Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2015-0013
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/611
2019
301-2
Balme„Kreuzige ihn!“
611
2019
Dominic Zerhoch
fmth301-20178
„ Kreuzige ihn! “ - Eine Blick-Akt-Analyse der Passion Christi am Beispiel von Hermann Nitschs Kreuzigungsaktionen Dominic Zerhoch (Mainz) The article discusses Hermann Nitsch ’ s ‘ Kreuzigungsaktionen ’ as a re-enactment of the Passion of Christ, arguing that they differ from ‘ traditional ’ representations in reception and invert their meaning. By making use of Christian symbols, Nitsch himself places his actions in the context of Christian mediation and ancient Greek theatre theory, referring to Aristoteles ’ terms of eleos and phobos. In this way, he seems to presuppose an analogy between catharsis and compassion based on corporal-ritual practices. While the Passion Play represents the corporal suffering, Nitsch tries to create an all-surrounding, all-sensual experience that allows the participant to ‘ take part ’ in the crucifixion. But whom is the participant to identify with? In analysing interactions of spectators, participants and performers using Adam Czirak ’ s ‘ Gaze- Act-Theory ’ , the article shows how ‘ denied gazes ’ disqualify Nitsch ’ s work from evoking compassion and thus from being a re-enactment of the Passion. „ Sie riefen aber und sprachen: Kreuzige, kreuzige ihn! “ Lukas 23.21 Darstellungen und Interpretationen der Kreuzigung Jesu Christi sind so zahlreich wie unterschiedlich. In diversen Variationen erscheint uns der Corpus Christi in seiner Allgegenwärtigkeit mithin sogar als signifikanter Teil einer abendländischen Gesellschaft und wird als eben solcher politisch instrumentalisiert. Seit es die Möglichkeit der filmischen Reproduktion gibt, reichen Adaptionen von Der Galiläer aus dem Jahre 1921 bis hin zu Mel Gibsons berühmter und im Feuilleton wie auf politscher Ebene heiß diskutierter Adaption The Passion of Christ von 2004. Formen des Reenactments lassen sich in den katholischen und protestantischen Kirchen mit der Feier des Abendmahls finden. Darstellungen von Kruzifixen, die den versehrten Leib Jesu zeigen, prägen das Bild der katholischen Ballungszentren wie Bayern. Ebendort versammeln sich zu Beginn jeder Dekade die Bewohner des Dorfes Oberammergau, um die Passion auf die Bühne zu bringen. Das theatrale Passionsspiel, welches seine Wurzeln im Mittelalter hat, stellt dabei eine der ältesten Formen des Reenactments der Kreuzigung Jesu dar. Julia Stenzel und Jan Mohr haben in ihrem kurzen Beitrag zum Geistlichen Spiel im Mittelalter die „ fließenden Übergänge “ zwischen kultischer Partizipation und „ (distanziertem) Zuschauen “ hervorgehoben. 1 Konkrete partizipatorische Momente gab es hier vor allem im gemeinsamen Singen des Ostertropus. Weiter heißt es: „ Ziel der geistlichen Spiele ist die Erbauung (aedificatio) der Anwesenden durch Verkündung und Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens; dessen mimetischer Nachvollzug zielt auf die Emotionalisierung der Zuschauenden ab und soll sie zur Identifikation anregen (compassio). “ 2 Folglich kann man von der Annahme ausgehen, dass alleine die Schau einen Prozess in Gang setzt, der sich ähnlich zu einem kathartischen Prozess im aristotelischen Sinne durch eleos und phobos verstehen könnte. Diese beiden Begriffe greift Hermann Nitsch in seiner Beschreibung zum Orgien Mysterien Theater wiederum Forum Modernes Theater, 30/ 1-2 (2015 [2019]), 178 - 192. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2015-0013 auf und widerspricht damit dem Ansatz, dass das reine Zuschauen genüge, die gewünschte Katharsis hervorzubringen. Für ihn ist eine allumfassende sinnliche Wahrnehmung seiner Aktionen Voraussetzung. 3 Dabei zeigt sich keines der oben genannten Beispiele so radikal wie die Kreuzigungsaktionen des ehemaligen Wiener Aktionisten. Auch in der Tradition bildlicher Darstellungen der Passion Christi am Kreuz steht seit jeher der stark versehrte Körper des sterbenden Jesus im Mittelpunkt. Dabei gibt es mehr oder weniger drastische Darstellungen, die die Versehrtheit des Körpers Jesus unterstreichen. Zwei solcher Darstellungen sind Meinrad Guggenbichlers Crucifixus 4 von Anfang des 18. Jahrhunderts und der Crucifixus dolorosus 5 von 1375/ 1400. Beide Holzfiguren weisen auf unterschiedliche Weise eine starke körperliche Versehrtheit auf, wobei die Figur des Jesu komparativ betrachtet in beiden Darstellungen die exakt selbe Haltung einnimmt, den Kopf zu seiner Rechten gesenkt, den linken über den rechten Fuß, sowie beide Hände nach oben an das Kreuz genagelt. Während im Crucifixus dolorosus der Körper der Christusdarstellung stark ausgemergelt erscheint und Blut entlang seiner Arme läuft, stellt Guggenbichlers Crucifixus die anatomische Beschaffenheit des Körpers aus. Zwar hängen in der älteren Darstellung auch Hautlappen an den Seiten des Körpers hinunter, die ‚ Haut ‘ in Guggenbichlers Darstellung zeigt allerdings eine noch stärkere Zersetzung des Körpers auf, indem der Blick auf Muskeln und Gelenke freigelegt wird. Der Körper wird hier als anatomischer und versehrter Körper im Prozess des Sterbens und damit einhergehend in seiner physischen Dekonstruktion erkennbar. Diese extreme Darstellung körperlicher Zersetzung findet sich beispielsweise auch in Mel Gibsons Film wieder, dessen Gewaltdarstellung einerseits stark kritisiert, andererseits unter anderen auch von René Girard mit sozialkritischem Blick auf die Gewalt in der Gesellschaft in Schutz genommen wurde. 6 In der Anleitung zur Bildbetrachtung, und das mag gleichermaßen auch auf die oben genannten Beispiele übertragbar sein, scheint die Versehrtheit des Leibes eine wichtige Voraussetzung für die aedificatio zu sein, die durch compassio erreicht werden soll. Die compassio, das Mitleiden, soll dabei durch die Schau auf das Bild im Betrachter hervorgerufen werden, der im Sinne von Traditionen der Passionsmeditation „ in das Bild hineingezogen werden soll “ : „ Die Intensität und Lebendigkeit des bildlichen Ausdrucks sucht ihre Resonanz im Affekt des Betrachters, der von der Darstellung ergriffen wird und sich in das Bildgeschehen hineinziehen lässt “ 7 , heißt es im Band Deine Wunden, der sich mit unterschiedlichen bildlichen Passionsdarstellungen auseinandersetzt. Weiter heißt es: Wollte man über die Stufen der Compassio [sic] mit Hilfe moderner Begrifflichkeiten weitere Klarheit gewinnen, so wäre sie vielleicht am besten als Gefühl zu bestimmen, das sich als Nähe zwischen Bild und Betrachter artikuliert und die Betrachter schließlich am Bildgeschehen teilnehmen lässt. 8 Eine Teilnahme, verstanden als eine situative, intersubjektive Beziehung zwischen einem bildlichen, tradierbaren Werk und seinem Betrachter, widerspricht allerdings der Perspektivierung der Theaterwissenschaft, die zur Bestimmung eines theatralen Prozesses eine leibliche Ko-Präsenz zwischen zwei Subjekten spätestens seit der Formulierung durch Erika Fischer-Lichte in der Ästhetik des Performativen voraussetzt. 9 Adam Czirak geht dabei noch einen Schritt weiter und definiert die intersubjektive Beziehung über Blick-Akte in Bezugnahme auf Sartres Interaktionsmodell: 179 „ Kreuzige ihn! “ - Eine Blick-Akt-Analyse der Passion Christi Die Begegnung mit bildlich (re-)produzierten Augen kann für ihn [Sartre] nie die selbstkonstitutive Erfahrung der Objektivierung ins Spiel bringen, weil Bilder und Puppen eine hervorstechende Gemeinsamkeit mit den Toten teilen: Diese besteht darin, dass sie ‚ ständig Objekte [sind], ohne jemals Subjekte zu werden ‘ . Bildbetrachtung bricht also mit der doppelten Kontingenz des Intersubjektivitätsverhältnisses, und Bildfiguren können lediglich einen kopräsentischen Effekt erzielen, ohne eine Wechselwirksamkeit sozialen Handelns zu etablieren. 10 Im Folgenden möchte ich zeigen, wie Hermann Nitschs Kreuzigungsaktionen einerseits als performatives und partizipatorisches Reenactment der Passion Christi verstanden werden können, und anderseits aufzeigen, wie eine unterschiedliche Identifikation der Zuschauer*innen im Vergleich zur compassio, wie oben beschrieben wurde, zu Stande kommt. Dabei möchte ich am ausgewählten Beispiel mit Hilfe einer Blick- Akt-Analyse veranschaulichen, dass hinter der compassio im christlichen Kontext und Nitschs Kreuzigungsaktionen eine unterschiedliche Wirkungsästhetik steckt, der ein jeweils spezifisches Identifikationspotential inhärent ist. 122. Aktion - Das Orgien Mysterien Theater Grundlage für die Untersuchung soll Nitschs 122. Aktion am Burgtheater Wien von November 2005 sein, die den Titel Das Orgien Mysterien Theater trägt. Dabei stehen zwei Momente im Fokus meiner näheren analytischen Betrachtung. Im ersten Teil von Nitschs Aktion, der auf dem Treppenaufgang des Foyers im Burgtheater stattfindet, liegt eine Person, die in Abgrenzung zu anderen teilnehmenden Subjekten als passiver Akteur bezeichnet wird, 11 auf einem schräg aufgebockten Holzkreuz. Der passive Akteur ist in ein weißes Leinentuch gekleidet, seine Augen sind verbunden. Auf seinem Körper liegt der Länge nach ein vom Bauch her ausgeweidetes Schwein. Der passive Akteur ist umgeben von mehreren Akteuren, die alle ein weißes T-Shirt, weiße Leinenhosen und weiße Leinenschuhe tragen. Des Weiteren sind im Foyer die Zuschauer*innen der Aktion zu mehreren Seiten anwesend sowie Nitsch selbst, der Anweisungen an die Akteure gibt und sich durch seine schwarze Kleidung abhebt. 12 Mit Beginn der Performance stopfen die Performer*innen das ausgeweidete Schwein, welches sich immer noch auf dem Bauch des passiven Akteurs befindet, mit Gedärmen. Sie gießen eine rote Flüssigkeit darüber, bei der es sich vermutlich um Tierblut handelt, 13 sowie eine nicht weiter identifizierbare klare Flüssigkeit. Dieser Akt wird mehrfach an unterschiedlichen Stellen im Foyer, vor dem Theatergebäude und schließlich auf der Bühne des Theatersaals wiederholt, wobei die Gedärme mit der Zeit aus dem Körper des Schweins quellen. Die Akteure halten die Masse an Gedärmen dabei stets mit ihren bloßen Händen in Bewegung. Das Blut zeichnet sich deutlich auf ihrer weißen Kleidung ab. Die Akte enden jeweils damit, dass Schwerter, die an Holzstämmen befestigt sind, auf die Brust des passiven Akteurs mit dem darauf befindlichen Schweinekörper gerichtet werden. Ein Kissen soll dabei den Körper des passiven Akteurs vor Verletzungen schützen. Der zweite Teil, der für meine Untersuchung von Interesse ist, findet an späterer Stelle auf der Bühne des Theaters statt. 14 An ein schlichtes Holzkreuz ist ein nackter passiver Akteur gebunden. Wie bei allen anderen passiven Akteuren, die in Nitschs Aktionen in Erscheinung treten, bleiben die Augen durchwegs verbunden. Der passive Akteur wird samt Kreuz vor einem ausgeweideten Schwein aufgestellt, welches an den Beinen ausgespreizt an der Wand fixiert 180 Dominic Zerhoch ist. Mehrere der weiß gekleideten Akteure halten dabei das Kreuz aufrecht. Aus einem durchsichtigen Gefäß, in dem sich wieder eine rote Flüssigkeit befindet - vermutlich auch hier Tierblut - , gießt Nitsch dem passiven Akteur über den leicht geöffneten Mund das ‚ Blut ‘ über den Körper. Dieser Vorgang wird an mehreren passiven Akteuren durch die übrigen Akteure wiederholt. Die motivische Nähe der ausgeführten Aktionen scheint Nitschs Kreuzigungsaktionen in den Kontext der christlichen Passionsgeschichte zu stellen. Die Schwelle zwischen Subjekt und Objekt - Nitsch im Kontext der Passionsgeschichte Der Blick auf den leidenden Körper Jesu am Kreuz in bildlichen wie szenischen Darstellungen ist niemals der Blick auf ein totes Objekt. Er befindet sich ‚ in einer Phase des Übergangs ‘ , im Vorgang des Sterbens, und unterscheidet sich dadurch von Darstellungen der Pietà, die den toten Leib Jesu auf dem Schoß der Mutter zeigen. Werden in Nitschs Kreuzigungsaktionen diese Grenzüberschreitungen lediglich semiotisch auf den Körper appliziert, ging sein Mitaktionist Günter Brus in seiner letzten Aktion Zerreißprobe tatsächlich an die Grenzen seines Körpers, seiner physischen Belastbarkeit. 15 Seine Aktionen, das Zerschneiden seiner Kleidung und Ritzen seiner Haut, scheinen erzwungen, werden allerdings durch ihn selbst ausgeführt. Somit ist die Aktion ein Musterbeispiel für das von Hans-Thies Lehmann in seinen Ausarbeitungen zum „ Postdramatischen Theater “ beschriebene Extrem der Selbsttransformation in der Performance. 16 „ Brus ’ Zerreißprobe, seine letzte Aktion “ , schreibt Michael Backes, „ markiert einen kaum überbietbaren Extrempunkt in der Körperdekonstruktion. “ 17 Indem der Performer durch seine Handlungen, die gegen seinen Körper gerichtet sind, Körper und Geist voneinander trennt, unterstreicht er genau den Unterschied zwischen Körper und Geist, den bereits Platon erkannte. 18 Brus spielt mit der Veränderung und Sterblichkeit des Körpers, spaltet ihn dadurch vom Geist ab, der die Aktionen ausführt. Der blutende Körper unterliegt nicht mehr der geistigen Kontrolle des Akteurs, beeinflusst ihn aber durch Schmerzen zunehmend. Auf diese Weise tritt der Körper in seiner Materialität hervor. Wie Erika Fischer-Lichte es in Bezug auf den Philosophen Helmuth Plessner beschreibt nimmt die Materialität des Körpers allerdings einen besonderen Stellenwert ein: Der menschliche Körper ist keinem anderen Material vergleichbar, lässt sich nicht beliebig bearbeiten und formen. Er stellt vielmehr einen lebendigen Organismus dar, der sich beständig im Werden befindet, im Prozess einer permanenten Transformation. Für ihn kann es keinen Ist-Zustand geben; er kennt nur Sein als Werden, als Prozess, als Veränderung. Mit jedem Atemzug, jedem Lidschlag, jeder Bewegung bringt er sich neu hervor, wird ein anderer. Daher bleibt der Körper letztendlich unverfügbar. Das leibliche In-der-Welt-Sein, das nicht ist, sondern wird, widerspricht vehement jeglicher Vorstellung von einem Werk. Zum Werk vermag der menschliche Leib erst in seiner Mortifikation zu werden, als Leichnam. Denn damit erreicht er zumindest vorübergehend einen Ist-Zustand, der allerdings nur durch eine schnelle Einbalsamierung erhalten werden kann. In diesem Zustand lässt er sich als Material verwenden, das nicht nur in Begräbnisritualen, sondern auch in künstlerischen Prozessen bearbeitet, präpariert und gestaltet werden kann [. . .] Als lebendiger Leib widersetzt er sich jedoch hartnäckig jedem Versuch ihn als Werk zu erklären, geschweige denn zu machen. Er stellt vielmehr ein ‚ Material ‘ dar, das sich selbst immer wieder neu hervorbringt. 19 181 „ Kreuzige ihn! “ - Eine Blick-Akt-Analyse der Passion Christi Man kann, um auf die Worte Fischer-Lichtes zurückzugreifen, Brus ‘ Zereißprobe als Auseinandersetzung mit der organischen Materialität des Körpers betrachten. Der Körper wird unkontrollierbar und ‚ arbeitet ‘ dabei immer weiter, indem er blutet. Der Körper wird zu einem Prozess, einem Material, das in Bewegung gebracht wird und sich im Hier und Jetzt immer weiter verändert. Am äußersten Ende dieser Skala der Selbstverletzung steht der Suizid. 20 Der handelnde Geist und der ausführende Körper sind nun nicht mehr in der Lage, Akte zu vollziehen. Neben dem Aktvollzug stirbt im wahrsten Sinne des Wortes auch das ‚ Sein ‘ eines Subjekts. Der übrig gebliebene Körper verwandelt sich in ein totes Objekt. Brus ‘ Zereißprobe bewegt sich auf dem Weg der physischen Selbstzerstörung. Das Authentische wird hier in seiner etymologischen Bedeutung an die Spitze getrieben. Der Suizid als unwiderrufliche Handlung, die gleichzeitig das Versiegen aller anderen Handlung beinhaltet. Folglich kann der Körper erst durch die Abspaltung des Geistes vollkommen in seiner Materialität wahrgenommen werden, als ohnmächtiger Leib, dessen Geist keine Aktionsmacht mehr besitzt, dessen Augen nur noch Material sind und nicht mehr blicken. Im Prozess des Sterbens findet demnach die Transformation von Subjekt in Objekt statt. Indem Nitsch den lebendigen Körper und das tote Tiermaterial in seinen Kreuzigungsaktionen miteinander in Verbindung bringt, umgeht er die körperliche Versehrtheit seiner passiven Akteure. Ähnlich der Parallelmontage im Sinne Eisensteins wird der unversehrte Leib mit der tatsächlichen Tötung des Tieres in Verbindung gebracht. In seinen Aktionen wird deutlich, wie Grenzüberschreitung von innen nach außen ebenfalls stattfinden kann. Dabei wird das Innere und Äußere nicht im platonischen Sinne wie bei Brus als Ausdifferenzierung zwischen Körper und Geist gedacht, sondern auf einer konkreten anatomischen Ebene, ähnlich der Darstellung der Figur Jesu durch Guggenbichler. Die Haut in Nitschs Aktionen wird deutlich als undurchlässige Membran betrachtet, die den Blutkreislauf im Körper behält. Durch das Beschmieren mit Blut entsteht eine Art Negativ des Körpers. Das Blut, das eigentlich in den unter der Haut befindlichen Adern und Arterien fließt wird nun auf die Haut aufgetragen, als fester Bestandteil seiner Kreuzigungsaktionen, die Nitschs Schaffen seit den frühen 1960er Jahren wie ein roter Faden durchziehen. Am 19. Dezember 1962 läßt sich Nitsch von Mühl in dessen Wohnung ‚ wie gekreuzigt ‘ fesseln, ‚ aus kleinen gefässen und einer klistierspritze ‘ mit Blut bespritzen und von Hans Niederbacher fotografieren. An Kreuze gefesselte ‚ passive akteure ‘ und Aktricen kehren ab der ‚ 5. Aktion ‘ 1964 als Bestandteil von Nitschs ‚ Orgien Mysterien Theater ‘ in vielen Performances wieder. Über und auf ‚ passiven akteuren ‘ und Aktricen werden Gedärme von Tierkadavern und Blut eingesetzt. Gefesselt und/ oder mit Augenbinden versehene Aktricen oder Akteure werden mit ausgeweideten Innereien bedeckt und mit Tierblut befleckt. Kadaver von Schafen, Rindern oder Schweinen werden meist vor ihrer Verwendung in Nitschs Aktionen fachgerecht in Schlachthöfen getötet und gehäutet, und an den hinteren, horizontal gestreckten Beinen mit dem Kopf nach unten aufgehängt. 21 Gerade durch die Verwendung unterschiedlicher christlicher Symboliken und Konnotationen in seinen Performances (Lammschlachtungen, Glockenläuten, Orgelmusik), als auch durch die explizite Bezeichnung als Kreuzigungsaktionen in einem meist katholisch geprägten Umfeld wird die bloße Selbstreferenz der körperlichen Materialität schon durch eine christliche Semiotik überholt. Die Tatsache, dass sich Nitsch dabei ausgerechnet der Schlachtung 182 Dominic Zerhoch von Schafen, Rindern und Schweinen bedient, anstelle des biblisch konnotierten Opferlammes ist dabei mehr als semiotisch bezeichnend und zeugt einmal mehr davon wie sich Nitsch das biblische Narrativ auf seine Weise aneignet und es umdeutet. Die Innereien, das Fleisch des Tieres und dessen Blut, vermischt mit roter Farbe, verbinden sich mit der Oberfläche der Haut. Nitschs literarischer Bezug findet sich dabei direkt in der Bibel, in der Jesus als Opferlamm bezeichnet wird: Ihr wisst doch, dass ihr freigekauft worden seid von dem sinn- und ziellosen Leben, das schon eure Vorfahren geführt hatten, und ihr wisst, was der Preis für diesen Loskauf war: nicht etwas Vergängliches wie Silber oder Gold, sondern das kostbare Blut eines Opferlammes, an dem nicht der geringste Fehler oder Makel war - das Blut von Christus. Schon vor der Erschaffung der Welt war Christus ´als Opferlamm` ausersehen, und jetzt, am Ende der Zeit, ist er euretwegen ´auf dieser Erde` erschienen. Durch ihn habt ihr zum Glauben an Gott gefunden, der ihn von den Toten auferweckt und ihm Macht und Herrlichkeit verliehen hat, und deshalb ruhen jetzt euer Vertrauen und eure Hoffnung auf Gott. Ihr habt euer Innerstes gereinigt, indem ihr euch der Wahrheit im Gehorsam unterstellt habt, sodass ihr euch jetzt als Geschwister eine Liebe entgegenbringen könnt, die frei ist von jeder Heuchelei. Darum hört nicht auf, einander aufrichtig und von Herzen zu lieben 22 Nitsch vollzieht somit einen semiotischen Doppelrekurs. Wie in der Bibelstelle angedeutet, wird Jesus zu einem Opferlamm. Im ersten Buch Mose, Genesis, Kapitel 22, Vers 1 - 3 wird zwischen Abraham und seinem Sohn Isaak eine analoge Geschichte erzählt. Hier fordert Gott Abraham auf, ihm seinen Sohn als Brandopfer zu geben. Als sich Abraham bereit zeigt seinen Sohn zu opfern, interveniert Gott, er solle ihn nicht töten, da er seine Bereitschaft nun erkenne. Statt des Menschen opfert Abraham nun einen Widder. 23 Tieropfer scheinen demnach das archaische Menschenopfer im Alten Testament abgelöst zu haben bis Jesus im Neuen Testament wieder zu diesem ‚ archaischen ‘ Moment als Opfer zurückgeführt wird. Indem Nitsch bei seinen Lammzerreißungen in Anwesenheit der Zuschauer und mit Hilfe der Akteure 24 ein Tier ausweidet, um schließlich das Blut über den Körper des Performers am Kreuz zu gießen, wird das Menschenopfer durch ein Tieropfer substituiert. Statt des blutenden Körpers am Kreuz ist es das Blut des Tieres, welches am Körper hinabfließt, der dadurch zwar weitestgehend unversehrt bleibt, aber vollkommen versehrt scheint. Somit kann man die Kreuzigungsaktionen Nitschs als ein Reenactment der Kreuzigung Christi mit anderen Mitteln betrachten. Dabei führt Nitsch auf die Ursprünglichkeit des Opferrituals zurück, indem er religiöse Symboliken, substituierte Akte und Stellvertreterpositionen wieder möglichst in ihrer Ursprünglichkeit vollziehen lässt. Dies beschreibt Thomas Dreher am Beispiel der 3. Aktion. In Nitschs „ 3. Aktion “ erinnert der gekreuzigte Lammkadaver an den Tod Christi. Nach Nitschs Theorie des „ Orgien Mysterien Theaters “ ersetzt Christus am Kreuz die Rolle der Opfertiere in vorchristlichen Ritualen. Stellvertretend für die Menschheit übernimmt Christus das Opfer für die Erbsünde. Nitsch beschreibt die Kreuzigung Christi in seiner religionsgeschichtlichen Perspektive: 'ich will einen durchblick aufreißen, der vom letzten abendmahl (von der späten kulthandlung der eucharistie) bis zu den frühesten mythen und kultformen reicht. das töten des gottes jesus christus, das essen seines fleisches und das trinken seines blutes hat unbedingte strukturelle verwandtschaft mit einer sehr frühen äußerung des religiösen, dem totemismus.' In der Theorie des „ Orgien Mysterien Theaters “ dient Nitsch der religionsgeschichtliche Weg zurück als Korrektiv von religiös bedingten 183 „ Kreuzige ihn! “ - Eine Blick-Akt-Analyse der Passion Christi sozialhistorischen Entwicklungen. Mit dem Zusammenhang von Kult und Opfer geht im Christentum auch die Verbindung zwischen Ritual und Tötung verloren. Durch Schlachthöfe sind Blut und Tiertötung im Alltag nicht mehr wahrnehmbar. Diese religiösen und sozialen Ausgrenzungen verkürzen nicht nur die persönliche Erlebnisfähigkeit, sie erleichtern es auch, den Anteil der Aggression an Zivilisationsprozessen zu verkennen. 25 Ein solcherart substituierter Akt ist auch im Abendmahl zu finden, bei dem in der protestantischen Praxis die Gemeinde den Wein als symbolisches Blut Christi empfängt. In der katholischen Kirche dagegen wird der Wein durch ‚ Transsubstantiation ‘ als tatsächliches Blut Christi stellvertretend durch den Priester empfangen. In Nitschs Kreuzigungsaktionen, wie er sie auch bei Saint François d ’ Assise in seiner Inszenierung für die Münchner Staatsoper dargestellt hat, wird das (Kunst)Blut über den ‚ Gekreuzigten ‘ oftmals vom Mund her über den Körper gegossen. 26 Der Wein, welchen Jesu in der im Neuen Testament beschriebenen Szene des letzten Abendmahls als sein Blut definiert, der Akt der Einverleibung des Blutes Christi in der kirchlichen Praxis als Wein, wird nun mit Verweis auf die Praxis in seine ursprüngliche Materialität zurückgeführt. Durch diese Aktion nimmt Nitsch sichtlich Bezug auf die substituierten Praktiken der Eucharistie- und Abendmahlsfeier. Der Höhepunkt dieses in Abgrenzung zum archaischen Ritual ‚ zivilisierenden Symbolisierungsprozesses ‘ findet sich in der absoluten Abwesenheit der Leiblichkeit Jesu Christi am Kreuz im reformierten, textzentrierten Protestantismus. Das im Protestantismus oftmals nur noch leere Kreuz, welches nicht mehr direkt auf ein Folter- und Tötungsinstrument verweist, sondern in erster Linie zum Zeichen des Christentums wurde, wird wieder zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurückgeführt, indem der passive Akteur daran fixiert wird. Die nackte Körperlichkeit ist dabei ein wichtiger Punkt. Sie drückt nicht nur die Schutzlosigkeit des Opfers aus, sondern ermöglicht auch einen Blick auf die ‚ Zersetzung ‘ des Körpers. Für Nitsch stellt die scheinbare Zersetzung des Körpers, der Anblick des versehrten Leibes einen essentiellen Teil des kathartischen Prozesses dar. Durch das Erblicken des Körpers am Kreuz, durch die Opferung, soll ein affektiv reinigendes Moment in Gang gesetzt werden. Nitsch formuliert dies explizit mit Bezug auf Aristoteles ’ Katharsis- Begriff, mit dessen Hilfe er versucht sein Konzept Orgien Mysterien Theater zu beschreiben und das Verhältnis seiner Aktionen zu einem weiteren Theaterbegriff: das theater ist im allgemeinen unbedingt als vorstufe der aktion anzusehen, obwohl es eigentlich im hinblick auf die zielsetzung der aktion gerade deren gegenteil bedeutet. im rahmen des theaters wird gespielt, die aktion will leben, alles ereignet sich wirklich. trotzdem haben sich die aktionen vielfach nicht zuletzt aus dem theater herausentwickelt. theater trägt dem menschlichen bedürfnis nach abreaktion rechnung. theater braucht grausamkeit, es zeigt grausamkeit, mord, totschlag, sado-masochistische exzesse. theater will seinem wesen nach den zuschauer schockieren, muss ihn intensiv treffen. [. . .] durch das extreme geschehnis auf der bühne wird ein ausbruch aus den regeln provoziert, der zuschauer wittert abreaktion, erlebnismöglichkeit, wittert den wilden rausch seiner zum ausbruch drängenden triebe, er fühlt eine uneingeengtheit, eine befreiung, eine bodenlosigkeit, er glaubt töten zu dürfen. [. . .] der zuschauer soll über den indentifizierungsweg an der intensiv gelebten existenz des helden teilhaben. nach aristoteles wird Katharsis durch furcht und mitleid erreicht. 27 Nitsch deutet hier einen Konflikt zwischen Fiktion und Wirklichkeit an, wobei das 184 Dominic Zerhoch Fiktionale auf Seiten des „ So-tun-als ob “ - Theaters zu finden sei und er mit „ Erlebnismöglichkeit “ und der „ Teilhabe über den Identifizierungsweg “ auf ein performatives Körper-Raumgefüge verweist. Indem Nitsch demnach eine blutige, rituell anmutende Aktion der Kreuzigung vollzieht, schafft er eine Form des Reenactements, welche sich in der kirchlichen Praxis nur noch symbolisch und referentiell vollzieht. Die Archaik der Opferhandlung wird auf diese Weise zu einem stellvertretenden Vorgang und kann, wenn man den Ausführungen Nitschs folgt, keine reinigende Wirkung mehr erzielen. „ Affektreinigung “ - Zum Katharsisbegriff bei Nitsch Dennoch sind Nitschs Aussagen, die in einer Sammlung von Manifesten, Aufsätzen und Vorträgen unter dem Titel Das Orgien Mysterien Theater versammelt sind, kritisch zu hinterfragen. Das Buch, welches ausgewählte Texte umfasst, die erstmals zwischen 1960 und 1990 erschienen sind oder sich teilweise retrospektiv mit Aktionen in diesem Zeitraum auseinandersetzen, kann nicht als wissenschaftliche Perspektive auf den Gegenstand erachtet werden. 28 Vielmehr erscheint es als Paratext, stellenweise als Rezeptionsanleitung für Nitschs Kunst, die es ebenso im Zusammenhang mit christlicher Ikonographie zu hinterfragen gilt so wie seine Aufführungen selbst. So formuliert Nitsch in seinem Vorwort bereits die Zielsetzung seines Theaters in Verbindung zum Religiösen wie folgt: „ das gesamtkunstwerk des o. m. theaters muss zusammengehalten und getragen werden durch eine theorie, welche philosophisches und religiöses begreifen des kosmischen weltganzen zum ziel hat. “ 29 Folgt man seiner Aussage, so fußt sein Theater auf einer Erkenntnis, die aus der Verschränkung wissenschaftlicher Disziplinen und religiöser, kultischer Praxis hervorgeht. Diese Aussage, so bedeutungsschwanger sie auch daherkommen mag, lässt uns als Rezipient mit Blick auf das Orgien Mysterien Theater zunächst erkenntnislos zurück. Das oben aufgeführte Zitat, welches sich mit der Bedeutung des Theaterbegriffs auseinandersetzt, entstammt aus einer Vortragsreihe, die Nitsch 1971 an der Kunstakademie Frankfurt hielt und wird unter der Überschrift „ Versuche zur Geschichte der Aktion “ zusammengefasst. 30 In der von ihm beschriebenen Wirkungsästhetik greift er auf den Begriff der Katharsis zurück, indem er die Begriffe eleos und phobos als Furcht und Mitleid übersetzt, die über den Weg der Subjektidentifizierung in Gang gesetzt werden. Diese Aussage wirft eine essentielle Frage auf. Wer ist eigentlich der ‚ Held ‘ der Kreuzigungsaktionen, mit dem sich der Zuschauer identifizieren soll, wenn er „ glaubt töten zu dürfen “ . Grundlegend zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst Nitschs Verständnis des Begriffs der Katharsis als Affektreinigung, welches bereits mehrfach, unter anderem aufgrund der fehlenden Mythosgebundenheit und der nicht vorhandenen Reflexion zur Begriffsgeschichte, im theaterwissenschaftlichen Kontext moniert wurde. 31 Alle drei Bedeutungen, die sich durch die grammatischen Vorentscheidung des Begriffs der Affektreinigung im Deutschen ergeben - genitivus subjectivus (Reinigung durch Affekte), genitivus obiectivus (Reinigung der Affekte) und genetivus separativus (Reinigung von den Affekten) 32 - können in Nitschs Theater prinzipiell hervorgebracht werden. Die erste ableitbare Bedeutung ließe sich hierbei, vor allem in Hinblick auf die ästhetische Darstellung am Beispielaffekt des Ekels finden. Ekel, wie er mit Julia Kristevas Begriff der „ Abjekte “ erläutert wurde, 33 kann in den Kreuzigungsaktionen durch die spezifische Materialität des Tierblutes und der Tierkadaver hervorgebracht werden. Wie Thomas Dreher beschrieben hat, handelt es sich 185 „ Kreuzige ihn! “ - Eine Blick-Akt-Analyse der Passion Christi hierbei um die Ausgrenzung der Tötung aus dem Alltag in Form der Tierschlachtung, 34 die auf einer Bühne exponiert wird. In eine ähnliche Richtung ginge auch eine Bedeutung nach dem genitivus objectivus, in der allerdings bei Nitsch die sozialfunktionale Komponente des Ventilcharakters von Tötungsaffekten beschrieben wird, die dann substituierend ein Verständnis im Sinne des genitivus seperativus bedingen würden, wonach die Aktionen auf die Beendigung dieses Affekts im alltäglichen Leben abzielen würden. Somit wäre Nitsch, wenn man seine eigene Aussage für bare Münze nimmt, tatsächlich erfolgreicher als die symbolischen Akte, die in der kirchlichen Praxis vollzogen werden. Offen bleibt die Frage nach dem potentiellen ‚ Helden ‘ , nach dem zu fragen uns Nitsch durch die Einbindung seiner Arbeit in das aristotelischen Katharsiskonzept nahelegt, und mit dem sich die Zuschauer in seinen Aktionen identifizieren sollen. Dies führt zu der Annahme, dass die ‚ Helden ‘ , würde man die Analogie im Kontext der Passionsgeschichte Jesu genauer betrachten, dabei nicht die Gekreuzigten, sondern die Kreuzigenden sind. Fraglich bleibt demnach Nitschs Aussage in Bezug auf die Kreuzigungsaktionen, ob nun wirklich eine kathartische Wirkung durch eleos und phobos im Sinne von Furcht und Mitleid hervorgerufen wird. Fest steht, dass der intersubjektive Identifikationsprozess zwischen den Zuschauern und Helden bei Nitsch nicht zwischen Zuschauern und Gekreuzigten stattfindet, sondern zwischen Zuschauern und Akteuren, die die (scheinbare) Geißelung der passiven Akteure ausführen. Dies wird dann offensichtlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Nitsch den Zuschauern eine intersubjektive Blickbeziehung zwischen ihnen und dem Gekreuzigten verweigert. Der verweigerte Blick Weiterhin ist an Nitschs Kreuzigungsaktionen die Tatsache hervorzuheben, dass alle passiven Akteure, welche sich fixiert in einer exponierten Position am Kreuz befinden, verbundene Augen haben. Dies bedeutet zwar zunächst für die passiven Akteure am Kreuz, dass sie die restlichen Akteure sowie die anwesenden Zuschauer nicht sehen können, hat allerdings noch weitreichendere Konsequenzen für die Zuschauer der Aktion und die intersubjektive Beziehung zwischen ihnen und den unterschiedlichen Akteuren. Diese Beziehung lässt sich anhand einer Blick-Akt-Analyse besser verstehen. In Partizipation der Blicke arbeitet Adam Czirak eine Blick-Akt-Theorie auf der Grundlage der Überlegungen Simmels, Merleau-Pontys und Lacans heraus und kommt dabei auf vier „ Grundlagen für die Konzeptualisierung eines aufführungsanalytischen Modells “ : Erstens sind lebendige Körper nicht auf bildlich fixierte Figuration zu reduzieren, d. h., Blickinterkationen setzen eine doppelte Kontingenz voraus, um als wechselwirksame soziale Prozesse gelten zu können. Zweitens ist Blicken keineswegs als ein Prozess der Verständigung, sondern vielmehr als ein Animierungs- und Affizierungsmechanismus zu denken. Der Blick vollzieht keinen symbolischen Austausch, stattdessen initiiert und aktiviert er Handlungs- und Austauschprozesse, indem er zwischenmenschliche Kontakte generiert und aufrechterhält. Drittens sind es jeweils die Asymmetrien, Distanzen, Differenzen und Konfliktpotentiale, die eine Blickkontakt motivieren bzw. begleiten. Viertens kann die Begegnung mit dem anderen qua Blicke keineswegs auf eine Erkenntnisleistung reduziert werden. Vielmehr ist diese als eine sinnliche Erfahrung von Intersubjektivität, Individuierung und Welterfahrung zu verstehen. 35 In Cziraks Beispiel Imponderabilia von Marina Abramovic´ und Ulay entsteht eine 186 Dominic Zerhoch Distanz durch Blickasymmetrie von Seiten der jeweils teilnehmenden Zuschauer. 36 Die Möglichkeit des Blickaustausches ist für die teilnehmenden Zuschauer dabei jederzeit gegeben, kann durch sie allerdings ebenso unterbunden werden, wodurch die genannte Asymmetrie und dadurch Spannung entsteht. 30 Jahre später wird Abramovic´ in The Artist is Present an die Stelle Ulays die teilnehmenden Zuschauer setzen. Die Grenzen zwischen teilnehmenden Zuschauern und der Performerin verwischen hierbei, da der auszuführende Akt beiderseits das Schauen ist. Indem der ausgeführte Akt durch beide Teilnehmer vollzogen wird, werden beide Teilnehmer zu Akteuren desselben Akts und tragen somit dieselbe Verantwortung bei der Durchführung der Performance. Dieser Prozess des Schauens, so suggeriert bereits der Trailer für den begleitenden Dokumentarfilm, löst bei den Teilnehmern eine starke emotionale Regung aus, die sich in den Extremen freudigen Lachens bis hin zu Tränen der Freude und des Mitleids bewegt. Sobald ein*e Teilnehmer*in den Blick abwendet gilt die Performance in der Performance für beendet. Abramovic´ nötigt demnach die Teilnehmer für die Durchführung der Performance ihre Blicke aufrechtzuerhalten. 37 Es scheint als schützen sich die zuschauenden Teilnehmer durch die Abwendung des Blickes, so auch die Argumentation Cziraks mit Bezug auf Merleau-Pontys Theorie des Chiasme, 38 vor einer emotionalen Übertragung durch den Blick, der wiederum die Teilnehmer affizieren würde. Im Falle von Imponderabilia wäre dies die Scham. Eine häufig getroffene Aussage, dass die emotionale Regung in Referenz auf den Titel in The Artist is Present lediglich auf die Teilung eines gemeinsamen Zeit-Raum-Erlebnisses verweist, greift dabei viel zu kurz. Diese Erkenntnis hatte bereits Michael Kirby in den 1980er Jahren bei der Beschreibung von Performances in seiner Bezeichnung „ non-referential Theatre “ . 39 Folgt man dieser Argumentationslinie, würde jede performative und auch im engeren Sinne gefasste theatrale Situation stark affizierend und emotionalisierend auf die Zuschauer wirken. Der körperliche Aspekt der Performances, der im Kontext der Arbeiten Abramovic´s deutlich wird, ist die Marter, die bis zur Verletzung von Körpergrenzen und zur Verwundung des Körpers reicht. Und auch die Performance The Artist is Present steht in dieser Tradition, da Abramovic´ täglich acht Stunden, sechs Mal die Woche über mehrere Monate hinweg in ein und derselben Stellung ausharrt, die ihr nur minimale Bewegungen erlaubt. Die unterschiedlichen Erkenntnisprozesse des eigenen Ichs über den Anderen, wie sie unter anderem Maurice Merleau- Ponty mit dem Begriff des chaire näher erläutert hat, spielen für Czirak wie auch für meine Argumentation eine entscheidende Rolle. In den Arbeitsnotizen zu Le Visible et L ’ invisible beschreibt Merleau-Ponty die Bedeutung des Fleisches ( „ la Chaire “ ) als „ Chaire du monde-Chaire du corps- Être “ im Zusammenhang des Selbst mit der Außenwelt: Chaire du monde, décrit (á propos de temps, espace, mouvement) comme ségrégation, dimensionnalité, continuation, latence, empiètement - Puis interroger derechef ces phénomènes-questions: ils nous renvoient à Einfühlung percevant-perçu, car ils veulent dire que nous sommes déjà dans l ’ être ainsi décrit, que nous en sommes, qu ’ entre lui et nous, il y a Einfühlung. Cela veut dire que mon corps est fait de la même chaire que le monde (c ’ est un perçu), et que de plus cette chair de mon corps est participée par le monde, il la reflète, il empiète sur elle et elle empiète sur lui (le senti á la fois comble de subjectivité et comble de la matérialité), ils sont dans rapport de transgression ou d ’ enjambement -Cesi encore veut dire: mon coprs n ’ est pas seulement un perçu parmi les perçus, il est mesurant de tous, Nullpunkt de toutes les dimensions du 187 „ Kreuzige ihn! “ - Eine Blick-Akt-Analyse der Passion Christi monde. [. . .] Parallèlement: il se touche, il se voit. Et c ’ est par là qu ’ il est capable de toucher ou voir quelque choses c ’ est á dire d ’ être ouvert á des choses en lesquelles (Malbranche) il lit se modifications (parce que nous n ’ avons pas d ’ idée de l ’ âme, parce que l ’ âme est un être dont il n ’ y a pas d ’ idée, un être que nous sommes et que nous ne voyons pas) Le se toucher, se voir, ‘ connaissance par sentiment ’ - Le se toucher, se voir du corps et à comprendre lui-même d ’ après ce que nous avons dit du voir et du visible, du toucher et du touchable. 40 Merleau-Ponty stellt hier den Körper als das Maß aller Dinge vor. Er ist der ‚ Nullpunkt ‘ von dem ausgehend die Wahrnehmung der Welt stattfindet. Das tradierbare Werk in Form von bildender Kunst und Literatur vermag diese Doppelstellung nicht zu leisten, da es zwar ‚ wahrgenommen wird ‘ , aber nicht ‚ wahrnimmt ‘ . Dies würde auch der doppelten Kontingenz, wie sie Czirak beschreibt und somit seiner ersten Grundlage widersprechen. Das Zueinander-in-Beziehung-Treten, die Einfühlung, findet demnach als produktiv-perzeptorischer Prozess zwischen zwei Subjekten statt und kann sich gerade über den Blick vollziehen. Die Besonderheit dieser Wahrnehmung liegt in der Reflexion des Eigenen über den Anderen. Indem man den Anderen sieht oder gar die Möglichkeit hat ihn zu berühren wird zeitgleich das Eigene Ich wahrnehmbar. Dabei spielt die Körperlichkeit eine entscheidende Rolle. Der körperliche Status kann im Falle der Marter Rückschlüsse auf die innere Gefühlswelt ermöglichen, genauso wie ausgeführte Akte - im Falle Nitschs wären dies die Befreiung der Aggressionen durch die Akteure - eine ähnliche Wirkung erzielen können. Ein Kunstwerk würde diesen Prozess nicht ermöglichen. Czirak zeigt diesen Umschwung der Subjekt-Objekt Beziehung hin zu einer intersubjektiven mit Verweis auf Sartre auf, der beschreibt wie der Voyeur - der rein etymologisch eigentlich nur durch seinen Akt des Zusehens definiert werden möchte - durch den entlarvenden Blick seines Objekts plötzlich sich selbst und seiner eigenen Körperlichkeit gewahr wird: Der Blick, der Sartres Voyeur in seinem Inder-Welt-Sein trifft, erfasst und mit Scham erfüllt, verweist immer auf einen physisch anwesenden anderen, weil die Erfahrung der Objektwerdung von keinem gegenständlichen Objekt, sondern ausschließlich von der Wahrscheinlichkeit eines verkörperten Selbstbewusstseins stimuliert werden kann: „ [I]ch kann nicht Objekt für ein Objekt sein [. . .]. “ 41 Der Blick auf den versehrten Leib der Figuren ist ein einseitiger Blick, ein Blick der in der bildenden Kunst und in den Aktionen Nitschs nicht erwidert wird. Es ist das Objekt, welches unser In-der-Welt-Sein, unsere Leiblichkeit nicht wahrnimmt. Im Blick des Subjekts allerdings reflektiert sich im Sinne Merleau-Pontys sowohl die Leiblichkeit des Subjekts, als auch die eigene Leiblichkeit, derer das betrachtende Subjekt durch den Blick gewahr wird. Folglich könne man nicht zuletzt auch auf Grundlage der unterschiedlichen Materialtät in der Betrachtung des Bildes oder der Figur keine Rückschlüsse auf den eigenen Leib ziehen. Das Konzept der compassio durch die Bildbetrachtung bliebe somit weiter zu hinterfragen. Folgt man dieser Argumentation, so könne man das Passionsspiel als effektivere Form eines Reenactments beschreiben. Doch darin liegt genau der gravierende Unterschied zwischen der Passionsgeschichte und Nitschs Kreuzigungsaktionen. Ausgehend von Nitschs Beschreibungen zum Orgien Mysterien Theater liegt die Intention demnach nicht in der Identifikation mit dem Leidenden, sondern in der Identifikation mit den Folterern, durch deren Betrachtung eine Affektreinigung - der Zuschauende ‚ glaubt töten zu dürfen ‘ - liegt. 188 Dominic Zerhoch „ Kreuzige Ihn! “ So haptisch und durch unterschiedliche sinnliche Eindrücke erlebnisreich sich auch die Partizipation für die Akteure gestalten mag, umso mehr bleibt sie jedoch für den außenstehenden Zuschauer ein rein theatrales Moment. Letztendlich stillt Nitschs Performance lediglich den Blutdurst der Zuschauer. „ Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! “ , könnten dabei nicht nur die Rufe sein, die Jesu durch die Macht der Masse zum Tode verurteilten, sondern auch die Rufe der Zuschauer im Burgtheater. Damit versetzt Nitsch seine Zuschauer und Akteure in eine Art dionysischen Rausch. In diesem Blutrausch verankert sich Nitschs Kunst auch epochal, wie es Matthias Warstat mit Rückbezug auf Nietzsches Überlegungen zum Rausch formuliert, dem ein „ faszinierendes Heilsversprechen “ innewohne: Dieses verbindet sich mit Begriffen wie Befreiung, Entgrenzung, Erlösung und Entfesselung. Der in modernen Disziplinarstrukturen eingeschränkte Mensch erhofft sich im Rausch nicht nur ein temporäres Überschreiten gesellschaftlicher Normen, sondern auch eine längerfristig nachwirkende Intensivierung des Lebens, die das Leiden unter der Routine des Alltags lindern soll. 42 Nitschs Heilsversprechen kann nicht das christliche Mitleiden mit dem Gekreuzigten hervorrufen. Sein Heilsversprechen fußt auf einer Form der Katharsis durch und von Tötungsaffekten. Dennoch operieren Nitschs Aktionen bewusst mit einer christlichen Motivik, die die Aktionen in den Kontext der Passionsgeschichte stellen. Dies funktioniert nicht nur auf dramaturgischer Ebene über seine selbst veröffentlichten Texte, sondern auch auf bildlicher Ebene innerhalb der Aktionen. Dabei vermischt sich die spezifische Materialität des toten Tieres mit dem lebendigen, unversehrten Körper der passiven Akteure. Die ersten Aktionen im Foyer und die Kreuzigungsaktionen im Theatersaal demonstrieren hierbei, wie bildlich der Blick auf die passiven Akteure am Kreuz ist. So muss man mitunter zweimal hinsehen, bis man erkennt, dass der aufgerissene Bauch des Schweines nicht der aufgerissene Bauch des passiven Akteurs ist, und dass das Blut, welches über die Körper der passiven Akteure am Kreuz gegossen wird, nicht für die körperliche Versehrtheit der passiven Akteure spricht. Der Zuschauer nimmt den Blick der Akteure ein, deren weiße Kleidung, ähnlich einer Leinwand, zur Projektionsfläche für den Zuschauer wird, die sich nun stellvertretend nicht nur ihre Hände blutig gemacht haben. Die Identifikation mit dem Opfer wird durch das Verbinden der Augen verhindert, eine Praxis, wie sie auch bei Exekutionen Anwendung findet. Gegen diesen Blick, der die passiven Akteure zu Objekten der Affektreinigung macht, wird der Blick der mitleidenden Maria gesetzt, die in der Kreuzigungsszene den sterbenden Blick ihres Sohnes wahrnimmt. Dieser doppelte Blick, der Blick einer Mutter, die ihr Kind verliert und der Blick des Mitleids, unterscheidet sich vehement vom Blick auf den Körper der passiven Akteure und somit von einer christlichen Rezeption von Nitschs Aktionen. So wie Nitschs Texte uns erklären wie wir das Orgien Mysterien Theater rezipieren sollen, so lehrt uns der Blick Marias, wie wir Jesu am Kreuz zu betrachten haben. Dieser Blick lädt den Betrachter dazu ein mit Jesus am Kreuz zu leiden, seine Wunden wahrzunehmen und sein Leid selbst durch den eigenen Leib zu spüren. Nitschs Aktionen sind ein gutes Beispiel dafür, wie der Blick auf das Kreuz funktionieren kann. Obwohl in fast allen genannten Fällen eine starke körperliche Versehrtheit suggeriert wird, bleibt die Wirkung eine unterschiedliche. Die Möglichkeit eine compassio zu evozieren, kann sich lediglich 189 „ Kreuzige ihn! “ - Eine Blick-Akt-Analyse der Passion Christi in der Identifikation mit dem Opfer wiederfinden. Eine mitleidende Figur wie Maria gibt es in Nitschs Aktionen nicht. Wie gezeigt wurde kann eine Blick-Akt-Analyse, wie sie auf der Grundlage von Adam Cziraks Arbeiten durchgeführt wurde, den semiotischen Rahmen sprengen und das eigentliche subversive Potential von Nitschs Kreuzigungsaktionen freilegen, die sich durch die Identifikation mit den Folternden einer christlichen Wirkungsästhetik zu widersetzen scheinen. Anmerkungen 1 Jan Mohr, Julia Stenzel, „ Das geistliche Spiel im Mittelalter “ , in: Peter Marx (Hg.), Handbuch Drama, Stuttgart 2012, S. 212. 2 Ebd., S. 213. 3 Vgl. Hermann Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater. Manifeste, Aufsätze, Vorträge, Salzburg u. a. 1990, S. 5. 4 Meinrad Guggenbichler: Cruzifixus, Anfang 18. Jh.; Holz; 119x99 cm, Museum Schütgen Köln. Abgebildet in Reinhard Hoeps, Richard Hoppe-Seiler, Deine Wunden: Passionsimagination in christlicher Bildtradition und Bildkonzepte in der Moderne, Bielfeld Kerber, 2014, S. 122. 5 Cruzifixus dolorosus, 1345/ 1400; Buchen- und Nussbaumholz; 69x18x15 cm, Museum Schütgen, Köln. Abgebildet in Hoeps/ Hoppe-Seiler 2014, S. 219. 6 Renée Girard, „ On Mel Gibson ’ s The Passion of Christ “ , in: Athropoetics X, no.1, Spring/ Summer, 2004. 7 Hoeps, Hoppe-Seiler, Deine Wunden, S. 244. 8 Ebd. 9 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 19 f. 10 Adam Czirak, Partizipation der Blicke. Szenarien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performances, Bielefeld 2012, S. 57. 11 Die Unterscheidung durch die Bezeichnung „ Akteure “ und „ passive Akteure “ wird im Nachspann des Mitschnitts der Aktion vollzogen. Der Mitschnitt der Inszenierung ist dabei Grundlage meiner Analyse. 12 Es findet eine musikalische Untermalung durch ein im Theatersaal anwesendes Orchester statt, die sich den Aktionen anpasst. An mehreren Stellen der Performance ist Glockenläuten hörbar. Ich möchte mich in meiner Untersuchung allerdings lediglich auf die visuellen Komponenten beschränken, die im Sinne Nitschs Teil eines Gesamtkunstwerkes sind, das eigentlich visuell, akustisch, olfaktorisch und haptisch erfahrbar gemacht werden soll. Diese Annahme folgt Nitschs eigener Aussage: „ das gesamtkunstwerk kommt im o. m. theater zustande, weil darin die verschiedensten kunstgattungen auf ein reines abreaktionsphänomen reduziert werden. wort, malerei, musik werden zur liturgischen Handlung. “ Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater, S. 14. Kleinschreibung bereits im Original vorhanden. 13 Die Nutzung von echtem Tierblut ist in der Beschreibung Nitschts Performances nichts Ungewöhnliches. Dabei handelt sich vermutlich um Blut, das bei der Schlachtung der Tiere gewonnen wurde, wie es auch im weiteren Verlauf der Performance bei der Schlachtung einer Kuh aufgefangen wird. 14 Nitsch 2005, 122. Aktion, 54m30 s. 15 Ein Magnetoskop-Mitschnitt von Brus letzer Performance ist auf youtube abrufbar: https: / / www.youtube.com/ watch? v=Gmtm_A5fvbc [Zugriff am 06. 12. 2015]. 16 Vgl. Hans- Thies Lehmann, Das Postdramatische Theater, Frankfurt a. M. 2011, S. 248. 17 Michael Backes, Experimentelle Semiotik in Literaturavantgarden: über die Wiener Gruppe in Bezug auf die Konkrete Poesie, München 2001, S. 12. 18 „ Dem Göttlichen und Unsterblichen und Übersinnlichen und Einfachen und Unauflöslichen und immer sich Gleichbleibenden ist am ähnlichsten die Seele, dem Menschlisten und Sterblichsten und Manigfaltigen und Sinnlichen und Auflöslichen und niemals sich Gleichbleibenden am ähnlichsten wiederum der Leib. “ , Zitiert nach Dietmar Kamper, „ Körper “ , in: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe., Bd. 3. Stuttgart 2010, S. 426 - 447, hier S. 431. 190 Dominic Zerhoch 19 Erika Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, Tübingen 2010, S. 37. 20 Lehmann schreibt hierzu: „ Tatsächlich lädt das Konzept der Selbsttransformation dazu ein, als den radikalsten Perspektivpunkt der Performance, den öffentlichen Suizid anzusehen, einen Akt, der von keinem Kompromiß mit bloßer ‚ Theatralität ‘ und Repräsentation mehr getrübt wäre und eine radikal reale, jetzige (und unwiederholbare) Erfahrung darstellen würde. “ Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 247. 21 Thomas Dreher: Performance Art nach 1945: Aktionstheater und Intermedia, München 2001, S. 167 f. 22 Die Bibel (Neue Genfer Übersetzung),1. Petrus, 1. Kapitel, Vers 18 - 22. 23 Vgl. Die Bibel (Neue Genfer Übersetzung) Genesis, 1. Mose, Kapitel 1, Vers 12 - 13. 24 Ein weiteres Beispiel ist seine von ihm beschriebene Aktion am 4 Juni 1962. Vgl. Nitsch Das Orgien Mysterien Theater, S. 8. 25 Thomas Dreher: „ Aktionstheater als Provokation: groteske Körperkonzeption im Wiener Aktionismus. “ Vortrag zur Ausstellung „ Offenes Depot: Wiener Aktionismus “ mit Beständen des Archivs Sohm, Staatsgalerie Stuttgart, 30. Juni 2009. http: / / dreher.netzliteratur.net/ 2_Performance_Aktionismus. html [Zugriff am 16. 03. 2017]. 26 Saint François d ’ Assise. Regie: Hermann Nitsch. Musikalische Leitung: Kent Nagano. Nationaltheater in der Bayerische Staatsoper München. Premiere: 1. Juli 2011. Im Trailer ist hier bereits eine Kreuzigungsszene zu sehen, für die Nitsch bekannt ist: https: / / www.youtube.com/ watch? v=5Vh3q2mug KM [Zugriff am 28. 03. 2016]. 27 Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater, S. 50 f. 28 Indem Nitsch schreibt „ meine arbeit kann ohne theorie nicht existieren, sie ist wesentlicher bestandteil meines projekts, sie macht dieses erst möglich. “ , (Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater, S. 5) disqualifiziert sich bereits eine wissenschaftliche Beobachtung von außen auf den Gegenstand. So läuft man Gefahr Nitschs Texte als wissenschaftlich distanziert zu betrachten, obwohl sie Teil eines Prozesses sind, der die Rezeption seiner Kunst entschieden lenkt. 29 Nitsch, Das Orgien Mysterien Theater, S. 5. 30 Ebd., S. 44. 31 Vgl. zur historischen Auslegung des Begriffs der Katharsis grundlegend Julia Stenzels Artikel zu Begriffen des Aristoteles; darin auch in direktem Bezug zu Nitschs OM-Theater: „ Auch in die Konzepte von Aktionskünstlern wie etwa Hermann Nitschs orgien mysterien theater findet der Begriff Eingang, zumeist in einem durch Nietzsche und durch die französischen Nietzsche-Rezeption [sic] gefärbten Verständnis. Die oftmals zu beobachtende Gleichsetzung von Katharsis erzeugender Mimesis mit der Drastik der Darstellung ist jedoch nicht unproblematisch. Ein entscheidender Aspekt, die Mythosgebundenheit des aristotelischen Konzepts, bleibt dabei unberücksichtigt, ebenso wie die historisch kontingenten Voraussetzungen spektatorischer Identifikation, die in der Poetik vorausgesetzt wird. “ Julia Stenzel, „ Begriffe des Aristoteles “ , in: Peter Marx (Hg.), Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 2012, S. 27. 32 Matthias Warstat, Krise und Heilung: Wirkungsästhetiken des Theaters, Paderborn 2011, S. 32. 33 In ihrem Essay über „ Abjection “ mit dem Titel Powers of Horror schreibt Kristeva: „ On such limits and at the limit one could say that there is no unconscious, which is elaborated when representations and affects (whether or not tied to representations) shape a logic. Here, on the contrary, consciousness has not assumed its rights and transformed into signifiers those fluid demarcations of yet unstable territories where an “ I “ that is taking shape is ceaselessly straying. We are no longer within the sphere of the unconscious but at the limit of primal repression that, nevertheless, has discovered an intrinsically corporeal and already signifying brand, symptom, and sign: repugnance, disgust, abjection. ” Julia Kristeva, Powers of Horror. An Essay on Abjection. Translated by Leon S. Roudiez, New York 1982, S. 11. In einer Annäherung an den Begriff der „ Abjektion “ unterstreicht Kriste- 191 „ Kreuzige ihn! “ - Eine Blick-Akt-Analyse der Passion Christi va, die Qualität des Affekts, die nicht zwingend an eine Präsentation gebunden sein muss. Diese Affekte äußern sich durch körperliche Anzeichen und Symptome wie „ Abscheu, Ekel und Verwerfung (abjection) “ . An späterer Stelle ihres Essays untersucht sie die körperliche Grenzüberschreitung als solches Abjekt unter das auch neben Urin und Blut, wie in den Aktionen des Wiener Aktionismus auch der Speichel fällt: „ Matter issuing from them [the orifices of the body] is marginal stuff of the most obvious kind. Spittle, blood, milk, urine, faeces or tears by simply issuing forth have traversed the boundary of the body. [. . .] The mistake is to treat bodily margins in isolation from all other margins. “ Kristeva, Powers of Horror, S. 69). 34 Vgl. Dreher, „ Aktionstheater als Provokation “ . 35 Czirak, Partizipation der Blicke, S. 53. Kursivierungen im Original vorhanden. 36 Vgl. ebd., S. 46. 37 Dies ist nur ein Teilaspekt des gesamten Konzepts von The Artist ist Present, das im Kontext der Ausstellung ausgewählter Kunstwerke und Re-Enactments im MoMA über mehrere Wochen stattfand. Zu berücksichtigen wären hier im Verhältnis zur Performance noch institutionelle Mechanismen der Galerie, sowie unterschiedliche Zuschauer-Akteur Perspektivierung durch theatersemiotische Markierungen im Atrium des Moma, wo die Performance stattfand. 38 Vgl. Czirak, Partizipation der Blicke, S. 46. 39 So heißt es bei Kirby in Abgrenzung zum Schauspiel: „ To act means to feign, to simulate, to represent, to impersonate. As Happenings demonstrated, not all performance is acting. Although acting was sometimes used, the performers in Happenings generally tended to ‚ be ‘ nobody or nothing other than themselves; nor did they represent, or pretend to be in, a time or place different from that of the spectator. ” Michael Kirby, A formalist theatre, Philadeplphia 1987, S. 3. 40 Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l ’ invisible. Suivi de Notes de travail, Paris 1964, S. 297. 41 Czirak, Partizipation der Blicke, S. 56. 42 Warstat, Krise und Heilung, S. 42. 192 Dominic Zerhoch