Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FLuL-2021-0026
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
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Gnutzmann Küster SchrammAnnika KREFT: Transkulturelle Kompetenz und literaturbasierter Fremdsprachenunterricht. Eine rekonstruktive Studie zum Einsatz von fictions of migration im Fach Englisch. Berlin: Lang 2020, 389 Seiten [69,95 €]
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Bernd Tesch
flul5020142
142 Besprechungen DOI 10.2357/ FLuL-2021-0026 50 (2021) • Heft 2 spielsweise die Diskussion von Visualisierungsfunktionen des Programms MAXQDA zeigt (S. 194f.). Auch die Stärkung der Arbeit mit Metaanalysen und Replikationsstudien wird in diesem Kontext als Desiderat formuliert (S. 159). Der Band dürfte eine gewinnbringende Lektüre vor allem für Dozierende der Fremdsprachenforschung und Nachwuchswissenschaftler*innen sein, weil die Reflexion erkenntnistheoretischer Inkompatibilitäten mit ihren ‚handfesten‘ forschungspraktischen Konsequenzen modellhaft vorgeführt wird. Auch für eine thematisch orientierte Querlektüre ist er geeignet, denn seine Einzelbeiträge geben en passant auch über aktuell besonders interessierende Themen des Sprachenlernens Aufschluss: Zum Thema Gender in fremdsprachendidaktischer Perspektive finden sich gleich drei Arbeiten (S. 207f., S. 39, S. 50), ähnlich zum bilingualen Sachfachunterricht (S. 42, S. 169f.). Zu weiteren Gegenständen wie Mehrsprachigkeit (S. 40f.), Transkulturalität (S. 107f.), Identität (S. 41f.) oder Grammatik (S. 194f.) können forschungsmethodische Diskussionen nachvollzogen werden. Dass die Fremdsprachenforschung nach wie vor als „Zulieferer“ (S. 18) schulischen Sprachenunterrichts angesehen wird, wird zwar kritisch thematisiert, hätte jedoch durchaus Vertiefung verdient. Interessant wäre hier die Erörterung der Frage, inwieweit forschungsmethodologische Entscheidungen möglicherweise mit Blick auf bildungspolitische Anreizsysteme oder Fördermaßnahmen gefällt werden, die ihrerseits bestimmte Verfahren der Wissensproduktion favorisieren und andere nicht. Das Gros der Beiträge stammt aus der DaF/ DaZ-Forschung und der Englischdidaktik. Lediglich U HL untersucht Lernende des Französischen und Spanischen und K LEIN problematisiert die Dominanz des Englischen als Sprache bilingualer Sachfachformate. Abschließend bleiben demnach auch intradisziplinär Mehrstimmigkeit und die gegenseitige Bezugnahme einzelsprachlicher Didaktiken aufeinander ein Desiderat. Relevanz und Brisanz interdisziplinärer Fremdsprachenforschung werden allerdings von W ILDEN und R OSSA sowie den anderen Beiträger*innen äußerst erhellend dargelegt. Göttingen B IRGIT S CHÄDLICH Annika K REFT : Transkulturelle Kompetenz und literaturbasierter Fremdsprachenunterricht. Eine rekonstruktive Studie zum Einsatz von fictions of migration im Fach Englisch. Berlin: Lang 2020, 389 Seiten [69,95 €] Die hier besprochene Dissertationsschrift begegnet einem offenkundigen Desiderat in der fremdsprachlichen literatur- und kulturdidaktischen Forschung: Konzeptionell-theoretische Schriften und Aufgabenvorschläge sind Legion, über das jedoch, was in der Unterrichtspraxis geschieht und wie es geschieht - kurz: die „Logik der Praxis“ (B OURDIEU ) - wissen wir sehr wenig. Bei Ersteren geht es darum, Kultürlichkeit in den fachlichen Gegenständen (Texten, Inhalten, Erzählweisen, etc.) zu verorten und Verstehensleistungen durch geeignete Aufgabenstellungen anzubahnen, bei Letzteren hingegen zu rekonstruieren, auf welche Weise (inter- / trans-)kulturelles Wissen im Vollzug der Unterrichtspraxis hergestellt wird. Kreft widmet sich in ihrer Dissertation dieser Rekonstruktion. Die Arbeit reiht sich in die Forschungstradition der rekonstruktiven Unterrichtsforschung ein. Damit ist ein bisher vor allem erziehungswissenschaftlich bedeutsames Paradigma gemeint, in dem Unterricht als Ausdruck sozialer Verfasstheit verstanden wird, d.h. im Zusammenspiel von symbolischem Handeln (sprachlich, körperlich, materiell) von Akteuren mit ihren Besprechungen 143 50 (2021) • Heft 2 DOI 10.2357/ FLuL-2021-0026 Normen, Zielen und Plänen. Bereits in Titel und Untertitel der Dissertationsschrift deutet sich ein Spannungsfeld an, das für die publizierte Arbeit bereichernd wirkt, gleichzeitig jedoch auch Fragen aufwirft. Während der Untertitel klar den rekonstruktiven Ansatz betont, wird im Haupttitel der normative Anspruch, der mit der Kompetenzorientierung verbunden ist, in den Blick genommen. Eine zentrale epistemologische Frage lautet daher: Werden mit der Setzung einer transkulturellen Kompetenz als fachdidaktische Norm bestimmte darauf bezogene Praktiken erst gesucht, oder wird ihre Existenz bereits vorausgesetzt? Betrachten wir zunächst den Gegenstand der Studie: transkulturelle Kompetenz im literaturbasierten Fremdsprachenunterricht. Die Verfasserin skizziert in zwei gegenstandstheoretischen Kapiteln den Weg „von einer interzu einer transkulturellen Perspektive“ (S. 7) und stellt u.a. die Frage, ob „Kultur und Kompetenz zwei zu vereinbarende Konzepte“ seien. Sie beantwortet diese Frage affirmativ mit Verweis auf einschlägige fachdidaktische Modellierungen sowie Ländercurricula. Ihre eigene Position bzgl. der Förderung transkultureller Kompetenz umschreibt sie als „einen subjektgebundenen Prozess, in welchem SuS relevantes soziales, historisches und politisches Wissen erweitern, lernen, Bedeutungen (auf der Grundlage von lehrpersonenseitig gemachten Sinn- und Reflexionsangeboten wie Perspektivenwechsel) auszuhandeln sowie essentialisierende Bedeutungszuschreibungen kritisch wahrzunehmen und zu reflektieren“ (S. 81). Etwas unklar bleibt, ob „subjektgebunden“ auf eine individualistisch-kognitivistische Sicht im Sinne der Kompetenzorientierung verweist. Im Sinne soziologisch-rekonstruktiver Theoriebildung würde man an Subjektivierungen in sozialen Rahmungsprozessen denken. Im zweiten gegenstandstheoretischen Kapitel geht es um Transkulturalität im literaturbasierten Fremdsprachenunterricht und insbesondere um die Gattung der fictions of migration. Beide theoretischen Kapitel sind überaus informativ und vermitteln den aktuellen Kenntnisstand. Im empirischen Teil ihrer Arbeit greift Kreft - wie im vierten Kapitel überzeugend von ihr ausgeführt - auf die sozialwissenschaftliche methodologische Fundierung der Dokumentarischen Methode zurück. Die Verwendung dieser Grundlagentheorie impliziert einen Blick auf den Fremdsprachenunterricht, bei dem Interaktionsstrukturen als Praktiken der Sinnkonstruktion im Vordergrund stehen. Mit anderen Worten: es wird angestrebt, Prozesse der sozialen Wissenskonstruktion zu rekonstruieren, die sich in (hier konkret videographisch) beobachteten Praktiken empirisch nachweisen lassen. Diese Rekonstruktionen beruhen auf der Unterscheidung von kommunikativem, d.h. den Akteuren bewusstem, und implizitem, den Akteuren nicht bewusstem bzw. von ihnen nicht reflektiertem sozial geteilten Wissen. Damit eignet sich dieser methodische Ansatz in besonderer Weise für den Forschungsgegenstand der transkulturellen Kompetenz im Fremdsprachenunterricht, sofern wie hier bei Kreft Kompetenz als soziale Wissenskonstruktion im Spannungsfeld von Norm und Habitus verstanden wird und die bisher wenig erforschte „Logik der Praxis“ im Mittelpunkt steht. Im sechsten Kapitel stellt die Verfasserin das Untersuchungsdesign vor. Bemerkenswert ist, dass für eine Einzelstudie immerhin vier Klassen in insgesamt 67 Unterrichtsstunden beobachtet wurden. Vier verschiedene literarische Texte kommen dabei zum Einsatz. Die Quantität des beobachteten Unterrichts spielt für eine rekonstruktive Studie zwar keine unmittelbare Rolle, doch lassen sich bei einem breiten Sampling wie in dieser Studie u.U. mehr kontrastive Vergleichsfälle finden. Die Ergebnisse gruppiert und typisiert die Verfasserin auf drei Ebenen, einer Ebene A der „Sinn- und Reflexionsaushandlungsangebote seitens der Lehrperson“, einer Ebene B „des schülerseitigen Umgangs mit der Dichotomie eigen-fremd“, sowie einer Ebene C der Impulse durch literarische Texte. Die Ebene A ist in zwei Typen, den Typus leitendstrukturierend und den Typus frei-entwickelnd, und Ebene B in vier Typen gegliedert, nämlich 144 Besprechungen DOI 10.2357/ FLuL-2021-0026 50 (2021) • Heft 2 Übernahme und doing pupil, Übernahme und Perspektivvergleich, Überwindung und Abgrenzung und Überwindung und Aushandlung. Unter „Übernahme und doing pupil“ ist die Übernahme der eigen-fremd-Dichotomie sowie die rollenförmige, „jobartige“ Erledigung von Arbeitsaufträgen gemeint. Bei „Übernahme und Perspektivvergleich“ wird dagegen im Sinne der interkulturellen Didaktik Byrams der Versuch unternommen, durch Perspektivvergleich zwischen Dichotomien zu vermitteln. Bei „Überwindung und Abgrenzung“ unternehmen Lernende den Versuch, Dichotomien zu überwinden, indem sie sich von Orientierungen der Lehrperson abgrenzen. Und bei „Überwindung und Aushandlung“ werden dichotomisierende Angrenzungen im Rückgriff auf „übergreifende, transkulturelle Parameter“ (S. 300) überwunden. Interessant erscheint an diesem Modell, dass die Objektebene C als gleichberechtigter Aktant im unterrichtlichen Interaktionssystem anerkannt wird, was zeigt, dass die Dokumentarische Methode - anders als bei einigen erziehungswissenschaftlichen Studien, die mit diesem Analyseverfahren arbeiten - auch geeignet ist, Fachlichkeit adäquat abzubilden. Die auf transkulturelle Kompetenz gründende Fachlichkeit taucht im Übrigen explizit in den Kriterien für die Musterfallbestimmung auf, so dass klar wird, welche Kriterien wie relationiert werden. Kreft vermeidet es, diese Relationierungsleistung unter der Annahme kausaler Zusammenhänge zu vollziehen. Vielmehr wird deutlich, dass es sich um ein komplexes Zusammenspiel aller drei genannten Ebenen handelt, wobei „der Einfluss der Fremdsprache auf die drei Ebenen und damit die Frage, inwieweit die Fremdsprache ein Hemmnis für kulturelle Bedeutungsaushandlungsprozesse darstellt, auf der Grundlage der vorliegenden Daten nicht eindeutig beantwortet werden kann“ (S. 310). Dies ist natürlich aus fremdsprachendidaktischer Perspektive unbefriedigend, kann aber der Verfasserin nicht angelastet werden, sondern muss künftigen rekonstruktiven Studien vorbehalten bleiben, bei denen eventuell eine Triangulation mit schriftlichen Schülertexten sowie stärker die Körpersprache in den Fokus genommen werden. Stimme, Mimik und Gestik können eine wertvolle Auskunftsquelle für derartige Fragestellungen sein. Krefts Studie ist für die fachdidaktische Theoriebildung in vielfältiger Hinsicht sehr bedeutsam. Sie zeigt zum einen, wie sehr die Umsetzung fachdidaktischer Ansätze von der Professionalisierung der Lehrkräfte abhängt. Sind diese mit innovativen Konzepten unvertraut oder stehen ihnen gar ablehnend gegenüber, werden sie entsprechende Lernangebote minimieren. Dies trifft umso mehr zu, wenn von Konzepten die Rede ist, die von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen kontaminiert sind, wie dies auch beim Transkulturalitätskonzept der Fall ist. Diesbezügliche unterrichtliche Aushandlungsprozesse sind zum anderen geprägt von Machtgefällen und Anerkennungskämpfen, die sich in normativen Vorgaben wie Lehrplänen und Lehrwerken, aber auch in interaktionalen Rollenverteilungen sowie in Herrschaftsausübung durch und mit Sprache niederschlagen. Die Anwendung eines soziologischen Analyseverfahrens wie der Dokumentarischen Methode ist geeignet, diese Verhältnisse zu rekonstruieren. Die Arbeit von Kreft stellt mithin einen bedeutenden Beitrag zur fachdidaktischen Theoriebildung im Bereich der praxeologischen Erforschung des Fremdsprachenunterrichts dar. Sie ist zudem auch stilistisch ausgesprochen lesenswert und vermeidet, wo immer möglich, überflüssigen Fachjargon. Um auf die oben gestellte Frage zurückzukommen: Werden mit der Setzung einer transkulturellen Kompetenz als fachdidaktische Norm bestimmte darauf bezogene Praktiken erst gesucht, oder wird ihre Existenz bereits vorausgesetzt? Krefts Arbeit kann als methodisch musterhaft für den Umgang mit dieser Frage betrachtet werden, indem sie in der Analyse auf normativ-theoretische Vorabsetzungen verzichtet und die Daten sprechen lässt. Tübingen B ERND T ESCH