eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 49/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2020-0003
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2020
491 Gnutzmann Küster Schramm

Mehrsprachige Schreibende - mehrsprachiges Schreiben?

61
2020
Marie-Christin Reichert
Nicole Marx
flul4910036
DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 49 (2020) • Heft 1 M ARIE -C HRISTIN R EICHERT , N ICOLE M ARX * Mehrsprachige Schreibende - mehrsprachiges Schreiben? Abstract. Research on multilingual writing faces three main difficulties. First, multilingual writers communicate in at least two languages, including the language of schooling - which may or may not be the L1 -, as well as at least one other foreign, second, or heritage language. The development of writing skills in these contexts takes place under widely different conditions, but research is commonly reported as pertaining to “the” L1 or “the” L2. Second, similarities and differences in writing in two languages are difficult to ascertain, as the vast majority of L2 writing research either neglects the L1 completely, or compares L2 writers to different L1 writers (thus invoking between-group comparisons to draw within-group conclusions). Finally, transfer of writing skills between languages is often assumed, even though actual research on transfer is scarce. We evaluate studies on bilingual writing that question how writing in different languages is related, and consider implications for researching and teaching writing in multilingual contexts. 1. Einleitung Aus Gründen soziopolitischer Gegebenheiten, kombiniert mit überregionalen Bildungsstudien, ist in den letzten Jahren verstärkt öffentliches und somit auch akademisches Interesse für Lernende zu verzeichnen, die in anderen Sprachen als der jeweiligen Familiensprache agieren. Dies betrifft auch die Schreibforschung und die Schreibdidaktik. Im Zentrum der Schreibforschung in Bildungskontexten stehen daher immer öfter Personen, die in mindestens zwei Sprachen schriftlich kommunizieren können bzw. lernen zu kommunizieren. Diese als „mehrsprachige Schreibende“ bezeichneten Personen stammen aus unterschiedlichsten Spracherwerbskontexten. Obwohl alle in der Sprache der schulischen Bildung schreiben, ist diese nicht immer (1) die in der Familie erworbene Erstbzw. Hauptkommunikationssprache, sondern kann auch (2) eine Zweitsprache dar- * Korrespondenzadressen: Marie-Christin R EICHERT , Universität zu Köln, Philosophische Fakultät: Institut für deutsche Sprache und Literatur II, Albertus-Magnus-Platz 1, 50923 K ÖLN E-Mail: m.reichert@uni-koeln.de Arbeitsbereiche: Bilingualität, Schreibprozesse und (mehrsprachige) Schreibdidaktik, Deutsch für neu zugewanderte Schüler(innen) Prof. Dr. Nicole M ARX , Universität zu Köln, Philosophische Fakultät: Institut für deutsche Sprache und Literatur II, Albertus-Magnus-Platz 1, 50923 K ÖLN E-Mail: n.marx@uni-koeln.de Arbeitsbereiche: Zweit-, Fremd- und Tertiärsprachenlernen, Mehrsprachige Lehr- und Lernansätze, Quantitative Forschungsmethoden in der Sprachlehr-/ -lernforschung Mehrsprachige Schreibende - mehrsprachiges Schreiben? 37 49 (2020) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 stellen. Hinzu kommt für alle Lernenden (3) das Schreiben in einer institutionell erworbenen Fremdsprache, bei manchen auch (4) das Schreiben in einer Herkunftssprache. Die Entwicklung von Schreibfähigkeiten in diesen Kontexten vollzieht sich dabei unter z.T. recht unterschiedlichen Bedingungen. Aussagen über das Schreiben bei mehrsprachigen Personen werden deutlich erschwert, wenn diese unterschiedlichen Situationen gemeinsam behandelt werden - dazu gehört vor allem die Verquickung der Situationen (1) und (4) mit der Bezeichnung „Schreiben in L1“ sowie die Zusammenlegung von Situationen des Zweit- und des Fremdsprachenschreibens als „L2-Schreiben“. Diese unklaren Gruppenbildungen prägen die gesamte Geschichte der Zweit- und Fremdsprachenforschung und führen zeitweilen zu Aussagen über gänzlich verschiedene Zielgruppen 1 . Dies ist deswegen ein Problem für Forschung sowie Unterrichtspraxis, weil literale Erfahrungen in den Sprachen stark divergieren können. So weisen Schreibende häufig weniger ausgebaute literale Fähigkeiten 2 in der Herkunftssprache (Erwerbskontext 4) als in der Sprache der schulischen Bildung (Erwerbskontext 1) auf und entsprechend schwächere Schreibkompetenzen in der Herkunftssprache (vgl. z.B. B REHMER / M EHLHORN 2018; M ENKEN / K LEYN 2010; W ENK et al. 2016). Gleichzeitig genießen Schreibende im Erwerbskontext 2 eine deutlich längere und umfangreichere literale Erfahrung in der Sprache der schulischen Bildung als Lernende einer Fremdsprache, obwohl diese oft als „L2-Schreibende“ zusammengelegt werden. U.U. ist es deswegen sinnvoller, nicht die (vermeintliche) L1 zu untersuchen, sondern das Schreiben in der Sprache der Erstliteralisierung. Im vorliegenden Artikel wird aus den oben genannten Gründen besonders auf die sorgfältige Bestimmung der Schreibsituation von Studienteilnehmenden geachtet. Dem Schreiben mehrsprachiger Schreibender wird im Folgenden v.a. unter dem Gesichtspunkt des Schreibens in mindestens zwei Sprachen derselben Informanten nachgegangen. Dabei wird auf die o.g. verschiedenen Sprachverwendungskonstellationen eingegangen und gefragt, inwiefern sich das Schreiben derselben Schreibenden in verschiedenen Sprachen ähnelt bzw. worin es sich unterscheidet. Hierfür werden zunächst Forschungsschwerpunkte und -desiderata in der Schreibforschung mit zwei- und mehrsprachigen Personen diskutiert. Anschließend werden Forschungsstudien zu mehrsprachigen Schreibenden mit Bezug auf Schreibprozess, Schreibprodukt und Schreibentwicklung besprochen. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zu der Frage, welche Konsequenzen sich aus diesen Erkenntnissen für eine mehrsprachige Schreibdidaktik im fremd- und zweitsprachlichen Unterricht ergeben. 1 Für eine weitere Diskussion dieser Problematik mit Bezug auf bi- und multilinguale Schreibende vgl. M ARX 2017, 2019. 2 Mit den Begriffen literale Erfahrungen bzw. literale Fähigkeiten wird nicht zwischen rezeptiven und produktiven Tätigkeiten unterschieden, vielmehr steht der Kontakt mit geschriebener Sprache und ihren konzeptionellen Bedingungen im Vordergrund. Der Erwerb rezeptiver und produktiver literaler Fähigkeiten stützt sich gegenseitig, beispielsweise wird distanzsprachliches Wissen, das beim Schreiben eingesetzt wird, insbesondere durch das Lesen oder das Hören von Vorgelesenem aufgebaut. 38 Marie-Christin Reichert, Nicole Marx DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 49 (2020) • Heft 1 2. Zur Erforschung des Schreibens bei Mehrsprachigen Das Schreiben unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit genießt nach wie vor berechtigte Forschungsaufmerksamkeit. Dabei geht es i.d.R. darum, zu eruieren, inwiefern L2-Schreibende anders schreiben als L1-Schreibende. Zur bisherigen Forschungslage sind hier drei kritische Punkte zu nennen, die die Modellierung des Schreibens unter Mehrsprachigen deutlich erschweren. Es handelt sich um (1) die Unterscheidung von sprachenübergreifendem und sprachenspezifischem Wissen bzw. Schreibfähigkeiten und das damit verbundene interlinguale Transferpotenzial, (2) die in Forschungsstudien fokussierten Sprachenkonstellationen und deren Benennung sowie (3) die dort fokussierten sprachlichen Ebenen und Einheiten. Zum ersten Punkt: Als komplexe kognitive Tätigkeit sind diverse kognitive Fähigkeiten und Wissenselemente (logisches Denken, Strukturieren, Textmusterwissen etc.) am Schreibprozess beteiligt. Schon aus diesem Grund ist anzunehmen, dass das Schreiben in unterschiedlichen Sprachen viele ähnliche Fähigkeiten involviert. Solche Schreibfähigkeiten sind also als transversal (B ERTHELE / L AMBELET 2018a) zu verstehen, d.h. als für das Schreiben in unterschiedlichen Sprachen anwendbar, sie unterliegen keinen sprachenspezifischen Bedingungen. In didaktischen Kontexten ist allerdings eine weitere Überlegung relevant. Es wird i.d.R. angenommen, dass Fähigkeiten, die in einer Sprache erworben wurden, in einer anderen Sprache aufgegriffen werden können („Transfer“). Ein interlingualer Transfer von Fähigkeiten kann, zumindest theoretisch, entweder ohne Eingriff der Lehrperson erfolgen oder erst nach weiteren (unterrichtlichen) Maßnahmen, die Transferprozesse unterstützen. Transfer kann dann das Schreiben in einer anderen Sprache unterstützen oder auch beeinträchtigen. Besonders häufig trifft man auf diese Annahme bei didaktischen Ansätzen, die Sprachfähigkeiten von Herkunftssprachensprechenden in der Sprache der schulischen Bildung („L2“) durch eine Unterstützung der Herkunftssprache („L1“) fördern sollen. Damit werden irrtümlicherweise aus dem gut belegten Zusammenhang von Sprachfähigkeiten in L1 und L2 (vgl. B AKER 2001; C OLLIER / T HOMAS 2017; C UMMINS 2000) didaktische Konsequenzen gezogen, die unterrichtliche Maßnahmen einfordern. Hierfür ist es wichtig, zwischen Transversalität und Transfer und ihren jeweiligen Konsequenzen für die Praxis zu differenzieren. Im Wesentlichen geht es dabei um folgende drei Fragen (vgl. M ARX , erscheint 2020): 1. Ist das Schreiben überhaupt eine sprachenübergreifende Fähigkeit? (Transversalitätsfrage) 2. Inwieweit ist Schreibkompetenz in eine andere Sprache übertragbar? (Transferfrage) 3. Welche unterrichtlichen Maßnahmen fördern Transferprozesse? (Transferfrage mit didaktischen Konsequenzen) Eine Beschäftigung mit den ersten beiden Fragen hat das Potenzial, Lehrkräfte im Schreibunterricht zu informieren. Sind Schreibfähigkeiten transversal oder sogar Mehrsprachige Schreibende - mehrsprachiges Schreiben? 39 49 (2020) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 offen für einen interlingualen Transfer, kann bei der Bearbeitung ähnlicher Gegenstände (wie z.B. der Erarbeitung von Schreibstrategien oder der Behandlung vergleichbarer Textsorten) fächerübergreifend kooperiert werden; in der Minimalform bedeutet dies, dass bereits in einer Sprache eingeführte Informationen in einem anderen Sprachenfach nicht wieder von Null erarbeitet werden müssten. Für eine weiterreichende Schreibförderung und eine Entwicklung des eher monolingual ausgerichteten Schreibunterrichts hin zu einem transferfördernden Unterricht ist dagegen nur die letzte Frage relevant. Sie ermittelt, welche Maßnahmen solche Transferprozesse begünstigen, die eine besondere Förderung oder Bewusstmachung erfordern. Für die Beantwortung aller Fragen ist es aber absolut notwendig, das Schreiben in mindestens zwei Sprachen derselben Personen zu untersuchen. Nur dies erlaubt es, zu ermitteln, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Schreibens in unterschiedlichen Sprachverwendungskonstellationen wie den in Kapitel 1 dargelegten liegen, und somit auch, welche Schreibfähigkeiten sprachenübergreifend vorliegen. Das führt dann direkt zum zweiten Kritikpunkt, der auf die in Kapitel 1 besprochenen Gruppenbildungen zurückgeht: Es wird fast ausschließlich das Schreiben in einer „L2“ (Fremd- oder Zweitsprache) fokussiert. Werden Vergleiche gezogen, handelt es sich i.d.R. um eine Kontrastierung von „L2-Schreibenden“ mit (unterschiedlichen, aber in der gleichen Sprache Schreibenden) „L1-Schreibenden“ der Gruppe 1. Dabei werden Schreibende der o.g. Sprachverwendungskonstellationen 2 und 3 sowohl aus Forschungsals auch aus didaktischer Perspektive meist nur in ihrer Zweit- oder Fremdsprache betrachtet. Oft werden dann in Forschungsüberblicken diese zwei Gruppen als eine behandelt („L2-Schreibende“), trotz der damit verbundenen, sich deutlich unterscheidenden Lernvoraussetzungen und Unterrichtssituationen. Nur äußerst selten erheben Studien Daten in zwei (oder mehr) Sprachen derselben Schreibenden. 3 Damit verhindert schon das Untersuchungsdesign Aussagen über sprachenübergreifende Phänomene wie Transversalität oder Transfer. Der dritte Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass Studien zum Schreiben von Mehrsprachigen vornehmlich das Schreibprodukt analysieren. Dies führt notwendigerweise zu einer Fokussierung sprachlicher Merkmale, die von mikrostrukturellen Aspekten wie der Orthografie bis hin zu makrostrukturellen wie Textkohärenz und Textaufbau reichen. Ein Nebenprodukt dessen ist, dass oft anhand von Schreibprodukten andere (sprachliche) Fokusse erforscht werden. Es geht somit nicht um das Schreiben per se, sondern vielmehr um z.B. ausgewählte syntaktische Strukturen oder einen bestimmten Wortschatzbereich. Das führt weiter dazu, dass das Schreiben in der Zweit- oder Fremdsprache v.a. als sprachliche, jedoch nicht als potenziell sprachenübergreifende kognitive Fähigkeit verstanden wird - im starken Kontrast zu gängigen Modellen der Schreibprozessforschung (vgl. u.a. H AYES / F LOWER 1980, in der letzten Überarbeitung H AYES / O LINGHOUSE 2015), die das Schreiben unter primär kognitiven Gesichtspunkten betrachten. Somit wird das Schreiben von Mehrsprachi- 3 Auch wenn manche Studien Texte in zwei Sprachen derselben Schreibenden erheben, werden diese teils nicht in Verbindung zueinander gesetzt (wie im Falle der DESI-Studie, DESI-K ONSORTIUM 2008). 40 Marie-Christin Reichert, Nicole Marx DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 49 (2020) • Heft 1 gen durch die Produktfokussierung nicht nur auf Einzelaspekte wie z.B. den Wortschatz reduziert, auch kann weiteren potenziell sprachenübergreifenden Prozessen nicht nachgegangen werden. Die drei genannten Kritikpunkte ergeben eine Forschungslandschaft, die in ihrer Gesamtheit nur im begrenzten Rahmen Aussagen über das Schreiben von Mehrsprachigen machen kann. Da die Schreibdidaktik insbesondere unter der fehlenden Unterscheidung zwischen Transversalität, dem unterrichtlich nicht eingeleiteten Transfer und dem transferdidaktischen Unterricht leidet, werden im Folgenden empirische Erkenntnisse hierzu genauer in den Blick genommen. Dabei werden nur solche Untersuchungen besprochen, die dieselben Schreibenden in mindestens zwei Sprachen miteinander vergleichen. Bei der Darstellung wird darauf geachtet, ob die Studien eher auf die Frage von Transversalität, (nicht angeleitetem) Transfer oder Transferdidaktik eine Antwort suchen. Für den erleichterten Anschluss an weitere Forschungsüberblicke ist die Diskussion in die traditionellen Forschungsbereiche Schreibprozess, Schreibprodukt und Schreibentwicklung gegliedert. 3. Erkenntnisse zu Transfer und Transversalität von Schreibfähigkeiten Die Untersuchung von Schreibfähigkeiten kann aus verschiedenen Perspektiven erfolgen. So kann entweder betrachtet werden, wie Schreibende vorgehen, wenn sie Texte erstellen (Prozessperspektive), oder welche Eigenschaften die verfassten Texte haben (Produktperspektive). In beiden Fällen können entweder in einer Querschnittsuntersuchung deren Ausprägung zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer longitudinalen Untersuchung deren Entwicklung untersucht werden. Im Folgenden werden entlang dieser Perspektiven Erkenntnisse zum Schreiben Multilingualer berichtet. Um der Transversalität und dem Transfer von Schreibfähigkeiten nachzugehen, werden im Folgenden nur solche Untersuchungen besprochen, die das Schreiben derselben Schreibenden in mindestens zwei Sprachen vergleichen. Dabei wird insbesondere der Sprachverwendungskontext berücksichtigt, für den die berichteten Ergebnisse gelten. Die Untersuchungen vergleichen zumeist entweder die Erstsprache (Sprachverwendungskontext 1) mit einer Fremdsprache (Kontext 3) oder die (in der Familie weniger gesprochene) Verkehrssprache (Kontext 2) mit der Herkunftssprache (Kontext 4). Zentrale Überlegung für diese Einteilung ist, dass für den Erwerb und den Transfer von Schreibfähigkeiten nicht ausschließlich der Spracherwerbsstatus (Erst-, Zweit- oder Fremdsprache), sondern insbesondere auch Art und Umfang der Literalitätserfahrung (z.B. Sprache der Erstliteralisierung, Sprache der bisherigen schulischen Bildung) in dieser Sprache relevant sind. Beispielsweise gilt für den Spracherwerbskontext (2) zwar, dass die untersuchte Sprache nicht als Erstsprache erworben wurde, dass in ihr aber Schreibfähigkeiten zuerst und i.d.R. auch am umfangreichsten erworben wurden. Es wurden zudem solche Studien aufgegriffen, die besonders repräsentativ für die Mehrsprachige Schreibende - mehrsprachiges Schreiben? 41 49 (2020) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 verschiedenen Aspekte des Schreibens sind und darüber hinaus plausibel darlegen, dass die empirischen Gütekriterien für wissenschaftliche Untersuchungen erfüllt wurden. Weil nicht alle Elemente des Schreibens durch solche Studien erforscht worden sind, werden im Folgenden nur ausgewählte Aspekte des Schreibprozesses, des Schreibprodukts und der Schreibentwicklung berichtet. 3.1 Schreibprozess Aus Prozessperspektive wird das Schreiben v.a. als kognitive Aktivität des Problemlösens verstanden, bei dem Schreibende ein kommunikatives Anliegen in einen Text umsetzen. An diesem Prozess sind unterschiedliche Komponenten beteiligt, die die Entwicklung des Textes strukturieren und auf unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln sind (vgl. H AYES / O LINGHOUSE 2015). Wird der sprachenübergreifende Zusammenhang oder Transfer von Schreibfähigkeiten aus Prozessperspektive untersucht, geschieht dies meist, indem das Schreibverhalten derselben Personen in zwei Sprachen verglichen und daraus auf diese Komponenten zurückgeschlossen wird. Im Folgenden werden drei häufig genannte Prozessaspekte besprochen: die Schreibflüssigkeit, Schreibstrategien und der Schreibfokus sowie schließlich Revisionsprozesse als besonders intensiv beforschte Komponente des Schreibprozesses. 3.1.1 Schreibflüssigkeit Mit der Schreibflüssigkeit wird gemessen, wie viel Text (Wörter oder Zeichen) ein Schreibender pro Zeiteinheit bzw. ohne Unterbrechung durch eine Pause oder Revision produziert. Daraus kann abgeleitet werden, wie automatisiert der Schreibprozess erfolgt und wie effektiv Schreibende Inhalte in sprachliche und textliche Strukturen übersetzen können. Je flüssiger das Schreiben ist, desto weniger Aufmerksamkeit muss motorischen oder formalen Aspekten gewidmet werden und desto umfangreicher werden Formulierungsprozesse vollzogen. Allgemein zeigt sich, dass Mehrsprachige in der literal stärker ausgeprägten Sprache über eine höhere Schreibflüssigkeit verfügen (s. auch B REUER in diesem Heft). So beobachten M IKULSKI / E LOLA (2011) gemessen an der insgesamt produzierten Wörterzahl sowie der Satzlänge eine höhere Schreibflüssigkeit in der Studiersprache Englisch als in der Herkunftssprache Spanisch (Vergleich der Sprachverwendungskontexte 2 und 4). Ebenso ist das Schreiben in einer Erstsprache flüssiger als das Schreiben in einer Fremdsprache (Kontexte 1 und 3), wie für verschiedene Sprachen gezeigt werden konnte. C HENOWETH / H AYES (2001) beobachten anhand von Lautdenkprotokollen Bachelorstudierender mehr ohne Unterbrechung produzierten Text, mehr pro Minute geschriebene Wörter sowie weniger Revisionen in der Erstsprache Englisch als in den Fremdsprachen Französisch oder Deutsch. Auch keystroke logging-Daten zeigen Ähnliches (z.B. VAN W AES / L EIJTEN 2015 für die Erstsprache Niederländisch und verschiedene Fremdsprachen sowie L INDGREN / S PELMAN M ILLER / S ULLIVAN 2008 für die Erstsprache Schwedisch und die Fremdsprache Englisch); zudem weist das Schreiben in der Erstsprache 42 Marie-Christin Reichert, Nicole Marx DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 49 (2020) • Heft 1 weniger Pausen auf. Als Fazit kann festgehalten werden, dass in der literal schwächeren Sprache Ressourcen weniger automatisiert abgerufen werden, was insgesamt zu einer Verlangsamung des Schreibprozesses führt. Das deutet darauf hin, dass die Schreibflüssigkeit eher nicht als transversales Merkmal zu verstehen ist, sondern stark vom Erwerbsstatus bzw. der Schreiberfahrung in der jeweiligen Sprache abhängt. 3.1.2 Schreibstrategien Neben dieser stark quantitativen Berechnung der Schreibflüssigkeit werden einzelne Schreibhandlungen differenzierter betrachtet. Hierzu gehört v.a. der Aufmerksamkeitsfokus der Schreibenden. Solche Untersuchungen fokussieren das Planen und den Rückgriff auf Schreibstrategien fast ausschließlich in den Sprachverwendungskontexten 1 und 3. Dass die Hauptkomponenten des Schreibens in unterschiedlichen Sprachen ähnlich verlaufen, konnten bereits frühe Untersuchungen zeigen. P ENNINGTON / S O (1993) beobachten einen ähnlichen Strategiegebrauch in beiden Sprachen. Auch für das Planungsvorgehen (U ZAWA 1996) und Strategien der Text- und Ideengenerierung (B EARE / B OURDAGES 2007) zeigt sich ein ähnliches Schreibverhalten in Erst- und Fremdsprache. Um dem Transfer von metakognitiven Schreibstrategien (Planen, Monitoring, Fehlerkorrektur) nachzugehen, untersucht F ORBES (2016) in einer experimentellen Studie die Effekte eines Strategietrainings in der Fremdsprache Deutsch auf das Schreiben in dieser Sprache und in der Erst- und Schulsprache Englisch. Dabei stellt sie fest, dass das Strategietraining zunächst nur zu einer veränderten Strategieanwendung im Deutschen führt. Erst nach einer zweiten Intervention, bei der auch im Englischen Schreibstrategien thematisiert worden waren, konnte eine Auswirkung auf das Schreiben im Englischen beobachtet werden. Für die Untersuchungsgruppe konstatiert F ORBES außerdem starke Ähnlichkeiten zwischen der Fremdsprache Deutsch, in der das Strategietraining stattgefunden hat, und der Fremdsprache Französisch ohne Strategietraining. Da die Kontrollgruppe nicht im Französischen untersucht wurde, kann jedoch keine Aussage über die Wirksamkeit dieser didaktischen Intervention getroffen werden. 3.1.3 Schreibfokus Wird der Aufmerksamkeitsfokus bei der Ausführung der Schreibhandlungen hinsichtlich des linguistischen Bereichs und der textuellen Ebene in beiden Sprachen verglichen, zeigen sich sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede. U ZAWA (1996) beobachtet in Schreibprozessen in Erst- und Fremdsprache eine ähnliche Verteilung der fokussierten Ebenen, wobei der Fokus in beiden Sprachen v.a. der globalen bzw. inhaltlichen Textebene galt. Dagegen verzeichnen W HALEN / M ÉNARD (1995) in fremdsprachlichen Schreibprozessen insgesamt einen höheren Aufmerksamkeitsfokus auf sprachlichen Oberflächenmerkmalen, d.h. auf der Mikroebene. Zwar ist das Revidieren auf textueller, pragmatischer und linguistischer Ebene in beiden Sprachen Mehrsprachige Schreibende - mehrsprachiges Schreiben? 43 49 (2020) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 ähnlich verteilt. Beim Planen und Evaluieren jedoch widmen die Schreibenden in der Fremdsprache generell den Strukturen unterhalb der Satzgrenze mehr Aufmerksamkeit, während sie in der Erstsprache stärker textuelle und pragmatische Textmerkmale fokussieren. Dieser Befund wird häufig so interpretiert, dass durch geringere Kompetenzen in der Fremdsprache weniger Ressourcen für Textfunktion und -struktur zur Verfügung stehen (s. auch B REUER in diesem Heft). 3.1.4 Revisionsprozesse und Textentwicklung Insbesondere mit dem Aufkommen digitaler Schreibmedien kommt Revisionsprozessen nicht nur für die Textoptimierung in einer abschließenden Schreibphase, sondern bereits während des Schreibens als Mittel der Textentwicklung Bedeutung zu. Durch Eingriffe und Veränderungen formen Schreibende den entstehenden Text und entwickeln so ihre Gedanken und entsprechende sprachliche Ausdrucksformen. Somit lassen sich aus diesen Prozessen Aussagen über den gesamten Textentstehungsprozess ableiten. Bislang wurden vor allem die Menge an Revisionen, aber auch der Fokus von Revisionshandlungen sowie deren zeitlicher Einsatz untersucht; dabei wurde nur der Frage der Transversalität nachgegangen. Die Quantität der Revisionen während des Formulierens wurde lediglich für Erst- und Fremdsprache (Sprachverwendungskontexte 1 und 3) verglichen. Die Untersuchungen kommen jedoch zu divergierenden Ergebnissen (s. auch B REUER in diesem Heft). Eine stärkere Revisionsaktivität in der Fremdsprache, faktisch immer die literal schwächere Sprache, wird durch vergleichsweise mehr Revisionen pro produziertem Text (vgl. T HORSON 2000; S TEVENSON / S CHOONEN / G LOOPER 2006; VAN W AES / L EIJTEN 2015), mehr produzierten Text zwischen zwei Revisionen (vgl. B REUER 2015) sowie einen höheren Anteil der Revisionen an allen Schreibhandlungen (vgl. C HENOWETH / H AYES 2001) nachgewiesen. Allerdings scheinen die einzelnen Revisionen in der Erstsprache umfangreicher (mehr involvierte Zeichen und mehr auf die Revisionen verwendete Zeit) zu sein (vgl. VAN W AES / L EIJTEN 2015). Weitere gegenläufige Beobachtungen betreffen eine höhere absolute Revisionsanzahl in der Erstsprache (vgl. B REUER 2015: 203) oder auch das Fehlen eines Effektes der Sprache auf die Revisionsmenge (vgl. R EICHERT 2019). Hinsichtlich der Art bzw. des Fokus der Revisionen wird vornehmlich über Ähnlichkeiten zwischen den untersuchten Sprachen berichtet. So sind Revisionen auf Satzebene und höheren Textebenen und Revisionen am semantischen Gehalt in Erst- und Fremdsprache (vgl. L INDGREN / S PELMAN M ILLER / S ULLIVAN 2008; S TEVENSON / S CHOONEN / G LOOPER 2006; W HALEN / M ÉNARD 1995; R EICHERT 2019) sowie in Herkunfts- und Studiersprache (vgl. M IKULSKI / E LOLA 2011) ähnlich verteilt. In beiden Sprachen zeigt sich zudem eine Dominanz der Korrektur von Tippfehlern und von weiteren formalen Fehlern (vgl. B REUER 2015; R EICHERT 2019; S TEVENSON / S CHOO - NEN / G LOOPER 2006), auch wenn solche Fehler z.T. häufiger in der Fremdsprache auftreten (vgl. S TEVENSON / S CHOONEN / G LOOPER 2006; L INDGREN / S PELMAN M ILLER / S ULLIVAN 2008). Auch W HALEN / M ÉNARD (1995) beobachten, dass sprachliche 44 Marie-Christin Reichert, Nicole Marx DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 49 (2020) • Heft 1 Revisionen in der Fremdsprache eher die Wortebene betreffen, während in der Erstsprache die Phrasen- und Satzebene fokussiert wird. Solche Unterschiede werden auf ein geringeres Sprachniveau in der Fremdsprache zurückgeführt. Bezüglich des Zeitpunkts der Revision kommen Untersuchungen zu unterschiedlichen Erkenntnissen. R EICHERT (2019) und T HORSON (2000) berichten in den untersuchten Sprachen keine Unterschiede hinsichtlich der Frage, ob eine Revision direkt nach dem Aufschreiben oder erst nach dem Entstehen weiterer Textteile durchgeführt wird. S TEVENSON / S CHOONEN / G LOOPER s (2006) Ergebnisse weichen mit Bezug auf den Inskriptionspunkt leicht davon ab: Sie beobachten gerade für die Fremdsprache häufigere Revisionen direkt nach dem Aufschreiben. Dies kann allerdings durch die relative Dominanz der formalen Revisionen und Tippfehler in der Fremdim Vergleich zur Erstsprache bedingt sein (s.o.). Insgesamt scheint das Revisionsverhalten von Schreibenden in beiden Sprachen mit Bezug auf Quantität, Fokus und Zeit des Überarbeitens recht ähnlich zu sein, sodass der Einsatz von Revisionsstrategien als Teil einer transversalen Schreibfähigkeit angenommen werden kann. 3.2 Schreibprodukt Der Vergleich des Schreibens in zwei Sprachen bezieht sich - wie in der Schreibforschung insgesamt - stärker auf quantitative und qualitative Textmerkmale als auf den Schreibprozess, sodass hier umfassendere Erkenntnisse zum Schreiben in beiden Sprachen vorliegen. Gemessen werden quantitativ das Merkmal der Textlänge und sowohl quantitativ als auch qualitativ die Textqualität. Letztere wird allerdings zunehmend an quantitativen Daten beforscht, die i.d.R. durch unterschiedliche Rating- oder auch Rankingverfahren entstehen. 3.2.1 Textlänge Eine wesentliche Eigenschaft von Texten, für die v.a. bei jüngeren Schreibenden Zusammenhänge mit der Textqualität nachgewiesen werden (G RABOWSKI et al. 2014: 152; für ältere Schreibende auch VAN W EIJEN / R IJLAARSDAM / VAN DEN B ERGH 2019), ist die Textlänge. Der Textumfang kann Auskunft darüber geben, wie ausführlich Inhalte dargestellt werden. Zudem besteht ein Zusammenhang zwischen Textlänge und Schreibflüssigkeit: Wer flüssiger schreibt, also mehr Text ohne Unterbrechung produziert, ist in der Lage, mehr Text in einer vorgegebenen Zeit zu produzieren. Verschiedene Studien zeigen, dass bei mehrsprachigen Schreibenden die Textlängen in Erst- und Fremdsprache sowie in Herkunfts- und Schulsprache korrelieren (E GLI C UENAT 2017; B ÖHMER 2015; M ARX / S TEINHOFF 2017; M ONTANARI / S IMÓN -C EREI - JIDO / H ARTEL 2016; VAN W EIJEN / R IJLAARSDAM / VAN DEN B ERGH 2019). Dennoch finden sich auch Unterschiede. Die längeren Texte werden jeweils in der literal stärkeren Sprache produziert, d.h. in der Sprache der schulischen Bildung, ungeachtet, ob diese die Erst- oder Zweitsprache darstellt (B REUER 2015; M ARX / S TEINHOFF 2017; Mehrsprachige Schreibende - mehrsprachiges Schreiben? 45 49 (2020) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 S TEVENSON / S CHOONEN / G LOOPER 2006). Dies deutet darauf hin, dass Schreibfähigkeiten hinsichtlich der quantitativen Textproduktion zwar transversal sind, in einer literal schwächeren Sprache aber durch Einschränkungen in anderen Bereichen beeinflusst werden (s. auch B REUER in diesem Heft). 3.2.2 Textqualität Auch die Textqualität wird in bilingualen Studien in den Blick genommen. Zumeist wird entweder die globale Textqualität bewertet oder spezifischen (zumeist rhetorischen) Textmerkmalen nachgegangen. Verschiedene Untersuchungen zeigen Zusammenhänge zwischen Ergebnissen globaler Textratings in Schul- und Herkunftssprache (V ANHOVE / B ERTHELE 2018; M ARX / S TEINHOFF 2017; G ANTEFORT 2013; C ENOZ / G ORTER 2011) ebenso wie in Erst- und Fremdsprache (S ASAKI / H IROSE 1996; S CHOO - NEN et al. 2011; C ENOZ / G ORTER 2011; VAN W EIJEN / R IJLAARSDAM / VAN DEN B ERGH 2019; U ZAWA 1996). Dagegen können P ENNINGTON / S O (1993) und H IROSE (2003) keine Zusammenhänge der Textqualität in Erst- und Fremdsprache nachweisen. Diese abweichenden Befunde sind möglicherweise auf das deutlich niedrigere Sprachniveau in der Fremdsprache zurückzuführen (vgl. P ENNINGTON / S O 1993) oder darauf, dass zwei unterschiedliche Ratingverfahren in den untersuchten Sprachen eingesetzt wurden (vgl. H IROSE 2003). Auch für textsortenspezifische und rhetorische Merkmale werden mittlere bis starke Zusammenhänge zwischen beiden Sprachen berichtet. Untersucht wurden u.a. funktionale Elemente auf der textuellen Mesoebene beschreibender Texte (vgl. M ARX / S TEINHOFF 2017), Makrostruktur und Inhalt narrativer Texte (vgl. B ÖHMER 2015; M ONTANARI / S IMÓN -C EREIJIDO / H ARTEL 2016; S U / C HOU 2016) sowie Textstruktur und rhetorische Mittel in argumentativen Texten (vgl. H IROSE 2003; R USFANDI 2015; van W EIJEN / R IJLAARSDAM / VAN DEN B ERGH 2019; U YSAL 2012). Ähnlichkeiten hinsichtlich solcher Textmerkmale werden als Hinweis auf ein in beiden Sprachen gemeinsam vorliegendes Schreibwissen gedeutet. Gleichzeitig zeigen Unterschiede in den Texten, z.B. hinsichtlich Autorenreferenz (vgl. Ç ANDARLI / B AYYURT / M ARTI 2015) oder der Nutzung bestimmter argumentativer Elemente auf lokaler Textebene (vgl. R USFANDI 2015), dass Schreibende sich den unterschiedlichen kulturellen Schreibformen anpassen können und den Schreibkonventionen in beiden Sprachen gerecht werden. Des Weiteren scheinen bestimmte sprachliche Strukturen sprachenübergreifend zusammenzuhängen, wie E GLI C UENAT (2017) für Nebensätze und Konnektoren in Erst- und Fremdsprache ermittelt. Bezüglich der didaktischen Vermittlung sprachenübergreifenden Wissens (s.o. Frage 2), das die Textqualität beeinflusst bzw. aus ihr abgeleitet wird, gibt es nur wenig Forschung. So weisen M ARX / S TEINHOFF (2017) den Transfer textsortenspezifischer Handlungsschemata von der Schulin die Herkunftssprache nach (Sprachverwendungskontext 2 und 4). Ähnliches zeigt B ERMAN (1994) für den Aufbau von Textstrukturwissen für argumentative Texte. Jedoch konnten hier lediglich Effekte für die Instruktion in der Fremdsprache auf die Textqualität in der Erstsprache nachge- 46 Marie-Christin Reichert, Nicole Marx DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 49 (2020) • Heft 1 wiesen werden (Sprachverwendungskontext 1 und 3). Die umgekehrte Situation, bei der die Instruktion in der Erstsprache stattfand, führte zu keiner Verbesserung der fremdsprachlichen Texte. Für die Textqualität kann also sowohl die Transversalität von Schreibfähigkeiten anhand des Zusammenhangs globaler Bewertungen und spezifischer Merkmale als auch der Transfer bestimmter Wissensbestände nach didaktischer Instruktion nachgewiesen werden. Letzterer scheint sich auch automatisch zu vollziehen, nachdem in einer Sprache eine Schreibinstruktion erfolgt ist; ein transferdidaktischer Unterricht war nicht notwendig. Dass bei B ERMAN (1994) kein Transfer aus der Erstin die Fremdsprache auftrat, könnte jedoch ein Hinweis darauf sein, dass unter bestimmten Bedingungen der Transfer didaktisch unterstützt werden müsste. Dies bleibt noch zu erforschen. 3.3 Schreibentwicklung Um zuverlässige Aussagen über eine mehrsprachige Schreibentwicklung, d.h. über Ähnlichkeiten im Schreiberwerb in mindestens zwei Sprachen treffen zu können, sind longitudinale Untersuchungen derselben Schreibenden notwendig. Zudem müssen unterschiedliche Erwerbskontexte (s. Kapitel 1) beachtet werden. Wohl aufgrund des höheren Forschungsaufwandes liegen bisher nur wenige Untersuchungen dazu vor. Für Grundschüler(innen) in zweisprachigen Schulmodellen können insofern ähnliche Entwicklungsverläufe beobachtet werden, als bestimmte Textmerkmale in beiden Sprachen ähnlich ausgeprägt sind und sich über die Zeit durch eine ähnliche Entwicklung (vgl. C ANO -R ODRÍGUEZ 2015) bzw. eine ähnliche Stagnation weiter angleichen (vgl. G ANTEFORT 2013). Diese Zusammenhänge legen nahe, dass auch aus Entwicklungsperspektive das Schreiben als eine transversale Fähigkeit angenommen werden kann. Inwiefern dieser Entwicklungsprozess durch didaktisch angeregte, sprachenübergreifende Maßnahmen beeinflusst und befördert werden kann, wurde bisher nicht untersucht. 4. Konsequenzen für eine an Mehrsprachigen ausgerichtete Schreibdidaktik Die Besprechung bisheriger Untersuchungen zum Schreiben in mindestens zwei Sprachen mehrsprachiger Schreibender ermöglicht v.a. eine Beantwortung der ersten beiden der in Kapitel 2 aufgestellten Fragen. Erstens ist zu konstatieren, dass sich sowohl aus Produkt- und Prozessals auch aus Entwicklungsperspektive mehrere Komponenten ausmachen lassen, die sich in zwei Sprachen von Mehrsprachigen ähnlich abbilden. Das Schreiben ist in diesem Sinne als eine v.a. sprachenübergreifende Fähigkeit zu verstehen (Transversalitätsfrage). Zweitens konnte gezeigt werden, dass neu gelernte Elemente in einer Sprache sich positiv auf das Schreiben in einer anderen Mehrsprachige Schreibende - mehrsprachiges Schreiben? 47 49 (2020) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 Sprache auswirken können (Transferfrage). Dabei können Fähigkeiten und Wissen sowohl aus der literal stärkeren in die schwächere Sprache übertragen werden (von der Schulin die Herkunftssprache) als auch umgekehrt (von der Fremdin die Erstsprache). Beide Befunde beweisen, dass die verschiedenen Sprachenfächer sehr wohl am selben Gegenstand interessiert sind. Für genau diese Fächer ist daher ein Austausch anzuregen, um den parallelen Aufbau von Schreibfähigkeiten und Schreibwissen in der Praxis und sprachenfachübergreifend widerspiegeln zu können. Bezüglich der dritten Frage, ob ein transferdidaktischer Schreibunterricht fördernd wirkt, bietet die bisherige Forschung kaum Befunde. Es ist noch unklar, ob - und wenn ja, welche - Maßnahmen notwendig sind, um Transferprozesse didaktisch zu unterstützen, damit Schreibende in einem bestimmten Sprachgebrauchskontext besonders stark von Schreibfähigkeiten aus anderen Sprachkontexten profitieren. Dass solche Maßnahmen in manchen Situationen hilfreich, gar für einen erfolgreichen Transfer notwendig sein könnten, legt allerdings z.B. die Untersuchung von F ORBES (2016) nahe. Hier wirkte sich die fremdsprachliche Strategieförderung erst nach weiteren Maßnahmen in der Erstsprache positiv auf das erstsprachliche Schreiben aus. Das bedeutet für den Schreibunterricht, dass insbesondere Schreibstrategien in enger Kooperation zwischen den Sprachenfächern erarbeitet werden sollten. Ein Strategietraining, das aktiv fächerübergreifende Bezüge zwischen dem Schreiben und der Schreibinstruktion herstellt, wäre demnach förderlich. Insgesamt ist allerdings zu konstatieren, dass auf Grund der derzeitigen Forschungslage direkte Konsequenzen für den Schreibunterricht mit Mehrsprachigen nur mit Vorsicht zu ziehen sind. Sicherlich empfehlenswert ist, dass sich Lehrkräfte nicht nur über den bisherigen Schreibunterricht ihrer Lernenden im eigenen Sprachenfach informieren, sondern auch über Text- und Schreiberfahrungen in anderen Sprachen, seien dies die Sprache der institutionellen Bildung oder auch Fremd-, Zweit- oder Herkunftssprachen. Werden spezifische Themen wie z.B. „effektives Überarbeiten“, „Berichte schreiben“ oder „Peerfeedback geben“ in einer Sprache bearbeitet, kann es günstig sein, diese gleichzeitig in den anderen Sprachenfächern anzusprechen und somit sprachenfachübergreifende Lerneffekte zu erzielen. Ein solches Vorgehen eröffnet den Weg für einen möglichen Transfer von sprachlichen Fähigkeiten und den Aufbau transversaler Fähigkeiten; ob weitere Schritte noch effektiver für die Förderung des Schreibens über mehrere Sprachen hinweg sind, muss allerdings noch durch Forschungsstudien geklärt werden, die sowohl dem didaktisch nicht angeleiteten als auch dem didaktisch angeleiteten Transfer von Schreibfähigkeiten nachgehen. Literatur B AKER , Colin (Hrsg.) ( 3 2001): Foundations of Bilingual Education and Bilingualism. Clevedon: Multilingual Matters. B EARE , Sophie / B OURDAGES , Johanne S. (2007): „Skilled writers’ generating strategies in L1 and L2: An explanatory study“. In: T ORRANCE , Mark / VAN W AES , Luuk / G ALBRAITH , David 48 Marie-Christin Reichert, Nicole Marx DOI 10.2357/ FLuL-2020-0003 49 (2020) • Heft 1 (Hrsg.): Writing and Cognition. Research and Applications. Amsterdam: Elsevier, 151-161. 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