eJournals Forum Modernes Theater 30/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2015-0006
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/611
2019
301-2 Balme

Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy

611
2019
Stefan Hölscher
In diesem Beitrag geht es anhand der Arbeiten Riding on a Cloud (2013) von Rabih Mroué und Low Pieces (2011) von Xavier le Roy um ein Konzept minderer Mimesis, das mit der abweichenden Wiederholung von Ereignissen zusammenhängt. Das einzelne Ereignis, so wie es in der Form minderer Mimesis dargestellt wird, entspringt so gesehen keinem Ursprung, sondern weist eine Herkunft auf, die mit anderen Ereignissen in Resonanz steht und die zurückzuverfolgen ein Problem ebenso für die Geschichte wie für die Kunst ist, da sie sich nicht in gewohnte Wissensraster einfügen lässt.
fmth301-20060
Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy Stefan Hölscher (Bochum) In diesem Beitrag geht es anhand der Arbeiten Riding on a Cloud (2013) von Rabih Mroué und Low Pieces (2011) von Xavier le Roy um ein Konzept minderer Mimesis, das mit der abweichenden Wiederholung von Ereignissen zusammenhängt. Das einzelne Ereignis, so wie es in der Form minderer Mimesis dargestellt wird, entspringt so gesehen keinem Ursprung, sondern weist eine Herkunft auf, die mit anderen Ereignissen in Resonanz steht und die zurückzuverfolgen ein Problem ebenso für die Geschichte wie für die Kunst ist, da sie sich nicht in gewohnte Wissensraster einfügen lässt. 1. Einleitung In diesem Beitrag wird es darum gehen, ein Konzept minderer Mimesis zu entwickeln, das weniger mit einer nostalgischen Rückkehr zu als vielmehr der abweichenden Wiederholung von Ereignissen sowie der Unerschöpfbarkeit hinsichtlich ihrer immer wieder anderen Erscheinungsformen zusammenhängt. 1 Das einzelne Ereignis entspringt so gesehen keinem Ursprung, sondern weist eine Herkunft auf, die mit anderen Ereignissen in Resonanz steht. Sie zurückzuverfolgen ist ein Problem ebenso für die Geschichte wie für die Kunst, da sie sich nicht einfach in gewohnte Wissensraster einfügen lässt, sondern ihrerseits an der Genealogie eben dieser Schemata des Wissens teilhat. Bereits kurz nach der Antrittsvorlesung im Rahmen seiner Professur für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France 2 definiert Foucault ein Ereignis folgendermaßen: Es erstreckt sich hierhin und dorthin und hat zahlreiche Köpfe. Unter einem Diskursereignis verstehe ich kein Ereignis, das in einem Diskurs oder einem Text stattfände, sondern ein Ereignis, das zerstreut ist zwischen Institutionen, Gesetzen, politischen Siegen und Niederlagen, Forderungen, Verhaltensweisen, Revolten und Reaktionen. 3 In seinen Vorlesungen Über den Willen zum Wissen von 1970/ 71 führt Foucault den Begriff der Wahrheit genealogisch auf von Persien ins antike Griechenland importierte Reinigungspraktiken zurück und spricht von der daraus resultierenden Systematik aller Diskurspraktiken, „ die weder logischer noch linguistischer Natur “ 4 und erstens „ durch die Abgrenzung eines Objektbereichs “ 5 , zweitens „ durch die Definition einer für das Erkenntnissubjekt legitimen Perspektive “ 6 sowie drittens „ durch die Festlegung von Normen für die Entwicklung von Konzepten und Theorien “ 7 bestimmt ist. Weil sie an auf Reinheit abzielenden Wahrheitsregimen teilhaben, sind Diskurspraktiken immer auch Ausschließungs- und „ Zwangssysteme “ 8 . Im ungeraden Verlauf der ausufernden Ausführungen zu seiner eigensinnigen Lesart des Ödipus von Sophokles, der zufolge es in der antiken Tragödie weniger um eine Wahrheit des Begehrens denn vielmehr um das Problem der Wahrheit selbst geht, stellt er an entscheidender Stelle einen nicht nur von demjenigen dekonstruktiv geprägter Kollegen abweichenden Ereignisbegriff zur Diskussion Forum Modernes Theater, 30/ 1-2 (2015 [2019]), 60 - 78. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2015-0006 und den innerhalb von Diskurspraktiken geschaffenen ‚ Tatsachen ‘ kontrastierend gegenüber: „ Das Ereignis der Form der festgestellten Tatsache zu unterwerfen, das ist der erste Aspekt der ödipalen Wahrheit. “ 9 Vor diesem Hintergrund erweist sich mindere Mimesis als etwas, das die ‚ Wahrheit ‘ der Geschichte aufbricht und am vergangenen Ereignis zur Erscheinung bringt, was durch die Maschen der Aufschreibe- und Einordnungstechniken gefallen ist, obwohl es gleichzeitig von ihnen konstituiert wird. Sie wiederholt, was bis dahin nicht das Tageslicht erblickt hat. Eine von der ‚ Wahrheit ‘ abweichende Wiederholung kann nicht ohne mindere Mimesis vonstattengehen, da es in ihr um eine Annäherung an diejenigen Seiten des Ereignisses geht, die nur in ihrer Diffusion und Streuung greifbar werden und dadurch, dass sich das Subjekt einem unbestimmten Objekt gegenüber öffnet. In seiner Situierung der Vorlesungen Foucaults zu Wahrheitsals Zwangssystemen kann Daniel Defert deshalb bemerken, dass es laut Foucault kein Wissen ohne „ geregelte Diskurspraxis “ 10 geben kann, in deren Rahmen ein „ ungehemmtes Wuchern “ 11 der Aussagen begrenzt werden muss. Genau auf dieses ungehemmte Wuchern jedoch zielt mindere Mimesis, ohne wissen zu können, wohin die Reise dabei geht. Dabei ist mindere Mimesis Benjamins Überlegungen zum mimetischen Vermögen und einer exzessiven, sich polymorph ausbreitenden Produktion von Ähnlichkeit in mehrerlei Sinne verwandt. Ihre Wahrnehmung ist in jedem Fall an ein Aufblitzen gebunden. Sie huscht vorbei, ist vielleicht wiederzugewinnen, aber kann nicht eigentlich wie andere Wahrnehmungen festgehalten werden. Sie bietet sich dem Auge ebenso flüchtig, vorübergehend wie eine Gestirnkonstellation. 12 Des Weiteren führt Benjamin zum Verhältnis zwischen Mimesis und Ähnlichkeit aus: Noch für die Heutigen lässt sich behaupten: die Fälle, in denen sie im Alltag Ähnlichkeiten bewußt wahrnehmen, sind ein winziger Ausschnitt aus jenen zahllosen, da Ähnlichkeit sie unbewußt bestimmt. Die mit Bewußtsein wahrgenommenen Ähnlichkeiten - z. B. in Gesichtern - sind verglichen mit den unzählig vielen unbewußt oder auch gar nicht wahrgenommenen Ähnlichkeiten wie der gewaltige unterseeische Block des Eisbergs im Vergleich zur kleinen Spitze, welche man aus dem Wasser ragen sieht. 13 Im Folgenden soll vor diesem Hintergrund der problematische Charakter der Wiederholungsstruktur minderer Mimesis betont werden, der darin besteht, dass sie sich auf Ereignisse bezieht, die nicht einfach im Raum lokalisiert sind und in der Zeit vergehen, so wie sich Perlen von einer Kette lösen, sondern auf den Facettenreichtum von Ereigniskonstellationen, die untereinander und noch über sich hinaus auf vielfältige Weise fortwirken. Was so auf dem Spiel steht, ist der vermeintlich feste und stabile Kern des einzelnen Ereignisses, der sich auflöst und Platz macht für eine Streuung und Strahlung sowie die nicht länger irgendwo verankerbare Resonanz von Ereignispartikeln und deren Resonanz miteinander. 14 Ereignisse und Probleme hängen hier insofern zusammen, als dass gerade das nicht vollends (Wieder)Erkennbare am Ereignis seine ständige Wiederholung provoziert: Auf unterschiedliche Weise machen die im späteren Verlauf dieses Beitrags besprochenen Arbeiten von Rabih Mroué und Xavier le Roy Ereignisse zu Problemen, wenden sich ihrer Kehrseite zu und bringen das an ihnen zur Darstellung, was durch die Maschen der Macht und des Wissens fällt. 2. Problematische Wiederholungen In der Rede von den Erscheinungsformen des Ereignisses ist die Ablehnung der Vor- 61 Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy stellung unterschiedlicher ‚ Zugänge ‘ zu ihm mitgemeint. Denn von einem Zugang zum Ereignis zu sprechen würde bedeuten, dass es irgendwo dort draußen stattgefunden hätte oder sich noch befinden würde und die Möglichkeit bestünde, Eintritt in es zu erhalten. Anstatt einer solchen Interiorität des Ereignisses geht es hier um dessen Relationalität und um die Frage, inwiefern es sich bei ihr um ein Beziehungsgewebe handelt, dessen Produktion in erster Linie mimetischen Charakters ist. Indem die Ereignisse nämlich aufeinander einwirken und sich gegenseitig berühren, verschiebt sich ständig die Grenze zwischen ihnen. Es lässt sich nicht ein für allemal feststellen, was zu dem einen oder dem anderen gehört und was nicht, wo ein Ereignis beginnt und wo es endet. Für ein solches Spiel von Identität und Differenz, das einer minder mimetischen Annäherung an Ereigniskonstellationen zugrunde liegt, hat im Anschluss an Benjamin Michael Taussig treffende Worte gefunden. Pulling you this way and that, mimesis plays this trick of dancing between the very same and the very different. An impossible but necessary, indeed an everyday affair, mimesis registers both sameness and difference, of being like, and of being Other. Creating stability from this instability is no small task, yet all identity formation is engaged in this habitually bracing activity in which the issue is not so much staying the same, but maintaing sameness through alterity. 15 Das Problematische minderer Mimesis liegt demnach darin begründet, dass sie weder in platonischer noch in aristotelischer Tradition steht. Weder folgt sie der Hierarchie zwischen Idee und Erscheinung und der Logik von Abbildern, die bestimmte Vorbilder widerspiegeln, noch gehorcht sie gesetzten Darstellungskonventionen, ahmt also keinen Gegenstandskatalog mit Hilfe poetischer Regelwerke nach. 16 Während bei Aristoteles die Grundbestimmung ‚ guter ‘ Mimesis die Nachahmung menschlicher Handlungen und das Mimetische eine anthropologische Konstante ist, wiederholt mindere Mimesis etwas am Ereignis, das nicht in Rastern des Verstehens oder Kategorien des Wissens aufgeht und gerade deswegen deren Grenzen in den Vordergrund rückt. Sie ist deshalb problematisch, weil erstens ihr Gegenstand „ das Winzige, das Singuläre und das Fast-Nichtwahrnehmbare “ 17 ist, zweitens die Verfahrensweisen, mit denen sie sich auf diesen Gegenstand bezieht, gleichsam nicht abgesichert sein können, und weil drittens in ihr das Subjekt ebenso verunsichert wird wie dessen Objekt. Indem sie Ereignisse zur Darstellung bringt, die keinen Kern haben und deren Grenzen nicht feststehen, wirft mindere Mimesis einerseits die Frage auf, was geschehen ist. Da sie sich dabei ihrer Darstellungsmittel nicht sicher sein kann, fragt sie andererseits danach, wie wir uns jetzt darauf beziehen. 18 Indem sie die vermeintlich abgesicherte Verbindung zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem verunsichert, ist sie ein „ Graben unter unseren Füßen “ 19 , wie Foucault einmal über das Erbe Nietzsches und von seiner eigenen genealogischen Methode behauptet hatte. Eine in diesem Sinne verstandene Wiederholung kann sich über den Status dessen, was sie wiederholt, nicht sicher sein, weil der Modus der Wiederholung und der Status des Wiederholten - das Was und das Wie der Wiederholung - aufs Engste miteinander verschränkt sind. 20 Mindere Mimesis schöpft in der Gegenwart etwas aus der Vergangenheit, das ein neues Licht auf beide wirft und sie in einem anderen Zusammenhang erscheinen lässt. 21 Indem die Gegenwart gewissermaßen der Vergangenheit nachstellt und dabei von ihr berührt wird, wirkt letztere auf erstere ein, und zwar in einer Weise, die nicht vollends feststellbar oder kalkulierbar ist. 62 Stefan Hölscher Gerade im künstlerischen Bereich besteht das Potential minderer Mimesis darin, die unüberbrückbare Differenz zwischen der „ Ordnung der Rede “ 22 und der „ Ordnung der Körper “ 23 zu manifestieren und so das Ereignis an der Grenze der Macht und des Wissens und „ außerhalb des Ortes, der ihm hätte zukommen müssen “ 24 , anzusiedeln. Auf diese Resonanzen zwischen der Kunst und dem von der Historiographie nicht vollständig Aufgeschriebenen, von der Geschichte Ausgeschlossenen und Übergangenen hat Theodor W. Adorno in ihm eigenen Worten schon in seinen Vorlesungen über Ästhetik von 1958/ 59 hingewiesen, wenn er die Aufgabe der Kunst in der Errichtung einer „ Sondersphäre de[s] Unterdrückten “ 25 und darin sieht, dem ein wenn auch einstweilen nur symbolisches Maß an Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nämlich das Maß der Erinnerung, der Erinnerung an das Unterdrückte, an das, was Opfer wird, auch der Erinnerung an all das an innermenschlichen Kräften, was durch diesen Prozess der fortschreitenden Rationalisierung in den Menschen zerstört wird. [. . .] Damit hängt natürlich eng zusammen, dass die große Kunst, auch im Einzelnen immer wieder, es gewissermaßen mit den Opfern hält; daß die Geschichte gegen den Strich gekämmt ist; daß sie also nicht die Geschichte unter dem Gesichtspunkt des Siegers ist, könnte man einmal sagen, sondern die bewußtlose Geschichtsschreibung der Epochen, die Geschichtsschreibung unter dem Gesichtspunkt des Opfers; und dass das, was in den Kunstwerken eigentlich laut wird, immer die Stimme des Opfers ist, und dass es keine Kunst gibt, die das nicht eigentlich vermag. 26 Jacques Rancière wiederum spricht in seinem frühen Nachdenken über eine Poetik des Wissens von einer historiographischen ‚ Häresie ‘ , die dem hier entwickelten Konzept minderer Mimesis insofern nahesteht, als dass beide in Prozessen der Ent-Identifizierung bestehen und die Ereignisse von den sie segmentierenden Aussagen, Ordnungsmustern und von ihren Positionen innerhalb der Macht und des Wissens loslösen, um sie in häretischen Wiederholungen mit anderen Plätzen in Berührung zu bringen. Die Häresie ist, der Etymologie zufolge, Trennung, freilich in einem präzisen Sinn; sie ist in strengem Sinn dia-bolisch, zerbrochenes symbolon, das sich nicht kitten lässt, ein Stück Metall oder Sprache, das sich mit einem anderen nicht mehr zusammenfügt, Kind ohne Mutter, vom Körper getrennte Stimme, vom Ort getrennter Körper. 27 Mindere Mimesis ist aber nicht nur häretische Wiederholung, sie hängt auch mit entstellenden Ähnlichkeiten (unähnlichen Ähnlichkeiten, ähnlichen Unähnlichkeiten) und deren Vermögen zur Öffnung fixer Schemata zusammen. Mindere Mimesis löst klar konturierte Vorstellungen auf und konfrontiert das Subjekt mit auf es übergreifenden Objekten und einer Art von deren Darstellung, die sich auf dem Weg zur Form befindet und auf unheimliche Weise figuriert, was noch keine Form hat. Friedrich Balke hat dies auf sehr schöne Weise in einem Aufsatz über Benjamins mimetisches Vermögen verdeutlicht und betont, dass Mimesis, bevor sie sowohl von Platon als auch von Aristoteles gebändigt und kontrollierbar gemacht wurde, bereits im antiken Griechenland zunächst den ekstatischen Tanz meinte, bei dem die Tanzenden sich vollständig in ihre Umwelt hinein verlieren und sich nicht nur Tieren, sondern sogar der anorganischen Materie angleichen. Dieses nicht zähmbare und überschäumende Moment einer Mimesis, die zur „ Selbstverwischung “ 28 führt, kein Maß hat und weder ein normatives Ideenraster (Platon) noch handelnde Personen (Aristoteles) nachahmt, sondern in einem Affekt besteht, der vom Subjekt Besitz ergreift und es ins Objekt hineinzieht, so dass 63 Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy bald nicht mehr klar ist, wo die Grenze zwischen Subjekt und Objekt verläuft, beschreibt Balke als eine maßlose Angleichung. Und er findet sie nach einer langen Geschichte ihrer Verschüttung und der strikten Ausweisung einer Nachahmung, die ‚ das Sein davonträgt ‘ , bei Benjamin wieder. Mimesis erweist sich als Kulturtechnik einer maßlosen Anähnlichung an die Welt. Sie entdeckt und stiftet Korrespondenzen und Analogien zwischen kategorial geschiedenen Seinsbereichen, über die die Philosophie wacht[.] Sich allem, was überhaupt existiert, ähnlich zu machen, bedeutet, jeden ontologischen Vorbehalt auf ein ‚ autonomes ‘ Selbst oder Sein, das sich von allem anderen unterscheidet, aufzugeben. 29 Dabei bezieht sich Balke auf verschiedene Passagen aus Benjamins Berliner Kindheit um 1900, in denen der Autor seine Auflösung in die „ Stoffwelt “ 30 hinein thematisiert, zentral auf das Kapitel Die Mummerehlen. Hier zeigt sich eine Variante minderer Mimesis, die ihren Gegenstandsbereich nicht nur auf alle möglichen handelnden Personen erweitert und so die Trennung, die Aristoteles hinsichtlich der Tragödie zwischen höheren und niederen sujets vornimmt, missachtet, sondern zusätzlich Tiere, leblose Materie und prinzipiell alles umfasst. Am Prägnantesten wird die exzessive und ekstatische Seite einer derart aufgefassten minderen Mimesis bei Benjamin wohl, wenn er die Geschichte vom chinesischen Maler anführt, der in seinem eigenen Bild verschwindet. Von allem aber, was ich wiedergab, war mir das China-Porzellan am liebsten. Ein bunter Schorf bedeckte jene Vasen, Gefäße, Teller, Dosen, die gewiß nur billige Exportartikel waren. Mich fesselten sie dennoch so, als hätte ich damals die Geschichte schon gekannt, die mich nach so viel Jahren noch einmal zum Werk der Mummerehlen hin geleitet. Sie stammt aus China und erzählt von einem alten Maler, der den Freunden sein neuestes Bild zu sehen gab. Ein Park war darauf dargestellt, ein schmaler Weg am Wasser und durch einen Baumschlag hin, der lief vor einer kleinen Türe aus, die hinten in ein Häuschen Einlaß bot. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg zur Tür, stand vor ihr still, kehrte sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spalt. So war auch ich bei meinen Näpfen und den Pinseln auf einmal ins Bild entstellt. Ich ähnelte dem Porzellan, in das ich mit einer Farbenwolke Einzug hielt. 31 Handelt es sich beim Eintritt ins Bild um die räumliche Seite minderer Mimesis oder - wie sich mit Roger Caillois sagen ließe - eine „ Versuchung durch den Raum “ 32 , so bringt sie doch auch einen ‚ Eintritt in die Zeit ‘ und die Verwischung der temporären, linearen Ordnung von Ereigniskonstellationen mit sich. Foucault hat in seiner Vorlesungsreihe Über den Willen zum Wissen am Collège de France Anfang der 1970er Jahre einen auch diesem Beitrag zugrunde liegenden Ereignisbegriff skizziert: „ Unter Ereignis verstehe ich keine abgrenzbare Einheit, der man eindeutig zeitliche und räumliche Koordinaten zuordnen könnte. Ein Ereignis besitzt stets eine Streuung und stellt eine Mannigfaltigkeit dar. “ 33 Hierunter sind nicht nur die ‚ großen ‘ Ereignisse traditioneller Geschichtsschreibung oder markante Brüche innerhalb kontinuierlicher Entwicklungen einer longue durée zu verstehen. Vielmehr geht den vorliegenden Überlegungen die Annahme voraus, dass prinzipiell jedes räumliche Geschehen und alle zeitlichen Vorgänge mit Ereignissen verbunden sind, die zwar, auch unter jenem Gesichtspunkt folgt dieser Text Foucaults kritischem Denken, einesteils innerhalb von Macht- und Wissensformationen festgehalten wurden und werden, andernteils aber auch, an der Grenze der Macht und des Wissens, Facetten 64 Stefan Hölscher aufweisen, die nicht anhand herkömmlicher Muster des (Wieder)Erkennens fassbar sind. Was Arlette Farge unter der Materialität des Archivs versteht und für „ maßlos, überschäumend wie Springfluten, Lawinen oder Überschwemmungen “ 34 hält, erfordert in unserem Kontext einen Begriff minderer Mimesis, um der Kehrseite des Ereignisses näherzukommen, derjenigen Seite an ihm also, die von Kategorien des Verstehens abweicht und nur kurz im Staub der Archive aufblitzt. 35 Die unausschöpfbaren und nicht vollständig in den Maschen der Macht und des Wissens aufgehenden Aspekte der Geschehnisse und Vorgänge, aus denen Geschichte besteht, sind es, die eine Rückkehr zu Ereigniskonstellationen und deren unaufhörliche Wiederholung provozieren: Eine Wiederholung, welche die Gegenwart in einem gewissen Sinne prinzipiell zum Reenactment der Vergangenheit macht, indem in ihr nachgeahmt wird, was war und das Wie einer solchen Mimesis wiederum Auswirkungen auf deren Verhältnis zueinander zeitigt. Von diesem nicht nur im Theater stets hergestellten Verhältnis hängt die Wirkung des Vergangenen auf das Gegenwärtige nicht unbeträchtlich ab. Mindere Mimesis ist demnach eine Tätigkeit erstens der Öffnung zu Macht und Wissen geronnener Kräfteverhältnisse und zweitens die Differenz zwischen Wörtern und Dingen, Sagbarem und Sichtbaren. Vor diesem Hintergrund soll nun das Zusammenspiel zwischen minderer Mimesis, den Wirkungen, die sie provoziert und der Verschränkung von Reenactment und einem Ereignis, das „ keine abgrenzbare Einheit “ 36 ist, sondern viele Facetten und Nuancen umfasst, an zwei künstlerischen Beispielen aufgezeigt werden. In Rabih Mroués Riding on a Cloud (2013) ist es ein geschichtliche Geschehen, der libanesische Bürgerkrieg, der neu und anders wiederholt und zur Darstellung gebracht wird, um ihn durch eine komplexe Mischung von Fakten und Fiktionen den Wahrheitsregimen und Identifizierungsmustern zu entreißen, in die er eingespannt ist. In Xavier le Roys Low Pieces (2011) hingegen geht es um die Vorgänge in Arbeiten wie Self Unfinished (1998), einem vorangegangenen Werk desselben Choreographen, die wiederholt werden und dadurch eine letztlich unausschöpfbare Problematik freilegen, nachdem aus ihnen schon Ikonen des zeitgenössischen Tanzes gemacht worden sind. 3. Rabih Mroué: Riding on a Cloud (2013) In Riding on a Cloud aus dem Jahre 2013 inszeniert der libanesische Regisseur, Schauspieler und Choreograph Rabih Mroué seinen Bruder Yasser, der an einem Tisch links auf der Bühne sitzt und von dort aus unterschiedliches Bild- und Tonmaterial einspielt, das aus Dokumenten besteht, auf die er eine um seine personale Integrität kreisende Narration stützt. Yasser Mroué wurde, so die Erzählung, während des Bürgerkrieges im Libanon in den Kopf geschossen. Nur knapp ist er dadurch dem Tod entkommen, litt jedoch danach für längere Zeit an Aphasie und verlor außerdem die Fähigkeit, ihm bekannte Gesichter und Objekte auf Photographien und in Filmen wiederzuerkennen. Obwohl er gleich zu Beginn des Stücks darauf hinweist, dass er einen fiktionalen Charakter spiele, meint er doch gleichzeitig, Yasser auf der Bühne gleiche dem Yasser im wahren Leben (04: 04). 37 Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass er kein einziges Wort ‚ live ‘ auf der Bühne spricht, sondern seine eigene Stimme von Bändern eingespielt wird, die er selbst in einen Kassettenrekorder legt. Seine Stimme besteht somit als ‚ Diskursereignis ‘ aus den Speichermedien, in die 65 Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy sie eingeschrieben und von denen sie aufgeschrieben wurde. Über die Dauer von einer Stunde und fünf Minuten nähert sich Yasser auf minder mimetische Weise vergangenen Ereignissen seines Lebens an und lässt sie zwischen ihrer Festschreibung in den präsentierten Beweismitteln und ihrer letztendlichen Ungewissheit hinsichtlich der Frage, ob es sich bei ihnen um Fakten oder Fiktionen handelt, oszillieren. Das einzelne Ereignis stellt sich dabei als etwas heraus, das nicht vollständig in seiner Speicherung in Bild, Ton und Schrift aufgeht, sondern eine Kehrseite aufweist, die gerade dann zum Vorschein kommt, wenn sich innerhalb widerstreitender Konstellationen verschiedene Dokumente aneinander reiben. Dies geschieht bspw. dann, wenn ein langsamer Kameraschwenk die Großaufnahme eines unter eine einfache Decke gehüllten Körpers zeigt, der sich erst am Ende, wenn wir sein Gesicht mit dem des Performers am Tisch vergleichen können und so wiedererkennen, als schlafender Yasser entpuppt, während der auf der Bühne anwesende Yasser erklärt, es gäbe wahrscheinlich 100 verschiedene Yassers (05: 50). Minder Mimetisch sind jedoch nicht nur Yassers Annäherungsversuche gegenüber sich selbst als Person, sondern auch die Art, wie er die Geschichte des Libanons und den Bürgerkrieg darstellt: Nicht direkt und anhand ikonischer Zeugnisse, sondern indirekt, indem er sich auf ganz kleine und unscheinbare Vorkommnisse des alltäglichen Lebens dieser Zeit bezieht. So präsentiert er eine Urkunde seines Kindergartens, aus der seine frühen Interessen im kreativen Bereich hervorgehen (08: 23), singt eines seiner Lieblingslieder (11: 00) und weist darauf hin, dass er zwischen 1990 und 2010 immerhin 100 Kurzvideos angefertigt und ihnen allen auch Titel gegeben habe, Rabih aber dann nicht gewollt hätte, dass jedes von ihnen präsentiert würde, da er deren Qualität für teilweise nicht ausreichend halte, Abb. 1: Rabih Mroué, Riding on a Cloud (2013), Marcus Lieberenz. 66 Stefan Hölscher obwohl sie für Yasser alle gleichermaßen bedeutsam seien (18: 37). Es folgt eine Szene, in der die Bilder alltäglicher Objekte - Zigaretten, ein Kamm, ein Löffel, ein Schlüssel etc. - eingeblendet und jeweils von der Frage „ What is this? “ begleitet werden. Anstatt der Namen der Objekte folgen jedoch Wörter, die auf Situationen verweisen, die mit diesen Objekten verbunden sind: Der Kamm ist Vater, Rasierer, Spiegel, Tränen, Versteck, Schule (19: 41); der Löffel ist Familie, Freundin, Mittagessen, Lärm, Stille, Kichern (20: 00). Nachdem er seinen traumatischen Kopfschuss überlebt hatte, konnte Yasser zwar nicht mehr Bilder mit bestimmten Bezeichnungen verbinden und Objekte identifizieren, sehr wohl aber weiß er noch, in welchen pragmatischen Umgebungen diese Gegenstände auftauchen und in welche Alltagsmomente sie eingebettet sind. Im Hinblick auf das Problem der minderen Mimesis lässt sich vor diesem Hintergrund sagen, dass für ihn als Bühnenfigur zwar viele Verknüpfungen zwischen Bildern und Wörtern aufgelöst wurden, nicht aber die Zusammenhänge, in denen einzelne Objekte in Korrespondenz mit anderen Objekten stehen. Zwar kann er keinen Kamm mehr im Bild eines Kammes erkennen, wohl aber kann er sich daran erinnern, dass sein Vater sich gekämmt hat, dass er dies vor einem Spiegel tat, dass er sich dort auch rasiert hat und solche Momente oft mit dem Zwang, zur Schule gehen zu müssen und dem Widerstand dagegen auf seiner Seite verknüpft waren. Zwar erkennt er nicht mehr, was ein Kamm ist, weiß aber noch, wie er in der Regel zum Einsatz kam. Zwar bezieht er den Kamm als Objekt nicht mehr auf sich als Subjekt, dafür aber sich als Subjekt vermittels des Kamms auf eine ganze Reihe von Augenblicken, denen er - nicht die er! - so minder mimetisch nachstellt, die jedoch unmittelbar in ihm wachgerufen werden, wenn er mit einem entsprechenden Gegenstand konfrontiert ist. Eine ähnliche minder mimetische Anschmiegung an Ereignisse geschieht, wenn Yasser von seiner kommunistischen Ver- Abb. 2: Rabih Mroué, Riding on a Cloud (2013), Bernhard Müller. 67 Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy gangenheit berichtet und darauf hinweist, dass sein Großvater Kommunist war, die Familie sich jedoch mit dessen Tod von dieser politischen Richtung abgewandt hätte. Nachdem er ein entsprechendes Kampflied angestimmt hat, wird eine Rede Lenins aus dem Jahre 1917 eingespielt, und die Videoprojektion zeigt ein Portrait Yassers, über das eine Zeichnung Lenins gelegt wird (26: 11). Hierauf folgt der wohl zentrale Text des Stücks: As there is before and after Christ, As there is before and after World War I, As there is before and after the Holocaust, As there is before and after the Nakba, As there is before and after the fall of the Berlin wall, As there is before and after the Israeli withdrawal from Lebanon, As there is before and after 9/ 11, As there is before and after the Arab Spring, As there is in every minor and major story a point that one or many decide to mark, so that there is a before and after; I decided to mark a point in my story, as well: The injury. And this is how I started saying, before and after the injury. 38 Die schwere Verletzung, die ihm der Kopfschuss im libanesischen Bürgerkrieg zugefügt hat, ist das wohl einschneidendste Ereignis in Yassers Leben. In der Tat wird dieser Text ziemlich genau zur Mitte des Stücks hin von seiner eingespielten Stimme auf Arabisch gesprochen und eine englische Übersetzung auf die Bühnenrückwand projiziert. Er dient als ein Scharnier innerhalb der Ereignisstreuung, das die bereits präsentierten Dokumente von Dokumenten trennt, die teilweise mit den gleichen Ereignissen verbunden sind, aber im Kontrast zu den bereits präsentierten stehen und so zum Problem machen, worauf sie verweisen, nämlich als Fakten präsentierte Geschehnisse, die nun nicht mehr so einfach von Fiktionen zu trennen sind. Yasser greift eine Reihe von Motiven auf, die bereits im ersten Teil verhandelt wurden, nun aber in einem neuen und anderen Licht erscheinen. So wurde bspw. zuvor schon - nach der Einblendung einer „ Discipline and Punish “ benannten Kapitelüberschrift - eine Vorrichtung präsentiert, mit deren Hilfe man die zum Spielen mancher Klavierstücke erforderliche extreme Fingerspreizung lernen kann (14: 00), und eine wackelige Kamera hat später eine Klaviatur gezeigt, während eine traurige Melodie eingespielt wurde (17: 02). Nun erklärt Yasser, dass er ein Piano und fünf Finger habe, aber nur auf den weißen Tasten Klavier spiele (36: 53). Oder die Form ‚ visueller Aphasie ‘ , die der Kopfschuss auch nach der Operation noch bei ihm hinterlassen hat: Zwar wurde sie bereits in der Bildfolge von Alltagsgegenständen manifest, auf die mit entsprechenden Situationen verbundene Wörter, nicht jedoch die Namen der jeweiligen Objekte folgten. Jetzt aber erzählt Yasser von dem Schock, der seine Eltern ereilte, als sie ihm Photographien der Familie zeigten und dabei erfahren mussten, dass er nicht mehr die Gesichter von Angehörigen darauf erkennen konnte (41: 13). Ein Arzt hätte dann die richtige Diagnose gestellt. Zunächst hätte er ihm einen Bleistift gezeigt und gefragt, worum es sich hierbei handele. Yasser hätte sofort einen Bleistift erkannt. Auf die Photographie eines Bleistifts hätte er jedoch mit der Antwort reagiert, sie sei nichts als ein Blatt Papier mit Farben (42: 10). Einerseits hat Yasser also seine Fähigkeit verloren, Ähnlichkeiten zwischen den Dingen und den Bildern von Dingen zu erkennen, andererseits aber erkennt er seitdem umso mehr Ähnlichkeiten zwischen den Bildern der Dinge und den Situationen, in welche die Dinge eingelassen sind und den Verhältnissen, welche sie untereinander aufweisen. Dem Arzt zufolge hätte der Kopfschuss ein Problem mit Repräsentationen bei ihm hin- 68 Stefan Hölscher terlassen. Die Dinge müssten physisch präsent sein, damit er sie erkennen könne (42: 40). Dem fügt er selbst hinzu: „ I saw one of my photos, and did not recognize myself. Not because I looked different, no. Because, probably because, for me, a photo is just a photo; nothing more, nothing less. “ 39 Weil für Yasser alles real sei, ginge er auch nicht mehr ins Theater, da er, wenn jemand auf der Bühne stirbt, dem Gedanken nicht entkommen kann, dass wirklich jemand gestorben sei. In diesem Zusammenhang kommt er noch einmal auf den Umstand zurück, dass er bisher 100 kurze Videos angefertigt und alle mit einem Titel versehen hat. Sein Arzt hätte ihm nämlich geraten, sich eine Kamera zu besorgen, um damit Dinge und Menschen zu filmen, um so seinem Misstrauen gegen Bilder entgegenzuwirken. Indem er seitdem selbst Reproduktionen der Dinge angefertigt hätte, hätte er von Neuem gelernt, dass etwas oder jemand präsent sein kann, ohne ‚ in Fleisch und Blut ‘ präsent zu sein, nämlich auf Bildern und als Bild, obwohl er sich nicht sicher ist, wie diese, im Gegensatz zu den Dingen, miteinander verbunden sind. Gegen Ende beschreibt er zum ersten Mal die Details des traumatischen Ereignisses, das seiner in Tonbändern und Videoschnipseln zerstreuten Erzählung zugrunde liegt. Am 17. Februar 1987, während heftiger Kämpfe zwischen der schiitischen Amal- Miliz und kommunistischen Gruppierungen, war er zu Besuch bei seinem Freund Habib, wo er im Radio von der Ermordung seines Großvaters, des Denkers und Wissenschaftlers Hussein Mroué erfuhr (51: 12). Sofort rannte er zu dessen Haus, wurde aber auf dem Weg dorthin von einem Scharfschützen der Amal-Bewegung in den Kopf geschossen. Zuletzt wird ein Text eingeblendet, der einen Dialog zwischen Rabih und Yasser darstellt, in dem Yasser seinen Bruder fragt, ob er mit ihm in einem seiner Stücke arbeiten dürfe und Rabih antwortet, er könne sich vorstellen, eine Performance zu machen, die seine Geschichte erzählt (1: 03: 14). Nachdem Yasser die Befürchtung geäußert hat, sie sei vielleicht nicht interessant genug, meint Rabih, sie könne auch erfunden werden, anstatt einfach erzählt zu sein. Riding on a Cloud (2013) geht deshalb um den Ritt auf einer Wolke, weil Yasser Mroué sich auf minder mimetische Weise verschiedenen Stationen seiner eigenen Biographie annähert, sie gewissermaßen von einem festen in einen gasförmigen Aggregatszustand transformiert und Ereigniswolken vor den Augen der Zuschauer vorüberziehen lässt. Hierbei wird auch der libanesische Bürgerkrieg als Ereignisstreuung erfahrbar: Schnell wird klar, dass sich Wolken nicht reiten lassen, weil es ihnen an Stabilität und Konsistenz mangelt. Vielmehr ziehen sie den Reiter in sich hinein und verunsichern ihn hinsichtlich des Bodens unter seinen Füßen. Yasser wiederholt Ereignisse seines Lebens. Indem er sie wiederholt und um das Trauma des Kopfschusses durch einen Scharfschützen herum anordnet, wirft er aber auch die Frage nach ihrer Herkunft und ihrer Verstricktheit ineinander auf. Dabei geht es weniger um eine kausale Abfolge der Dinge, sondern um deren Resonanz. Das Verhältnis zwischen der ‚ dunklen ‘ Seite von Ereignissen und deren Registrierung in Dokumenten stellt sich so als eines heraus, das ähnlich beschaffen ist wie das zwischen den Dingen und den Bildern, von denen aus sie bedeutet werden, zumindest nach Yassers Operation. 4. Mindere Mimesis Mindere Mimesis richtet sich nicht vertikal nach oben, sondern strahlt horizontal aus und verliert auf dem Weg, wovon sie ausgegangen ist, indem sie mehrere Richtungen gleichzeitig einschlägt. Die Geschichte der 69 Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy Mimesis entwickelt sich nicht erst seit Platons Verdrängung ihrer ekstatischen Seiten 40 entlang einer Serie von Spannungsverhältnissen, die damit zu tun haben, „ sich verunsichern zu lassen zwischen Vertrautheit und Verlorenheit “ 41 , letztlich in einer nicht (wieder)erkennbaren Zone zwischen ‚ Sich ‘ und ‚ Anderem ‘ verankert sind und mit einem Oszillieren zwischen synthetischen und auflösenden Aspekten zu tun haben. Es lassen sich zwei Akzente setzen: Einerseits kann das Verhältnis zwischen Nachgeahmtem und Nachahmendem in den Blick genommen und deren jeweilige Beschaffenheit befragt werden. Auf der anderen Seite geht es bei minderer Mimesis aber nicht nur um Nachahmung in diesem Sinne, sondern auch um das Problem der Darstellung, eine „ Kraft unbewußter Figuration “ 42 und um die Frage, was jeweils und wie jeweils etwas in mimetischen Prozessen erscheint und ob es sich hierbei um etwas im Nachgeahmten, im Nachahmenden oder zwischen beiden und um den „ radioaktiv[en] “ 43 ‚ Kern ‘ der Dinge handelt, die je nach Bewertung einer solchen Sachlage entweder ihr Wesen verloren haben oder von ihm befreit wurden, um sich als Oberflächenphänomene zu begegnen, in alle Richtungen auszubreiten und einander zu durchdringen. 44 Im Versuch, moderne Genie-Diskurse zu überwinden, die eine Dichotomie von Schöpfung und Mimesis behaupten und proklamieren, mit der modernen Ästhetik wären mimetische Praktiken obsolet geworden, bemerkt Luiz Costa Lima in Die Kontrolle des Imaginären zu einer Lesart von Mimesis, die in ihr eher Wirkungen, die zur Darstellung kommen - und deshalb Produktionen, die aus Wirkungen folgen - denn Nachbildungen von Vorbildern sieht: Wenn es aber gelungen wäre zu zeigen, daß die Poiesis sich innerhalb der Mimesis vollzieht, wäre es möglich gewesen, das Hindernis auszuschalten, das das Postulat der autonomen Kunst niemals überwand [. . .]. [W]enn das poetische Subjekt ein Erarbeitungsprozess ist, wenn das ‚ Genie ‘ wegen der Last des Unbewußten, das es begleitet, bevorzugt wird, dann wird die Poiesis von einer Kraft unbewußter Figuration beherrscht, die ebenso das Imaginäre des Produzenten wie des Rezipienten bewegt. 45 Ebenfalls im Hinblick auf ein primär auf ihre Wirkungsaspekte abzielendes Verständnis von Mimesis und hinsichtlich ihrer Fähigkeit, etwas zur Darstellung zu bringen, das noch keine Form hat, sich aber auf dem Weg zur Form hin befindet, privilegiert Karl-Heinz Ott in Die vielen Abschiede von der Mimesis ihre affektive Seite und betont, dass es bei ihr zunächst um Zustandsveränderungen geht. Wenn wir, wie es gewöhnlich geschieht, Mimesis mit Abbildung oder Nachahmung übersetzen, offenbart sich darin von vorneherein ein Mißverständnis. [. . .] Denn wenn etwas unser Vorstellungsvermögen in Unruhe versetzt, dann ist es weit weniger die greifbare Wirklichkeit als das, was unzugänglich, undurchdringlich und unheimlich bleibt. 46 Hinsichtlich einer auf etwas Fremdes, Anderes und letztlich Nicht-Identisches gerichteten minderen Mimesis ist ein Schwanken zwischen Aneignung und Verlust von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Dies wurde nicht nur in den Positionen so verschiedener Denker wie René Girard ( „ Aneignungsmimesis “ 47 ), Michael Taussig (im Oszillieren zwischen „ protean selves “ und ‚„ mimetic doubles “ 48 ) oder in der Theorie der meme von Richard Dawkins 49 entfaltet. Bereits Adorno und sein Kollege Horkheimer entwickeln in ihrer Dialektik der Aufklärung die These, dass es mit der im Verlauf der Moderne aufkommenden Dominanz der instrumentellen Vernunft zu einer ‚ Organisation der Mimesis ‘ sowie zur Unterdrückung des Drangs, „ ans andere sich zu verlieren und gleich zu werden “ 50 und gerade derjenigen Ausprägungsweisen der Mi- 70 Stefan Hölscher mesis gekommen sei, die dem Objekt einen Vorrang vor dem Subjekt einräumen und so die Autonomie des Subjekts herausforderten, das nun in der Identität mit sich und deshalb in sich eingeschlossen sei. 51 Einerseits wohnen mimetischen Prozessen identifikatorische Momente und so die Tendenz inne, zu Anschmiegungen von etwas an etwas anderes zu führen, „ Mimesis bedeutet hier Nachstreben, nacheifern. “ 52 Etwas (oder jemand) etabliert auf diesem Pol der Nachahmung ein Verhältnis zwischen einer bereits etablierten Identität und ihrem Anderen, um sich dieses Andere mimetisch anzueignen, einzuverleiben und dabei die eigene Identität weitestgehend zu erhalten. Dies geschieht dadurch, dass dem Anderen ein Kern zugeschrieben wird, der eher mit eigenen Merkmalen zu tun hat und dann auch für das Objekt bestimmend wird. Hierzu schreiben Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung: Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich. Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich anschmiegt, das Fremde zum Vertrauten, so versetzt diese das sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als Feind. 53 Anderseits kann es, dies versteht Benjamin unter mimetischem Vermögen, aber auch eher um eine Auflösung von Identitäten in ihr Anderes hinein gehen. Neben der Berliner Kindheit um 1900 widmet er sich dieser Konstellation auch in einem kurzen Fragment mit dem Titel Lehre vom Ähnlichen. Dort stellt er fest, dass im Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter ein Großteil des mimetischen Vermögens verloren ginge, denn „ [d]as Kind spielt nicht nur Kaufmann oder Lehrer, sondern auch Windmühle und Eisenbahn. “ 54 Aneignende Mimesis ist eine vertikal verlaufende, emporragende, aufsteigende Mimesis. Schon Platon geht davon aus, dass ein solcherart beschaffenes Verhältnis zwischen der phänomenalen Welt und dem Reich der Ideen besteht. Ihm zufolge gibt es eine legitime Nachahmung, in deren Rahmen die Erscheinungen zu den Ideen aufsteigen und sich ihnen nur dann und allein bis zur Deckungsgleichheit anschmiegen, wenn sie ihnen entsprechen und sie richtig widerspiegeln. Demgegenüber hat mindere Mimesis mit einem grundlegenden Verlust zu tun und verläuft horizontal, strahlenförmig und unkontrolliert. Taussig hat hierfür eine kondensierte Formulierung gefunden, wenn er in Anspielung auf eine Sentenz aus Benjamins Berliner Kindheit darauf hinweist, dass Mimesis sehr stark mit einem Nachgeben des ‚ Sich ‘ gegenüber einem anderen zusammenhängt: „ [I] want to draw attention to the active yielding of the perceiver in the perceived - the perceiver trying to enter into the picture and become one with it, so that the self is moved by the representation into the represented. “ Nun hat das Repräsentierte aber nicht bereits eine Form, sondern kommt zuallererst zur Form und gelangt zur Darstellung, indem wir uns von ihm berühren und durchdringen lassen. Mindere Mimesis wiederholt und reenacted deswegen ein gestreutes Objekt im Raum und in der Zeit. Ohne sich ein Objekt aneignen zu wollen, ‚ spielt ‘ das Subjekt minderer Mimesis mit gestreuten Ereignispartikeln und versucht, ihnen allen gleichermaßen in ihrer Streuung gleich zu werden. Noch deutlicher als an Rabih Mroués Riding on a Cloud (2013) wird diese Seite von Diskursereignissen an der Arbeit Low Pieces (2011) von Xavier le Roy, mit deren Analyse der vorliegende Text abschließen will. 5. Xavier le Roy: Low Pieces (2011) Low Pieces ist ein Gruppenstück, das der französische Choreograph Xavier le Roy 71 Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy zwischen 2008 und 2011 entwickelt und seitdem in unterschiedlichen Besetzungen zur Aufführung gebracht hat. Im Folgenden soll es als problematische Wiederholung und ‚ Streuung ‘ seines früheren Solos Self Unfinished von 1998 gelesen werden, weil es ein Thema aufgreift, das bereits in dieser Arbeit virulent war, es jedoch noch weiter expliziert und so ein anderes Licht auf das ihm vorangegangene Werk als Diskursereignis wirft. Low Pieces (2011) verhält sich gegenüber Self Unfinished (1998) minder mimetisch, da es seinen Vorgänger nicht einfach kopiert, sondern die ihm zugrunde liegende Problematik weiterentwickelt und vertieft. Schon Self Unfinished (1998) wiederholt eine Fragestellung, die im Oeuvre le Roys zum ersten Mal in Narcisse Flip (1997) auftaucht: Wie ist es möglich, Körper nicht metaphorisch und in Bezug auf codierte Bilder wahrzunehmen, da Metaphern letztlich immer ein Wiedererkennen voraussetzen? 55 Während es in Self Unfinished (1998) jedoch um Transformationen eines einzelnen Körpers und das Verhältnis zwischen identifizierbaren Körperbildern und den unmerklichen Übergängen dazwischen ging, handelt Low Pieces (2011) von unterschiedlichen Arrangements mehrerer Körper. Im Rahmen mehrerer tableaux vivants bilden sie zusammen fremde Landschaften und Ansammlungen von Tieren und Pflanzen. Zugrunde liegt diesen jedoch keine Nachahmung im platonischen oder aristotelischen Sinne, sondern die aufwendige Konstruktion spezifischer Wirkungen. Es geht nicht um die Frage, was bestimmte Tiere, Pflanzen oder leblose Materien sind, sondern darum, in welchen Konstellationen etwas Form annimmt bzw. als etwas anderes erscheint und wie sich solche Verhältnisse herstellen. So stellen die Tänzer*innen in der entsprechenden Sequenz bspw. nicht einfach ein Löwenrudel nach - was wahrscheinlich Abb. 3: Xavier le Roy, Low Pieces (2011), Vincent Cavaroc. 72 Stefan Hölscher eher albern wäre - , sondern folgen jeweils dem nur für sie hörbaren Score einer über Ohrstöpsel eingespielten und sehr komplexen Audiospur, die aus aufgenommenen Maschinengeräuschen besteht, deren Abfolge und Rhythmus in ihrer Übersetzung in die Bewegung einzelner Körperteile jedoch dazu führt, dass markante Bewegungsqualitäten von Löwen produziert werden. Wichtiger aber noch als der einzelne Körper ist das Verhältnis der Körper zueinander, da sie in ihrer Gesamtheit hier wie an anderer Stelle Landschaften bilden, in denen die Grenzen zwischen ihnen ebenso wie zwischen ihren einzelnen Elementen minder mimetisch verwischt werden. Der Blick der Zuschauer*innen wiederum wird zwar immersiv gelenkt, jedoch tauchen sie dabei nicht in einzelne Körper ein, sondern in die Landschaften und das changierende Verhältnis zwischen den Körpern. Im Gegensatz zu den kontinuierlichen Transformationen, aus denen Self Unfinished (1998) besteht, ist Low Pieces (2011) nichtsdestotrotz viel statischer, und die präsentierten Körpergefüge werden durch scharfe Lichtwechsel voneinander getrennt, ohne ineinander überzugehen. Während die Darstellungsmittel in Self Unfinished (1998) neben le Roys eigenem Körper noch einen Tisch, einen Stuhl, einen Ghettoblaster sowie ein elastisches Kostüm, mit dessen Hilfe ein Teil der körperlichen Transformationen erzeugt wurden, umfassten, wird Fremdheit in Low Pieces (2011) allein durch verschiedene Anordnungen nackter Körper produziert. Gerahmt werden diese Landschaften von zwei Dialogen mit dem Publikum zu Beginn und am Ende des Stücks, während derer die Tänzer*innen Alltagskleidung tragen und als Individuen auftreten, wodurch der Kontrast zu dem, was dazwischen passiert, noch verstärkt wird. Bereits Self Unfinished (1998) warf das Problem der Differenz zwischen Sicht- und Sagbarem auf. Immer wieder entfernte sich le Roy hier von identifizierbaren Schemata des Körpers, ermöglichte es dem Publikum aber auch, die Metamorphosen, die er durchlief, für kurze Momente festzustellen. So konnten Kritiker über sein Solo schreiben, in ihm verwandele er sich abwechselnd in eine Spinne, ein Huhn oder Frosch und einen Roboter, während es doch vielmehr noch die Momente zwischen solchen wiedererkennbaren Figuren waren, welche die eigentliche Spannung des Stücks ausmachten. Außerdem ging es dort noch um den Kontrast zwischen ‚ menschlichen ‘ (aufrechten, sitzenden, stehenden, gehenden etc.) Zuständen des Körpers und deren Ausfransung ins Maschinenhafte und Nicht- Menschliche. In dem vorliegenden Gruppenstück dagegen steht, wie der Titel es ankündigt, diese Differenz nicht mehr zur Disposition. Hier ist alles low insofern, als dass die Körper auf der Bühne, während sie bspw. zu Löwen, Seegräsern oder Felsformationen werden, keine Ähnlichkeit mehr zum aufrechten Gang des ‚ Menschen ‘ aufweisen. Vielmehr machen sich die Tänzer*innen Tieren, Pflanzen und der anorganischen Materie ähnlich. In Choreographing Problems entwickelt Bojana Cvejic´ einen Zugang zu Self Unfinished (1998), der vom Fokus auf codierte Abb. 4: Xavier le Roy, Self Unfinished (1998), Kathrin Schoof. 73 Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy Körperbilder abrückt und sich auch für die hier unternommenen Überlegungen zur minderen Mimesis und für Low Pieces (2011) als ein ‚ Reenactment ‘ von dessen gestreuter Problematik fruchtbar machen lässt. In einem deleuzianischen Vokabular schlägt sie vor, die nur für kurze Momente zu tableaux vivants still gestellten Transformationen des Körpers von le Roy als Zäsuren innerhalb eines umfassenderen Werdens aufzufassen: „ In the series of becomings, the static tableau is an interruption, a caesura, separating the movements and transformations that precede it from those that follow it. The rupture has the effect of dislocating and disorienting the bodily figure in both time and space. “ 56 In einem im Rahmen einer Festivalaufführung geführten Interview weist le Roy selbst darauf hin, dass es in Low Pieces (2011) um die Nachahmung der Aktivität von Dingen ginge, nicht aber um die Nachahmung ihres Wesens, von etwas also, das ihr Kern sein könnte. 57 In Self Unfinished (1998) konnte er, in erster Linie aufgrund des Solocharakters dieses Stücks, die Tragweite einer solchen transformatorischen Konzeption des Körpers nicht vollends ausschöpfen. Er war allein auf der Bühne, und der Blick der Zuschauer*innen war in erster Linie darauf fokussiert, zu beobachten, wie es durch die Loslösung einzelner Körperteile von einem erkennbaren Schema dazu kam, dass er an bestimmten Kipppunkten für kurze Zeit nicht mehr anhand gewohnter Muster identifiziert werden konnte, bevor er in ein anderes Schema eintrat. So wurde er vom gehenden Menschen zum stampfenden Roboter, von dort aus erst zur tastenden und dann kriechenden Spinne, um sich schließlich - je nach Auge der Betrachterin oder des Betrachters - entweder in einen Frosch oder ein Hühnchen zu verwandeln. Während all dieser und mehr noch zwischen den Stationen, die er in seinem früheren Stück durchlief, dominierte jedoch eine andere Nuance, nämlich die der qualitativen Transformationen, die zuallererst dazu führten, dass die Verwandlungen seines Körpers an manchen Stellen unterbrochen wurden. Besonders auffällig war dies, als er auf seine Schultern und Knie gestützt und mit dem Rücken dem Publikum zugewandt zum Liegen kam und seine Arme dann vorsichtig, wie die Fühler eines Insekts, in alle Richtungen vorsichtig zu tasten begannen. Abb. 5: Xavier le Roy, Self Unfinished (1998), Armin Linke. Abb. 6: Xavier le Roy, Low Pieces (2011), Vincent Cavaroc. Noch bevor manche Kritiker ein Hühnchen in seinem Körper zu erkennen meinen konnten, noch bevor mit Cvejic´ Zäsuren seines Werdens einsetzten und er in wiedererkennbaren Bildern still gestellt wurde, gab es dann für kurze Augenblicke so etwas wie eine ‚ exzessive ‘ Mimesis. Eine exzessive Mi- 74 Stefan Hölscher mesis war in dem Stück von 1998 zwischen denjenigen Punkten, von denen her er kam und die er verließ und solchen, auf die hin er sich bewegte und in die er gewissermaßen mündete, aufgespannt. Diese Punkte, die sich anhand der hier präsentierten Überlegungen zur minderen Mimesis auch Momente der Streuung von Ereignispartikeln nennen lassen, auf der Linie seines Werdens, an denen er nicht mehr als vorangehender Körper und noch nicht als Körper erkennbar war, der er gewesen sein würde, waren es, die auch auf Seiten der Zuschauer*innen kurze Momente sehr intensiver Immersion produzierten, eine Immersion jedoch, die nicht auf die Identifikation mit einem bestimmten Körperbild abzielt, sondern auf genau die Kipppunkte, an denen etwas anders wird und sich in etwas anderes verwandelt. Es ist nicht zu viel gesagt, dass es in solchen Momenten um das Eintauchen in einen Ereignisnebel geht, der hier anhand minderer Mimesis beschrieben wurde. Low Pieces (2011) vertieft in dieser Hinsicht die Problematik von Self Unfinished (1998), weil hier nicht ein einzelner Körper auf der Bühne ist, sondern viele. Deshalb geht einerseits die mimetische Anschmiegung der Zuschauer*innen an Momente der Des-Identifizierung der Körper der Tänzer*innen mit codierten Bildern noch weiter, andererseits rückt zusätzlich der Raum zwischen den einzelnen Körpern ins Zentrum. Weil sich die Landschaften, die sie zusammen bilden, durch eine noch so kleine Veränderung eines jeden ihrer Elemente auch in ihrer Gesamtheit verwandeln, gleicht das Auge hier permanent den Gesamteindruck, den ihm die Szenerie vermittelt, mit den kleinen Details, aus denen sie besteht, ab. Was Cvejic´ hinsichtlich Self Unfinished (1998) Zäsuren des Werdens eines Körpers nennt, wird hier zu Zäsuren im Werden einer ganzen Landschaft. Während der einzelne Körper, abgesehen von den Dialogsequenzen am Anfang und Ende des Stücks, an Individualität verliert, scheint die Landschaft selbst ein gestreutes Individuum zu sein, das unaufhörlich Metamorphosen durchlebt, indem all ihre Elemente sich gegenseitig berühren, durchdringen und insofern einander nachahmen, als dass sie aufeinander einwirken. Weiter weg könnte mindere Mimesis von ihrer Zähmung nur schwer sein. Anmerkungen 1 Dieser Text verdankt seine Entstehung dem Teilprojekt Mindere Mimesis der DFG-Forschergruppe Medien und Mimesis, deren Mitglied ich von 2014 bis 2017 sein durfte. 2 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 2000. 3 Michel Foucault, Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970 - 71, Berlin 2012, S. 250. 4 Ebd., S. 282. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 252. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 336. 11 Ebd. 12 Walter Benjamin, „ Lehre vom Ähnlichen “ , in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften II.I, Frankfurt am Main 1991, S. 206. 13 Ebd., S. 205. 14 Über Foucaults Arbeit im Archiv schreibt dessen Kollegin Arlette Farge: „ Das Archiv ist immer dann Exzess des Sinns, wenn sein Leser Schönheit, Betroffenheit und einen gewissen affektiven Stoß verspürt. [. . .] Michel Foucault [. . .] war erschüttert, wusste, dass die Analyse nicht alles sagen konnte, aber auch, dass das in Worte gefasste Gefühl die Historiker nicht befriedigen würde, obwohl ihm diese Annährung an die Dokumente ebenso berechtigt erschien wie andere [. . .]. Wer den Geschmack für das Archiv hat, versucht, den Fetzen wiedergefundener Sätze überschüssigen Sinn zu entreißen; das 75 Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy Gefühl ist ein Instrument mehr, um den Sinn zu meißeln - den der Vergangenheit, den der Stille. “ Arlette Farge, Der Geschmack des Archivs, Göttingen 2011, S. 29. Dass auf Resonanz beruhende mimetische Prozesse nicht nur zwischen einem Betrachter und dem ihm vorliegenden Material stattfinden, sondern auch auf einen nicht länger anthropozentrisch gefassten Ereignisbegriff verweisen, zeigt Deleuze auf eindrückliche Weise, wenn er sein Konzept der transzendentalen Probleme entwickelt. Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992. 15 Michael Taussig, Mimesis and Alterity. A Particular History of the Senses, London/ New York 1993, S. 129. 16 Bzgl. einer entlang der Unterscheidung zwischen Widerspiegelung und Konvention getroffenen Einteilung in platonische und aristotelische Traditionslinien der Mimesis vgl. Matthew Potolsky, Mimesis. The New Critical Idiom, New York/ London 2006. 17 Farge, Der Geschmack des Archivs, S. 64. 18 Vgl. hierzu auch Maria Muhle, „ Mimesis “ , in: Eva Horn und Michèle Lowrie (Hg.), Denkfiguren, Berlin 2013. 19 Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main 2000, S. 13. 20 Dies ist eine Einsicht in die Verfasstheit des modernen Subjekts, das zugleich auch Objekt von ‚ Leben, Arbeit und Sprache ‘ ist, die Foucault vermittels seiner empirisch-transzendentalen Doublette auszudrücken versucht. Vgl. Foucault, Die Ordnung des Diskurses. 21 Vgl. hierzu u. v. a. die Beiträge in Sabeth Buchmann und Alexander Mayer (Hg.), Wenn sonst nichts klappt. Wiederholung wiederholen: In Kunst, Popkultur, Film, Musik, Alltag, Theorie und Praxis, Berlin 2005; Inke Arns, „ Strategien des Reenactments “ , in: Inke Arns und Gabriele Horn (Hg.), History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-)Kunst und Performance, Frankfurt am Main 2007 sowie Maria Muhle, „ Aesthetic Realism and Subjectivation. From Chris Marker to the Medvedkin Groups “ , in: Revue Appareil, n° 4, Paris, 2009 und Maria Muhle, „ History will repeat itself. Für eine (Medien-)Philosophie des Reenactments “ , in: Lorenz Engell, Frank Hartmann und Christiane Voss (Hg.), Körper des Denkens. Neue Positionen in der Medienphilosophie, München 2013. 22 Jacques Rancière, Die Wörter der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Berlin 2015, S. 105. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 32 25 Theodor W. Adorno, Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen: Band 3: Ästhetik (1958/ 59), Frankfurt am Main 2009, S. 83. 26 Ebd., S. 79 f. 27 Rancière, Die Wörter der Geschichte, S. 115. 28 Friedrich Balke, „ Ähnlichkeit und Entstellung. Mindere Mimesis und maßgebender Anblick bei Platon und Walter Benjamin “ , in: Comparatio. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 7, H. 2, 2015, S. 279. 29 Ebd., S. 265 f. 30 Walter Benjamin, „ Berliner Kindheit um 1900 “ , in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften IV.I, Frankfurt am Main 1991, S. 253. 31 Ebd., S. 262 f. 32 Roger Caillois, Méduse & Cie, Berlin 2007, S. 35. Die ‚ Versuchung durch den Raum ‘ macht er an entscheidender Stelle an Gustave Flauberts Die Versuchung des heiligen Antonius deutlich. Aus diesem Roman zitiert er folgende Passage: „ Die Pflanzen lassen sich jetzt von den Tieren nicht mehr unterscheiden [. . .] Insekten hängen wie Rosenblätter an einem Busch [. . .] Und dann vermischen sich die Pflanzen mit den Steinen. Kiesel gleichen Gehirnen, Stalaktiten Zitzen, Eisenblumen den Ornamenten eines Teppichs. “ Ebd., S. 38. 33 Foucault, Über den Willen zum Wissen, S. 250. 34 Farge, Der Geschmack des Archivs, S. 8 f. 35 Eine Nähe zu Benjamins Charakterisierung des mit dem mimetischen Vermögen einhergehenden Blitzes findet sich in Michel Foucault, „ Das Leben der infamen Menschen “ , in: Michael Foucault, Dits et Ecrits. Schriften 3, Frankfurt am Main 2005. 76 Stefan Hölscher 36 Foucault, Über den Willen zum Wissen, S. 250. 37 Die folgenden Ausführungen und der Timecode beziehen sich auf einen Mitschnitt der Aufführung vom 11. Juni 2015 am Théâtre de Vidy in Lausanne, die mir freundlicherweise von Rabih Mroué zur Verfügung gestellt wurde. 38 Das Zitat ist dem Skript entnommen, das mir freundlicherweise von Rabih Mroué zur Verfügung gestellt wurde. 39 Skript. 40 Vgl. Balke, „ Ähnlichkeit und Entstellung “ , 2015. 41 Farge, Der Geschmack des Archivs, S. 19. 42 Luiz Costa Lima, Die Kontrolle des Imaginären, Frankfurt am Main 1990, S. 144. 43 Vgl. Theodor W. Adorno, „ Charakteristik Walther Benjamins “ , in: Theodor W. Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, München 1963, S. 232. Adorno beginnt seine Hommage an den alten Freund folgendermaßen: „ Unter dem Blick seiner Worte verwandelte sich, worauf immer er fiel, als wäre es radioaktiv geworden. Die Fähigkeit, unablässig neue Aspekte herzustellen, weniger indem er Konventionen kritisch durchbrach, als indem er durch seine innere Organisation zum Gegenstand sich verhielt, wie wenn die Konvention keine Macht über ihn hätte - diese Fähigkeit wird gleichwohl vom Begriff des Originellen kaum erreicht. Keiner der Einfälle des Unerschöpflichen dünkte je bloßer Einfall. Das Subjekt, dem leibhaft alle die originären Erfahrungen zuteil wurden, welche die offizielle zeitgenössische Philosophie einzig formal beredet, schien zugleich keinen Anteil an ihnen zu haben, wie denn seiner Art, zumal der Kunst augenblicklich-endgültiger Formulierung, das Moment des im herkömmlichen Sinne Spontanen und Sprudelnden durchaus abging. Er wirkte nicht wie einer, der Wahrheit erzeugte oder denkend gewann, sondern, indem er sie durch den Gedanken zitierte, wie ein höchstes Instrument von Erkenntnis, auf dem diese ihren Niederschlag hinterließ. Nichts hatte er vom Philosophierenden nach traditionellem Maß. Was er selber zu seinen Funden beitrug, war kaum ein Lebendiges und ‚ Organisches ‘ ; gründlich verfehlte ihn das Gleichnis des Schöpfers. Die Subjektivität seines Denkens war verhutzelt zur spezifischen Differenz; das idiosynkratische Moment seines eigenen Geistes, das Singuläre daran, das der herkömmlich philosophischen Verfahrungsweise für das Zufällige, Ephemere, ganz Nichtige gelten würde, bewährte sich bei ihm als das Medium des Verbindlichen. Angegossen ist ihm der Satz, in der Erkenntnis sei das Individuellste das Allgemeinste. “ Ebd., S. 232 f. 44 Zum Oszillieren exzessiver Mimesiskonzepte zwischer affirmativen und kulturpessimistischen Positionen siehe Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Mimesis und Simulation, Freiburg 1997. 45 Costa Lima, Die Kontrolle des Imaginären, S. 144. 46 Karl-Heinz Ott, Die vielen Abschiede von der Mimesis, Stuttgart 2010, S. 4 f. In fragmentarischer Form ausformuliert findet sich dieser Gedanke in Wolfgang Iser, Emergenz. Nachgelassene und verstreut publizierte Essays, Konstanz 2013. 47 Vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Ostfildern 2012. 48 Vgl. Taussig, Mimesis and Alterity, S. 97. 49 Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, Wiesbaden 2014. 50 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 217. 51 Vgl. ebd. Weiterhin heißt es dort: „ Zivilisation hat an Stelle der organischen Anschmiegung ans andere, an Stelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, zunächst in der magischen Phase, die organisierte Handhabung der Mimesis und schließlich, in der historischen, die rationale Praxis, die Arbeit, gesetzt. Unbeherrschte Mimesis wird verfemt. [. . .] Alles Abgelenktwerden, ja, alle Hingabe hat einen Zug von Mimicry. In der Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden. Durch seine Konstitution vollzieht sich der Übergang von reflektorischer Mimesis zu beherrschter Reflexion. An Stelle der leiblichen Angleichung an Natur tritt die 77 Problematische Wiederholungen und mindere Mimesis bei Rabih Mroué und Xavier le Roy ‚ Rekognition im Begriff ‘ , die Befassung des Verschiedenen unter Gleiches. “ Ebd., S. 213. 52 Gunter Gebauer und Christoph Wulf, Mimesis. Kultur - Kunst - Gesellschaft, Hamburg 1992, S. 56. 53 Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 220. Taussig fügt dem ergänzend hinzu: „ Unlike the mimeticized world, this disenchanted one is home to a self-enclosed and somewhat paranoid, possesive, individualized sense of self severed from and dominant over a dead and nonspiritualized nature, a self built antimimetically on the notion of work as an instrumental relation to the world within a system wherein that self ideally incorporates into itself wealth, property, citizenship, and of course ‚ sense data, ‘ all necessary quantifiable so as to pass muster at the gates of new definitions of Truth as Accountability. “ Taussig, Mimesis and Alterity, S. 97. 54 Benjamin, „ Lehre vom Ähnlichen “ , S. 205. 55 Vgl. Bojana Cvejic´, Choreographing Problems. Expressive Concepts in European Contemporary Dance and Performance, Basingstoke 2015. 56 Ebd., S. 209. 57 Vgl. https: / / www.youtube.com/ watch? v=Df mgtaCtCqM [Zugriff am 8. 5. 2016]. 78 Stefan Hölscher