Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2020-0028
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/101
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Gnutzmann Küster SchrammKathleen PLÖTNER, Marc BLANCHER (Hrsg.): Aux frontières de l’autre. Kulturdidaktische und kulturwissenschaftliche Studien zu medialen Stereotypen. Berlin [etc.]: Lang 2019, 228 Seiten [56,95 €]
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Christiane Fäcke
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142 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2020-0028 49 (2020) • Heft 2 lichkeit und Notwendigkeit, kollaborativ mehrsprachige Texte zu produzieren, kann dazu beitragen, dass Lernende in der gemeinsamen Arbeit an „identity projects“ die unterschiedlichen, aber sich ergänzenden sprachlichen und kulturellen Potenziale ihrer Mitschüler kennenlernen, und zwar in „authentic, non-threatening and productive ways“ (S. 230). Wie bereits der vorausgehende Artikel, so befasst sich auch der von Koen V AN G OERP und Steven V ERHEYEN mit dem Erwerb von LA durch Grundschüler, in diesem Fall von sieben Klassen in Flandern, am Beispiel mehrsprachiger Aufgaben. Die Autoren gehen davon aus, dass translanguaging und die Fokussierung auf Mehrsprachigkeit hilfreiche Instrumente sind, um Sensibilität und Bewusstheit gegenüber sprachlicher und damit assoziierter kultureller Vielfalt zu erreichen und den flämischen „monolingualen Habitus“ zu durchbrechen. Die Auswertung von Gruppenarbeiten, die Sprachenwahlen der Lernenden wie auch deren Interaktionen mit den Unterrichtenden haben ergeben, dass lernerseitige LA-Erkenntnisse sich vor allem dann herausbilden, wenn die Lernenden im Klassenzimmer auf ihr gesamtes sprachliches Repertoire zurückgreifen können. Latisha M ARY und Andrea S. Y OUNG widmen sich in ihrem Beitrag der Frage, in welchen Phasen der Lehrerausbildung in Frankreich die hierfür notwendigen Kompetenzen erworben werden können. Dabei standen für die Verfasserinnen im Hinblick auf die Lehramtsstudierenden die folgenden Forschungsfragen durchgehend im Vordergrund: 1. Erwerb eines kritischen Bewusstseins zur Diskriminierung von Sprachen und den unterliegenden Einstellungen, 2. Sensibilisierung für die mehrsprachigen und -kulturellen Bedürfnisse der Lernenden sowie 3. Bereitstellung von Strategien zur Schaffung von Lernumgebungen, die Diversität wertschätzen und gleichzeitig „safe spaces“ (S. 277) schaffen, in denen Kinder lernen können. Es ist das Verdienst des vorliegenden Bandes, dass er einen umfassenden, aber auch kritischen Beitrag zur aktuellen theoretischen Diskussion von LA liefert und durch die empirische Fundierung der Beiträge wichtige neue Einsichten in die Potenziale, aber auch Unzulänglichkeiten des Konzeptes LA vermittelt. Die in einigen Beiträgen stark durchscheinende politische Agenda ist einem offenen Erkenntnisinteresse nicht immer zuträglich. Braunschweig C LAUS G NUTZMANN Kathleen P LÖTNER , Marc B LANCHER (Hrsg.): Aux frontières de l’autre. Kulturdidaktische und kulturwissenschaftliche Studien zu medialen Stereotypen. Berlin [etc.]: Lang 2019, 228 Seiten [56,95 €] Seit Jahrzehnten werden Stereotype, Klischees und Vorurteile in den Sozial- und Kulturwissenschaften ebenso wie in der Fremdsprachenforschung diskutiert, definiert, voneinander abgegrenzt und analysiert. Auseinandersetzungen mit ihren Ursprüngen, Rollen und Funktionen erfolgen in der Regel mit der Zielsetzung einer Relativierung, Überwindung, Differenzierung oder auch Dekonstruktion. Diesem umfangreichen Diskurs fügen die Autorinnen und Autoren des Sammelbands Aux frontières de l’autre nun einen weiteren Beitrag hinzu, der sich daran messen lassen muss, ob und inwieweit hier neue Aspekte thematisiert werden. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, ob diese Publikation nun - wie immer wieder in diesem Feld - Stereotype thematisieren kann, ohne selbst in Stereotype zu verfallen. Insgesamt können beide Fragen positiv beantwortet werden. Der Sammelband enthält zunächst einen einleitenden Beitrag der beiden Herausgeber über sprachliche und visuelle Stereotype, in dem an bestehende Diskurse angeknüpft und der aktuelle Stand der Forschung zusammenfassend dargestellt wird. Die Leistung des Bandes besteht sicherlich in der Fokus- Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 143 49 (2020) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2020-0028 sierung auf Frankreich und Deutschland sowie in der differenzierten kulturwissenschaftlichen und kulturdidaktischen Aufarbeitung konkreter Beispiele. Die Beiträge umfassen eine Analyse nationaler Klischees in ausgewählten Antikriegsliedern, vor allem eines Chansons von Georges Brassens (Cordula N EIS ), eine kulturlinguistische Analyse der Bezeichnungen La Mannschaft und La Grande Nation (Sylvie M UTET ) oder auch eine Analyse der sprachlichen Stereotypisierung in der Comic-Reihe Asterix und Obelix (Julia L ANGE ). Die jeweiligen Themen werden ausführlich vorgestellt, Ursprünge und Kontexte analysiert und schließlich auf ihr Potenzial zur Thematisierung im Französischunterricht reflektiert. Die Lektüre vermittelt zahlreiche kulturwissenschaftliche Einsichten z.B. in Klischees in dem antimilitaristischen Chanson Les deux oncles und der darin enthaltenen stereotypen Darstellung der „Tommies“ und der „Teutonen“, in Kontexte des in Frankreich gebräuchlichen Ausdrucks La Mannschaft zur Bezeichnung der deutschen Fußballnationalmannschaft und des in Deutschland verwendeten Begriffs La Grande Nation für Frankreich, oder auch in zahlreiche Mechanismen in den Sprachkarikaturen und stereotypisierten Sprachen in der Comic-Reihe Asterix und Obelix. Ein weiterer Schwerpunkt der Publikation sind Geschlechterstereotype. In einer Analyse der „Jungenkrise“ und „Jungenförderung“ im Französischunterricht (Matthias G REIN ) geht es um Stereotype in Diskursen der Französischdidaktik selbst. Ausgehend von einer stereotypisierten Wahrnehmung des Französischen als feminin konnotierter Sprache wird der Versuch einer Dekonstruktion der sogenannten „Jungenkrise“ des Französischunterrichts unternommen. Ein weiterer Fokus liegt auf Geschlechterstereotype in der politischen Karikatur in den deutschfranzösischen Beziehungen (Regina S CHLEICHER ). Die detaillierten Analysen erörtern le couple franco-allemand am Beispiel u.a. von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy in der deutschen und in der französischen Presse. Neben Geschlecht als sozialer Strukturkategorie werden auch politische Diskurse zur ethnischen Herkunft zum Gegenstand gemacht. Dabei geht es um derzeit in der Öffentlichkeit relevante Themen wie den Islam, Islamismus und Terrorismus oder auch um aktuelle politische Entwicklungen im rechten Parteienspektrum. Konkret wird die neue Terrorismusgefahr im Fremdsprachenunterricht anhand französischer Karikaturen beleuchtet (Benjamin I NAL ). Es erfolgt ein Plädoyer zur Analyse von Karikaturen im Kontext des Attentats auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo 2015 mit dem Ziel, transkulturelle Lernprozesse im Französischunterricht anzustoßen. Unter dem Motto Gemeinsam gegen Rechts wird das Potenzial politischer Bildung zur Demokratieförderung im Französischunterricht erörtert (Aline W ILLEMS ). Im Mittelpunkt der Analyse stehen La Présidente, eine Uchronie bzw. Dystopie über die ersten 100 Tage Marine le Pens im Amt der französischen Staatspräsidentin, sowie Vorschläge zum Einsatz des Textes im Französischunterricht. Ein weiterer Schwerpunkt umfasst die Analyse medial transportierter Stereotype. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit nationaler Identität im französischen Kino der letzten Jahre, konkret in den Filmen Bienvenue chez les Ch’tis. Intouchables und Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu? (Christophe L OSFELD ). In diesen an den Kinokassen überaus erfolgreichen Komödien wird die Auseinandersetzung mit Vorurteilen als Schlüssel zum Verständnis der jeweiligen karikierten Zielkulturen und Zielgruppen genutzt. Ein weiterer Beitrag umfasst eine Analyse des Stereotyps in der (inter)medialen Praxis und im Unterricht des Französischen als Fremdsprache (Français langue étrangère) (Marc B LANCHER ). Ausgehend von B AKHTINS Überlegungen zum Chronotop werden wiederum Stereotype in der Populärkultur, d.h. in Kino und Fernsehen, auf ihr didaktisches Potenzial beleuchtet. Die genannten Beiträge sind hermeneutisch angelegt und eröffnen zahl- und detailreiche kulturwissenschaftliche Analysen. Daneben steht ein weiterer Beitrag mit einem empirischen 144 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel DOI 10.2357/ FLuL-2020-0028 49 (2020) • Heft 2 Forschungsdesign. Es handelt sich um eine Studie zu Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Stereotypen und Klischees im Klassenraum, in der Sichtweisen Jugendlicher auf Stereotype und Klischees dargestellt werden (Claudia S CHLAAK ). Die Studie analysiert, wie Schülerinnen und Schüler von Klischees und Stereotypen geprägt sind und wie Lehrerinnen und Lehrer diese Vorstellungen im Unterricht thematisieren und hinterfragen können. Die Lektüre des Bandes eröffnet interessante Perspektiven auf kulturwissenschaftliche Fragen zur Darstellung des Anderen und schreibt sich damit in bestehende interkulturelle Diskurse mit neuen Aspekten ein. Der Schwerpunkt liegt mehrheitlich auf den Kulturwissenschaften, didaktische Fragestellungen zur Umsetzung schließen sich daran an und werden - nachrangig, aber fundiert - diskutiert. Als Leserin stelle ich mir mehrere Fragen: Zunächst, ob und wenn ja, inwieweit Wissen, d.h. landeskundliches und kulturwissenschaftliches Wissen sowie fundierte Kenntnisse beispielsweise über die genannten Themen, Auswirkungen auf Stereotype und Klischees hat. Was bewirkt mein Wissen über die Karikaturen um Charlie Hebdo oder über die Darstellung des deutsch-französischen Verhältnisses in der Presse? Führt solches Wissen zu differenzierteren Einstellungen, zur Reduktion von stereotypisierten Denkweisen? Die Hoffnung auf eine bejahende Antwort stellt sicher die Grundlage jeglichen pädagogischen Handelns dar, doch zeigt die Realität heute die Nachhaltigkeit und Hartnäckigkeit stereotypisierter und klischeehafter Sichtweisen sowie die Wirkmächtigkeit eines solchen Denkens. Eine weitere Frage kommt auf: Sie gilt der Begründung und Begründbarkeit bestimmter, in den Texten unhinterfragter „Wahrheiten“ und Postulate. Diese Postulate beinhalten bestimmte Setzungen wie Gemeinsam gegen Rechts oder „Wahrheiten“ wie, man möge das Andere - die Ch’tis, die Behinderten oder die Multi-Kulti-Gesellschaft - nicht ausgrenzen. Ja! Natürlich! Selbst wenn ich diese Positionen teile, bleibt das Unbehagen an der unhinterfragten Setzung dieser politischen Positionen. Wenn der Band die Grenze zu dem Anderen thematisiert, wie der Titel Aux frontières de l’autre nahelegt, so bleibt ein Unbehagen dahingehend, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen als das Andere definiert sind, - und andere gesellschaftliche Gruppen nun eben nicht. Wie steht es nun um Minderheiten, die in aktuellen gesellschaftlichen Diskursen nicht in gleichem Maße thematisiert werden? Beispielsweise Angehörige autochthoner Minderheiten oder die Mitglieder von Vertriebenenverbänden, z.B. die Siebenbürger Sachsen oder die Banater Schwaben? Dies führt zu einer letzten Frage: Wie ist es möglich, das Ziel Gemeinsam gegen Rechts zu verfolgen und dabei genau diejenigen anzusprechen, die in diesem Diskurs das Andere sind? Wie kann beispielsweise die Auseinandersetzung mit einem Anhänger der AfD gelingen? An dieser Stelle anzusetzen wäre sicher ein lohnendes Projekt und eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung bestehender Diskurse. Eine Antwort ist sicher nicht leicht zu finden, doch würde ich mir von den Autoren des vorliegenden Sammelbandes einen differenzierten zweiten Band zu diesen Fragen wünschen. Augsburg C HRISTIANE F ÄCKE