsprachigkeitsprofile fördern können, sondern als Begegnungsorte für Herkunftssprecher und Fremdsprachenlernende zugleich einen gesellschaftlichen Mehrwert haben. Als alternative 2. oder 3. Fremdsprachen oder in bilingualen Programmen umfassen diese Potenziale Aspekte der Chancengerechtigkeit und sozialen Kohäsion sowie interkulturelle Begegnungen und nachhaltiges (Fremd-)Sprachenlernen im Alltag (vgl. K ÜPPERS 2016; K ÜPPERS / S CHROEDER 2017). Herkunftssprachen lediglich punktuell im Deutsch-, Fremdsprachen- oder Sachunterricht im Rahmen mehrsprachigkeitssensibler Ansätze in den Unterricht einzubeziehen, stellt eine Engführung inklusiver Angebote dar, was der Zielsetzung von Inklusion nicht gerecht wird. 2.3 Inklusiver Türkischunterricht Als Fremdsprachenunterricht existiert der Türkischunterricht in Deutschland bislang nicht. Als Herkunftssprachenunterricht (HSU) hat er eine lange Tradition, scheint aber in seiner Existenz aufgrund seines massiven Imageproblems, der ethnisierenden Wirkung und der seit PISA 2000 abnehmenden Teilnehmerzahlen stark gefährdet (vgl. K ÜPPERS / S CHROEDER 2017; R EICH 2016). Kinder, die in Türkisch sprechenden Familien aufwachsen und in Köln, Berlin oder Frankfurt geboren sind, erleben nicht selten, dass sie durch die Teilnahme am HSU zu „Türken“ werden (vgl. dazu stereotype threat/ othering z.B. in W ILBERT 2010). Als HSU ist er zudem unattraktiv, weil er außerhalb der Stundentafel mit Freizeitangeboten konkurriert, in der Regel keine Noten erteilt werden und er nicht versetzungsrelevant ist. Häufig sind aus der Türkei entsandte Lehrkräfte auch weder auf ihre Aufgaben vorbereitet, noch kennen sie das deutsche Schulsystem oder die Lernbedürfnisse der Lernenden, die „Deutschlandtürkisch“, eine Variante der Standardsprache, sprechen und die - je weiter sie sich von der Migrationserfahrung der Eltern/ Großeltern entfernen - über weniger und veränderte Kompetenzen in der Familiensprache verfügen. Der Erwerb einer Familiensprache in der Diaspora (z.B. L1 Türkisch in Deutschland) kann dabei aufgrund eines nur eingeschränkten Zugangs zu communities of practice (W ENGER 2008) nicht gleichgesetzt werden mit dem Erwerb der Sprache der umgebenden Mehrheitsgesellschaft (L1 Türkisch in der Türkei). Im Kontext der Institution Schule ist die Unterscheidung zwischen Herkunftssprechern und Muttersprachlern für ein besseres Verständnis der großen Kompetenzunterschiede daher besonders wichtig (vgl. B REMER / M EHLHORN 2018; P OLINSKY 2015). 3. Schulentwicklung im Modus der Inklusion An der Deutschen Schule in Istanbul (DSI) wurde in den vergangenen Jahren ein inklusives Konzept für den Türkischunterricht (DSI-Konzept) entwickelt, das der KMK 2018 zur Beantragung des Faches Türkisch vorgelegt und von ihr genehmigt 78 Almut Küppers DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 48 (2019) • Heft 2 wurde. Damit wurde Türkisch zu einem gleichwertigen Fach im Fächerkanon der Schule; bis zu dem Zeitpunkt hatte dieses Fach an der Schule aus ideologischen Gründen nicht existiert. 1 Der Genehmigung des Antrages der Schule auf Einrichtung des Faches Türkisch als alternative 2. oder 3. Fremdsprache neben Französisch ging eine zweijährige Pilotphase voraus, gefolgt von einer einjährigen Phase der Konzept- und Lehrplanentwicklung. Parallel dazu wurde die Infrastruktur des Faches aufgebaut wie z.B. eine Materialsammlung, ein Handapparat, die Anschaffung von Lehrbüchern sowie von Kinder- und Jugendliteratur für Bücherkoffer. Das neue Schulmanagement hatte zu Beginn der Pilotphase einen Türkischlehrer mit Fakultas für das Fach eingestellt, gleichzeitig wurde eine intensive Phase der Schulentwicklung in Gang gesetzt. Zunächst wurde für die Jahrgänge 5 und 6 ein jahrgangsübergreifender Ansatz verfolgt und nach einer Diagnosephase wurden drei parallele Gruppen gebildet, eine davon für Fremdsprachenlerner und zwei Gruppen für unterschiedlich kompetente bilinguale Lernende. Die Türkischlehrkraft konnte allerdings nur in einer der Gruppen unterrichten, zwei fachfremde Kolleg(inn)en mit muttersprachlichen Kompetenzen im Türkischen unterrichteten die beiden anderen Gruppen. Schnell wurde deutlich, dass dieser klassische Ansatz der Gruppenbildung nach Kompetenzen wenig wirksam war und überdies bei allen Beteiligten zu großem Frust führte. Bei den drei Gruppen handelte es sich mitnichten um homogene Lerngruppen. Im Gegenteil, in allen Lerngruppen stellte die Bewältigung der hohen Differenzierungsanforderungen für die einzelne Lehrkraft die größte Herausforderung dar, so dass daraufhin Veränderungen der Unterrichtsorganisation beschlossen wurden. Die jahrgangsübergreifenden Gruppen wurden aufgelöst und Team-Teaching in heterogenen Jahrgangsgruppen eingeführt. Als Teampartner wurde eine Türkisch sprechende Englischlehrkraft gewonnen, ein Jahr später konnte noch eine zweite Lehrkraft mit Fakultas für Türkisch aus Deutschland eingestellt werden. Im eingereichten Konzept wurde die sprachliche Unterscheidung zwischen muttersprachlichen und fremdsprachlichen Lernenden fortan ganz aufgehoben, weil dies nicht den tatsächlichen Mehrsprachigkeitsprofilen der Lernenden entsprach (vgl. DSI 2018: 6). Einige Kinder, die in der Familie nur Deutsch sprechen, aber schon lange Zeit in der Türkei lebten, hatten über Privatunterricht, Freundschaften und Lernbegeisterung erstaunliche Türkischkompetenzen erworben. Bei ihnen passte das Etikett „Fremdsprachenlerner“ genauso wenig wie bei anderen Kindern das Label „Muttersprachler“, denn viele dieser Kinder waren Herkunftssprecher der 3. Generation und verfügten z.T. nur über sehr geringe Türkischkompetenzen. Die Unmöglichkeit 1 Das erwähnte Konzept ist das Ergebnis einer ungewöhnlichen Kooperation, die sich ab dem Jahr 2014 entwickelt hat. An diesem grassroots-Projekt waren einerseits die Schulleitung bzw. der Leiter der Sekundarstufe I beteiligt sowie die Kollegen der Fachschaft Türkisch und andererseits die Elternschaft. Ich selbst habe als Mutter jahrelang dem Elternbeirat vorgestanden und hatte dadurch Gelegenheit den Aufbau des Faches Türkisch zu begleiten. An der Entstehung des Konzeptes war ich ebenfalls beteiligt. Es erscheint in Kürze auf der Webseite von ProDaz / Mehrsprachigkeit der Universität Duisburg-Essen: https: / / www.uni-due.de/ prodaz/ veroeffentlichungen.php Sprachmittlung als Unterrichtsprinzip im inklusiven Türkischunterricht 79 48 (2019) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 der Einteilung der Lernenden nach Kompetenzen oder Herkunft machte schließlich die dynamische Vielfalt zum konzeptionellen Ausgangspunkt. 3.1 Konzeptionelle Eckpunkte Das Konzept für den Türkischunterricht an der DSI orientiert sich nun explizit an den mitgebrachten Vorkenntnissen und den daraus resultierenden Lernbedürfnissen der Lernenden. Ziel des Unterrichts ist es, 1) die (interkulturellen) kommunikativen Kompetenzen aller Schülerinnen und Schüler zu verbessern und 2) vorhandene Türkischkompetenzen als Bildungsressource zu nutzen und alltagssprachliche in bildungssprachliche Kompetenzen zu überführen: „Im Zentrum des Türkischunterrichts steht das Sprachkönnen, womit der Unterricht außerdem als Ort für Begegnung und interkulturelles Lernen genutzt wird. Türkisch wird zu einer Bildungssprache entwickelt und vorhandene Sprachkenntnisse ausgebaut bzw. Fremdsprachenkompetenzen zügig aufgebaut“ (ebd.). Das Fach Türkisch wurde während der Pilotphase in den Jahrgangsstufen 5, 6 und 7 unterrichtet und wird nun jährlich aufsteigend weitergeführt, bis es im Jahr 2022/ 23 vollständig in der Sekundarstufe I angeboten werden kann. In der Jahrgangsstufe 7 haben die Lernenden die Möglichkeit zwischen Türkisch oder Französisch als 2. Fremdsprache zu wählen. 2 Mit dieser Wahloption können bilinguale Schülerinnen und Schüler erstmalig ihre familiensprachlichen Kompetenzen als „kulturelles Kapital“ schulisch nutzen: „Das Fach Türkisch erweitert somit die Chancen etlicher Schülerinnen und Schüler auf ein Abitur durch ein erweitertes Angebot bei der Fremdsprachenwahl“ (DSI-Konzept 2018: 7). Das Fach Französisch hatte sich in der Vergangenheit für bilinguale Lernende im Bildungsgang Realschule häufig als unüberwindbare Hürde auf dem Weg zur Hochschulreife erwiesen. 3.2 Sprachmittlung als zentrales Element im offenen, dynamischen Lehrplan Das Schulcurriculum 3 für das Fach Türkisch berücksichtigt die große Heterogenität der Schülerinnen und Schüler in Bezug auf die mitgebrachten Türkischkompetenzen (Anfänger, Herkunftssprecher, Muttersprachler) und Lernvoraussetzungen (einsprachig, bilingual und plurilingual) und geht von steigenden Differenzierungsanforderungen in höheren Klassenstufen aus, denen methodisch-didaktisch sowie inhaltlich begegnet wird. Die zugrunde gelegte flexible Struktur des Schulcurriculums spiegelt die Orientierung an diesen Differenzierungsaufgaben wider, ist grundsätzlich offen (innerhalb der Lernniveaus sowie nach außen zu anderen Fächern hin) und ergänzt daher die curricularen Kernbereiche (sprachliche Kenntnisse, kommunikative Fertig- 2 Gleichzeitig ist der Stundenplan so organisiert, dass die jeweils andere Sprache parallel (freiwillig) auch als 3. Fremdsprache gewählt werden kann. 3 Der Lehrplan orientiert sich am Kernlehrplan Türkisch (NRW 2013), am hessischen Lehrplan Englisch (2010 für Sek I), den Bildungsstandards für die modernen Fremdsprachen (KMK 2003) sowie dem Ergänzungsband des GER Companion Volume with New Descriptors (2018). 80 Almut Küppers DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 48 (2019) • Heft 2 keiten, interkulturellen Kompetenzen, Inhalte sowie Methoden und Lerntechniken) um die notwendige Flexibilisierung in der Lernprogression und im Lehrerhandeln (vgl. DSI-Konzept 2018: 14). Dem hohen Differenzierungsaufwand wird mit den folgenden Prinzipien begegnet: Team-Teaching und Parallel-Teaching, kooperative und individuelle Lernformen (und perspektivisch Portfolioarbeit), Tandemlernen und Peer-Learning unter Einbeziehung außerschulischer Lernorte, Zusatzmaterialien und Elternarbeit. Hervorgehoben wird im Lehrplan explizit die Bedeutung der Sprachmittlung als Antwort auf den Umgang mit großer Heterogenität. Die Sprachmittlung soll wesentlich beitragen „zum Aufbau überfachlicher Kompetenzen (personale Kompetenzen, Sozialkompetenzen, interkulturelle Kompetenzen) […], denen im Entwicklungsprozess der Lernenden eine besondere Bedeutung beigemessen wird“ (ebd.). Damit liegt dem Lehrplan ein Menschenbild zugrunde, das in Übereinstimmung mit dem Companion Volume den Lerner als social agent definiert: „[…] acting in the social world and exerting agency in the language process. This implies a real paradigm shift in both course planning and teaching, promoting learner engagement and autonomy“ (C OUNCIL OF E UROPE 2018: 26). 3.3 Sprachmittlung als Haltung im Fremdsprachenunterricht Dem Gleichbehandlungsgrundsatz der KMK folgend, muss es für Kinder, die in der Jahrgangsstufe 7 ohne Vorkenntnisse mit dem Türkischunterricht an der DSI beginnen, möglich sein, bis zum Ende der Jahrgangsstufe 10 das Kompetenzniveau B1 zu erreichen. Rückmeldungen auf erste Entwürfe des Konzeptes / Lehrplans vom zuständigen Referenten des BLAschA-Ausschusses 4 der KMK wurden in der Fachschaft intensiv und kontrovers diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass ein konventioneller Unterricht, der auf lediglich einer Unterrichtsebene im Klassenverband stattfindet, entsprechende Differenzierungsaufgaben nicht leisten kann. Die Erfahrungen aus der Pilotphase hatten ebenfalls gezeigt, dass ein vornehmlich an grammatischer Progression orientierter Unterricht keine integrative Kraft in heterogenen Lerngruppen entfaltet. Mit dem Bekenntnis zur Vielfalt als Ausgangspunkt wurden daher der Team- Teaching- und der Peer-Learning-Ansatz im Konzept festgeschrieben sowie Differenzierung und Sprachmittlung zum Unterrichtsprinzip erklärt. In den methodischdidaktischen Erläuterungen wird festgehalten, dass der Türkischunterricht grundsätzlich auf drei Lernebenen stattfindet: (1) individuelles Lernen und (2) kooperatives Lernen; nicht die Grammatik, sondern das inhaltlich-thematische Lernen (3) bildet die Klammer, die die beiden anderen Ebenen miteinander verbindet. Als Antwort auf den Mangel an passenden Lehrwerken wurde die Arbeit ohne Lehrwerke notgedrungen zum Ansatz erklärt: Es gibt kein Lehrwerk als Leitmedium, stattdessen werden die Lernenden auf der Ebene des individuellen Lernens eingeführt in das selbständige Arbeiten mit einer Grammatik und vertraut gemacht mit online-Werkzeugen wie online-Wörterbücher, Vokabellern-Applikationen und Shareware-Programmen wie 4 Dies ist der Bund-Länder-Ausschuss für schulische Arbeit im Ausland. Sprachmittlung als Unterrichtsprinzip im inklusiven Türkischunterricht 81 48 (2019) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 Duolingo oder Babbel, so dass das Lernen außerhalb des Unterrichts eigenständig fortgeführt werden kann. Für das individuelle Lernen ist im Stundenplan pro Woche eine festgelegte Unterrichtsstunde vorgesehen. Um bilinguale und fremdsprachliche Lernende mit guten oder sehr guten Kompetenzen allmählich an bildungssprachliche Kompetenzen heranzuführen, wurde entschieden, sie an individuellen Lese- und Schreibaufgaben arbeiten zu lassen oder ihnen spezielle Grammatikübungen zur Verfügung zu stellen. Ein Bücherkoffer sorgt für thematisch und sprachlich passenden Input. Eigene Materialien können jederzeit mitgebracht werden. Die Gruppe der Anfänger erhält zu Beginn des Schuljahres zunächst für mehrere Wochen außerhalb des Klassenverbandes gesonderten Unterricht von einer der Team-Lehrkräfte, um die Grundlagen der türkischen Sprache zu erarbeiten, anschließend nehmen diese Lernenden dann am Türkischunterricht im Klassenverband teil. Zusätzlich steht an wöchentlich einem Nachmittag ein freiwilliges Angebot zum spielerischen Einüben von Alltagsdialogen zur Verfügung. 3.3.1 Sprachmittlung zwischen individuellem und kooperativem Lernen Nach einer ersten diagnostischen Beobachtungsphase werden die Lernenden nun zu Beginn eines Schuljahres in feste Tandems eingeteilt, wobei darauf geachtet wird, dass die Paare in den beiden Partnersprachen Deutsch und Türkisch möglichst deutlich unterschiedlich hohe Kompetenzen besitzen. Individuelles Lernen findet im Klassenverband in einem grundsätzlich kooperativen Arbeitsklima statt, d.h. auch in Selbstlernphasen ist der Tandempartner stets zu Hilfestellungen bereit. Das Prinzip des Tandemlernens „Wir unterstützen und helfen uns gegenseitig“ wird zu Schuljahresbeginn in einer speziellen Unterrichtseinheit sprachlich und inhaltlich intensiv eingeübt, damit sich immer wieder darauf bezogen werden kann. Dieser Form des Peer- Learnings liegt ein Umdenken zugrunde: Von Unterricht als Wettbewerb („If your grades are bad, I can shine more easily“) zu Kooperation („Less me and more we and we will be better together“). Diese Haltung korrespondiert mit dem sehr viel weiteren Mediationsbegriff, wie er nun im neuen CV vorliegt: In mediation, the user/ learner acts as a social agent who creates bridges and helps to construct or convey meaning, sometimes within the same language, sometimes from one language to another (cross-linguistic mediation). The focus is on the role of language in processes like creating the space and conditions for communication and/ or learning, collaborating to construct new meaning, encouraging others to construct or understand new meaning, and passing on new information in an appropriate form. The context can be social, pedagogic, cultural, linguistic or professional (C OUNCIL OF E UROPE 2018: 103). 3.3.2 Sprachmittlung als Unterrichtsprinzip in heterogenen Gruppen Als Brückenbauer sollen die Schüler(innen) lernen Verantwortung für den Lernprozess des Tandempartners zu übernehmen im Sinne eines „Ich lerne selbst Türkisch, aber ich bin auch verantwortlich dafür, dass dein Türkisch besser wird“. Der Hinweis im CV, dass Sprachmittlung nicht nur zwischen Sprechern unterschiedlicher Sprachen 82 Almut Küppers DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 48 (2019) • Heft 2 notwendig sein kann, sondern auch innerhalb einer Sprache verständnisförderlich ist, trifft sich mit den Erfahrungen im Türkischunterricht an der DSI, wo die Spreizung der Kompetenzen besonders groß ist. Die Lernenden werden von Anfang an dafür sensibilisiert zu erkennen, wann sie als Mediatoren ihren Tandempartnern oder anderen Mitschülern helfen können - und zwar jenseits der Kategorien Fremdsprachenlerner / Muttersprachler und explizit gerade zwischen Muttersprachlern und Herkunftssprechern. Auf dem Arbeitsblatt „Birbirimizi destekliyoruz“ („Wir unterstützen uns gegenseitig“) wird zunächst auf einen zentralen Aspekt des gemeinsamen Lernens und Arbeitens in heterogenen Gruppen hingewiesen, nämlich die Einstellung zu Fehlern. Ein positiver Umgang mit Fehlern ist unumgänglich, nicht nur für die Entwicklung einer wertschätzenden Lernatmosphäre, sondern gerade auch, um die Vielfalt der Lernenden als „Normalzustand“ anzuerkennen und sie tatsächlich produktiv machen zu können. Die Prinzipien des Helfens sind dafür zentral, weswegen sie als sprachliche Redemittel in beiden Sprachen zur Verfügung gestellt werden: Das ist noch wichtig beim Helfen: Wir müssen nicht wörtlich übersetzen, wir übersetzen den Sinn einer Aussage. Wenn wir mit Freunden/ Leuten reden, die Türkisch lernen wollen, dann sprechen wir deutlicher, evtl. langsamer, und vielleicht lauter und mit weniger Slang. Wir loben sie und zeigen, dass wir sie verstanden haben. Wir korrigieren sie nur, wenn sie es wollen, und fragen, ob wir evtl. helfen sollen. 5 Für die Prinzipien des wertschätzenden Helfens werden sowohl für die Gruppe der Helfer als auch für die Hilfesuchenden Redemittel erarbeitet und eingeübt. „Ich bin fertig, wem kann ich helfen? “ oder „Soll ich dich unterstützen? “, „Hast du das verstanden, oder soll ich das mal übersetzen? “ „Möchtest du, dass ich dich korrigiere? “ sind Phrasen der Helfer. Die Hilfesuchenden lernen zudem Ausdrücke, die Überforderung signalisieren, „Of, amma da zor! “ („Gnade, ist das schwer! “), dass sie Hilfe brauchen, aber andererseits nicht stören wollen (Bist du schon fertig? Kann ich dich mal etwas fragen? ). Um Hilfe bitten ist in einer an Höchstleistungen und Autonomie orientierten Wissensgesellschaft dabei nicht einfach, wird nicht selten als Schwäche ausgelegt und setzt Öffnung und das Bloßlegen von Nichtverstehen voraus, so dass die Interaktionen des Helfens für viele Lernende ungewohnt sind und sprachlich (z.B. über Rollenspiele) eingeübt werden. In dieser Phase werden ebenfalls die grundlegenden Sprachmittlungs-Strategien (Texte vereinfachen, zusammenfassen, Sprache anpassen, übersetzen, erklären, an Vorwissen anknüpfen) besprochen und geübt. 3.3.1 Sprachmittlung und Peer-Learning in individualsierten Lernphasen Das Tandemkonzept ist eingebunden in eine scaffolding-Kultur, in welcher die Lernenden eine Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess sowie für den anderer entwickeln sollen. Im Sinne von Schmenk (2018: 15) erhält der zugrunde gelegte Autonomiebegriff damit explizit eine soziale Dimension und steht in einem natürlichen 5 Diese Redemittel sind einer Sammlung entnommen, die allen Lernenden in kopierter Form vorliegt und als Poster/ Erinnerungshilfen an der Wand hängen. Sprachmittlung als Unterrichtsprinzip im inklusiven Türkischunterricht 83 48 (2019) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 Spannungsverhältnis von Selbst-, Mit- und Fremdbestimmung. Im realen Unterrichtsgeschehen entstehen Sprachmittlungssituationen im Kontext von mediating communication und mediating texts, konkret sind dies häufig mündliche Anweisungen und schriftliche Aufgabenstellungen des Lehrers, die für die Anfänger(innen) vom Türkischen ins Deutsche übertragen werden müssen. Das geschieht entweder in Plenumsrunden oder aber auf der Tandem-Ebene. Spontan entstehen Sprachmittlungsaufgaben in kommunikativen Phasen, in denen zügig eine Anweisung oder ein Redebeitrag sinngemäß übersetzt wird. In den Selbstlern-Stunden stehen die Tandempartner auch für Wortschatz- oder Grammatikfragen zur Verfügung. Vokabeln werden ebenfalls wechselseitig im Tandem abgefragt. Wichtig ist hier, dass die Phasen des selbstgesteuerten Arbeitens eingebettet sind in eine kooperative Lernatmosphäre des „Mit- und voneinander Lernens“, in der Sprachmittlungsaufgaben jederzeit entstehen können und spontan bewältigt werden müssen. 3.3.4 Sprachmittlung in kooperativen Phasen und kleineren Projekten Der Peer-Learning- und Mediations-Ansatz hebt die Einteilung in individuelle und kooperative Lernphasen im Grunde auf. Denn in den Einzelarbeitsphasen wird ebenso kooperiert wie in den kooperativen Phasen Einzelarbeit möglich ist. Im Lehrplan ist festgelegt, dass jede/ r Lernende pro Halbjahr an einem Kooperationsprojekt (Recherchen, Umfragen, kreative Aufgaben, Drama) teilnimmt und diese Gruppenleistung zu einem gewissen Teil in die Benotung einfließt. Im Rahmen eines solchen Projektes wird z.B. in Gruppen an Reportagen über die (aussterbenden) Berufe Istanbuls gearbeitet. Pro Gruppe, die aus zwei bis drei Tandemteams besteht, wird über einen Beruf gearbeitet, etwa die Simitverkäufer, Teeverkäufer, Schneider oder Schuhputzer. Am Ende des Projektes soll jeweils einer der Berufe im Rahmen einer Konferenz (Präsentation durch Filmclips, Powerpoint, Poster o.ä.) vorgestellt werden. Interviews können die Gruppen auch außerhalb der Schule führen, Recherchen können in Einzelarbeit erledigt werden. Die Lernenden auf Anfängerniveau sollen explizit in die Gruppenarbeiten eingebunden werden, und zwar nicht nur inhaltlich, organisatorisch und gestalterisch, sondern explizit auch sprachlich. In der Forschungsliteratur zum Peer- Learning wird darauf hingewiesen, dass große Leistungsunterschiede besonders produktiv sein können. So argumentiert T OPPING (2015: 7): „The greater the differential in ability or experience between helper und helped, the less cognitive conflict and the more scaffolding might be expected“. Für die helfenden Tandempartner bedeutet das, dass sie auf mögliche Sprachmittlungsaufgaben vorbereitet sein müssen. Nicht nur in der Interviewsituation selbst, wo die Antworten evtl. nur bruchstückhaft oder gar nicht zu verstehen sind, sondern insbesondere bei der Auswertung und Verarbeitung der aufgenommenen Gespräche können die Helfer immer wieder als Brückenbauer zum besseren Verständnis wirken. Jenseits der Sprachmittlung geht es in diesen kollaborativen Gruppenprozessen aber immer auch darum, Verständnis für die Differenzen in der Gruppe zu entwickeln und Arbeitsprozesse erfolgreich anzuleiten (C OUNCIL OF E UROPE 2018: 104). 84 Almut Küppers DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 48 (2019) • Heft 2 3.3.5 Sprachmittlung in schwierigen Kommunikationssituationen Ein abschließendes Beispiel soll illustrieren, welches Potenzial dem Mediations- Ansatz für das trans-/ interkulturelle Lernen innewohnt und zwar im Hinblick auf „facilitating communication in delicate situations and disagreement“ (ebd.). Als Grundlage diente dazu ein Alltagskonflikt, der von Lernenden mit guten Türkischkompetenzen zunächst außerhalb des Klassenverbandes eingeübt und dann der gesamten Klasse als Rollenspiel vorgespielt wurde. Inhaltlich wurde ein alltagspraktisches Phänomen des Winters in den Blick genommen: das Naseputzen. Es unterliegt im deutschen und türkischen Kontext deutlich divergierenden Kulturstandards und bietet aufgrund der lebensweltlichen Erfahrungen, die alle Lernenden mitbringen, viele Anknüpfungspunkte zu deren Bewusstmachung. Die Konfliktsituation, die entwickelt wurde, ist imaginiert, aber durchaus realistisch: Der Manager eines großen deutschen Unternehmens kommt zu einer wichtigen Verhandlung nach Istanbul, ist aber sehr erkältet. Ohne die Kenntnis darüber, dass das Säubern der Nase in der Türkei möglichst nicht im Beisein von Dritten stattfindet, schnäuzt er sich während seines Vortrages für alle Anwesenden gut sicht- und hörbar. In der Inszenierung sollen alle Rollen mit ausdrucksstarker Körpersprache dargestellt werden, denn die beteiligten türkischen Verhandlungspartner sollen versuchen, ihrem Entsetzen und ihrem Ekel auch körpersprachlich Ausdruck zu verleihen. Die Szene wurde der Klasse vorgespielt und anschließend „eingefroren“, denn zunächst sollte sich jede/ r dazu selbst Gedanken machen, diese notieren und anschließend mit dem Tandempartner vergleichen. Danach wurden die Ansichten im Plenum gesammelt und besprochen, wobei hier für die Anfänger(innen) nicht nur sprachliche, sondern auch kulturelle Mediation nötig wurde. Lernenden, die gerade erst nach Istanbul gezogen waren und/ oder die zuhause nur Deutsch sprachen, war an der Szene nichts Problematisches aufgefallen, während für andere sofort klar war, dass hier gegen eine Alltagskonvention verstoßen worden war. Die unterschiedlichen Perspektiven auf diese Situation wurden besprochen und in einem nächsten Schritt Gruppen aus Tandemteams gebildet, um (1) den gleichen Konfliktes in anderen Dimensionen dramatisch zu ergründen (im Theater, in der Metro, beim romantischen Dinner), um (2) alternative Handlungsoptionen zu entwickeln und darzustellen und um (3) eine zusätzliche Person in dem Rollenspiel einzubauen, die dem Nase putzenden Gast in angemessener Form erklärt, was an seinem Verhalten problematisch sein kann. Zur Bewältigung dieser kulturellen Mediations- Aufgabe können die Lernenden nicht nur ihr lebensweltliches Wissen nutzen, das kulturell geprägt ist und dadurch erfahrbar wird. Weil sich soziale und kulturelle Determiniertheit gerade in vermeintlich unbedeutenden Alltagshandlungen zeigen kann, eignen sich (imaginierte) Mediationsaufgaben, die daran anknüpfen, besonders gut, um über gelebte Unterschiede zu reflektieren, Perspektivenvielfalt zu thematisieren und interkulturelles Voneinanderlernen zu ermöglichen. Sprachmittlung als Unterrichtsprinzip im inklusiven Türkischunterricht 85 48 (2019) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 4. Herausforderungen und Ausblick Team-Teaching, Peer-Learning und die Arbeit im Tandem sind Instrumente der Differenzierung, die im Paradigma der Inklusion an Bedeutung gewinnen. Die positiven Effekte des Peer-Learnings sind empirisch grundsätzlich nachweisbar - und zwar sowohl für die helfenden Partner als auch für die Lerner, denen geholfen wird - nicht nur im Bereich des akademischen Fachlernens, sondern auch für das soziale, affektive und kommunikative Lernen sowie in inklusiven Settings (vgl. T OPPING 2015: 13). Besonders wirkungsvoll sind Peer-Learning -Kontexte dann, wenn Helfer sich ebenfalls als Hilfesuchende erleben können (ebd.). Für den Kontext der DSI würde es sich anbieten, feste Tandempaare für die Fächer Türkisch und Deutsch zu bilden, da Kinder mit besonders guten Türkischkompetenzen oft diejenigen sind, die im Deutschunterricht Unterstützung brauchen. Fächerübergreifend organisiert kann darüber hinaus die Wahrnehmung der Lernenden untereinander positiv beeinflusst und das schulische Machtgefälle aufgebrochen werden, in dem Einsprachigkeit häufig als Überlegenheit erlebt wird (vgl. K ÜPPERS 2016). Auch wenn der Kontext einer Auslandsschule ein anderer ist, die Bedingungen des Türkischunterrichtes an der DSI sind mit denen im HSU in Deutschland durchaus vergleichbar und zwar besonders im Hinblick auf die hohen Kompetenzunterschiede und Differenzierungsanforderungen. Insofern scheinen die Erfahrungen mit diesem inklusiven Ansatz übertragbar auf urbane Klassenzimmer, in denen (Sprach-)Unterricht ebenfalls in sehr heterogenen Lerngruppen stattfindet. Entscheidend für den Erfolg sind die organisatorischen Bedingungen, unter denen ein gemeinsames Voneinanderlernen stattfindet (T OPPING 2015: 4). Die Sprachmittlung wiederum in ihrer weiten Auslegung als social agency wird vermutlich dann in (mehrsprachigen, reziproken) Bildungsprozessen eine besondere Wirkung entfalten können, wenn sie als Unterrichtsprinzip eingesetzt wird und alle Beteiligten (Lernenden und Lehrkräften) sie als Lernhaltung anerkennen. Die Erfahrungen aus Istanbul verweisen damit auch auf das große Bildungspotenzial der Sprachen der Migration (gerade an Gesamt-, Haupt- und Realschulen) als anerkannte zweite und dritte Fremdsprachen - und offen für alle Lernenden. Beim Umbau des deutschen Schulsystems von einem traditionell selektiven zu einem inklusiven System müsste den Sprachen der Migration konsequenterweise ein anderer Stellenwert im Curriculum zukommen, wie Reich konstatiert: „Grundsätzlich sollten als Fremdsprachen jene Sprachen angeboten werden, die als Sprache von vielen gesprochen werden. In Deutschland müsste dies konkret zu einer deutlichen Aufwertung z.B. des Türkischen führen“ (R EICH 2012: 110). Organisiert als inklusive Angebote und umgesetzt mit Peer-Learning-Ansätzen könnten Herkunftssprecher nicht nur ihre Familiensprachen (zu Bildungssprachen) entwickeln, sondern - ihre alltagspraktischen Sprachmittlungserfahrungen nutzend - auch als Brückenbauer fungieren und Türen öffnen zu communities of practice in Deutschland, in denen nicht-europäische Sprachen äußerst vitale Kommunikationsmittel und damit Lernquellen darstellen. Für Fremdsprachenlernende eröffnen sich dadurch vielfältige lokale Anwendungskontexte und entsprechend nachhaltige Lernerfahrungen. Bildungspolitisch wäre die Auf- 86 Almut Küppers DOI 10.2357/ FLuL-2019-0021 48 (2019) • Heft 2 wertung der großen Migrationssprachen wie Türkisch, Arabisch, Persisch dringend notwendig; positive Auswirkungen auf interkulturelle Verständigung, soziale Kohäsion und höhere Chancengerechtigkeit wären dabei wünschenswerte Nebenwirkungen. Literatur B AUMAN , Zygmunt (2000): Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press. B REHMER , Bernhard / M EHLHORN , Grit (2018): Herkunftssprachen. Tübingen: Narr Francke Attempto. C OUNCIL OF E UROPE (2018): Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment. Companion Volume with New Descriptors. https: / / rm.coe.int/ cefrcompanion-volume-with-new-descriptors-2018/ 1680787989 (20.10.2018). 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