eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 50/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2021-0025
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2021
502 Gnutzmann Küster Schramm

Eva WILDEN, Henning ROSSA: Fremdsprachenforschung als interdisziplinäres Projekt. Berlin et al.: Lang 2019, 229 Seiten [51,40 €]

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Birgit Schädlich
flul5020140
140 Besprechungen DOI 10.2357/ FLuL-2021-0025 50 (2021) • Heft 2 Eva W ILDEN , Henning R OSSA : Fremdsprachenforschung als interdisziplinäres Projekt. Berlin et al.: Lang 2019, 229 Seiten [51,40 €] Die Zeiten, in denen Fachdidaktiker*innen in forschungsmethodologischer Hinsicht einzelkämpferische Autodidakt*innen waren, sind glücklicherweise vorbei. Dennoch ist die Disziplin weit entfernt von einheitlichen Standards, die vergleichbar wären mit denen stärker etablierter Fachwissenschaften. Disziplinäre Selbstverortungen und -befragungen gehören daher in den letzten Jahren zum Interesse von Tagungen und Publikationen, wie auch im Band von Eva W ILDEN und Henning R OSSA deutlich wird. Dieser führt die Beiträge einer Sommerschule der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) zusammen und fokussiert dabei auf Interdisziplinarität als prägendes Merkmal fremdsprachendidaktischer Forschung (vgl. S. 22, S. 36, S. 68). Unter dem Motto „This is my truth, tell me yours” (S. 12) interessieren sich W ILDEN und R OSSA für eine Bestandsaufnahme der Disziplin, die sich einerseits per se inter- und transdisziplinär versteht und durch Verfahren der „Anleihe“ (S. 151) ein „Schmoren im eigenen Saft“ (S. 31) zu verhindern sucht, andererseits jedoch auf einem inhärent disziplinären Geltungsanspruch beharrt, der aus dem Gegenstand des Fremdsprachenlehrens- und -lernens selbst herrührt. In den zwei Großrubriken des Bandes werden zunächst Grundlagen der Interdisziplinarität diskutiert und dann in Forschungsmethoden der Fremdsprachendidaktik konkretisiert. Die Beiträge stammen von Fremdsprachenforscher*innen und Bildungswissenschaftler*innen sowie von so genannten Nachwuchswissenschaftler*innen, die an der Sommerschule beteiligt waren. Dem ersten Teil zugehörig sind eine Diskussion des Verhältnisses von Fremdsprachendidaktik und ihren Bezugswissenschaften (Barbara S CHMENK ), eine Aufarbeitung des Begriffs der Interdisziplinarität (W ILDEN und R OSSA ) sowie ein Beitrag zu forschungsethischen Fragen (Britta V IEBROCK ). Im zweiten Teil schließen sich jeweils Überblickstexte und Projektbeschreibungen zu qualitativen und quantitativen Methoden an: Der Teil zu den qualitativen Methoden wird eingeleitet durch einen Beitrag zur Vielfalt qualitativer Datenerhebungsverfahren (Karin A GUADO ) und eine Diskussion zum Verhältnis fachdidaktischer, erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Perspektiven in rekonstruktiven Forschungsansätzen (Matthias M ARTENS und Marie V ANDER - BEKE ). Als Konkretisierungen werden eine Dissertationsstudie zu transkulturell orientierter Literaturarbeit vorgestellt (Annika K REFT ) und ein Beitrag, der die Angemessenheit kodierender oder sequenzanalytischer Auswertungsverfahren für bereits vorhandenes empirisches Material diskutiert (Franziska P RÜSMANN ). Es schließt sich ein Überblickstext zu gängigen Methoden und jüngeren Entwicklungen quantitativer Fremdsprachenforschung an (Julia S ET - TINIERI ), dem drei Beiträge folgen, die sich jeweils mit Problemen von Mixed Methods und Triangulation befassen. Akzentuiert werden Herausforderungen der Arbeit mit quantitativen Daten und ihrer Generalisierbarkeit im Kontext der Schulforschung (Josefine K LEIN ), Prozesse und Werkzeuge zur Quantifizierung empirischer Daten (Susanne G NÄDIG und Madeleine D OMENECH ) sowie Probleme der Triangulation von standardisierten Tests mit Leitfadeninterviews (Patricia U HL ). Die Orientierung aller Beiträge an Möglichkeiten und Herausforderungen von Interdisziplinarität erweist sich als äußerst ergiebig, obschon das Verhältnis zu Bezugswissenschaften wie pädagogischer Psychologie, Soziologie, Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften als mindestens spannungsgeladen gelten kann: Zwar profitiert die Fremdsprachenforschung vom Methodentransfer aus diesen Disziplinen, umgekehrt scheint dies jedoch kaum der Fall zu sein, denn Soziolog*innen und Psycholog*innen wären - so S CHMENK s Vermutung - von den Besprechungen 141 50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0025 Arbeiten der Fremdsprachenforschung „höchstwahrscheinlich nur mittelmäßig beeindruckt“ (S. 32). Es ist ein Verdienst von W ILDEN und R OSSA , Interdisziplinarität geradezu handwerklich in ihrem Funktionieren vorzuführen, statt sie lediglich als worthülsigen Aufruf zu proklamieren. In der Einleitung werden die pädagogische Psychologie und die Soziologie als maßgebliche Bezugswissenschaften der Fremdsprachenforschung genannt, einschließlich der forschungsmethodischen Konsequenzen, die mit der Herstellung entsprechender Bezüge einhergehen, in dem Sinne, wie A GUADO (S. 69) betont, als Methoden immer auch eine Theorie ihres Gegenstands inhärent ist. Anschaulich zeigen W ILDEN und R OSSA an vier Dissertationsstudien, wie Interdisziplinarität durch den Bezug auf mindestens einen fremdsprachendidaktischen und einen bezugswissenschaftlichen Diskurs ausgestaltet wird und wie sich die Arbeiten im Spannungsfeld von „Transfer von Wissen und Methoden zwischen den Disziplinen einerseits und disziplinär eigenständige[n] Perspektiven auf den Gegenstand der Forschung andererseits“ (S. 38) positionieren. Dass im zweiten Teil des Bandes ein deutliches Interesse an Mixed Method Designs erkennbar wird, erklärt sich zum einen als eine mögliche forschungspraktische Antwort auf den von W ILDEN und R OSSA konstatierten complexity turn (S. 44). Zum anderen ergibt sich das Interesse aus der nach wie vor wenig ausgeprägten Präsenz quantitativer Fremdsprachenforschung, die - wie im Beitrag von K LEIN (S. 174f.) plausibel nachgezeichnet wird - unter anderem aus den Besonderheiten der Schule als Forschungsfeld heraus erklärbar ist: Überschaubare Stichprobengrößen und problematische Störungen des Unterrichts durch Forschungsprojekte bestimmen in praktischer Hinsicht methodische Entscheidungen. Die Unterscheidung zwischen quantitativer und qualitativer Forschung wird im Band an mehreren Stellen ausdifferenziert, indem ergänzende oder alternative Bezeichnungen für Forschungsstile und -paradigmen eingebracht und diskutiert werden, z.B. „subsumptionslogisch vs. rekonstruktiv“ (S. 88), oder indem die Zuordnung numerischer und verbaler Daten zu einzelnen Auswertungsverfahren problematisiert wird (S. 190f.). Den roten Faden bei der Diskussion von Mixed Methods bildet die immer wieder konstatierte paradigmatische Inkompatibilität verschiedener Forschungsstile mit ihren erkenntnistheoretischen Prämissen bei gleichzeitiger Formulierung der Notwendigkeit, mehrperspektivisch auf den Gegenstand ‚Sprachenlernen‘ zu blicken - denn wer wollte bestreiten, dass hier innere, kognitive (Perspektive der pädagogischen Psychologie) und äußere interaktionalsoziale Prozesse (Perspektive der Soziologie) gleichermaßen relevant und daher als Gegenstände des Erkenntnisinteresses plausibel sind. Besonders interessant und gegebenenfalls diskussionswürdig ist der Vorschlag, den philosophischen Pragmatismus als „drittes Paradigma“ (S. 177) zur Lösung der Unvereinbarkeit positivistischer und konstruktivistischer Paradigmen heranzuziehen und in Mixed Method Designs qualitative und quantitative Verfahren chronologisch alternieren zu lassen. Einen Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit Problemen der Generalisierbarkeit von Forschungsergebnissen. Dass quantitative Studien keineswegs per se den ihnen zugeschriebenen Gütekriterien genügen, problematisiert S ETTINIERI am Beispiel unzulässiger Schlüsse, die sich häufig in quantitativen Studien finden lassen, deren komplexe Datenlage diese jedoch eigentlich nicht erlaubt. Hier wird ein Bogen zu dem von V IEBROCK (S. 54) aufgeworfenen ethischen Problem möglicher Verkürzungen von Studienergebnissen sichtbar, wenn beispielsweise ambivalente Befunde in medialen Kontexten zu vermeintlichen Objektivitäten verknappt werden. Generalisierbarkeit ist kein ‚natürliches‘ Merkmal quantitativer Forschung, sie muss reflektiert und transparent hergestellt werden, indem die Quantifizierungs- und Transformationsverfahren selbst zum Gegenstand des Forschungsprozesses gemacht werden, wie bei- 142 Besprechungen DOI 10.2357/ FLuL-2021-0026 50 (2021) • Heft 2 spielsweise die Diskussion von Visualisierungsfunktionen des Programms MAXQDA zeigt (S. 194f.). Auch die Stärkung der Arbeit mit Metaanalysen und Replikationsstudien wird in diesem Kontext als Desiderat formuliert (S. 159). Der Band dürfte eine gewinnbringende Lektüre vor allem für Dozierende der Fremdsprachenforschung und Nachwuchswissenschaftler*innen sein, weil die Reflexion erkenntnistheoretischer Inkompatibilitäten mit ihren ‚handfesten‘ forschungspraktischen Konsequenzen modellhaft vorgeführt wird. Auch für eine thematisch orientierte Querlektüre ist er geeignet, denn seine Einzelbeiträge geben en passant auch über aktuell besonders interessierende Themen des Sprachenlernens Aufschluss: Zum Thema Gender in fremdsprachendidaktischer Perspektive finden sich gleich drei Arbeiten (S. 207f., S. 39, S. 50), ähnlich zum bilingualen Sachfachunterricht (S. 42, S. 169f.). Zu weiteren Gegenständen wie Mehrsprachigkeit (S. 40f.), Transkulturalität (S. 107f.), Identität (S. 41f.) oder Grammatik (S. 194f.) können forschungsmethodische Diskussionen nachvollzogen werden. Dass die Fremdsprachenforschung nach wie vor als „Zulieferer“ (S. 18) schulischen Sprachenunterrichts angesehen wird, wird zwar kritisch thematisiert, hätte jedoch durchaus Vertiefung verdient. Interessant wäre hier die Erörterung der Frage, inwieweit forschungsmethodologische Entscheidungen möglicherweise mit Blick auf bildungspolitische Anreizsysteme oder Fördermaßnahmen gefällt werden, die ihrerseits bestimmte Verfahren der Wissensproduktion favorisieren und andere nicht. Das Gros der Beiträge stammt aus der DaF/ DaZ-Forschung und der Englischdidaktik. Lediglich U HL untersucht Lernende des Französischen und Spanischen und K LEIN problematisiert die Dominanz des Englischen als Sprache bilingualer Sachfachformate. Abschließend bleiben demnach auch intradisziplinär Mehrstimmigkeit und die gegenseitige Bezugnahme einzelsprachlicher Didaktiken aufeinander ein Desiderat. Relevanz und Brisanz interdisziplinärer Fremdsprachenforschung werden allerdings von W ILDEN und R OSSA sowie den anderen Beiträger*innen äußerst erhellend dargelegt. Göttingen B IRGIT S CHÄDLICH Annika K REFT : Transkulturelle Kompetenz und literaturbasierter Fremdsprachenunterricht. Eine rekonstruktive Studie zum Einsatz von fictions of migration im Fach Englisch. Berlin: Lang 2020, 389 Seiten [69,95 €] Die hier besprochene Dissertationsschrift begegnet einem offenkundigen Desiderat in der fremdsprachlichen literatur- und kulturdidaktischen Forschung: Konzeptionell-theoretische Schriften und Aufgabenvorschläge sind Legion, über das jedoch, was in der Unterrichtspraxis geschieht und wie es geschieht - kurz: die „Logik der Praxis“ (B OURDIEU ) - wissen wir sehr wenig. Bei Ersteren geht es darum, Kultürlichkeit in den fachlichen Gegenständen (Texten, Inhalten, Erzählweisen, etc.) zu verorten und Verstehensleistungen durch geeignete Aufgabenstellungen anzubahnen, bei Letzteren hingegen zu rekonstruieren, auf welche Weise (inter- / trans-)kulturelles Wissen im Vollzug der Unterrichtspraxis hergestellt wird. Kreft widmet sich in ihrer Dissertation dieser Rekonstruktion. Die Arbeit reiht sich in die Forschungstradition der rekonstruktiven Unterrichtsforschung ein. Damit ist ein bisher vor allem erziehungswissenschaftlich bedeutsames Paradigma gemeint, in dem Unterricht als Ausdruck sozialer Verfasstheit verstanden wird, d.h. im Zusammenspiel von symbolischem Handeln (sprachlich, körperlich, materiell) von Akteuren mit ihren