eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 48/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2019-0034
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/81
2019
482 Gnutzmann Küster Schramm

Viviane LOHE: Die Entwicklung von Language Awareness bei Grundschulkindern durch mehr-sprachige digitale Bilderbücher. Eine quasi-experimentelle Untersuchung zum Einsatz von MuViT in mehrsprachigen Lernumgebungen. Tübingen: Narr Francke Attempto 2018, 320 Seiten [78,00 €]

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Annika Kolb
flul4820145
Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 145 48 (2019) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0034 Verstehens- und Aushandlungsprozessen, die zur Herausbildung einer Global Citizenship beitragen. Es ließen sich aus dem Projekt und den gewonnenen Daten eine Reihe von Fragestellungen generieren, die Anlass zu weiteren empirischen Untersuchungen geben könnten. So könnten beispielsweise unterschiedliche Aufgabenstellungen im Hinblick auf ihr reflexionsförderliches Potential miteinander verglichen werden. Oder es könnte die durch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten angestoßene Veränderung kultur- und sprachbezogener Deutungsmuster über einen längeren Zeitraum untersucht werden. Beate B AUMANN s Studie ist in jedem Fall ein wichtiger Beitrag zur empirischen Erforschung von sprach- und kulturbezogenen Lernprozessen mit Literatur im Fremd- und Zweitsprachenunterricht. Dass die Autorin im Titel ihrer Arbeit und in der Ausrichtung des Projekts die Reflexivität in den Mittelpunkt rückt, ist gerade in der fortwährenden Debatte über den Begriff des interkulturellen Lernens ein wichtiges Signal. Auch deshalb sind dieser fundierten, anregenden und materialreichen empirischen Untersuchung, die auf einer Zusammenführung eines literarizitätsorientierten und eines kulturreflexiven Ansatzes beruht, viele Leserinnen und Leser zu wünschen. Wien H ANNES S CHWEIGER Viviane L OHE : Die Entwicklung von Language Awareness bei Grundschulkindern durch mehrsprachige digitale Bilderbücher. Eine quasi-experimentelle Untersuchung zum Einsatz von MuViT in mehrsprachigen Lernumgebungen. Tübingen: Narr Francke Attempto 2018, 320 Seiten [78,00 €] Obwohl mittlerweile ein großer Teil der Kinder im Grundschulalter mit mehreren Sprachen aufwächst, wird die multilinguale Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler im Fremdsprachenunterricht noch wenig berücksichtigt. Neuere Ansätze der Mehrsprachigkeitsdidaktik versuchen daher, alle sprachlichen Ressourcen der Kinder für den Unterricht nutzbar zu machen und versprechen sich davon auch eine Förderung von Language Awareness (LA). Für die Primarstufe wurde dazu auf europäischer Ebene das MuViT (Multiliteracy Virtual) Projekt entwickelt. Digitale Bilderbücher in fünf Sprachen, sogenannte Multilingual Virtual Talking Books sollen sowohl das Wissen über Sprachen als auch eine positive Einstellung zu Mehrsprachigkeit fördern. Die Geschichten werden am Bildschirm gelesen, dabei wird der Leseprozess durch Illustrationen sowie eine Vorlesefunktion mit gleichzeitigem Text-Highlighting unterstützt. Es ist jederzeit möglich, die Sprache zu wechseln. Als weitere Hilfen dienen eine dem Lesen vorangestellte Wortschatzeinführung sowie post-reading activities, die das Textverständnis, Sprachbewusstheit, sprachenübergreifende Vergleiche sowie Sprachreflexion fördern sollen. Mit Hilfe eines Authoring Tools können die Kinder außerdem selbst Geschichten entwerfen und in einer Web Community publizieren. Viviane L OHE untersucht in ihrer Studie, inwieweit die Arbeit mit den im Rahmen des Projekts entwickelten digitalen Bilderbüchern zur Förderung von LA bei Grundschulkindern beiträgt. Ihre Ergebnisse beruhen auf einer Interventionsstudie, die sie in einer Frankfurter Grundschule im zweiten Halbjahr eines vierten Schuljahres durchführte. Im theoretischen Teil der Arbeit wird die angestrebte Kompetenz LA zunächst konzeptionell aufgearbeitet. Dazu stellt die Verfasserin verschiedene mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze vor, in denen LA von Bedeutung ist. Sie präsentiert unterschiedliche Begriffsbestimmungen von LA und kommt schließlich auf dieser Basis zu einer eigenen Definition, die sie der Forschungsarbeit zugrunde legt: 146 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2019-0034 48 (2019) • Heft 2 Language Awareness wird daher definiert als die Fähigkeit Sprache und Sprachen als Konstrukt aus einer Metaperspektive kognitiv betrachten zu können, Regelmäßigkeiten und Unterschiede wahrnehmen zu können und in der Lage zu sein, diese in Rückgriff bzw. im Vergleich und unter möglicher Verwendung aller vorhandenen Sprachen verbalisieren zu können. Zudem bezieht sich Language Awareness auch auf affektive Faktoren, die Neugier, Interesse und Toleranz gegenüber Sprachen umfassen (S. 34). Mit Blick auf den kognitiven Entwicklungsstand der Zielgruppe Grundschulkinder wird überzeugend dargestellt, warum die Konzentration auf die affektive und die kognitive Dimension sinnvoll ist und die kulturell-politische Dimension von LA nur in Ansätzen berücksichtigt werden kann. Schließlich wird die mehrsprachige Lebenswelt heutiger Grundschulkinder als Zielgruppe näher bestimmt. Wichtig ist, dass LA nicht nur auf der Ebene der Zielsprache angestrebt wird, sondern explizit auch die Herkunftssprachen der Kinder einbezogen werden, so dass „Language Awareness im besten Falle in allen in der Klasse vorhandenen Sprachen und gleichzeitig ein sehr viel übergreifenderes metalinguistisches Bewusstsein“ (S. 39) entwickelt wird. Die recht ausführliche Betrachtung der Curricula der einzelnen Bundesländer zeigt, dass LA oder deutsche Entsprechungen wie Sprach(en)bewusstheit oder Sprachbewusstsein in allen Dokumenten verankert sind, was einen gewissen Gegensatz zur unterrichtlichen Realität darstellt, in der die mehrsprachige Lebenswelt der Kinder oftmals keine große Rolle spielt. Dies zeigt sich auch an der überschaubaren Anzahl an methodischen Anregungen in Fachzeitschriften und Lehrmaterialien sowie den spärlichen Forschungsergebnissen in diesem Bereich. Die Analyse der MuViT Software konzentriert sich auf das Potential der digitalen Bilderbücher für die Entwicklung von multiliteracies sowie für den produktiven Einsatz mehrsprachiger Kommunikationsstrategien, beispielsweise des code-switching. Bei der Darstellung zu bisherigen Forschungsarbeiten zu MuViT ist vor allem interessant, dass auch Kinder mit einer gemeinsamen Erstsprache (z.B. Türkisch) vor allem auf die Schulsprache Deutsch als Referenzsprache zum Erschließen des Textes zurückgreifen. Hier werden die Möglichkeiten der Software nicht vollständig ausgeschöpft. Der empirische Teil der Studie untersucht die Frage, ob sich die Software dazu eignet, LA auf affektiver und kognitiver Ebene bei Kindern am Ende der Primarstufe zu fördern. Der Untersuchung liegt ein Mixed-Method-Design zugrunde. Im Zentrum steht ein Kontrollgruppenexperiment, bei dem die Kinder vor und nach der Arbeit mit der Software im Hinblick auf ihre LA getestet wurden. Dazu wurde zum einen ein Fragebogen eingesetzt, der verschiedene Dimensionen der affektiven Ebene von LA erhebt. Zum anderen überprüft ein Test mit Aufgaben zur Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexikologie und Orthographie sowie zu metalinguistischen Fähigkeiten die kognitive Ebene von LA. Ergänzt werden diese Daten durch Beobachtungen der Kinder während der Arbeit mit der Software sowie durch Gruppeninterviews mit den Schülerinnen und Schülern. Von den teilnehmenden Kindern sind fast drei Viertel zwei- oder mehrsprachig. Die Studie kommt zu folgenden Ergebnissen: Im affektiven Bereich führt die Beschäftigung mit der Software zu einer ergiebigen Auseinandersetzung mit der Thematik. Während die quantitativen Daten nur vereinzelt Zuwächse im affektiven Bereich zeigen, wird dies vor allem in den qualitativen Daten deutlich. Die Kinder werden zu Gesprächen über verschiedene Sprachen angeregt, in denen sie ihre Einstellungen und Assoziationen austauschen. Dabei zeigt sich ein Bewusstsein für individuelle Bewertungen, beispielsweise des Klangs und der Schwierigkeit verschiedener Sprachen. Deutlich wird auch ein Perspektivwechsel, wenn eine Schülerin beispielsweise auf die Äußerung eines Mitschülers „Das ist lustig und so schnell“ entgegnet „Das ist nicht schnell, für die Türken hört sich Deutsch auch so an“ (S. 230). Die Kinder zeigen Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 147 48 (2019) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2019-0034 außerdem ein Bewusstsein für Mehrsprachigkeit und reflektieren die Rolle der englischen Sprache in der Welt. Auf der kognitiven Ebene von LA zeigen sich maßgebliche Zuwächse im Test, vor allem in den Bereichen Phonologie und Syntax. Die qualitativen Daten machen deutlich, dass die Kinder neue Wörter lernen und von sich aus Sprachvergleiche anstellen, beispielsweise vergleichen sie Aussprachephänomene oder die Anzahl der Wörter in einem Satz. In diesem Bereich zeigt sich auch ein leichter Vorteil der mehrsprachigen Kinder. Diese waren in der Lage, Beispiele für lexikalische, phonologische oder syntaktische Ähnlichkeiten oder Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachen zu benennen. In den übrigen Daten lassen sich allerdings keine Unterschiede zwischen ein- und mehrsprachig aufwachsenden Kindern feststellen, was die Autorin auf die geringe Fallzahl zurückführt. Ein besonders interessantes Ergebnis der Untersuchung ist, dass sich das Potential der Software, LA zu fördern, in besonderem Maße in der Interaktion mit anderen (entweder mit Mitschüler/ innen oder der Forscherin in der Interviewsituation) realisiert. Die Autorin schließt daraus: Es müssen Gelegenheiten geschaffen werden, Language Awareness im Englischunterricht unter Bezugnahme auf Vorwissen und Einstellungen entwickeln zu können - dies kann dann autonom und unangeleitet geschehen, führt allerdings durch zusätzliche Akteure (Material, Schülerinnen und Schüler, Lehrperson) im Bereich der Affordanzen zu noch tiefergehenden Erkenntnissen und Entwicklungen der Kinder (S. 282). Eine besondere Rolle kommt dabei auch den peers zu, die als „Katalysatoren“ (S. 283) wirken und Denkprozesse in Gang setzen können. Die Untersuchung zeigt demnach, dass LA auch schon bei Grundschulkindern entwickelt werden kann. Dabei wird deutlich, dass zum einen die Lehrkräfte, die die Verwendung aller Sprachen im Klassenzimmer aktiv unterstützen und zur Reflexion über Sprache und Sprachgebrauch anregen, eine wichtige Rolle spielen. Zum anderen gibt die Interaktion der Kinder untereinander maßgebliche Impulse zur Förderung von Sprachbewusstheit, die sich nicht nur auf die Zielsprache, sondern auf alle im Klassenzimmer vorhandenen Sprachen bezieht. Freiburg A NNIKA K OLB