Forum Modernes Theater
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0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2020-0003
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2020
311-2
BalmeLange weilen können. Maßlose Dauer und begrenzte Zeiterfahrung in einer Ästhetik des Durativen
31
2020
Johanna Zorn
Das zeitgenössische künstlerische Spektrum kennt eine Vielzahl an Inszenierungsformen, die das Phänomen der Dauer selbst thematisch und erfahrbar werden lassen. Durative Performances widersetzen sich durch ihre ostentative Maßlosigkeit dabei nicht lediglich einem ökonomisierten Zeit-Regime, sondern geben Angebote einer regelrecht exzessiven Zeiterfahrung aus, die mit der Aufforderung eines Sich-Einlassens in ihren Verlauf selbst spielen und so das Prinzip gerichteter Aufmerksamkeit empfindlich stören. Nicht das überschaubare ‚Werk‘ als das Phantasma eines in sich abgeschlossenen künstlerischen Produktes, sondern das Eintreten in die ‚Situation‘ des zeitlichen Verlaufs ist das bestimmende Dispositiv solch installativer Formen. Dies ist zugleich auch die Situation des Lebens schlechthin, zu der sich Kunst dabei mimetisch verhält. Der Artikel entwickelt ausgehend vom historischen Phänomen der Hungerkünstler*innen und mit Blick sowohl auf die anachoretische Praxis der Neo-Avantgarde als auch auf zeitgenössische installative Settings ein Panorama unterschiedlicher Formen der Dauer-Kunst, die mit der paradoxen Erfahrungsqualität einer ‚begrenzten Unermesslichkeit‘ spielen.
fmth311-20026
Lange weilen können. Maßlose Dauer und begrenzte Zeiterfahrung in einer Ästhetik des Durativen Johanna Zorn (München) Das zeitgenössische künstlerische Spektrum kennt eine Vielzahl an Inszenierungsformen, die das Phänomen der Dauer selbst thematisch und erfahrbar werden lassen. Durative Performances widersetzen sich durch ihre ostentative Maßlosigkeit dabei nicht lediglich einem ökonomisierten Zeit-Regime, sondern geben Angebote einer regelrecht exzessiven Zeiterfahrung aus, die mit der Aufforderung eines Sich-Einlassens in ihren Verlauf selbst spielen und so das Prinzip gerichteter Aufmerksamkeit empfindlich stören. Nicht das überschaubare ‚ Werk ‘ als das Phantasma eines in sich abgeschlossenen künstlerischen Produktes, sondern das Eintreten in die ‚ Situation ‘ des zeitlichen Verlaufs ist das bestimmende Dispositiv solch installativer Formen. Dies ist zugleich auch die Situation des Lebens schlechthin, zu der sich Kunst dabei mimetisch verhält. Der Artikel entwickelt ausgehend vom historischen Phänomen der Hungerkünstler*innen und mit Blick sowohl auf die anachoretische Praxis der Neo-Avantgarde als auch auf zeitgenössische installative Settings ein Panorama unterschiedlicher Formen der Dauer-Kunst, die mit der paradoxen Erfahrungsqualität einer ‚ begrenzten Unermesslichkeit ‘ spielen. Die Unermeßlichkeit ist, könnte man sagen, eine philosophische Kategorie der Träumerei. 1 Von hungernden Künstlern und ausdauernden Performern Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eroberte ein bis dahin ungekanntes Genre der Schaustellerei die Bühnen der Jahrmärkte, Varietés und Hotels, dessen Attraktion schlicht das ‚ Hungern ‘ war. Bereits 1880 trat der Arzt Henry Tanner in der Clarendon Hall in New York an, um am eigenen Körper die zweifelhafte These zu exemplifizieren, dass der Mensch nicht nur in der Lage sei, 40 Tage ausschließlich von Wasser zu leben, sondern dass ein derartiger Nahrungsentzug überdies auch noch gesundheitsfördernd sei. Was zunächst als medizinisch ambitionierter Selbstversuch (mit überdeutlicher Allusion an das 40-tägige Fasten Jesu) in den USA begann, schwappte schnell nach Europa über, um dort als performativer Triumph des Geistes über das Fleisch die massenhaft heranströmenden Schaulustigen in den Bann zu ziehen. Seine Pointe erhielt das bizarre, ja makabre Sujet der Askese schlicht durch die vorgeführte Dauer der Abstinenz von der Essensaufnahme. Die Dauer der Handlung wurde zum Sujet der Darstellung. Die Signatur einer mit den Begriffen der ‚ Décadence ‘ und des ‚ Fin de Siècle ‘ verbundenen historischen Zeit der Übersättigung, des voyeuristischen Begehrens nach einer fortwährenden Steigerung der Sensationserfahrungen, scheint in der Enthaltsamkeit das passende dialektische Gegenstück gefunden zu haben, das nunmehr allerdings auch mit der sportlichen Formel der Überbietung zu Werke ging. So konkurrierten zahlreiche sogenannte Hungerkünstler*innen um die erreichte Höchstdauer im Fastenmarathon, was im Übrigen auch immer wieder Anlass Forum Modernes Theater, 31/ 1-2 (2020), 26 - 38. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2020-0003 zu Spekulationen über Betrugsfälle bot, die sich nicht selten erhärteten. Der italienische Star seiner Zunft, Giovanni Succi, der 1896 im Wiener Hotel Royal mit seiner Kunst gastierte, soll etwa durch einen unangemeldeten Arztbesuch beim Verzehr eines Beefsteaks ertappt worden sein, was wohl dazu führte, die Hungerkünstler*innen - zu denen in der Tat auch Frauen zählten - fortan in Glaskästen oder Gitterkäfigen auszustellen, um sie beim Fasten besser überwachen zu können und nebenbei den Schauwert zu erhöhen. 2 Im öffentlichen Schauhungern liefen in jedem Fall die Aspekte einer Selbstüberwindung hin zum ‚ Übermenschen ‘ , wie sie Friedrich Nietzsche in seinem Zarathustra in eine prägnante philosophische Fabel gefasst hat, 3 und die forcierte Aktivierung eines körperlichen Außer-sich-Seins zusammen. Die Erfahrung der Ekstase seitens der Agierenden wurde der Idee nach gerade durch den temporären und freiwilligen Entzug von Lebensnotwendigem ausgelöst, der selbstverständlich nicht im fiktiven Moment der Verkörperung aufgeht, sondern als „ Aufs-Spiel-setzen der Existenz “ 4 ausagiert wird. Die lebensbedrohliche Disziplinierung des Körpers bewirkte bei den Hungernden offenbar den Effekt eines regelrechten Trancezustands, der von den begeisterten Zuschauer*innen interpassiv, aus der Distanz erfahrbar wurde. 5 Die Attraktion, die zunächst wohl nicht zufällig bis zu jenem historischen Zeitpunkt immer neue Höhepunkte an Ausdauer erreichte, an dem das willentliche Fasten von der tatsächlichen kollektiven Not des Hungerns im Zuge des Ersten Weltkriegs eingeholt wurde, veranlasste Franz Kafka im Jahr 1922 dazu, einen bissigen Text über das artistisch zur Darstellung gebrachte Hungern zu verfassen. Die Erzählung Ein Hungerkünstler verhandelt im Kern die paradoxe Situation des Künstlers, der die Kunst in das eigene Leben importiert, also den eigenen künstlerischen Output regelrecht als Lebensform interpretiert und ausagiert. Der Inhalt ist in aller Kürze folgender: Der titelgebende, ehemals erfolgreiche Hungerkünstler bringt seine Kunst, das Hungern, in einem Käfig eingeschlossen und von Wachpersonal kontrolliert, dem Publikum zur Anschauung. Da diese Kunst des Schauhungerns im Verlauf der Jahre aus der Mode gekommen ist, der namenlose Künstler sich aber weiterhin, nunmehr allerdings lediglich für sich selbst, seiner Kunst hingibt, stirbt er eines Tages beinahe unbemerkt in seinem Käfig, der fortan von einem jungen Panther bewohnt wird. Der Text Kafkas, der das Erlebnis ‚ hungernder Dauer ‘ nunmehr ganz in das Ich des Künstlers einschließt, das am Ende keine Entsprechung mehr in den interpassiven Erfahrungen der Zuschauer*innen finden kann, liest sich als literarische Vorwegnahme unterschiedlicher performativer Strömungen seit den 1970er Jahren, die das Dauererlebnis des künstlerischen Ichs in den Mittelpunkt rücken: Jener Performances, die sich unter den englischen Schlagworten der ‚ Endurance Art ‘ , der ‚ Live Art ‘ , der ‚ Durational Art ‘ oder der ‚ Time-Based Art ‘ 6 für das Phänomen des gestalteten Vergehens von Zeit selbst interessieren; sowie der ‚ Body Art ‘ , die den eigenen Leib, in seinen Möglichkeiten und Grenzen, zum Ort einer erhöhten Glaubwürdigkeit machten, indem Protagonist*innen die eigene Körpererfahrung durch unterschiedliche Zurichtungen, von Selbstverletzung bis zu Askese, als Formen der eigenen Ausdauer, mithin ihres eigenen körperlichen ‚ Überdauerns ‘ ausstellten. Kafka liefert mit seinem literarischen Nachdenken über diese eigentümliche künstlerische Praxis auch eine Chiffre für die doppelte Rolle des Künstlers, nämlich selbst nicht nur Darsteller, sondern auch der ideale Zuschauer seiner selbst zu sein. In diesem Sinne heißt es bei Kafka: 27 Lange weilen können. Maßlose Dauer und begrenzte Zeiterfahrung in einer Ästhetik des Durativen Niemand war ja imstande, alle die Tage und Nächte beim Hungerkünstler ununterbrochen als Wächter zu verbringen, niemand also konnte aus eigener Anschauung wissen, ob wirklich ununterbrochen, fehlerlos gehungert worden war; nur der Hungerkünstler selbst konnte das wissen, nur er also gleichzeitig der von seinem Hungern vollkommen befriedigte Zuschauer sein. 7 Hinter Kafkas unübersehbar ironischem Kommentar über die Authentizität der historischen Ausdauer-Kunst zeigt sich die Differenz zwischen der Totalität der Erfahrung des artistischen Asketen auf der einen Seite und der notwendigerweise je ausschnitthaften Rezeptionsmöglichkeit der Zuschauer*innen auf der anderen. Dadurch kommt eine antinomische Konstellation in der Ästhetik des Durativen zum Vorschein: Sie wird für die Künstler*innen zum Leben selbst. In die totalen Erfahrungswelten dieses Lebens können die Künstler*innen ihre Rezipient*innen allerdings nicht mitnehmen. Eine Öffnung des fiktionalen Moments von Darstellung auf ein Jenseits der symbolischen Repräsentation hin wäre dem Typus der Ausdauerkünstler*in, so lehrt es uns der Text Kafkas, nur über die Vermittlung ihres Dauerns an die Zuschauer*innen möglich. Erst in der dauerhaften ‚ Erfahrung ‘ rückt die Sphäre der Darstellung dem Leben empfindlich nahe. Das wusste bereits Richard Wagner, der mit seiner Ring- Tetralogie nicht zuletzt für die Rezipierenden ein Gesamtkunstwerk des Dauerns schaffen wollte. So gesehen zeigt sich in der Verweigerungshaltung von Kafkas Hungerkünstler, seiner Darbietung ein Ende zu setzen, der Versuch einer Überführung von künstlerischer Praxis in Lebensform: [A]m vierzigsten Tage wurde die Tür des mit Blumen umkränzten Käfigs geöffnet, eine begeisterte Zuschauerschaft erfüllte das Amphitheater, eine Militärkapelle spielte, zwei Ärzte betraten den Käfig, um die nötigen Messungen am Hungerkünstler vorzunehmen, durch ein Megaphon wurden die Resultate dem Saale verkündet, und schließlich kamen zwei junge Damen, glücklich darüber, daß gerade sie ausgelost worden waren, und wollten den Hungerkünstler aus dem Käfig ein paar Stufen hinabführen, wo auf einem kleinen Tischchen eine sorgfältig ausgewählte Krankenmahlzeit serviert war. Und in diesem Augenblick wehrte sich der Hungerkünstler immer. [. . .] Warum gerade jetzt nach vierzig Tagen aufhören? Er hätte es noch lange, unbeschränkt lange ausgehalten; warum gerade jetzt aufhören, wo er im besten, ja noch nicht einmal im besten Hungern war? 8 Bei Kafka sind also gleich mehrere Aspekte enthalten, die für die künstlerische Darstellung und Verkörperung von Dauer relevant sind: Das ist zum ersten die Dopplung der Rolle als Darsteller und Zuschauer, die auf das Phänomen der ästhetischen Erfahrung verweist, in der die Pole von Produktion und Rezeption kollidieren; 9 zum zweiten die ostentative Transformation von Kunst in Leben, die sich daran zeigt, dass der Hungerkünstler selbst den Zeitpunkt des Aufhörens nicht akzeptieren möchte; und schließlich, zum dritten, die Redefigur einer Kunst, die immer schon angefangen hat und die wir Menschen nur ausschnitthaft erleben können. Diese darstellungs- und erfahrungsästhetische Parabel auf das Leben selbst hat ihr Echo längst in all jenen Reality-TV-Formaten erhalten, die seit den 2000er Jahren in nahezu unendlichen Variationen gewuchert sind, und die den Begriff der Realität, mithin der Authentizität, maßgeblich über die dauerhafte Beobachtung von - selbstverständlich laboratorisch inszenierten - Lebenssituationen legitimieren. 28 Johanna Zorn Das anachoretische ‚ Überdauern ‘ neoavantgardistischer Künstler*innen Als historisch einschlägige Referenzperformances für diese darstellungs- und erfahrungsästhetische Dimension können die im Umfeld der bereits erwähnten ‚ Endurance Art ‘ erprobten Weisen der Ausdauer ihrer Protagonist*innen gesehen werden. Chris Burdens Performance Five Day Locker Piece gilt gemeinhin als künstlerisches Initial einer solchen performativen Selbstaufopferung auf gefährlich lange Zeit. Der US-amerikanische Künstler ließ sich dafür vom 26. bis zum 30. April 1971 in einen ca. 60 x 60 x 90 cm großen Spind in der UC Irvine einschließen. Mit nichts außer fünf Kanistern Wasser im Spind über ihm und einem leeren Kanister im Spind unter ihm verbrachte er dort die vorher festgelegten fünf Tage. Vorbereitet hatte er sich durch eine längere Fastenzeit. Künstler*innen, die den körperlichen Ausnahmezustand seither in Settings erprobt haben, in denen sie sich, dem Hungerkünstler Kafkas ähnlich, freiwillig in die Gefangenscheit einer selbst inszenierten Situation begaben, gibt es zahlreiche. Die historischen, politischen und ästhetischen Differenzen zu den Hungerkünstler*innen sind dabei freilich ebenso offenkundig wie die gewandelten medien- und kommunikationstechnologischen Vorzeichen. Während das historische Panorama der performativen Askese im Fin de Siècle schwerlich als Bürge für ein politisches Protestbewusstsein fungieren kann, so zitieren nicht wenige Performances aus dem neo-avantgardistischen Spektrum das brisante Moment des Hungerstreiks, der die ästhetischen und sensationserzeugenden Faktoren des Artistischen in eine radikale Verweigerungshaltung und somit kritische Praxis invertiert. 10 Ebenso übernehmen die (audio-)visuellen Reproduktionstechniken von der Fotografie bis zum Video für die Performances der Live Art nicht nur dokumentarische Funktion. Dergestalt erwirkt die „ mediatized performance “ 11 keineswegs die aufbewahrende Übersetzung eines transitorischen Ereignisses, sondern stiftet ihrerseits eine eigene, medial distinkte Inszenierung, in der die Idee des vergangenen hic et nunc konkomitant miterscheint. 12 Damit erfolgt die ästhetische Erfahrung letztlich nach einem Schichtungsprinzip, das ein Ereignis mit dessen medialen Dokumenten übermalt. Dabei akzentuieren die performativen Versuche mit der Zeit und deren (audio-) visuelle Exporte geradezu überdeutlich die Schichten ästhetischer Erfahrung. Das forcierte Spiel mit dem Bewusstsein einer dauernden Präsenz seitens der Agierenden einerseits und der mediatisierten Spur dieser Präsenz andererseits löst nämlich die Frage nach der kopräsenten Erfahrungsdimension programmatisch zugunsten der Idee von Unermesslichkeit auf. Das Wissen, dass da jemand ist oder war, wird für die Konstitution einer Parallelwelt funktionalisiert, die je nicht mehr einsehbar, nicht mehr erlebbar ist. In besonders radikaler Weise praktizierte Tehching Hsieh die Anachorese als Form ästhetischer Erfahrung und künstlerischen Ausdrucks. So ließ er sich in einer seiner insgesamt fünf One Year Performances, dem sogenannten Cage Piece (1978 - 79), für ein ganzes Jahr in einen Käfig aus Holz einsperren. Die Einrichtung war dabei auf das zum Überleben Notwendigste reduziert und beinhaltete ein Waschbecken, ein Bett und einen Eimer für die Notdurft. Er selbst erlegte sich ein Sprech- und Leseverbot auf, um sich jede Form der Zerstreuung zu verbieten. Ein Freund versorgte ihn mit dem Nötigsten, entsorgte seine Abfälle und dokumentierte Hsiehs Zustand täglich fotografisch. In regelmäßigen Abständen wurde der Raum auch für Besucher*innen geöffnet. Die meditative Fokussierung auf das eigene Innenleben in der gesellschaftlichen Isolati- 29 Lange weilen können. Maßlose Dauer und begrenzte Zeiterfahrung in einer Ästhetik des Durativen on ist im Falle Hsiehs nicht lediglich die performativ wiederholende Überbietung seiner existentiellen Situation als illegaler Immigrant, der in Anbetracht seiner bürgerlichen Marginalisierung das selbstauferlegte Zeitregime als Kritik am Regime des Kapitalismus ausagiert. 13 Sie schreibt zugleich ganz offensichtlich die Geschichte der geistig-spirituellen Anachorese, die sich der Bekämpfung der schwerwiegenden Bürde der Acedia durch die Tätigkeiten der Selbstbeobachtung und des Ausharrens widmet, als künstlerische Praxis weiter. Erheblich medienwirksamer, allerdings auch im subtileren Setting des asketischen Einschlusses erforscht Marina Abramovic´ nunmehr seit vielen Jahren performativ die Dehnung von Zeit. Von ihrer Langzeit- Performance The Artist is Present, die sich 2010 im MoMA in New York über eine Gesamtdauer von über 700 Stunden ereignete, ging das Versprechen einer veränderten Wahrnehmung von Dauer und der Förderung eines tieferen Eintauchens in die Erfahrung von Zeit selbst aus. Für ihre Aktion 512 Hours in der Londoner Serpentine Gallery im Jahr 2014 spitzte sie das Konzept einer künstlerischen Erzeugung von Immaterialität, bei der nichts anderes entsteht, außer die Begegnung zwischen Menschen, schließlich noch einmal erheblich zu. In einem Interview spricht sie im Vorfeld gar davon, „ eine Art ‚ zeitlosen Raum ‘ erschaffen “ 14 zu wollen. Mit diesem Prinzip der Homöostase, eines schwebenden Zeitmaßes, das die Dramaturgie von zeitlichen Abläufen explizit durch eine gesteigerte Erfahrung ersetzen soll, ist ein wesentliches Moment durativer Formen benannt. Sie führen uns, da sie irgendwo anfangen und irgendwo wieder aufhören, in explizit antiaristotelischer Manier vor Augen, dass die Geschichten unseres Lebens, indem sie Anfang, Mitte und Ende haben, ein Phantasma sind. In ihren dramaturgischen Verdopplungen physikalischer Zeitstrukturen, die der Idee nach immer so weiter gehen könnten, sind sie sogar nicht selten ästhetisierte Versuche über die Unermesslichkeit, die Ewigkeit selbst. Schon Scheherazade wusste von der Möglichkeit schier endlosen Weitererzählens, um auf diese Weise dem drohenden Tod zu entgehen. Während die genannten Beispiele in ihren verschiedenen Stoßrichtungen vor allen Dingen die Dehnung und Intensivierung der Erfahrungszeit der Performer*innen selbst thematisieren, die den Rezipient*innen wiederum als Attraktionen, also lediglich in definierten Ausschnitten oder Dokumentationen zugänglich gemacht wird, so brachte die jüngere Kunstgeschichte auch durative Formen hervor, die nicht nur die ekstatische Erfahrungsdimension der Akteur*innen, sondern auch diejenige der Zuschauer*innen und Zuhörer*innen reflektieren, herausfordern, an ihre Grenzen bringen. Entfaltet wird eine ganze Bandbreite an Aktivierungsmöglichkeiten lange andauernder ästhetischer Erfahrung, in der die streng gezogene Grenze zwischen der Selbsterfahrung der Spielenden und Performenden einerseits und der aufnehmenden Erfahrung der Beiwohnenden andererseits, wie sie ausgehend von der ‚ Hungerkunst ‘ entfaltet wurde, keineswegs eingerissen, sondern lediglich in ein Dispositiv der Installation überführt wird, die verschiedene Ein- und Austrittszeitpunkte in den Verlauf ermöglicht, ja geradezu forciert. Die lange Weile der ästhetischen Erfahrung Mit dem Gestus der Provokation durch eine schlicht endlos scheinende Präsentation von Wiederholungen arbeitet bereits die Komposition Vexations, die der französische Komponist Erik Satie 1893 vorlegte. Das Werk, das mit ‚ Verärgerung ‘ oder ‚ Beleidung ‘ ins Deutsche übersetzt werden kann, 30 Johanna Zorn mag der Erwartung der Zuhörer*innen in der Tat als eine Kränkung erscheinen, denn die Komposition ist eine musikalische Verweigerung - eine Verweigerung gegenüber der Variation sowie der Kreation von Spannungs- und Überraschungseffekten. Stattdessen präsentiert sie in formaler Hinsicht über eine quälende Länge hinweg nichts als immer ‚ dasselbe ‘ . 15 Wie quälend eine Wiederholung ad infinitum sein kann, das lehrt uns wohl manchmal der Alltag selbst. Satie verdichtet die Qual der Wiederholung zum künstlerischen Programm. Das Notenblatt beinhaltet lediglich ein einfaches Bassthema, auf das alternierend eine von zwei Variationen folgt (Abb. 1). Die Anweisung von Satie sieht vor, dieses A-B-A-C-Muster 840 mal zu wiederholen und zwar, wie es nur vage heißt: „ très lent “ . Interessant sind dabei gleich mehrere Aspekte: Es handelt sich um taktlose Musik, die weder für eine bestimmte Besetzung vorgesehen ist, noch eine konkrete Tempoangabe beinhaltet. So obliegt es dem/ der Interpret*in, die Tempoanweisung zu deuten. Bei etwa 60 Schlägen pro Minute würde die Gesamtdauer der Aufführung ca. 28 Stunden in Anspruch nehmen. Dass die Langeweile der Durchschlag ist, auf dem die Aktivität der Sinne überhaupt erst möglich wird, das wusste auch Walter Benjamin: „ Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlichen Entspannung ist, so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet. “ 16 Saties Vexations können in diesem Sinne als ein musikalischer Aufruf gehört werden, sich auf das schwebende Zeitmaß einzulassen, sich in ihm zu verlieren. Zugleich liegt darin ein forcierter Versuch, Langeweile künstlerisch produktiv zu nutzen, als Spiel mit endlosen Wiederholungen, dessen Gleichförmigkeit sogar zur Stille selbst tendiert. 17 In der entsprechenden Spielanweisung heißt es dazu sinngemäß, dass man sich in der größten Stille und gewissenhaftesten Regungslosigkeit auf die Interpretation vorbereiten solle. Vexations ist insofern auch eine Vorläuferin von Saties später konkretisiertem Konzept der ‚ Musique d'ameublement ‘ . Diese, nur unelegant mit ‚ Einrichtungsmusik ‘ zu übersetzende Idee soll dazu führen, Musik nicht im Modus der gerichteten Aufmerksamkeit zu hören, intellektuell zu erfassen, sondern sie in den Raum hinein- und aus ihm herauswirken zu lassen - Räumen also eine nahezu verborgene, d. h. atmosphärische akustische Färbung zu geben. 18 Eine solche Ästhetik der Installation, die Satie damit avant la lettre vorgelegt hat, setzt die Idee um, als Besucher*in in einen Raum einzutreten, der bereits bespielt ist. Kein Werk wartet mehr auf den/ die Rezipient*in, um durch seine/ ihre Anwesenheit beginnen zu können, sondern eine Situation empfängt ihn/ sie, war je schon vorher da, hat je schon angefangen. Damit wird die von Kafka reflektierte Unzulänglichkeit, das Hungern des Künstlers dauerhaft wahrnehmen zu können, transformiert in eine ästhetische Praxis der fortlaufenden Situation, die das ‚ Ganze ‘ modellhaft in Aussicht stellt und sich doch aufgrund ihrer schieren Größe entzieht. Die Entgrenzungs-Geschichte der modernen und postmodernen performativen Kunst lässt sich vor der Folie der Installation insofern nicht lediglich als ein Herausgleiten aus den fest umrissenen ‚ Grenzen des Werkes ‘ betrachten, 19 sondern auch als Spiel mit der ‚ Unermesslichkeit der Situation ‘ selbst. Die bekannte Invektive Michael Frieds gegen die von der Minimal Art ausgehende spezifische Theatralität, die kraft der Umwandlung des Werks zur Situation entsteht und „ geradezu definitionsgemäß den Betrachter mit umfaßt “ 20 , müsste vor dem Hintergrund der ästhetisierten langen Dauer einmal mehr problematisiert werden. Denn die Situationen, die durative Formen eröffnen, bieten explizit die Möglichkeit, sich an irgend- 31 Lange weilen können. Maßlose Dauer und begrenzte Zeiterfahrung in einer Ästhetik des Durativen einem Punkt in ihren Verlauf einzuklinken, um sie ebenso in irgendeinem Moment wieder zu verlassen. Sie bestehen somit in paradoxer Weise ihrerseits auf einem starken Werkkonzept, das sich gerade durch das Strukturmerkmal der Unermesslichkeit dem vollständigen temporalen Erfassen entzieht. Ein Musterbeispiel für eine durative Ästhetik unter Beibehaltung des Werkcharakters aus dem filmisch-installativen Bereich liefert der monumentale Filmloop The Clock. Der Film, der erstmals 2010 in der Londoner White Cube Gallery gezeigt wurde, imitiert schlicht das Funktionsprinzip einer Uhr. Aus einem gigantischen filmischen Archiv von tausenden von Filmen montierte der Regisseur Filmausschnitte zu einem 24-stündigen Film zusammen, der echtzeitsynchronisiert immer eine der realen Zeit entsprechende Filmszene zeigt. Dieses Prinzip wiederholt sich exakt 24 Stunden lang, bevor sowohl der Film als auch ein neuer Tag von vorne beginnen. Dabei übt nicht nur der Blick in die faktische Größe des Archivs, die Marclay aufbietet eine Faszinationskraft aus. Ins Auge fällt indes das übergreifende Kompositionsgesetz, das Fragmente in streng durchrhythmisierter Form zur totalen Form zusammenfügt, die den tatsächlichen Nachvollzug und die filmische Spiegelung eines Tagesablaufs augenscheinlich erfahrbar macht. Die Erfahrungssituation im Kinosaal und das Zeitgeschehen eines Tages werden so eng aneinandergebunden, dass der Tagesablauf mit seinen durchaus konventionalisierten Zuspitzungen, Verdichtungen und Retardierungen tatsächlich als filmische Verdopplung ‚ erscheint ‘ . Die Tatsache, dass der Film exakt einen Sonnenumlauf dauert, macht ihn zu einem Modellfall zeitgenössischer ästhetischer Verdopplungsstrategien, die mit der Korrespondenz physikalischer Zeit und ästhetischer Zeiterfahrung arbeiten. Durch die Zeitspanne von 24 Stunden imitiert der Loop nicht nur den zeitlichen Verlauf eines Tages, sondern verkörpert metaphorisch auch die Erfahrungswelt des ‚ großen Ganzen ‘ und thematisiert auf diese Weise das Prinzip einer sogar unendlichen Wiederholung. 21 Denn die Pointe der zugrundeliegenden durativen Ästhetik liegt ja gerade darin, dass mit jedem neuen Tag auch der Film wieder von vorne beginnt und einer ‚ Never Ending Story ‘ 22 gleicht, die auch dann noch weiter läuft, wenn das individuelle Erfahren, sei es durch die Öffnungs- und Schließzeiten der jeweils ausstellenden Institution oder durch die eigene Grenze der physischen oder psychischen Ausdauer, bereits vorbei ist. Der zugrundeliegende temporale Topos ist also nicht der Zeitstrahl, der auf ein Ziel hin ausgerichtet ist, sondern das Bild des Kreises, in den die Besucher*innen eintreten und aus dem sie sich wieder ausklinken können. Damit scheint die Metapher des Uroboros, des Schwanzverzehrenden, der durch die Abwesenheit von Anfangs- und Endpunkt in der altägyptischen Ikonografie die kosmische Einheit und somit die Entsprechung von Makro- und Mikrokosmos symbolisiert, durch das filmische Gebilde hindurch. Gleichzeitig ist dieser Endlosschleife die ausschnitthafte Wahrnehmung durch die Rezipierenden einkomponiert, die ihrerseits die Unermesslichkeit des Uroborus chiffriert. In seiner Redefigur der „ ewigen Wiederkunft “ benennt Nietzsche bekanntermaßen die potentiell unendliche Wiederholung des bereits Erlebten als „ das grösste Schwergewicht “ 23 und weist ihrer Anerkennung gerade deshalb den höchsten Ausdruck der Lebensbejahung zu. Ein derartiger Experimentcharakter um die Erfahrung der Dauer, der die Idee der Endlosigkeit aus dem Strukturprinzip der Wiederholung entwickelt, kennzeichnet eine Vielzahl an zeitgenössischen künstlerischen Positionen. So inszeniert der isländische Künstler Ragnar Kjartansson seit 32 Johanna Zorn nunmehr einigen Jahren Dauerschleifen, die vordergründig einen iterativen Redundanzcharakter errichten, bei genauerer Betrachtung allerdings Meditationen über die Verdichtung von Zeit und deren Vergänglichkeit sind. So ließ er im Jahr 2013 die USamerikanische Band The National im MoMA PS1 über eine Dauer von gut sechs Stunden den Song „ Sorrow “ vor Publikum interpretieren. Daraus entstand der Film A Lot of Sorrow, der über den Modus der Wiederholung nicht lediglich die Satieschen ‚ Verärgerungen ‘ über die unendliche Melodie ironisch fasst, sondern das auratische Moment der Einmaligkeit offensiv konterkariert. Dass umgekehrt gerade die schier endlos scheinende Wiederholung bereits erlebter Situationen traumatischen Charakter annehmen kann, zeigt sich wohl in eklatantester Weise in Formen physischer und psychischer Gewalt. Der schwedische Künstler Markus Öhrn hat für seine durative Performance-Installation Häusliche Gewalt Wien, die als Auftragswerk der Wiener Festwochen im Jahr 2018 in den Gösserhallen erstmals gezeigt wurde, die Qual endloser Gewalttätigkeit thematisiert. Hinter dem programmatischen Titel verbirgt sich eine Auseinandersetzung mit gerichtlich dokumentierten Fällen häuslicher Gewalt, die Öhrn in ein verstörend stilisiertes Setting von Schablonen des Missbrauchs überführt hat. Über eine Gesamtdauer von fünf Stunden, in der den Zuschauer*innen jederzeitiges Kommen und Gehen explizit ermöglicht wird, verdichten eine Performerin und ein Performer das Prinzip erschütternder Wiederholung in eine aussichtslose Spirale körperlichen und geistigen Terrors. Dem Spielort, einer rudimentär eingerichteten, überwiegend in weißer Farbe gehaltenen Wohnung, korrespondiert eine stereotypisierte Zeichnung der unterworfenen Frau in engem roten Spitzenkleid und hochhackigen Schuhen und ihrem Mann, einem nur scheinbar seriösen Anzugträger, der mit Sporttasche in der Hand am Abend ins traute Heim zurückkehrt. Was dort zunächst als harmloses, weil durch mediale Bilder bestens bekannte Heimkommen des Mannes zum gedeckten Essenstisch beginnt, invertiert unversehens in erbarmungslose Handlungen der Demütigung seitens des Mannes. Gerade noch sitzen die beiden beim Essen, da stopft er ihr gewaltsam Nudeln in den Mund, gerade noch gibt sich das Paar Zeichen der Zuneigung, da schlägt er ihr brutal ins Gesicht. Dieses nahezu unvermittelte Herauskippen aus einer harmlosen Situation wiederholt sich ebenso wie die darauffolgenden Reaktionen der Frau. Sie legt sich vor dem Spiegel neues Make-up auf und richtet sich ihr zerrissenes Kleid zurecht, macht sauber, während er rückwirkend an seinen Taten verzweifelt, weint. Sie tröstet ihn. Das Ganze beginnt in variierter und zugespitzter Form von Neuem. Die Gesichter des Paares sieht man bei alldem nicht, stattdessen tragen die Performerin und der Performer überdimensionale, ins Groteske verzerrte Masken aus Pappmaché auf den Köpfen. Auch spricht hier niemand, doch tönen - elektronisch verstärkt - Laute durch die Masken hindurch: das Schmatzen beim Essen, ein kleiner Seufzer, schmerzvolles Stöhnen, Zeichen der Zustimmung, Weinen. Ein Pianist begleitet das sich unaufhaltsam zuspitzende Spiel der Unterdrückung mit romantischer Klaviermusik von Schubert bis Chopin. Das musikalische Symbol bürgerlicher Innerlichkeit steigert das ohnehin schier Unaushaltbare ins Extrem. Als Zuschauer*in dieser Performance hat man einander widerstreitende Haltungen zu moderieren, deren Ausweglosigkeit durch das performativ installative Setting geradezu provoziert wird. Die durative Konzeption, die den jederzeitigen Ein- und Austritt der Rezipient*innen miteinbezieht, 33 Lange weilen können. Maßlose Dauer und begrenzte Zeiterfahrung in einer Ästhetik des Durativen erzwingt unsere Entscheidung: Begeben wir uns in die Rolle der Zuschauer*in, die offenen Auges, voyeuristisch in den Abgrund blickt, der selbstverständlich wie immer auch der eigene ist, oder verlassen wir den Raum in jenen Momenten, in denen die Situation zu nahe geht. Es geht dabei weniger um jene widerstreitende Situation zwischen ästhetischer und ethischer Haltung, die Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen exemplarisch anhand Marina Abramovic´s Lips of Thomas porträtiert. 24 Entscheidend für die Dringlichkeit des Gezeigten, für dessen affektives Potential ist vielmehr der Imperativ des Durativen, der uns mit jeder Entscheidung auf unbedingte Weise in das Geschehen verstrickt. Die sich im Dauermodus wiederholenden Vorgänge verweisen auf nichts weniger als auf deren erschütternde Existenz und machen mir als Rezipient*in bewusst: Verlasse ich den Raum, so hört die Gewalt nicht auf, komme ich wieder, ging sie in der Zwischenzeit ohne mich weiter - war vorher schon da. Das künstlerische Spektrum an Inszenierungsformen, die das Phänomen der Dauer selbst thematisch und erfahrbar werden lassen, so zeigen die Beispiele ausschnitthaft, ist groß. Durative Formen, von Saties Vexations über Marclays The Clock bis hin zu Öhrns Häusliche Gewalt Wien widersetzen sich durch ihre Maßlosigkeit dabei nicht lediglich einem ökonomisierten Zeit-Regime, dem die Verfügbarkeit von Zeit längst als der eigentliche Luxus gilt, sondern sind selbst Angebote einer exzessiven Zeiterfahrung. Wir sollen also im wahrsten Sinne des Wortes lange weilen, eine lange Weile haben und können diesem Gebot Folge leisten oder nicht. Sie fordern uns auf, uns wie der Benjamin ’ sche Traumvogel in ihren Verlauf selbst einzulassen und durchkreuzen das Prinzip gerichteter Aufmerksamkeit. Von der Aggression angesichts der Dauer über die erschütternde Einsicht in das Phänomen der sich wiederholenden Gleichförmigkeit bis hin zur Kreation von Parallelwelten durch die Deckungsgleichheit physikalischer und ästhetisch (re-)präsentierter Zeit - durative Formen exemplifizieren immer auch die Unermesslichkeit dessen, was sie zeigen. Die Zeitformel der Ewigkeit als der Prozess, der immer schon angefangen hat und unbegrenzt weiter gehen könnte, wird dabei ebenso ästhetisch funktionalisiert wie die rauschhafte Verausgabung oder die Erfahrung von Langeweile. Epilog: Die dauernde Situation im Käfig Ein letztes Beispiel, das zugleich eine verspätete Fußnote zum hungerkünstlerischen Einschluss liefert, soll dieses historisch und ästhetisch diverse Panorama von Ausdauer- Kunst abschließen. Es handelt sich um das Großprojekt DAU des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovsky, das in seinem Maximalismus zwar viele der bereits angeklungenen Elemente aufnimmt, diese aber erheblich zuspitzt. Alle genannten Beispiele haben es gemeinsam, dass sie auf der Grundlage ihrer Dauerstruktur nicht nur schwerlich oder gar nicht ‚ im Gesamten ‘ erfahrbar sind, sondern ebenso wenig als Anschauungsobjekte museal oder medienarchivalisch exportierbar sind. Im Fall von The Clock geht diese Unverfügbarkeit sogar so weit, dass durch die intrinsisch angelegte Synchronisation der filmischen mit der physikalischen Zeit gar keine Dokumente medial verfügbar sind. Alle Beispiele sind also schlicht an die Zeit und den Raum der Aufführung gebunden. Für DAU gilt diese ‚ zeitspezifische ‘ Bindung in besonders radikalisierter Weise. Khrzhanovsky wollte das Leben des einzigen sowjetischen Nobelpreisträgers Lew Landau, genannt Dau, verfilmen. In Charkiw, einer Stadt in der Ukraine, ließ er für die Realisierung seines Vorhabens im Jahr 2008 34 Johanna Zorn ein wissenschaftliches Institut bauen, das der tatsächlichen Wirkungsstätte Landaus nachempfunden war. Das Filmprojekt entwickelte sich zu einer Mischung aus Sozialexperiment, menschlichem Laboratorium und künstlerischer Versuchsanordnung, in der die Grenzen zwischen sozialer Wirklichkeit und ästhetischer Fiktion nur mehr schwer zu ziehen sind. In den Jahren von 2009 bis 2011 lebten ca. 400 gecastete Bewohner*innen und ihre internationalen Stargäste - von Marina Abramovic´ über Romeo Castelucci bis hin zu Peter Sellars - tatsächlich an diesem Set. So nahm das der Historie abgeschaute Institut die Form einer fiktionalisierten Gated Community an. In diesem Lebensraum, in dem zwar jeder und jede Mitspieler*in eine Rolle übernahm, für die es aber kein fixiertes Drehbuch gab, sondern einzig ein zu erfüllendes Rollenspektrum, war die Sowjetzeit der 1950er Jahre als Realität gesetzt. Dieses fingierte Zurückdrehen der Zeit zeigt sich nicht nur in Kleidung, Einrichtung und Requisiten, sondern auch in spezifischen Verhaltenskodizes und Sprechordnungen. So waren Begriffe, die in den 1950er Jahren noch nicht existierten, ebenso strikt verboten wie die dialogische Vorwegnahme von historischen Entwicklungen, von denen zu jener Zeit noch niemand wissen konnte. Festgehalten wurde das Leben auf Kamera. Allerdings handelte es sich nicht um Überwachungskameras im Stil von Big Brother, sondern um eine Handkamera. Der Kameramann Jürgen Jürges drehte, so die Fama, auf dem Gelände, was er sah, ohne Wiederholung einzelner Takes. 25 Herausgekommen sind neben einer Fülle an Ausschussmaterial dreizehn Kinofilme. Diese Kinofilme wurden eingefasst in ein überdimensionales Environment, das zugleich Film- und Theater-Installation war, sich diesen Zuschreibungen aber selbsterklärtermaßen entzieht und stattdessen für sich in Anspruch nimmt, ein in dieser Form noch nie dagewesenes immersives Gesamtkunstwerk zu sein. 26 Für die als immer noch andauerndes Experiment angekündigte Installation, 27 deren geplante Uraufführung im Herbst 2018 in Berlin gescheitert ist und letztlich in Paris zu Beginn des Jahres 2019 zustande kam, sollte die fiktive Welt des DAU-Instituts mit seiner Überwachungsstruktur spürbar gemacht werden. Als Besucher*in kaufte man dementsprechend keine gewöhnlichen Tickets, sondern ein Visum, für dessen Erhalt wiederum im Vorfeld intime Fragen zu Sexualität, aber auch zu politischen Einstellungen zu beantworten waren. Mit dem Visum erlangte man Zutritt zu den beiden Veranstaltungsorten, dem Théâtre du Châtelet und dem gegenüberliegen Théâtre de la Ville sowie zum Centre Pompidou. Zuvor hatte man Sicherheitskontrollen zu passieren und sein Handy abzugeben. Intendiert war ganz offensichtlich der Übergang in einen von der Außenwelt getrennten ‚ anderen Ort ‘ , in eine totalitäre Parallelwelt, in der eigene Gesetze gelten. 28 Die beiden Theaterhäuser wurden so gut wie vollständig bespielt, das Spektrum der über Screens angekündigten Programmpunkte reichte von philosophischen Talks und künstlerischen Darbietungen über schamanistische Rituale und One-to-ones, in denen man mit Psycholog*innen oder Seelsorger*innen sprechen konnte, bis hin zur Präsentation der DAU-Filme. Bevölkert wurden die beiden Theater außer von Besucher*innen von Wachpersonal und erschreckend lebensecht erscheinenden Puppen. Letztere waren Doubles der Hauptfiguren, die, gerade noch in den Filmen zu sehen, auf einmal in den Gängen standen oder an Tischen saßen, während man selbst russischen Wodka und russisches Essen aus der Dose konsumieren konnte. Man sollte ganz offensichtlich den Insassen des DAU- Instituts nachspüren und eintauchen in eine längst vergangene Sowjetzeit, die nunmehr wiederum vermittelt war durch die histori- 35 Lange weilen können. Maßlose Dauer und begrenzte Zeiterfahrung in einer Ästhetik des Durativen sierte Fiktion der filmischen DAU-Welt. Was sich an dieser fiktional historisierten Parallelwelt, deren installativen ‚ Abdruck ‘ ich als Besucherin über 24 Stunden in Paris erlebte, als Radikalisierung durativer Ästhetik zeigt, ist Folgendes: Die für die durative Ästhetik ohnehin signifikante Weigerung, eine vollständige Erfahrung der ‚ Situation ‘ zu ermöglichen, wird in der DAU-Installation noch einmal überboten, indem die Dokumente des Langzeitexperiments aus der Zeit von 2009 bis 2011, das ich selbst nicht erlebt habe, zur neuerlichen Kreation einer Parallelwelt montiert werden, in der ich als Besucherin wiederum die Erfahrung eines anderen Raumes und einer anderen Zeit machen soll, die mir selbstredend wieder nur ausschnitthaft gelingt. Mit Kafkas Hungerkünstler im Gepäck denke ich rückblickend zugleich an einen Käfig, in den ich selbst - auf den Spuren der DAU-Akteur*innen - freiwillig eintrete, so als müsste die Kunst drinnen im abgeschlossenen Raum doch vom Draußen ferngehalten werden; so als würde die dauernde Situation nur in klaustrophobischer Enge zu haben sein. Das DAU-Projekt stellt exemplarisch aus, in welch dialektischem Bezug die dauernden Formen der zeitgenössischen Ästhetik zum Werk- Konzept stehen: Das museal ausgestellte DAU-Projekt, das die Ausstellung der Hungerkünstler*innen in Erinnerung ruft, versteinert sich zum ‚ Werk ‘ , das die Dauer als das Erlebbare zunächst nur mehr im intradiegetischen Raum metaphorisiert. Die nicht enden wollende ästhetische Erfahrung des Durativen, die für sämtliche der besprochenen Beispiele konstitutiv ist, tritt dabei in dialektische Konkurrenz zur Ausdauer des Werkes als Vergegenständlichung von Erfahrung selbst, das stets wieder zu einem endlosen Spiel der ästhetischen Erfahrung antreibt. 29 Anmerkungen 1 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, Frankfurt a. M. 2007, S. 186. 2 Zum historischen Phänomen der Hungerkunst vgl. Peter Payer, Hungerkünstler. Eine verschwundene Attraktion, Wien 2002. 3 Vgl. Friedrich Wilhelm Nietzsche, „ Also sprach Zarathustra “ , in: Friedrich Wilhelm Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 4, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, S. 146 - 147. 4 Gottfried Fischborn, „ Hungerstreikende und Hungerkünstler als Akteure neuzeitlicher Theatralität “ , in: Gottfried Fischborn, Politische Kultur und Theatralität. Aufsätze, Essays, Publizistik, Frankfurt a. M. 2012, S. 45 - 56, hier S. 47. 5 Zum Phänomen des interpassiven Erlebens vgl. Robert Pfaller, Ästhetik der Interpassivi- Abb. 1: Erik Satie, Vexations, 1893. Auf das einfache Bassthema (unterste Notenzeile) folgt alternierend jeweils eine der zwei Variationen. 36 Johanna Zorn tät, Hamburg 2008. Robert Pfaller (Hg.), Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen, Wien 2000. 6 Vgl. Paul Allain und Jen Harvie, The Routledge Companion to Theatre and Performance, London 2006, S. 183; RoseLee Goldberg wiederum setzt den Begriff der „ endurance art “ mit dem in eins, was Kathy O'Dell als „ masochistic performance “ bezeichnet und in Zusammenhang mit den traumatischen Erfahrungen des Vietnam- Krieges bringt. Vgl. RoseLee Goldberg, Performance. Live Art since 1960, New York 1998, S. 99. 7 Franz Kafka, „ Ein Hungerkünstler “ , in: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt a. M. 1970, S. 163 - 171, hier S. 165. 8 Kafka, „ Hungerkünstler “ , S. 166. 9 Eine prominente kunstphilosophische Position, die ästhetische Erfahrung als Kollision von produktiven und rezeptiven Momenten beschreibt, findet sich in John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M. 1980. 10 Vgl. zur Protestform des Hungerstreiks Patrick Anderson, So much wasted. Hunger, Performance, and the Morbidity of Resistance, Durham 2010. 11 Philip Auslander, Liveness. Performance in a mediatized culture, London/ New York 1999, S. 5. 12 Zur virulenten Diskussion um das Zusammenspiel von Performance und deren medialer Inszenierung vgl. exemplarisch Amelia Jones, „‚ Presence ‘ in absentia. Experiencing Performance as Documentation “ , in: Art Journal 56 (1997), S. 11 - 18; Amelia Jones, Adrian Heathfield (Hg.), Perform, Repeat, Record. Bristol 2012; Burcu Dogramaci, Fotografie der Performance. Live Art im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit, München 2018. 13 Vgl. hierzu Adrian Heathfield und Tehching Hsieh, Out of now. The lifeworks of Tehching Hsieh, London 2009. 14 Marina Abramovic´, „ Man muss bereit sein, von der Erde zu fallen “ , in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 11. April 2014, https: / / szmagazin.sueddeutsche.de/ kunst/ man-mussbereit-sein-von-der-erde-zu-fallen-80350 [Zugriff am 17. 06. 2019]. 15 Selbstverständlich gilt auch hier, was u. a. Gilles Deleuze konstatiert, nämlich dass „ [d]ie exakteste, die strengste Wiederholung mit dem Maximum an Differenz “ korreliert. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 14. Zugleich allerdings speist sich aus den Möglichkeiten des Produzierens von Doppelungen, Kohärenz oder Wiederholungsschleifen eine Faszination für das potentiell unendliche Prozessgeschehen selbst. 16 Walter Benjamin, „ Der Erzähler (1936) “ , in: Walter Benjamin, Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, Frankfurt a. M. 2007, S. 103 - 128, hier S. 110 f. 17 Vom Aspekt der kompositorischen Gleichförmigkeit her erstaunt es nicht, dass das bis in die späten 1940er Jahre in Vergessenheit geratene Werk Saties eine besondere Faszination auf John Cage ausübte. Cage veranlasste im Jahr 1963 die erste Gesamtaufführung des Werks in New York. 18 Vgl. hierzu Gernot Böhmes Konzept der Atmosphäre, die er beschreibt als „ Sphären der Anwesenheit von etwas “ . Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995, S. 33. 19 Als kunstphilosophischen Beitrag zu einer in die „ Ästhetik der Installation “ mündende Geschichte der Entgrenzungstendenzen der avantgardistischen und neoavantgardistischen Strömungen vgl. Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt a. M. 2003. 20 Michael Fried, „ Kunst und Objekthaftigkeit “ , in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995, S. 334 - 374, hier S. 342. 21 Ein weiteres aktuelles künstlerisches Beispiel aus dem Bereich das Theaters, das den symbolischen Vollzug von Ganzheit über eine 24-stündige Dauer unternimmt und letztlich als Metonymie für das Leben selbst erscheint, liefert Jan Fabre mit seinem 2015 erstaufgeführten Mount Olympus. 22 Vgl. hierzu den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Kunstmuseum Wolfsburg von 29. Oktober 2017 bis 18. Februar 2018: Ralf Beil (Hg.), Never Ending Stories. Der 37 Lange weilen können. Maßlose Dauer und begrenzte Zeiterfahrung in einer Ästhetik des Durativen Loop in Kunst, Film, Architektur, Musik, Literatur und Kulturgeschichte, Berlin 2017. 23 Friedrich Wilhelm Nietzsche, „ Die fröhliche Wissenschaft “ , in: Friedrich Wilhelm Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 571. 24 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, 9 ff. 25 Informationen zu den Entstehungsbedingungen des Projekts sind ebenso rar wie widersprüchlich. Dies liegt einerseits daran, dass die Akteur*innen im Vorfeld einer Verschwiegenheit zustimmen mussten, andererseits darf die damit einhergehende Legendenbildung wohl als programmatische Intention verstanden werden. Vgl. hierzu Adam White, „ Apocalypse Dau: the most insane film shoot of all time, and why you may never get to see it “ https: / / www.tele graph.co.uk/ films/ 0/ mystery-dau-insane-ne ver-ending-russian-epic-might-stay-hidden/ [Zugriff am 17. 06. 2019]. 26 In seiner Besprechung der Premiere von DAU übernimmt Thomas Oberender diese Selbstdeklaration als immersives Kunstwerk. Vgl. Thomas Oberender, „ Das Werk als Passage. Über die Pariser Weltpremiere des Projekts DAU von Ilya Khrzhanovsky “ , in: Theater der Zeit 3 (2019), S. 24 - 28. 27 Im Trailer zu DAU ist die Rede von einem „ ongoing experiment “ . Vgl. den entsprechenden Link: https: / / www.youtube.com/ w atch? v=RdwEglW8EX8 [Zugriff am 17. 06. 2019]. 28 Dieser Einschluss in das Setting von DAU sollte intensiviert werden durch eine Brücke zwischen den beiden Theatern, die ihrerseits verhindern sollte, in den profanen Raum der Stadt eintreten zu müssen. Die Genehmigung dafür wurde allerdings nicht erteilt. 29 Von den endlosen ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten, die ein Kunstwerk ermöglicht, spricht die Philosophin Ruth Sonderegger. Vgl. Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels: Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt a. M. 2000. 38 Johanna Zorn