eJournals Forum Modernes Theater 30/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2015-0015
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/611
2019
301-2 Balme

Nanako Nakajima, Gabriele Brandstetter (Hrsg.): The Aging Body in Dance. A Cross- Cultural Perspective. London, New York: Routledge 2017, 180 Seiten.

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2019
Sandra Umathum
fmth301-20193
Rezensionen Nanako Nakajima, Gabriele Brandstetter (Hrsg.): The Aging Body in Dance. A Cross- Cultural Perspective. London, New York: Routledge 2017, 180 Seiten. Altern ist ein Prozess, der häufig mit dem Verlust von positiv besetzten Attributen assoziiert wird: äußerer Schönheit, geistigem Vermögen oder körperlicher Verfassung. Relativ früh paart sich die Zunahme an Jahren mit dem Rückgang von Ressourcen, und so gesehen ermöglichen medizinische wie technologische Fortschritte nicht nur eine beachtliche Lebensdauer. Sie gestatten es der Erfahrung von Vorüber und Vorbei auch, sich relativ leicht im längeren Lebensabschnitt einzurichten. Eine Perspektive, die Altern als Einbuße ehemaliger Fähigkeiten denkt, als einen Verlauf, an dessen Ende von diesen Fähigkeiten vielleicht nicht viel übrig geblieben sein wird, übergeht freilich, dass Altern nicht bloß im Modus der Subtraktion statthat. Es akkumuliert auch: Erkenntnis, Erfahrung, Wissen und nicht zuletzt Potenziale für die Entwicklung und Entfaltung neuer Fähigkeiten. Als roter Faden durchzieht diese Gleichzeitigkeit von Werden und Vergehen, von Verlust und Gewinn den sehr lesenswerten englischsprachigen Sammelband, den Nanako Nakajima und Gabriele Brandstetter herausgegeben haben, um einer in der Forschung kaum ausreichend bedachteten Frage nachzugehen, nämlich wie alternde und gealterte Körper speziell im Tanz adressiert, inszeniert und zum Gegenstand der künstlerischen Reflexion werden. Deutlicher als in den anderen Künsten verschränkt sich im Tanz das Altern mit physischem Können oder Nicht-(mehr-)Können, mit dem Dies- und Jenseits von Ausdauer, Selbstkontrolle oder Gelenkigkeit. Gerade im klassischen Tanz kommen viele Ästhetiken ohne bestimmte Vermögen nicht aus; doch auch in der Gegenwart verlangen zahlreiche Praktiken und Techniken noch immer nach dem fähigen, dem befähigten Körper im selben Maß, wie sie dessen Reproduktion begünstigen. Diese Reproduktion betrifft aber nicht nur die Standards und Normierungen im Tanz selbst. Sie partizipiert zugleich an der beständigen Erneuerung einer kulturell wie sozial sanktionierten Differenzierung zwischen hier dem Vermögenden, daher dem Guten, Schönen, Idealtypischen, und dort der Abweichung davon. Gleichzeitig - und es ist eins der großen Verdienste dieses Buchs, das hervorzuheben - ist der Tanz jene Kunstform, die sich mit der (eigenen) Reproduktion dieser Unterscheidung sowie den durch sie privilegierten Wertungen und Wertigkeiten, Zuschreibungen und Diskriminierungen kritisch auseinandersetzt, sie destabilisiert und reformuliert. In dem Bemühen, heterogene Positionen zu versammeln, beschränken sich die beiden Tanzwissenschaftlerinnen nicht auf den üblichen europäischen und US-amerikanischen Kontext. Sie erweitern das künstlerisch-ästhetische und das diskursive Feld, indem sie mit Beiträgen aus und über Japan ein Land als Vergleichsgröße ins Spiel bringen, wo Altern in dem Ruf steht, „ progression to a higher level of ability “ (S. 22) zu sein, und wo gealterte Tänzer als „ important cultural properties or living national treasures “ (ebd.) gefeiert werden, ja sogar ein gewisses Alter erreicht haben müssen, um den Rang von Virtuosen einzunehmen. Die transkulturell angelegte Studie gliedert sich in vier Kapitel mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten. Der erste Teil, „ The aging body in the late twentieth century: American postmodern dance, German dance, and Japanese dance “ , gibt Einblicke in die Kausalitäten von Alter(n) und Ästhetik. So beschreibt Yvonne Rainer ihre persönliche Vermessung von Möglichkeiten, nachdem physische Veränderungen die früheren Leistungsfähigkeiten eingegrenzt haben, während sich Ramsay Burt von der anderen Seite nähert: Insbesondere im Rekurs auf Arbeiten von Steve Paxton und Yvonne Rainer zeigt er, wie in den 1960er Jahren das künstlerische Programm des Minimalismus die Weichen für ein radikal anderes Verständnis von Tanz und damit für Öffnungen gegenüber dem weiten Spektrum alternativer körperlicher Befähigun- Forum Modernes Theater, 30/ 1-2 (2015 [2019]), 193 - 194. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2015-0014 gen stellt, zu denen diejenigen nicht ausgebildeter, nicht trainierter oder eben älterer Tänzer*innen gehören. Den Abschluss des Kapitels bilden Tamotsu Watanabes in die Metapher der Blume gekleidete Ausführungen über die Schönheit, mentale Stärke und Präzision des Ausdrucks, die im klassischen japanischen Tanz erst das hohe Alter zum Erblühen bringen. Rubriziert unter der Überschrift „ Alternative danceability: dis/ ability and Euro-American performance “ geben die folgenden Texte den altersbedingten Andersbegabungen eine zusätzliche Wendung und markieren dabei die diskursive Nähe zu den Disability Studies. Der alte Körper bewirkt ebenso wie der Körper mit Behinderung eine Unterbrechung des Regelhaften. Er topediert tradierte Normen und Maßstäbe, die Instrumente der Distinktion sind. Sie entscheiden über Inklusion und Exklusion, und in diesem Sinn verhandeln die Texte von Ann Cooper Albright, Jess Curtis oder Kaite O ’ Reilly nicht bloß die künstlerisch-ästhetischen Potenziale anders befähigter Körper. Sie setzen sich vielmehr für eine politisch motivierte Neuaufteilung des Sinnlichen ein, die auf nicht weniger zielt als die Anerkennung des für alle gültigen Rechts auf Zugang zu theatralem (und gesellschaftlichem) Repräsentiertsein. Die Sichtbarmachung von Verdrängtem umkreist auch eine Inszenierung Romeo Castelluccis, mit der sich Susanne Foellmer befasst. Hier begegnet Alter(n) indes als der reale Verlust von Souveränität und körperlicher Kontrolliertheit. Auf der Bühne agiert ein hilfebedürftiger Mensch, der im Versagen seiner Selbstbeherrschung zur Herausforderung für sich selbst, seine im Stück dargestellte Umgebung, aber auch die Wahrnehmungsgewohnheiten des Theaterpublikums wird. Die beiden letzten Kapitel, „ Aging and body politics in contemporary dance “ und „ Perspectives of interweaving “ , variieren verschiedene Überlegungen und führen sie in neue Richtungen: Petra Küppers berichtet anhand ihrer eigenen Arbeit z. B. in Hospizen von den Möglichkeiten eines Tanzes, der künstlerische Zusammenhänge verlässt, um sich in den Dienst konkreter individueller oder kommunaler Bedürfnisse zu stellen. Kikuko Toyama beschäftigt sich mit der Frage, was Tänzer*innen von Menschen mit gealterten Körpern lernen können, vor allem von ihrem differenten Zeiterleben, dem eingeschränkten Vermögen ihrer Sinnesorgane oder Mobilität. Und vor dem Hintergrund später Auftritte von Martha Graham oder Merce Cunningham widmet sich wiederum Mark Franko der Mobilität, welche im Verhältnis zum Rest des Körpers nur die Hände und Arme zu bewahren wissen und daher eine Widerständigkeit gegen das Altern bergen. Selbstverständlich kann der Sammelband nicht alle Forschungsdesiderate abdecken. Er leistet jedoch einen signifikanten Beitrag zu Fragestellungen, die nicht nur den Tanz (oder die Performance und das Schauspiel) angehen. Das Problem, dass der alternde Körper aus der Sphäre der Fähigkeiten und Tätigkeiten herausgekürzt wird, reicht deutlich weiter; aufgrund demografischen Wandels betreffen diese Kürzungen immer mehr Menschen. Wie dieses Buch zeigt, verhält sich der Tanz hierzu - mit kritischen, pragmatischen, auch utopischen Ansätzen. Man möchte sich nach der Lektüre eine Ausweitung der gewählten transkulturellen Perspektive wünschen. Und dass der Tanz nicht müde wird, die historischen Bedingungen der Unterscheidung von Können und Nicht-(mehr-)Können sowie deren anhaltende Reproduktionen zu destabilisieren und zu reformulieren. Berlin S ANDRA U MATHUM Christoph Nix. Theater_Macht_Politk. Zur Situation des deutschsprachigen Theaters im 21. Jahrhundert (Reihe Recherchen 126). Berlin: Verlag Theater der Zeit 2016, 230 Seiten. Christoph Nix, seit 2006 Intendant des Konstanzer Schauspielhauses, ist keine unbekannte Persönlichkeit der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Bereits in den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts publizierte der promovierte Jurist Essays und Artikel zu den ökonomischen und kulturpolitischen Hintergründen des Theaterbetriebs, in denen er auch die spezifischen Rechtsfragen behandelte. 1 Forum Modernes Theater, 30/ 1-2 (2015 [2019]), 194 - 196. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2015-0015 194 Rezensionen