Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2020-0013
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
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Gnutzmann Küster SchrammHeiner Böttger, Michaela Sambanis (Hrsg.): Focus on Evidence II - Netzwerke zwischen Fremdsprachendidaktik und Neurowissenschaften. Tübingen: Narr Francke 2018, 278 Seiten [58 €]
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2020
Marion Grein
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Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 141 49 (2020) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0013 Begriffs, d.h. dessen Sloganisierung. Im zweiten Teil des Beitrags wird sorgfältig vorgeführt, wie bei dem Begriff „superdiversity“ alle genannten Kriterien meisterhaft erfüllt werden. Angesichts der detaillierten Modellierung dieses Konzepts empfiehlt es sich für diejenigen, die von vornherein Wert auf eine ausführliche Definition von Slogans legen, diesen Beitrag einführend zum Buch lesen. In ihrem Rückblick auf die vorigen sieben Beiträge betonen die Herausgeber in „Sloganization: Yet another slogan? “ die zentrale Rolle einer kritischen Auseinandersetzung mit Begriffen und deren Sloganisierung in der Fremdsprachenforschung, denn ein Fachgebiet kann nicht auf Begriffen beruhen, die undefiniert oder inkonsequent verwendet werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es allen Beiträgen gelingt, den Leser an das Phänomen „Sloganisierung“ heranzuführen und es an konkreten Beispielen aus dem Forschungsfeld zu illustrieren. Als besonders gelungen einzustufen sind die sehr detaillierten historischen Überblicke zu jedem Begriff und ihrer Entwicklung zu einem Slogan. Der potenzielle Rezipientenkreis des Bandes umfasst alle an der Fremdsprachenforschung Beteiligten, denn der Umgang mit der fachlichen Terminologie bleibt ein Fundament von Wissenschaft. Das gilt besonders für ein Fachgebiet, das sich mit Sprachen, Formulierungen und Diskursen auseinandersetzt. Wien H IRAM M AXIM Heiner B ÖTTGER , Michaela S AMBANIS (Hrsg.): Focus on Evidence II - Netzwerke zwischen Fremdsprachendidaktik und Neurowissenschaften. Tübingen: Narr Francke 2018, 278 Seiten [58 €] Der Band ist das Ergebnis einer zweiten Konferenz mit dem fast gleichnamigen Titel „Focus on Evidence - Fremdsprachendidaktik trifft Neurowissenschaften“, die 2017 in Berlin stattfand. Ziel sowohl der Tagung als auch der Publikation ist es, die Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften in konkrete Handlungsimpulse für den Fremdsprachenunterricht zu übertragen. Im Zentrum stehen dabei die Prozesse, die sich beim Lernen mithilfe neurowissenschaftlicher Verfahren „erkennen“ lassen, also beispielsweise die stärkere Aktivierung im Gehirn, wenn Wortschatz nicht nur in Form von ein- und zweisprachigen Verfahren und Bildern eingeführt wird, sondern ergänzend mit konkreten Aktivitäten verbunden ist. Diese Erkenntnisse, also evidenzbasierte Einsichten, sollen dann die Grundlage für didaktische Entscheidungen werden. Der Tagungsband ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil finden sich die Verschriftlichungen der vier Hauptvorträge - auf Deutsch verfasst - mit einer Zusammenfassung auf Englisch, die es dieser ermöglicht auch internationale Verbreitung zu finden. Es folgt ein kurzes Resümee der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion mit Fragen und Antworten. Der 2. Teil umfasst sogenannte „Transferbeiträge“, die von Teilnehmenden der Tagung verfasst wurden. Transfer bedeutet hier, dass die Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Studien (und konkret der Vorträge) der Fremdsprachendidaktik als Bezugswissenschaft bzw. direkt der Praxis des Lehrens und Lernens von Sprachen dienen können. Vor dem 1. Teil findet sich die Begrüßung von Michaela S AMBANIS . Es folgt die abgedruckte Rede des Schirmherren Carl H. H AHN (Schulgründer und ehemaliger VW- Vorstandschef), der die Schlüsselrolle des Bildungssystems thematisiert und für ein Umdenken in der frühkindlichen Bildung plädiert. Der 1. Teil beginnt mit Markus K IEFER („Verkörperte Kognition: Die Verankerung von Denken und Sprache in Wahrnehmungs- und Handlungserfahrung“), der zunächst das Konzept 142 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2020-0013 49 (2020) • Heft 1 der Embodied Cognition skizziert. Ausgangspunkt des Konzepts ist, dass Wissen multimodal abgespeichert ist. Das Beispiel von K IEFER (S. 34) mag das verdeutlichen: Das Wissen, dass ein Hund vier Beine hat, ist in einem visuellen semantischen System in der Nähe des visuellen Kortizes abgespeichert; das Wissen, dass man einen Hund streicheln kann, in einem motorischen semantischen System in anatomischer Nähe der motorischen Kortizes. Begriffliches Wissen ist also in verschiedenen kortikalen Arealen modalitätsspezifisch gespeichert. Diese modalitätsspezifischen semantischen Netzwerke können mit bildgebenden Verfahren bestätigt werden. Ergänzt wird die Multimodalität um die Bereiche der Geräusche und der Gerüche. Seine Schlussfolgerungen: Erfahrungen mit dem Lerngegenstand in möglichst konkreten Situationen erleichtern das Lernen, so Lernen mit Bewegungen, an konkreten Objekten und in dialogischen Rollenspielen, vorzugsweise ein Aufenthalt im Zielland mit konkreten Interaktionserfahrungen. Der zweite Beitrag von Petra A. A RNDT („Schreiben mit der Hand: Wichtiger Beitrag zum Schriftspracherwerb oder veraltete Kulturtechnik? “) beschäftigt sich mit der Verankerung von Schrift im Gehirn. Wie im Titel formuliert, stellt sie sich die Frage, ob man nicht auf das Schreiben mit der Hand verzichten könnte. Aufgeführt werden nicht neurowissenschaftliche Studien, die belegen, dass Texte, die mit der Hand geschrieben werden, mehr komplexe Sätze mit einer höheren Textqualität und größerer Kohärenz aufweisen als solche Texte, die mit einer Tastatur verfasst wurden. Ebenfalls auf die Embodied Cognition zurückgreifend geht A RNDT davon aus, dass das Schreiben mit der Hand eine Repräsentation der einzelnen Buchstaben in den motorischen Arealen erzeugt, die die visuelle Repräsentation unterstützt. Durch das Schreiben entsteht eine Verbindung zwischen der visuellen Buchstabenerkennungsregion und den motorischen Arealen. Schreiben mit der Hand führt zu einer stärkeren Verankerung im Gehirn. Im dritten Beitrag von Sebastian J ENTSCHKE („Interaktion zwischen Sprache und Musik“) werden zunächst die relativ lange Forschungsgeschichte und die zentralen Fragestellungen zur Verknüpfung von Sprache und Musik resümiert. Heute besteht Einigkeit darüber, dass zumindest ähnliche (oder auch gemeinsame) neuronale, perzeptuelle und kognitive Prozesse bei der Verarbeitung von Musik und Sprache beteiligt sind. Drei Verarbeitungsbereiche werden hier fokussiert: (1) die Repräsentation akustischer Merkmale im auditorischen Hirnstamm (2) die Verarbeitung komplexer akustischer Merkmale wie Rhythmus oder Prosodie und (3) die Verarbeitung von Syntax. Da mit der Methode der Elektroenzephalographie (EEG/ engl. ERP) gearbeitet wird, wird kurz in diese eingeführt. Was zeigen die Studien, knapp zusammengefasst? Musiker(innen) haben Vorteile beim Erlernen der Aussprache; der Einsatz von Musik beim Lernen verbessert die phonologische Bewusstheit und die prosodischen Fähigkeiten. Der vierte Beitrag von Julia F ESTMANN („Von Psycholinguistik und Neurowissenschaften zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer“) resümiert zunächst die Befunde zu Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer. Im Bereich Psycholinguistik wird auf Codeswitching, die größeren kognitiven Anforderungen und den kognitiven Vorteil bilingualer oder mehrsprachiger Menschen eingegangen (wobei deren Heterogenität berücksichtigt wird). Neurowissenschaftlich wird zusammengefasst, dass die Lokalisation der Sprachen entweder vom Erwerbszeitpunkt oder dem Beherrschungsgrad abhängig ist, also auch eine später erlernte, aber gut beherrschte Zweitsprache überlappend mit der Erstsprache sein kann. Ihren Fokus legt F ESTMANN jedoch auf das Einbeziehen der Sprachen der Lernenden in den Unterricht, was eine Abwendung vom Postulat der Einsprachigkeit impliziert. Die Erstsprache übernimmt dabei die Funktion einer „Unterstützersprache“, weswegen die Sprachen der Lernenden gezielt in den Unterricht integriert werden sollten. Die insgesamt 15 Transferbeiträge lassen sich in Anlehnung an den ersten Teil grob in drei nicht konkret abgrenzbare Bereiche gliedern: (a) Embodied Cognition (b) Wortschatzerwerb und Vokabellernen und (c) Sprachenlernen und Musik. Dabei sind die Beiträge alphabetisch Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 143 49 (2020) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0014 und nicht thematisch angeordnet und entweder auf Deutsch oder Englisch verfasst. Hier möchte ich lediglich auf den Bereich der Embodied Cognition und das Wortschatzlernen eingehen. Der Beitrag von Anna B ITMANN beispielsweise verbindet den Bereich des Wortschatzlernens mit dem der Embodied Cognition und zeigt die deutlich größere Aktivierung im Gehirn, wenn Wortschatz mit Gestik gelernt wird. In diesem Bereich liegen bereits einige Studien mit bildgebenden Verfahren vor. Mithilfe der Visualisierung der Gehirnregionen, die beim Abrufen von Wörtern aktiviert werden, wird deutlich, dass Wörter mit visuellen, auditiven, olfaktorischen und taktilen Informationen gespeichert werden. Vokabeln wie „aufheben“ oder „treten“ aktivieren beispielsweise zum einen den Bereich, in dem die Vokabeln abgespeichert sind, aber auch den motorischen Bereich, der aktiv ist, wenn die jeweiligen Körperteile tatsächlich aktiviert werden. Man geht also davon aus, dass ein „nur“ akustisch gelerntes Wort über ein weniger tiefes Netz verfügt als ein Wort, das mit verschiedenen sensorischen Modalitäten gespeichert wurde. Auch Matthias H UTZ resümiert die Embodied Cognition als „Verfahren“, mit dem man Wortschatz besser abspeichern kann, wenn Wörter mit Sinneserfahrungen, Emotionen oder körperlichen Erfahrungen verknüpft sind. Er plädiert konkret für den Einsatz sensomotorischer Vermittlungsstrategien (u.a. visuelle Stimuli, Realien, Bewegungslieder) im Fremdsprachenunterricht und gibt Praxisbeispiele. Dabei ist der Einsatz multimodaler Wortschatzverfahren keineswegs neu - mithilfe bildgebender Verfahren kann nun aber bestätigt werden, dass Informationen, inklusive Wortschatz, wenn multimodal oder multisensorisch dargeboten, mehr Prozesse im Gehirn aktiviert. Die Studien zeigen auch, dass die Behaltensleistung durch den Einsatz von Gestik und Bildern signifikant größer ist als bei rein visueller oder auch audio-visueller Darbietung. Das Buch bietet eine Vielfalt an Studien und konkreten Vorschlägen, die sich aus neurowissenschaftlicher Forschung für den Fremdsprachenunterricht ableiten lassen. Jeder Artikel kann für sich alleine gelesen werden, trotzdem werden die Bezüge zwischen den einzelnen Artikeln durch die Autoren hergestellt. Was macht dieses Buch so besonders? In G REIN (2013) 1 wurde der Versuch einer Verknüpfung der Bereiche Neurowissenschaften und Fremdsprachenunterricht angestrebt, erhielt jedoch neben viel positiver Rückmeldung auch viele kritische Kommentare zum umstrittenen Bereich der „Gehirnforschung“ und deren Relevanz für das Fremdsprachenlernen. Dieser Kritik kann man genau mit dem evidenzbasierten Ansatz des Buches entgegenwirken. Das Buch ist sowohl für die Fremdsprachendidaktik als auch die Neurowissenschaften ein Gewinn: Die Fremdsprachendidaktik kann Vieles, was man bisher durch Beobachtung „erahnte“, nun neurowissenschaftlich begründen und die Neurowissenschaften können ihre praxisorientierte Ausrichtung deutlich machen. Mainz M ARION G REIN Tim G IESLER : Die Formation des institutionellen Englischunterrichts. Englisch als erste Fremdsprache in Bremen (1855-1873). Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2018, 261 Seiten [34,50€] Die Historiografie des Fremdsprachenunterrichts ist kein Forschungszweig, der sich durch viele Neuerscheinungen auszeichnet. Auch bei den wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten sind historische Untersuchungen leider sehr selten. Umso erfreulicher ist es, dass mit der an der 1 Marion G REIN : Neurodidaktik. Grundlagen für Sprachkursleitende. München: Hueber 2013.