Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2021-0024
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
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Gnutzmann Küster SchrammMarie VANDERBEKE: Authentisierungsprozesse und die Nutzung Fremdsprachlicher „Affordances“ in Bilingualen Schülerlaborprojekten. Eine qualitative Studie. Berlin: Lang 2019, 421 Seiten [€ 78,50]
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Wolfgang Zydatiß
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DOI 10.2357/ FLuL-2021-0024 50 (2021) • Heft 2 Marie V ANDERBEKE : Authentisierungsprozesse und die Nutzung Fremdsprachlicher „Affordances“ in Bilingualen Schülerlaborprojekten. Eine qualitative Studie. Berlin: Lang 2019, 421 Seiten [€ 78,50] Das der Veröffentlichung zugrunde liegende Projekt ist an der Professional School of Education der Ruhr-Universität Bochum 2017 im Promotionskolleg „Wissenschaftsvermittlung im Schülerlabor“ entstanden. Von daher ist das Kolleg für den naturwissenschaftlichen Unterricht bilingual ausgelegt (Englisch als Arbeitssprache für das Fach Biologie). Die Verfasserin greift auf englisch und deutsch unterrichtete Oberstufenkurse für ihre deskriptiv-qualitative Studie zurück, um den Authentisierungsprozessen (der Nutzung des Englischen für die naturwissenschaftliche Interaktion) auf die Spur zu kommen. In dieser Hinsicht gibt es zwei reziprok-komplementäre Beziehungen zwischen den Eigenschaften des Individuums und den bisherigen Umwelterfahrungen: die Schule und die Mitglieder der Klasse, repräsentiert durch die Lehrkräfte und die Schüler/ innen (=SuS) als komplexe und dynamische Systeme. Sie definieren die Handlungsmöglichkeiten, sodass der Außenstehende nicht weiß, welche Faktoren erleichternd oder erschwerend waren, denn die Selbstorganisation des Lernens ist bestimmend (T OMASELLO ). Interaktionen werden als kognitive Bereicherung für die SuS begriffen, was W ERTSCH (aufbauend auf V YGOTSKY und B RUNER , der die Erkenntnisse V YGOTSKY s in Harvard überprüft) lobend in dem Begriff der ‚affordances‘ hervorhebt (= ‚appropriation‘ als Synonym). Leider nennt er nur die positiven, während die Verfasserin zeigt, dass es auch negative gibt. Der Neologismus von G IBSON (affordance) ist der Sinneswahrnehmung entnommen, besonders der ökologischen Sichtweise der Visualität, die als der Umwelt inhärente Bedingungen angesehen werden und die die Handlungen der Menschen in einer Situation beeinflussen. W ERTSCH in Harvard benutzt diesen Begriff innerhalb der Soziokulturellen Theorie, aber VAN L IER führt ihn endgültig in die Theorie des fremdsprachigen Lernens ein. Er geht vom aktiven, konstruktivistischen Lernen in einem situitierten Kontext aus und sieht Sprache als gedanklich vermittelte Handlungen zwischen Individuum und Umgebung - nicht als isolierte Wörter, Sätze oder Regeln. Vor allem grenzt er sich vom Input ab, den er als Konzept zu starr einstuft. Zusammenfassend verwiesen sei auf H ALLIDAY s Systemic Functional Linguistics, die in einer älteren Arbeit erwähnt wird (bei Q UASTHOFF ), nachdem H ALLIDAY 1976 von Großbritannien gen Australien im Anschluss an das erbärmliche Scheitern des schulischen Programms Language Across the Curriculum emigriert war. In dem Aufsatz wird die funktionale Relation zwischen Sprache und Sozialstruktur thematisiert. Der nach Kanada ausgewanderte Ire C UMMINS spricht bereits 1978 und 1979 von Basic Interpersonal Communicative Skills vs. Cognitive- Academic Language Proficiency (BICS v. CALP). Im Deutschen nennen wir das heute Alltagsvs. Bildungssprache, wobei CALP als Common Underlying Proficiency (= CUP) konzipiert wird. Der Sprachgebrauch ist generell ein gesellschaftliches Phänomen, ein Enkulturalisationsprojekt, der bei der Bildungssprache in der Entwicklung sehr viel länger als bei der Alltagssprache dauert (C UMMINS ). Ich habe auf H ALLIDAY , T OMASELLO , VAN L IER , C UMMINS , B RUNER , V YGOTSKY u.a. verwiesen, weil hier Nuklei sowohl für die Authentisierungsprozesse als auch für die affordance- Theorie zu verzeichnen sind; etwa Lernsetting, Fremdsprachennutzung, Handlungsoptionen, fachliches Fähigkeitskonzept, Partnerarbeit, schulische Vorerfahrungen, Laborant/ in usw. B e s p r e c h u n g e n Besprechungen 139 50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0024 Damit soll in eine Richtung gewiesen werden, die das Erkenntnisinteresse der Autorin unterstreicht, denn bisher sind bilinguale Schülerlabore meines Erachtens nicht hinreichend untersucht worden. Das zeigen die vorliegenden Fragebogenstudien, von denen sich die qualitative Evaluationsforschung positiv abhebt (nicht zuletzt über die Dokumentarische Methode). Sie bringt forschungsethische Aspekte ein und das fremdsprachliche scaffolding. Zu erwähnen wäre, dass H ALLIDAY eine educational linguistics gefördert hat: vgl. G IBBONS / H AMMOND , sein Student M OHAN im kanadischen Vancouver sowie D ALTON -P UFFER mit ihren kognitiven Diskursfunktionen. Marie V ANDERBEKE unterscheidet verschiedene affordances (darunter auch negative); z. B. die schulischen Vorerfahrungen, die zu kurzen SuS-Antworten im Anschluss an einen Vortrag des Lehrers/ der Lehrerin führen. Abgesehen von der schweigenden Arbeit werden die sozialen affordances häufiger benutzt, sodass für das bilinguale Schülerlabor die Theorie differenziert werden muss. Auffällig ist ferner, dass die erkenntnistheoretische Richtung der Sachfächer (hier: Biologie) bei den SuS reduziert ist. Die kognitiv-akademischen Ziele werden somit oft nicht realisiert, wie es das bilinguale CALP-Konzept und die ministeriellen Vorgaben vorsehen. Die SuS reagieren mit klarer Anlehnung an das Skript, d.h. an die Aufgabe, und zwar meist mittels „Kochbuch“-Versuchen. Die Fremdsprache (wünschenswert wären inzwischen Englisch und andere Sprachen für ein bilinguales Schülerlabor, da sich der Kreis erweitert hat; vgl. bereits G RADDOL ) wird oft nicht für die inhaltlich-fachliche Reflexion genutzt. Von daher sollte man die SuS mit der Wissenschaftssprache im internationalen Kontext vertraut machen oder aber momentan zur Erstsprache zurückkehren, wenn die Einheitlichkeit unter den SuS gegeben ist. Auf jeden Fall sind lexikogrammatische Hilfestellungen anzubieten, vor allem Fachbegriffe in der Fremdsprache. Die argumentative Lehrerzentrierung, sprich die diskursive Verbindung von längeren Interaktionen in der Fremdsprache, ist zu durchbrechen. Hier sind institutionelle Höflichkeitszwänge am Werk, die auch viel mit Machtstrukturen, Notendruck und Sprachbewusstheit zu tun haben. Die reflexive Literalität und das Hintergrundwissen sind zu stärken, das Schreiben ist generisch zu begründen, im fremdsprachigen Sachfachunterricht wie im bilingualen Schülerlabor. Der fremdsprachliche Projekttag ist vor- und nachzubereiten, im Gegensatz zum ‚reinen Tun‘ ist die Zielsprachennutzung zu begünstigen. Angesichts dieser Leistung, den Schülerlabortag nach den Authentisierungsprozessen und den affordances differenziert in einer qualitativen Studie zu untersuchen, sind die Heterogenität (bilinguale und nichtbilinguale SuS) und die geringe Anzahl von Probanden (drei Kurse der Oberstufe) nachgeordnet. Der Einsatz der Bildungssprache (hier einer Fremdsprache) stellt sich als ungewohnt bzw. artifiziell dar, als individuelle Einschränkung und kommunikative Barriere. Das Englische wird von den SuS mit der Alltagssprache assoziiert, d.h. es gibt keine authentische Beziehung zur Wissenschaftssprache. Diese ist jedoch auch in einen sozial-kulturellen Raum eingeordnet und ist folglich im Schülerlabortag didaktisch zu inszenieren, damit die SuS sich als selbstwirksam verstehen und eigene Gedanken produzieren. Die Verständnisüberprüfung der Lehrkraft reicht nicht, um inhaltliche Authentisierung zustande kommen zu lassen. Vorsicht ist allerdings geboten, denn SuS übernehmen zuweilen Konzepte von der science fiction. Es muss also ein integratives, sprachsensibles (L EISEN ) Modell entwickelt werden, da die Bildungssprache konzeptuell-reflexives Wissen vermittelt, was auch für die bilingual eingesetzten Sprachen gilt. Dazu sind Unterstützungssysteme für wissenschaftlich geprüfte Wahrscheinlichkeiten, ggf. revidierte persönliche Standpunkte, sachbezogene Diskussionen, verbales Denken und eine generische Textsortenkompetenz notwendig. Berlin W OLFGANG Z YDATIß
