eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 50/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2021-0001
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/31
2021
501 Gnutzmann Küster Schramm

Zur Einführung in den Themenschwerpunkt

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2021
Bärbel Diehr
Dominik Rumlich
flul5010003
50 (2021) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0001 B ÄRBEL D IEHR , D OMINIK R UMLICH * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 1. Die gestiegene Bedeutung von bilingualem Unterricht Der bilinguale Unterricht kann weltweit auf eine Entwicklung über viele Jahre zurückblicken. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts steigt das öffentliche, wirtschaftliche und wissenschaftliche Interesse an individueller Bilingualität und Plurilingualität sowie gesellschaftlicher Multilingualität. Im Zuge dieser Entwicklung hat in vielen Ländern auch das schulische Lehren und Lernen in zwei Sprachen an Bedeutung gewonnen (für eine kompakte Übersicht über die historische Entwicklung vgl. W OLFF 2016). In Deutschland nahm die Institutionalisierung des bilingualen Unterrichts mit dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag von 1963 ihren Anfang; seit den 1990er Jahren haben politische Beschlüsse auf europäischer Ebene der Ausbreitung bilingualen Unterrichts eine zusätzliche Dynamik verliehen. Die statistische Dokumentation bilingualen Unterrichts erfolgt bundeslandspezifisch in stark variierender Aktualität und Detailtiefe (bspw. Aufschlüsselung bzgl. Schulformen, Anzahl der Schülerinnen und Schüler sowie Arten unterschiedlich intensiver Angebote wie bspw. Züge oder Module). Daher können die mithilfe der Webseiten der Ministerien zusammengetragenen Zahlen (Tab. 1), die aus den Jahren zwischen 2014 und 2019 stammen, lediglich eine grobe Orientierung im Hinblick auf eine Mindestzahl bieten. Es wird dabei deutlich, dass die Zahl der erfassten Schulen mit strukturell verankerten bilingualen Zügen/ Zweigen (als intensivste, schuljahresübergreifende Form des bilingualen Unterrichts in bis zu drei Fächern) beachtlich ist - und real vermutlich noch deutlich darüber liegt. Dabei sind diese Angebote nicht ausschließlich an Gymnasien zu finden: In Baden-Württemberg verfügen bereits * Korrespondenzadressen: Prof. i.R. Dr. Bärbel D IEHR , Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Gaußstr. 20, 42119 W UPPERTAL E-Mail: diehr@uni-wuppertal.de Arbeitsbereiche: Bilinguales Lehren und Lernen, Lesedidaktik, Kritische Diskursanalyse im Fremdsprachenunterricht, Internationalisierung der Lehrerbildung Prof. Dr. Dominik R UMLICH , Universität Paderborn, Institut für Anglistik-Amerikanistik, Didaktik des Englischen, Warburger Str. 100, 33098 P ADERBORN E-Mail: dominik.rumlich@uni-paderborn.de Arbeitsbereiche: Bilinguales Lehren und Lernen, Assessment, affektiv-motivationale Determinanten des Sprachenlernens Bilin g ualer U nt erricht Aktu ell e He ra us forde run g e n und ne ue C ha nc en 4 Bärbel Diehr, Dominik Rumlich DOI 10.2357/ FLuL-2021-0001 50 (2021) • Heft 1 knapp 20% der Realschulen über bilinguale Züge (vgl. M INISTERIUM FÜR K ULTUS , J UGEND UND S PORT B ADEN -W ÜRTTEMBERG 2017). Bundesland Anzahl Schulen mit bilingualen Zügen Baden-Württemberg 203 Bayern 227 Berlin 81 Brandenburg 31 Bremen 10 Hamburg 45 Hessen 158 Mecklenburg-Vorpommern Keine Daten vorhanden Niedersachsen 148 Nordrhein-Westfalen 386 Rheinland-Pfalz 75 Saarland 18 Sachsen 10 Sachsen-Anhalt 17 Schleswig-Holstein 42 Thüringen 7 Gesamt 1458 Tab. 1: Anzahl an Schulen mit bilingualen Zügen/ Zweigen nach Bundesländern Das starke Interesse spiegelt sich auch in der Forschung und den wissenschaftlichen Publikationen zum gesamten Bereich der Bilingualität und Mehrsprachigkeit wider, v.a. in der großen Vielfalt spezifischer Fachjournale zu dieser Thematik und deren verstärkter Gründung seit den 1990er Jahren. Zu den breit rezipierten gehören u.a. Bilingual Research Journal (1975), Journal of Multilingual and Multicultural Development (1980), Multilingua (1982), Studies in Bilingualism (1992), International Journal of Bilingualism (1997), Bilingualism: Language and Cognition (1998), International Journal of Bilingual Education and Bilingualism (1998), International Journal of Multilingualism (2004), Journal of Multilingual Education Research (2010), Linguistic Approaches to Bilingualism (2011), Journal of Immersion and Content- Based Language Education (2013), Journal of Plurilingual and Multilingual Education (2013). Um die existierenden Potenziale noch besser ausschöpfen zu können, gilt es, die Konzepte für bilingualen Unterricht weiterzuentwickeln, sie an demografisch-gesellschaftliche Veränderungen anzupassen und neue Zielperspektiven in den Blick zu nehmen. Auch die Expansion und Diversifizierung der bilingualen Angebote sowie die Digitalisierung des Lernens und Lehrens machen die kontinuierliche Weiterentwicklung des bilingualen Unterrichts notwendig. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 50 (2021) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0001 Dabei bietet die Situation in Deutschland, Österreich und z.T. in der Schweiz besondere Vorteile, da die Lehrerbildung in der Regel auf dem Studium zweier Fächer beruht und die daraus resultierende Qualifikation eine erfolgreiche Integration von Sach- und Sprachfach im bilingualen Unterricht begünstigt. Zudem haben die strukturellen und inhaltlichen Reformen der Lehrerbildung in Deutschland dazu geführt, dass an immer mehr Hochschulstandorten mit Lehramtsstudiengängen Professuren für die Fachdidaktiken eingerichtet werden, um eine qualitativ hochwertige Verknüpfung von Forschung und Lehre sicherzustellen. 2. Die Potenziale des bilingualen Unterrichts für die Ziele und Aufgaben der Schule nutzen Für ein zukunftsfähiges Bildungswesen wird dem bilingualen Unterricht ein besonderes Potenzial zugeschrieben, die Schule bei der Erfüllung zentraler Kernaufgaben wie der Bildung für nachhaltige Entwicklung, fächerübergreifendem Lernen, Erziehung zur Mehrsprachigkeit, Multiperspektivität und Diversitätssensibilität zu unterstützen. Gerade die Notwendigkeit, Inhalte sprachsensibel aufzubereiten und die Verknüpfung von fachlichem und sprachlichem Lernen stets im Blick zu halten, hat die Akteur*innen des bilingualen Unterrichts zu „Impulsgebern für einen methodischen Paradigmenwechsel in den nicht-sprachlichen Fächern“ (W OLFF 2016: 32) gemacht. Bilingualer Unterricht ist heute mindestens vier großen Zielkomplexen verpflichtet, in denen er eine Vorreiterfunktion ausüben und seine besonderen Potenziale entfalten kann: Die Förderung des kulturellen Lernens, (das auf Offenheit, Toleranz und Perspektivwechsel ebenso abzielt wie auf Orientierungswissen und Deutungsfähigkeit,) und der kulturellen Vielfalt als einer zentralen Aufgabe und Chance des bilingualen Unterrichts leitet sich aus dem geschichtlich gewachsenen Ziel der Völkerverständigung ab, mit dem der deutsch-französische Freundschaftsvertrag 1963 den entscheidenden Impuls für die Institutionalisierung bilingualen Unterrichts gab. Die zunehmende kulturelle Vielfalt des Lebens in der globalisierten Welt, auch als Super-Diversität beschrieben (vgl. V ERTOVEC 2007: 1024, 1026), unterstreicht die andauernd hohe Bedeutung dieses Lernbereiches. In allen Fächern kann der mit Sprachwechseln verbundene Wechsel der Standpunkte Mehrperspektivität und ein Bewusstsein für verschiedene (kulturell geprägte) Sichtweisen fördern. Dazu eignen sich nicht nur gesellschaftswissenschaftliche Fächer wie Geschichte und Politik, sondern beispielsweise auch das Fach Kunst, in dem unterschiedliche Attribuierungen von Farben und Symbolen in verschiedenen Kulturkreisen bewusst gemacht werden (vgl. z.B. M C C ANDLESS 2012); im Fach Biologie z.B. können am Thema Gentechnik unterschiedliche Haltungen zu Fragen der Forschungsethik thematisiert werden. Mit dem oben genannten Zielkomplex ist die Wertschätzung der Sprachenvielfalt und die Bedeutung von Sprache(n) - nicht zuletzt für die eigene Identität - eng verbunden. Um die kulturbezogene Perspektivenerweiterung für die Herausbildung von Mehrsprachigkeit zu nutzen, bieten sich die didaktisch-methodischen Konzepte des 6 Bärbel Diehr, Dominik Rumlich DOI 10.2357/ FLuL-2021-0001 50 (2021) • Heft 1 bilingualen Lehrens in besonderer Weise an (vgl. W OLFF 2016: 35). Sie zielen nicht auf einen reibungslosen Übersetzungsprozess von einer Sprache in eine andere ab, sondern wecken das Verständnis für die partiellen und fehlenden Äquivalenzen zwischen Begriffen aus unterschiedlichen Sprachen. Damit wird der Grundstein für die Einsicht gelegt, dass Sprachen die Welt begreifbar und verstehbar machen - jede auf ihre Art. Nachdem der frühe bilinguale Sachfachunterricht vor allem als Mittel zur Förderung des Fremdsprachenlernens gesehen und propagiert wurde, rückt in den letzten Jahren das fachliche Lernen in den Mittelpunkt. Deshalb gilt das jeweilige Sachfach als Leitfach des bilingualen Unterrichts, der Wissen, Fertigkeiten und Kompetenzen auf konzeptueller und methodischer Ebene entwickeln muss. Hier liegt auch ein Grund dafür, dass zwar Strategien und Konzepte bilingualen Lehrens und Lernens entwickelt, erprobt und weiterentwickelt werden können, dass es aber eine universelle „Bilingualdidaktik“ nicht geben kann. Die Vielfalt der Fächer erfordert somit eine Vielfalt der Didaktiken des bilingualen Lehrens und Lernens. Nachdem sich Sachfächer lange Zeit über ihre fachspezifischen Inhalte, Erkenntniswege und Methoden definierten, hat sich nach und nach die Einsicht durchgesetzt, dass Fachunterricht auch sprachliches Lernen fördern und sichern muss. Die Gründe liegen zum einen in der Notwendigkeit, Lernenden Fachtermine und Fachdiskurse zu vermitteln, und zum anderen in der sprachlichen Verfasstheit schulischen Lernens insgesamt (vgl. S CHMÖLZER -E IBINGER 2012: 25). Daraus folgt, dass dem Zusammenhang zwischen Sprachkompetenz und erfolgreichem Lernen im Fachunterricht didaktische Aufmerksamkeit geschenkt werden muss: Fachunterricht muss sprachsensibler Unterricht sein (vgl. z.B. Q UA - LIS NRW 2020). Das Adjektiv ,sprachsensibel’ wird vor allem in der Deutschdidaktik sowie in den DaF/ DaZ-Programmen für Unterrichtsmaßnahmen verwendet, die gezielt sprachliche Hürden in den Inhalten überbrücken und sprachliche Lücken der Lernenden ausgleichen. Mit Bezug auf die Didaktiken der naturwissenschaftlichen Fächer hat sich vor allem L EISEN (z.B. 2013) mit einem sprachsensiblen Fachunterricht auseinandergesetzt. Er stellt zudem den expliziten Bezug zwischen CLIL (Content and Language Integrated Learning) und sprachsensiblem Unterrichten her, da die sprachlichen Anforderungen im CLIL-Unterricht über dem Sprachvermögen der Lernenden liegen und daher besondere Stützmaßnahmen erfordern (vgl. L EISEN 2015: 46). Auf einen Zusammenhang zwischen dem fremdsprachlichen Kompetenzniveau und dem fachlichen Lernerfolg deuten auch die Ergebnisse aus V IRDIA s (2020) Studie zu CLIL Unterricht in der Grundschule hin: Schwächere naturwissenschaftliche Lernergebnisse sind bei Schülerinnen und Schülern auf sprachlich niedrigem Niveau zu beobachten, während sprachlich stärkere Lernende die fachlichen Unterrichtsziele auf vergleichbarem Level erreichen. Da Sprachförderung in diesem Sinne in jedem regulären Fach zum Tragen kommt, plädieren wir mit Blick auf den bilingualen Unterricht dafür, ihn als besonders sprachintensiven Unterricht zu begreifen und durchzuführen. Die Integration von konzeptuellem und sprachlichem Lernen beruht nicht nur auf der Vermittlung und dem Erwerb von Inhalten in einer Fremdsprache, sondern insbesondere auf der Sprachre- Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 50 (2021) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0001 flexion und dem bewussten Wechseln von Sprachen. Gemäß dem Ansatz focus on form (vgl. bspw. L ONG 1991; D OUGHTY / W ILLIAMS 1998) fördert der bilinguale Unterricht ein Nachdenken über Alltagssprache und Fachsprache sowie die Auswirkung auf Präzision des Diskurses. Auch der Vergleich zwischen semantischen Unterschieden in vermeintlich äquivalenten Fachbegriffen (z.B. Diät im Deutschen und diet im Englischen) fördert die Sprachbewusstheit und die Einsicht in die Teilkomponenten der Fachkonzepte. Die hier skizzierte Form der Integration von Inhalt und Sprache(n) sehen wir als konstitutiv für einen genuin zweisprachigen Unterricht, der sich nicht per se dem monolingualen Duktus (des Fremdsprachenunterrichts) unterordnet. Das charakteristische Bündel an Zielen des bilingualen Unterrichts, die über die Ziele des Fremdsprachenunterrichts hinausgehen, erfordern daher ein Aufbrechen des monolingualfremdsprachlichen Habitus (vgl. auch C UMMINS 1979). Aus dem komplexen Zielgefüge des kompetenzorientierten bilingualen Unterrichts sowie der unterschiedlichen Kontexte und Fächer, in denen er stattfindet, folgt ebenfalls, dass er noch vielfältiger gestaltet werden muss als der reguläre Fremdsprachenunterricht. Dazu gehören gezielte Maßnahmen zur Förderung von Mehrperspektivität im bilingualen Fachunterricht, Integration von sprachlichem und fachlichem Lernen, bewusste Entscheidungen für funktionale Sprachwechsel (vgl. F RISCH 2016) sowie gezielte Angebote zur kognitiven Aktivierung und möglichst gründlichen Verarbeitung (deep processing, vgl. C RAIK / L OCKHART 1972) von Inhalten unter Berücksichtigung der Merkmale des bilingualen mentalen Lexikons (vgl. D IEHR 2016 und 2018;  siehe Abb. 1, S. 9). 3. Verhältnis der Schulsprache zur Fremdsprache Die von D IEHR (2012: 23-27) vorgeschlagene Typologie des bilingualen Unterrichts beruht auf der Annahme, dass unterschiedliche Organisationsformen und unterschiedliche Konzepte zum Sprachwechsel gewinnbringend genutzt werden können, wenn Transparenz und Klarheit über die verschiedenen Formen und ihre Zielsetzungen herrschen. Die drei genannten Typen leiten sich aus dem Verhältnis zwischen der Fremdsprache und der Schulsprache im bilingualen Unterricht ab. Typ A steht für ein monolinguales Verständnis von bilingualem Unterricht, das international häufig als CLIL bezeichnet wird, in dem die Fremdsprache als Unterrichtsmedium der Erarbeitung von Inhalten und Aneignung von Konzepten dient. Im Mittelpunkt dieses Unterrichtstyps steht der Zuwachs an fremdsprachlicher und fachlicher Kompetenz sowie fachspezifischer Diskurskompetenz in der Fremdsprache (vgl. z.B. B ONNET 2004; Z YDATIß 2010). Typ B sieht den punktuellen Einbezug der Schulsprache (Deutsch) vor, der als Stützmaßnahme bei Verständnis- oder Ausdrucksproblemen empfohlen wird. Die Fremdsprache bleibt zwar das Unterrichtsmedium, aber die planvolle Mitbenutzung der Schulsprache Deutsch wird für spezifische Zubringerdienste vorgesehen. Diese Mitbenutzung kann sowohl mithilfe kognitiver als auch affektiver Aspekte begründet 8 Bärbel Diehr, Dominik Rumlich DOI 10.2357/ FLuL-2021-0001 50 (2021) • Heft 1 werden (vgl. z.B. B UTZKAMM 2005: 91; M ASSLER / I OANNOU -G EORGIOU 2010: 66; R ICHTER / Z IMMERMANN 2009: 119). In einem bilingualen Unterricht des Typs C findet der überwiegende Teil des Unterrichts in der Fremdsprache statt, aber die Schulsprache Deutsch nimmt in der didaktischen Begründung eine gleichberechtigte Rolle ein. Diese Gleichberechtigung beruht nicht auf einer paritätischen Aufteilung von Zeitkontingenten, sondern auf dem Ziel der doppelten Fachliteralität (vgl. „doppelte Sachfachliteralität“ in V OLLMER 2005: 134). Die Lernenden sollen in die Lage versetzt werden, Fachbegriffe in der Fremd- und in der Schulsprache zu erwerben und am Fachdiskurs in beiden Sprachen teilzunehmen. Zu diesem Zweck wird der Einsatz der Fremdsprache zwar mengenmäßig überwiegen, aber Sprachwechsel müssen immer wieder didaktisch funktional eingesetzt werden (vgl. z.B. B ÖING / P ALMEN 2012; C HRIST 2000; H ELBIG 2001). Es reicht nicht aus, Fachtermini in zweisprachigen Vokabellisten zur Verfügung zu stellen. Lernende müssen Fachbegriffe in ihrer Komplexität auch auf Deutsch konstruieren und im fachlichen Diskurs angemessen verwenden können. Sprachwechsel sollten daher mit komparativen oder kontrastiven Verfahren kombiniert werden, um Übersetzungsäquivalenzen zu problematisieren und die kulturelle Konstruiertheit von Fachbegriffen zu thematisieren (vgl. z.B. B ARRICELLI / S CHMIEDER 2007; G NUTZ - MANN 2006; R ÖSSLER 2002). Da Typologien wesensmäßig Vereinfachungen vornehmen, sei explizit daran erinnert, dass sie die Vielfalt des realen Unterrichts nicht abbilden können. D IEHR s (2012) Typologie dient vielmehr einer Orientierung über sprachspezifische Aspekte bilingualen Unterrichts, um Entscheidungen in Verbindung mit bestimmten Zielstellungen und Organisationsformen (z.B. für kurze modulare Formen nach Typ A und für längerfristige Angebote in bilingualen Zügen nach Typ C) für Lehrende zu erleichtern. Die für Typ C vorgeschlagenen bewusstmachenden und sprachvergleichenden Sprachwechsel beruhen auf der Annahme, dass sich eine vertiefte Verarbeitung von Inhalten nicht inzidentell nur durch den Gebrauch einer Fremdsprache als Medium (nach Typ A) einstellt. Kognitive Verarbeitung im Sinne eines deep processing erfordert vielmehr bewusstmachende Verfahren, die der Komplexität des bilingualen mentalen Lexikons Rechnung tragen (vgl. D IEHR 2016, 2018;  siehe Abb. 1, S. 9). 4. Das (erweiterte) Modell des bilingualen mentalen Lexikons Die Annahme, dass der bilinguale Unterricht sich vorrangig auf den Erwerb von Fachkonzepten beschränken kann, erweist sich als problematisch, wenn damit die Überzeugung verbunden ist, dass durch einen vermeintlich einfachen Übersetzungsprozess die Bezeichnungen in der jeweils andere Sprache von den Lernenden dazugelernt werden können. Dieser Annahme liegt die Vorstellung eines mentalen Lexikons zugrunde, das z.B. nach K ROLL und S TEWART (1994) nur einen konzeptuellen Speicher, aber mehrere Sprachspeicher enthält; für ein und dasselbe Phänomen gäbe es dann in verschiedenen Sprachen äquivalente Repräsentationen bzw. Bezeichnungen. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 50 (2021) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0001 Die kognitionspsychologische Forschung der jüngeren Zeit (vgl. vor allem P AVLENKO 2009, 2016), aber auch die Übersetzungswissenschaft (vgl. S IEPMANN 2019) machen jedoch darauf aufmerksam, dass Übersetzungsäquivalenzen eher die Ausnahme als die Regel sind. Diese Erkenntnis schlägt sich z.B. in P AVLENKO s (2009) Modified Hierarchical Model des bilingualen mentalen Lexikons nieder, das von D IEHR (2016) für bilingualdidaktische Zwecke weiterentwickelt wurde (Abb. 1). Abb. 1: Integrated Dynamic Model des mentalen Lexikons bilingual unterrichteter Lernender (vgl. D IEHR 2016: 71) Für den bilingualen Unterricht folgt aus der Komplexität des bilingualen mentalen Lexikons, dass nicht nur Registerunterschiede zwischen alltagssprachlichen und fachsprachlichen Bezeichnungen bewusst gemacht werden müssen, sondern dass Lernende befähigt werden, fehlende und partielle Äquivalenzen im Diskurs zu berücksichtigen. 5. Aktuelle Herausforderungen und Beiträge des Heftes Die neusten Entwicklungen und Erkenntnisse, sowohl in theoretisch-konzeptueller als auch in empirischer Hinsicht, dienen als Ausgangspunkt für die themenspezifischen Beiträge dieses Heftes. Es soll aktuelle Herausforderungen, aber darüber hinaus damit einhergehende neue Chancen des bilingualen Lehrens und Lernens (auch für die Sachfächer) aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Dabei sind es die gelebte Interdisziplinarität, die Adressierung des Spannungsverhältnisses von Inhalt und Sprache sowie die Anpassungsfähigkeit und der damit einhergehende Facettenreich- 10 Bärbel Diehr, Dominik Rumlich DOI 10.2357/ FLuL-2021-0001 50 (2021) • Heft 1 tum, die als konstituierende Merkmale des bilingualen Unterrichts seine vielfältigen Potentiale und genuinen Stärken in der Praxis darstellen. Es ist uns daher ein besonderes Anliegen, perspektivische, fachliche, sprachliche, forschungsmethodische, wissenschaftliche und schulisch-kontextuelle Vielfalt in der Auswahl der Beiträge abzubilden. Damit knüpft dieses Heft an aktuelle europäische Forschung und ihre Publikationen bspw. in den Niederlanden (vgl. R UMLICH 2018), Schweden (S YLVÉN 2019) oder Spanien (vgl. R UMLICH 2020 ) an. T OBIAS S CHOLL und L ARS S CHMELTER setzen sich in ihrem Beitrag intensiv damit auseinander, wie der bilinguale Unterricht dem Anspruch der doppelten Fachliteralität gerecht werden kann. Sie diskutieren die Bedeutung des systematischen Sprachwechsels im Allgemeinen und gehen anschließend detailliert auf Sprachmittlungsaufgaben als eine besondere Form des Sprachwechsels ein. Ausgehend von D IEHR s (2016) Modell des integrierten dynamischen Modells des bilingualen Lexikons stellen die Autoren ein neues Modell speziell für den sprachlichen Teil der doppelten Fachliteralität vor und zeigen auf theoretischer Ebene den Zusammenhang zwischen dieser sprachlichen Komponente und der Sprachmittlung auf. Durch seine Differenziertheit gibt dieses neue Modell der Diskussion um Fachliteralität im bilingualen Unterricht bedeutende Impulse. Es liefert zudem die Grundlage für ein laufendes Forschungsprojekt, in dem Inhalte des bilingualen deutsch-französischen Geschichtsunterrichts mithilfe von didaktisch inszenierter Sprachmittlung erarbeitet werden. Der Beitrag endet mit einem Ausblick auf die Ziele und Vorgehensweisen dieses Forschungsprojekts, das nach dem Design-Based-Research Ansatz an einem bilingualen Gymnasium durchgeführt wird. Bilingualer Unterricht wird überwiegend an weiterführenden Schulen und hier vorrangig an Gymnasien angeboten. Weltweit steigt jedoch die Nachfrage nach bilingualen Angeboten auch für die Grundschule. Diesen Trend greift der Beitrag von S TEFANIE F RISCH auf, der die besonderen Herausforderungen des bilingualen Lernens auf der Primarstufe theoretisch beleuchtet und ausgewählte empirische Ergebnisse der BiLL-NaWi Studie (Bilinguales Lehren und Lernen - Effekte auf die naturwissenschaftliche Kompetenz) vorstellt. Die Studie geht den Fragen nach, ob bilingual Englisch-Deutsch unterrichtete Kinder gleichwertige naturwissenschaftliche Kompetenzen entwickeln wie die monolingual deutsch unterrichteten Lernenden, ob sich dabei geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen und ob die Testsprache das Testergebnis der bilingual Unterrichteten beeinflusst. Dabei entstehen auch neue Einblicke in den Aspekt der Selektivität solcher Programme im Primarbereich (vgl. R UMLICH 2016 für den Sekundarbereich). Für die Weiterentwicklung des bilingualen Unterrichts, insbesondere in Grundschulen, liefern die berichteten Ergebnisse einen wichtigen Diskussionsbeitrag, der auch für zukünftige Forschung von Relevanz ist. An vielen Stellen wird betont, dass das Unterrichten eines Sachfachs in einer Fremdsprache mit positiven affektiv-motivationalen Effekten einhergehe, die sich wiederum förderlich auf das fachliche und sprachliche Lernen auswirkten (vgl. R UMLICH 2015). Für das deutsche Schulsystem fehlen jedoch umfassende empirische Belege; international vgl. bspw. D OIZ / L ASAGABASTER / S IERRA 2014; L ASAGABAS - Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 11 50 (2021) • Heft 1 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0001 TER / D OIZ 2017. Im Kontext des dual-immersiven Unterrichts der Staatlichen Europaschule Berlin (SESB) untersuchen J OHANNA F LECKENSTEIN , S ANDRA P REUSLER und J ENS M ÖLLER das Selbstkonzept von N = 617 Schülerinnen und Schülern in den Fächern Deutsch und Englisch im Vergleich mit einer repräsentativen Kontrollgruppe (N = 2.672) an Schulen ohne solche Programme. Statistische Analysen zeigen zwar absolute Vorteile für Teilnehmende des dual-immersiven Unterrichts, doch sie sind stark mit der sprachlichen Leistung verknüpft und verschwinden zu einem gewissen Teil, wenn weitere einflussreiche Variablen wie bspw. kognitive Grundfähigkeiten und sprachlicher Hintergrund in die Analysen integriert werden. Zudem treten bedeutsame Referenzgruppeneffekte und Verknüpfungen mit dem sprachlichen Hintergrund der Lernenden zu Tage; in Bezug auf ihr Selbstkonzept scheinen v.a. monolingual deutschsprachig aufgewachsene Schülerinnen und Schüler zu profitieren. Darüber hinaus unterstreichen die Ergebnisse in forschungsmethodischer Hinsicht die Bedeutung von hinreichend komplexen Designs und Analysen angesichts der immerwährenden Gefahr der Überschätzung „beobachteter“ Effekte aufgrund der komplexen Wechselbeziehung beteiligter Variablen. Neuzugewanderte finden in der Regel eine Lernumgebung vor, die im besten Fall als Immersion bezeichnet werden kann (vgl. D IEHR 2012: 20-22), da diese Kinder und Jugendlichen - abgesehen von ihrer familiären Umgebung - innerhalb und außerhalb der Schule in einer Sprache kommunizieren, die nicht ihre Erstsprache ist und in der sie in der Regel noch Lernbedarf haben. Tatsächlich wirkt sich diese Situation für die meisten oftmals nachteilig im Sinne einer Submersion aus: „Minority pupils are left to sink or swim in the mainstream curriculum“ (B AKER / W RIGHT 2017: 433). Gerade für die Gruppe der Neuzugewanderten könnten Ansätze des sprachintensiven bilingualen Sachfachunterrichts (vgl. D IEHR 2012: 29) im schulsprachlichen Unterricht Vorteile und (Binnen-)Differenzierungsmöglichkeiten bieten, die es gezielt zu erforschen und zu entwickeln gilt. K ATHARINA Z ENTGRAF , S USANNE P REDI - GER und A NNE B ERKEMEIER widmen sich diesem Desiderat im thematischen Kontext von Funktionen im fach- und sprachintegrierten Mathematikunterricht. Anhand fünf Neuzugewanderter mit geringen Deutschkenntnissen zeigen sie sowohl aus wissenschaftlicher als auch unterrichtspraktischer Perspektive mithilfe eines Design- Research-Projekts anhand der Analyse reichhaltiger Videographiedaten Möglichkeiten zur Entwicklung fachlicher Diskursfähigkeit auf. Die positiven Ergebnisse bestätigen existierende Befunde aus dem Mathematikunterricht und zeigen unter anderem, dass sprachlich komplexe Strukturen nicht vereinfacht, sondern sprachliches und konzeptuelles Lernen möglichst anschaulich und integriert gefördert werden sollten. Damit gelingt den Forscherinnen ein Brückenschlag zwischen CLIL, bilingualem Unterricht, Fachunterricht und DaZ, der die vorhandenen Synergien und das Innovationspotenzial der verschiedenen Ansätze beim Übertrag auf die Sachfächer verdeutlicht - eine kontextsensible Symbiose aus sprachsensiblem Mathematikunterricht und fachsensiblem DaZ-Unterricht. Der Anspruch, fremdsprachliches und fachliches Lernen in den verschiedenen Formen von CLIL (Content and Language Integrated Learning) und bilingualem 12 Bärbel Diehr, Dominik Rumlich DOI 10.2357/ FLuL-2021-0001 50 (2021) • Heft 1 Unterricht zu verbinden, steht im Mittelpunkt des Beitrags von M ICHAEL S CHART . Der Autor setzt seinen Schwerpunkt auf die Wirkung der Interaktion zwischen den Lernenden. Seine Studie, die im Rahmen eines DaF (Deutsch als Fremdsprache)-Programms einer japanischen Universität durchgeführt wurde, fokussiert das sprachliche und fachliche Lernen von Studierenden der Fächer Politikwissenschaft und Jura. Transkripte der erhobenen Daten veranschaulichen sowohl S CHART s forschungsmethodologisches Vorgehen als auch aufschlussreiche Beispiele für integrierte Lernprozesse, die sich in den interaktionalen Freiräumen entwickeln. Die Komplexität des integrierten Lernens wird durch die gewählten Fachkonzepte nachvollziehbar herausgearbeitet und liefert auch für andere Fremdsprachen relevante Erkenntnisse bezüglich des engen Zusammenhangs von Wort und Sache. Literatur B AKER , Colin / W RIGHT , Wayne E. ( 6 2017): Foundations of Bilingual Education and Bilingualism. Bristol: Multilingual Matters. 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