eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 49/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2020-0026
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/101
2020
492 Gnutzmann Küster Schramm

Simone SCHIEDERMAIR (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache & Kulturwissenschaft. Zugänge zu sozialen Wirklichkeiten. München: Iudicium 2018, 296 Seiten [39,00 €]

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Jochen Plikat
flul4920137
Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 137 49 (2020) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0026 ihrer Implementierung in die familiäre und institutionelle Praxis beschäftigen und richten sich somit nicht nur an Wissenschaftler und Lehrkräfte, sondern auch an Akteure in Bildungsinstitutionen und Bildungspolitik. Berlin H EIKE W APENHANS Simone S CHIEDERMAIR (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache & Kulturwissenschaft. Zugänge zu sozialen Wirklichkeiten. München: Iudicium 2018, 296 Seiten [39,00 €] Kraut und Rüben - zu eben diesem Schluss kommen möglicherweise alle, die sich in die umfangreiche Literatur zum kulturwissenschaftlich ausgerichteten kulturellen Lernen einarbeiten. Grund dafür ist die Vielzahl an Ansätzen, die zu einer erheblichen konzeptionellen und terminologischen Unübersichtlichkeit des Feldes geführt hat. Barbara S CHMENK verwendet die Formulierung - mit einem Fragezeichen versehen - bereits 2006 im Titel eines Aufsatzes; 12 Jahre später greift Simone S CHIEDERMAIR sie in der Einführung in den von ihr herausgegebenen und gerade erschienenen Sammelband auf. Sie teilt allerdings nicht nur S CHMENKS Einschätzung, dass wir es mit „ansonsten höchst disparaten Ansätze[n]“ (S. 9) zu tun haben, sondern auch, dass diese in zweierlei Hinsicht übereinstimmen: Erstens gehe es immer um den „Blick auf die Konstruktion kollektiver Sinnstiftung bzw. Orientierungsmuster“ (ebd., Zitat S CHMENK ), und zweitens um das „Aufbrechen der unglücklichen Verquickung von Kultur, Nation und Sprache“ (ebd., Zitat S CHMENK ). Angesichts der seit Jahren andauernden lebhaften Diskussion um den landeskundlichen Ansatz sieht S CHIEDERMAIR diesen in einem „Paradigmenwechsel“ (S. 10) begriffen. Ihr erstes Anliegen lautet, eben diesen Paradigmenwechsel herauszuarbeiten und so eine Grundlage für weitere Forschung und Lehre zu schaffen (S. 10f.). Dabei beobachtet die Herausgeberin in den Beiträgen des Bandes, der aus einer im Oktober 2016 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena veranstalteten Tagung hervorgegangen ist, als gemeinsamen Nenner „die Annahme von der diskursiven Verfasstheit sozialer Wirklichkeiten“ (S. 10). Das kulturwissenschaftlich beeinflusste kulturelle Lernen hat unter anderem die Konzepte Erinnerungsorte, linguistic landscapes, Kultursemiotik, Symbolische Kompetenz, Integrative Landeskunde und Kulturelle Deutungsmuster hervorgebracht. Diese strukturieren den Band in insgesamt sechs Teile, denen jeweils zwei bis drei Aufsätze zugeordnet sind. Die unterschiedlichen Termini verstärken tatsächlich erneut den Eindruck eines disparaten Feldes; sie in einem Band zu vereinen und so ihre Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, ist das zweite Anliegen der Herausgeberin. Die beiden ersten Teile, „Erinnerungsorte“ und „Linguistic Landscapes“, lassen sich dem spatial turn der Kulturwissenschaften zuordnen. Dabei können sowohl geographische als auch symbolische Räume im Mittelpunkt stehen. So thematisiert Uwe K OREIK die Bedeutung des so genannten deutschen ‚Wirtschaftswunders‘ für den Unterricht in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Unter Rückgriff auf eigene frühere Arbeiten und auf Überlegungen des Politikwissenschaftlers Herfried M ÜNKLER sieht er im rasanten wirtschaftlichen Aufstieg Westdeutschlands nach dem zweiten Weltkrieg einen der Gründungsmythen der Bundesrepublik, die bis heute wirken. Bei der Bearbeitung des Themas, das häufig auf A2/ B1-Niveau erfolgt, stellt K OREIK jedoch zwei Schwierigkeiten fest: erstens die bei der - auch kulturwissenschaftlich ausgerichteten - Landeskunde häufig zu beobachtende Reduktion auf wenige Stereotype, hier z.B. auf das „Festfoto zum einmillionsten VW-Käfer von 1955“ (S. 31). Zweitens geht er davon aus, dass 138 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2020-0026 49 (2020) • Heft 2 Reduktionen und Stereotypisierungen auch auf Wissensdefizite bei den Lehrkräften zurückzuführen sein könnten (ebd.). Um zu illustrieren, wie komplex etwa die Gründe für das deutsche Wirtschaftswunder sind, umreißt er insgesamt 13 Einflussgrößen, unter anderem die vermutlich entscheidende, aber in diesem Zusammenhang zumindest in DaF-Materialien selten berücksichtigte Korea-Krise (S. 35). Auf dieser Grundlage formuliert er die Frage, „[…] ob wir tatsächlich darauf setzen können, im Landeskundeunterricht rein diskursiv vorzugehen und weitgehend auf dem vorhandenen (oder eben nicht vorhandenen) Vorwissen der Lernenden aufzubauen. Ich habe bei der rein diskursiven Variante meine Zweifel! “ (S. 42) Die antithetische Gegenüberstellung von ‚Wissen‘ und ‚diskursivem Vorgehen‘ ist sicher in mehrerlei Hinsicht eine Zuspitzung. K OREIK erinnert mit ihr aber zu Recht daran, dass ein diskurstheoretischer Blick auf kulturelle Phänomene nicht mit postmoderner Beliebigkeit oder Geschichtsvergessenheit gleichgesetzt werden sollte. Sein Beitrag ist somit ein Plädoyer dafür, die Komplexität von kulturell relevanten Themen auch im Fremdsprachenunterricht zu berücksichtigen. Darüber hinaus stellt er eine mögliche Folie für die Lektüre der weiteren Beiträge dar. Die Entscheidung der Herausgeberin, K OREIKS Plädoyer für ein historisch fundiertes kulturelles Lernen gleich an den Beginn des Sammelbandes zu platzieren, überzeugt daher. ‚Erinnerungsorte‘ können mythische Orte wie die westdeutschen Wirtschaftswunderjahre sein, die mit geographischen Orten - hier: Korea oder Wolfsburg - in Verbindung stehen. Umgekehrt werden Erinnerungsorte oft zuerst als reale geographische Orte verstanden, an denen sich vielfältige kollektive Erinnerungen bündeln und die auf diese Weise mythisch überhöht werden. Silke P ASEWALCK und Dieter N EIDLINGER weisen auf den interessanten Umstand hin, dass der Ansatz in jüngster Zeit nach Ostmitteleuropa „‚gewandert‘ ist, […] die kulturellen Kristallisationspunkte zugleich Schnittmengen mehrerer kultureller Gedächtnisse respektive Narrative und rollendivergierender Gewalterfahrungen wurden.“ (S. 51) In ihrem Beitrag, in dem sie sowohl mit dem Konzept der Erinnerungsorte als auch mit dem Ansatz der linguistic landscapes arbeiten, untersuchen sie die sprachlich-kulturhistorischen Besonderheiten der estnischen Stadt Tartu/ Dorpat/ Jurjew. Dabei greifen sie auf den Palimpsest-Begriff zurück und illustrieren an anschaulichen Beispielen (historischen Postkarten, Lithographien von Gebäuden, Banknoten), dass sich Mehrsprachigkeit häufig nicht durch ein additives Nebeneinander, sondern eher durch eine Überlagerung von Sprachen in mehreren Schichten auszeichnet. Die Idee, mit Lernenden auf „Spurensuche“ (S. 53) zu gehen, hat daher ohne Zweifel das Potential, ein sprachlich-kulturelles Lernen anzubahnen, das dem aktuellen Stand der Kulturwissenschaften entspricht. Auch dieser Beitrag führt anschaulich vor Augen, dass ein diskursanalytischer Blick wenig mit subjektiver Beliebigkeit, viel dagegen mit der archäologischen Freilegung von Zeichen und Bedeutungen zu tun haben sollte. Ihren eigenen Beitrag ordnet die Herausgeberin dem Ansatz der linguistic landscapes zu. Im Anschluss an die Arbeiten Ingo W ARNKES stellt sie in ihm das Anliegen vor, Lernenden das bewusste Lesen von sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen im öffentlichen, vor allem urbanen Raum zu vermitteln. Es handelt sich somit in erster Linie um eine Wahrnehmungsschulung (S. 75). Dabei geht es darum, die automatisierte Alltagswahrnehmung, die bei den meisten Menschen beim Gang auf ihren alltäglichen Wegen dominieren dürfte, „zu durchbrechen, die Stadt in ihrer Komplexität sichtbar zu machen.“ (S. 86) Eines der Beispiele, das sie dafür anführt, ist die Arbeit mit Plakatwerbung: So bildet etwa eine Kampagne der Berliner Stadtreinigung den Ausgangspunkt für Überlegungen zum alltagspraktischen, aber auch sprachlichen Umgang mit dem Themenfeld Müll in Deutschland. Dazu gehört unter anderem die Feststellung, dass der Begriff ‚Müll‘ negativ konnotiert ist. In Gesetzes- und Behördentexten wird daher meist der neutralere Begriff ‚Abfall‘ verwendet, und auf den Plakaten der BSR wird ‚Biomüll‘ gar zum ‚Biogut‘ (S. 85). Auf diese Weise wird sprachlich markiert, dass es Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 139 49 (2020) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0027 sich um etwas Wertvolles handelt, das man nicht achtlos wegwirft, sondern säuberlich getrennt von anderen Abfällen in die passende Tonne gibt. Das Beispiel zeigt anschaulich, wie Sprache ganz gezielt dazu verwendet werden kann, bei den Adressaten eine Verhaltensänderung zu bewirken - und wie Lernende eben dies durch sinnvolle Lernarrangements selbst entdecken und kritisch reflektieren können. Die weiteren, ebenfalls überzeugenden Beiträge zum Thema linguistic landscapes beschäftigen sich mit der Unterscheidung zwischen primären und sekundären linguistic landscapes (Camilla B ADSTÜBNER -K IZIK ) sowie mit dem Umgang mit Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum in mehrsprachigen Städten, hier am Beispiel der Tschechischen Republik und der Schweiz (Claudio S CARVAGLIERI , Ruth P APPENHAGEN ). Es folgen Beiträge, die unter den Überschriften „Kultursemiotik“, „Symbolische Kompetenz“, „Integrative Landeskunde“ und „Kulturelle Deutungsmuster“ zusammengefasst sind. In den theoretischen Grundlagen setzen sie jeweils eigene Akzente. Beispielhaft sei hier der Beitrag von Eva R EBLIN genannt („Das Spiel der urbanen Signifikanten - die Dinge, die Stadt und die Kultur(en) erkunden“). Sie stützt sich auf die Kultursemiotik, insbesondere auf die Arbeiten Roland B ARTHES ‘ und seinen „syntaktischen Ansatz“ (S. 169). Die methodischen Vorschläge zur Erkundung des urbanen Raumes ähneln - trotz abweichender theoretischer Fundierung - gleichwohl jenen, die sich z.B. in der Rubrik „Erinnerungsorte“ finden. Natürlich lassen sich die Prinzipien eines solchen Vorgehens auch anwenden, ohne dass man den Klassenraum verlässt. Dies zeigt sich beispielsweise in den Überlegungen von Claire K RAMSCH zur „Symbolischen Kompetenz“ oder im Beitrag von Jens G RIMSTEIN und Almut H ILLE , die sich mit Essays zum Thema Globalisierung beschäftigen. Es stellt sich daher die Frage, ob die offenkundig großen Überschneidungen beim kulturwissenschaftlich ausgerichteten sprachlich-kulturellen Lernen nicht allmählich auf eine gemeinsame theoretische und terminologische Basis gestellt werden sollten - andernfalls wird der Eindruck, es handle sich um ‚Kraut und Rüben‘, vielleicht länger bestehen bleiben als nötig. Nach gut 20 Jahren, die der Paradigmenwechsel inzwischen andauert, ist die Zeit dafür ohne Zweifel reif. Die Herausgeberin beantwortet die Frage selbst, wie die genannte Basis aussehen könnte: „Wie sich in den hier vorliegenden Beiträgen herauskristallisiert, ist ein Diskursbegriff nötig, der eine kritische, differenzierte und konstruktive Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Mustern und Prozessen erlaubt und damit für Forschung, Lehre und Unterricht im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache produktiv ist.“ (S. 10) Dieser Einschätzung ist auch in Bezug auf andere Fächer und ihre Didaktiken, z.B. Französisch, Spanisch und Italienisch, ohne Einschränkungen zuzustimmen. Der insgesamt sehr gelungene Sammelband legt noch einen anderen Schluss nahe, was zu tun wäre, um das lange geforderte „Aufbrechen der unglücklichen Verquickung von Kultur, Nation und Sprache“ (S. 9, Zitat S CHMENK ) zu erreichen. Nämlich den, dass man sich auch vom Landeskundebegriff endlich verabschieden sollte. Dresden J OCHEN P LIKAT Christine H ÉLOT , Carolien F RIJNS , Koen VAN G ORP , Sven S IERENS (Hrsg.): Language Awareness in Multilingual Classrooms in Europe. Boston/ Berlin: De Gruyter/ Mouton 2018, 305 Seiten [91,99 €] Die dem Vorwort des kanadischen Mehrsprachigkeitsforschers und angewandten Linguisten Jim C UMMINS folgende Einführung der vier Herausgeber steckt den Rahmen des Buches ab,