eJournals Forum Modernes Theater 31/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2020-0006
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2020
311-2 Balme

Artraud, Barthes und der Mythos der Kritik. Überlegungen zu den Bedingungen der Möglichkeit einer Verbindung von Theater und Kritik

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2020
Melanie Reichert
Die folgende Auseinandersetzung nimmt ihren Ausgang bei einer Problematisierung der Verknüpfung von Theater und Kritik und der Beschreibung ihres aporetischen Charakters, wie sie sich bereits in den 1950er-Jahren bei Roland Barthes findet. Damit werden Überlegungen zu den Bedingungen der Möglichkeit dieser Verknüpfung verbunden, und zwar in zweifacher Hinsicht: Welche kulturellen Bedürfnisse und Konstellationen drücken sich erstens in ihr aus, worauf reagiert sie? Zweitens soll, im Anschluss an die Theatertheorie Antonin Artauds, die zweifellos Einfluss auf Barthes hatte, nach den philosophischen Bedingungen, die tatsächlich ein Theater als Kritik ermöglichen würden, gefragt werden. Daran wird eine Auseinandersetzung mit der Frage geknüpft, ob diese Bedingungen nicht im systematischen Gegensatz zur derzeitigen Konjunktur der Verbindung von Kunst und Kritik zu sehen sind. Abschließend wird untersucht, welche Konsequenzen sich daraus für die Begriffe von Kunst und Kritik, aber auch von Politik sowie ihr Verhältnis zueinander ergeben.
fmth311-20065
Artaud, Barthes und der Mythos der Kritik. Überlegungen zu den Bedingungen der Möglichkeit einer Verbindung von Theater und Kritik Melanie Reichert (Kiel) Die folgende Auseinandersetzung nimmt ihren Ausgang bei einer Problematisierung der Verknüpfung von Theater und Kritik und der Beschreibung ihres aporetischen Charakters, wie sie sich bereits in den 1950er-Jahren bei Roland Barthes findet. Damit werden Überlegungen zu den Bedingungen der Möglichkeit dieser Verknüpfung verbunden, und zwar in zweifacher Hinsicht: Welche kulturellen Bedürfnisse und Konstellationen drücken sich erstens in ihr aus, worauf reagiert sie? Zweitens soll, im Anschluss an die Theatertheorie Antonin Artauds, die zweifellos Einfluss auf Barthes hatte, nach den philosophischen Bedingungen, die tatsächlich ein Theater als Kritik ermöglichen würden, gefragt werden. Daran wird eine Auseinandersetzung mit der Frage geknüpft, ob diese Bedingungen nicht im systematischen Gegensatz zur derzeitigen Konjunktur der Verbindung von Kunst und Kritik zu sehen sind. Abschließend wird untersucht, welche Konsequenzen sich daraus für die Begriffe von Kunst und Kritik, aber auch von Politik sowie ihr Verhältnis zueinander ergeben. Perspektiven der Kritikkritik Der Kunst kritisches Potential zuzusprechen, hat immer noch Konjunktur - auch nach der mächtigen Gegenrede von Luc Boltanski und Eve Chiapello, die die kapitalistische Assimilierung künstlerischer Lebensentwürfe aufgedeckt haben. 1 Die mittlerweile zur Selbstverständlichkeit gewordene Vorstellung von kritischer Kunst verbindet sich implizit mit einer transformativen Vorstellung von Performativität 2 , indem Kritik selbst als performativer Modus des Interventiven gedacht wird: Aus ihrem kritischen Potential, so scheint es, schöpft Kunst ihr Wirken, aus ästhetisch vermittelter, kritischer Betrachtung folgt kritische Praxis. 3 Es stellt sich die Frage, ob nicht nach der Distanzierung vom l ’ art pour l ’ art Anfang des 20. Jahrhunderts die Kunst damit zu jenem Paradigma der Nützlichkeit zurückkehrt, aus dem sie sich durch Zerschlagung ihrer sakralen Bindungen eigentlich gelöst hatte. Der Zusammenbruch der politischen Systeme und besonders die Erfahrungen der faschistischen Diktaturen werden diese Entwicklung entscheidend begünstigt haben - mussten doch sämtliche herkömmliche Formen des Kritischen, Politischen, Interventiven nunmehr als endgültig korrumpiert oder wirkungslos verstanden werden. Zugleich wurde die künstlerische Ausrichtung auf das Schöne, die Einfühlung, den ästhetischen Genuss angesichts der historischen Gräuel verunmöglicht. 4 Auch die sich seit dem 19. Jahrhundert auf dem Gebiet der Philosophie vollziehende Destabilisierung von Gewissheitsordnungen verstärkt die bereits von Schiller gehegte Hoffnung auf die kritische Relevanz des Ästhetischen. Die Kunst springt also zunächst - so ein erster ideengeschichtlicher Interpretationsvorstoß - ein, wo andere Ordnungen versagen. Aus einer solchen Beschreibung der historisch-systematischen Konstellationen heraus drängt sich die Frage nach der Autonomie und Spezifik künstlerischer Ausdrucksgestalten auf. So wäre, mit Adorno, Forum Modernes Theater, 31/ 1-2 (2020), 65 - 75. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2020-0006 nach ihrem Surplus zu fragen, auf Grund dessen ihnen auch angesichts des Versagens bestimmter kultureller Ordnungssysteme - wie Politik oder Wissenschaft - stets mehr als eine bloße Sublimierungsfunktion zukommt. Bereits Mitte der 1950er Jahre hat zudem Roland Barthes in seinen Schriften zum Theater einen Verdacht geäußert, der auch gegenwärtige Diskussionen um das kritische Potential von Kunst prägt. Die Schule machende Formzersetzung der Avantgarde nämlich beschreibt Barthes als kulturelle Immunisierungsstrategie: Man inokuliert der Tradition ein wenig Fortschritt, einen rein formalen übrigens, und schon ist die Tradition gegen den Fortschritt immun; einige Zeichen der Avantgarde reichen aus, um die wirkliche Avantgarde, die umfassende Revolution der Sprachen und Mythen, zu kastrieren. 5 Kritik, Subversivität, Widerständigkeit und weitere Attributionen des Interventiven laufen zudem - so würde ich Barthes ’ Punkt zuspitzen - stets Gefahr, als moderne Ablassformen die nach wie vor bestehende epistemische Ordnung distinguierten Kunstgenusses in moralischer Hinsicht zu nobilitieren. Aus diesen Linien der Problematisierung heraus werde ich im Folgenden zwei Fragestellungen verfolgen und schließlich verschränken: Bietet das Ästhetische künstlerischer Formungen und Prozesse spezifische Modi des Kritischen auch unabhängig von institutionellen Rahmungen? Stützen Behauptungen kritischer Potenz am Ende eben jene gesellschaftlichen Ordnungen, die sie vermeintlich in Frage stellen? Aporien des Kritischen Mit dem Nachwort seiner Mythen des Alltags 6 von 1957 liefert Roland Barthes nicht nur eine semiologische Analyse der Alltagskultur seiner Zeit, sondern auch eine Theorie der Kritik eben dieser Kultur. Mythen sind Aussagen, die verschleiern, dass Bedeutung immer kulturell geschaffen ist und nicht natürlicherweise an den bedeutenden Gegenständen abgelesen werden kann. Ihre Äußerung ist indes nicht ausschließlich prädikativ möglich, sondern ebenso ästhetisch, wie Barthes ’ vielfältige mythologische Miniaturen innerhalb der Textsammlung zeigen. Durch die mythische Naturalisierung des Kulturellen werden gesellschaftliche Machtkonstellationen zementiert, indem sie die „ Spuren [ihrer] Hervorbringung unter der Evidenz des Ewigen “ 7 verbergen. Daher haben sie den Charakter einer Fixierung und Inventarisierung. 8 Diese Fixierung basiert auf dem Modus der Verselbstverständlichung, der der mythischen Aussage eigen ist: Das Ewige versteht sich von selbst, instantan und unabhängig vom Standpunkt der Betrachtung oder der Rahmung seiner Manifestation. Die Rolle des Selbstverständlichen kennzeichnet dabei eine unüberwindbare Ambivalenz, da es innerkulturelle Orientierung allererst ermöglicht und gleichzeitig den Status quo wiederholend bestätigt. Es gibt nun für Barthes durchaus eine Möglichkeit der kritischen Intervention in die Verstellungen des Mythischen, nämlich die theoretische Arbeit der Mythologie. Diese charakterisiert Barthes folgendermaßen: [. . .] da sie für gewiß hält, daß der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft in jedem Augenblick in falsche Natur getaucht ist, versucht sie unter den Unschuldigkeiten noch des naivsten Zusammenlebens die tiefe Entfremdung aufzuspüren, die zusammen mit diesen Unschuldigkeiten hingenommen werden soll. 9 Die Mythologie ist dabei deshalb kritische Wissenschaft, weil sie das Selbstverständliche 66 Melanie Reichert entselbstverständlicht, indem sie ein Theater produziert. Hier wird der die Mythen analysierende Mythologe gleichsam zum Zuschauer, zum Ethnologen seiner eigenen Kultur. Im Modus der Theatralität laufen Episteme und Kritik zusammen, insofern Theatralität eine Kluft in das immersive, von Selbstverständlichkeit durchtränkte Alltagsgeschehen einzieht. Ich greife bei meiner Interpretation der Barthes ’ schen Figur des Mythologen an dieser Stelle auf den Begriff von Theatralität zurück, wie ihn Josette Féral und Ronald P. Bermingham fassen: It is an act initiated in one of two possible spaces: either that of the actor or that of the spectator. In both cases, this act creates a cleft in the quotidian that becomes the space of the other, the space in which the other has a place. Without such a cleft, the quotidian remains intact, precluding the possibility of theatricality, much less of theatre itself. 10 Die emersive Wahrnehmungsverschiebung der mythologischen Methode enthüllt bei genauerer Betrachtung die fundamentale Verbindung von Theater und Kritik als Zerschneiden (krinein), die ich im zweiten Abschnitt weiter spezifizieren werde: Theatralität zerschneidet, und zwar das Bündnis zwischen Individuum und Selbstverständlichem. Von dieser kritischen Eigenschaft des Theatralen kann das Theater Gebrauch machen, es kann ihre Wirkungen forcieren, es muss es aber nicht, wie es beispielsweise Bertolt Brechts Kritik an Phänomenen der Einfühlungsdramaturgie offen gelegt hat. Das Theater vermag also potentiell Kritik besonders auf epistemologischem Feld zu entfalten, indem es die bedeutungstheoretischen Konfigurationen des Kulturellen auf ästhetische Weise offenbart. Durch diese Wahrnehmungsverschiebung wird jedoch nicht nur das Selbstverständliche verunsichert, sondern auch die Figur des Mythologen selbst. Diese Verunsicherung geschieht auf zweifache Weise, wie ich nun zeigen möchte, sodass in dieser Figur bereits die beiden entscheidenden Aporien des Kritischen akut werden, die auch heutige Diskussionen um kritische Potentiale von Kunst und Wissenschaft strukturieren. Die erste Aporie ergibt sich aus der Verbindung der Vorstellung eines der Emersion erwachsenden kritischen Blicks mit der Vorstellung eines „ archimedischen “ 11 Punktes von Kritik, so Helmut Draxler. Dabei handelt es sich um ein strukturelles Problem behaupteter kritischer Potenz. Nach Barthes birgt jede Form von Kritik - ob politisch, künstlerisch oder philosophisch - das Risiko, zur Pose zu verkommen, da sie sich stets „ mühelos in den großen semiologischen Mythos des ‚ Versus ‘“ 12 einfügt. Überträgt man dieses strukturelle Problem auf Barthes selbst, so zeigt sich, dass der von ihm angesprochene „ Mythos des ‚ Versus ‘“ auf genau dieser fraglosen Annahme eines solchen „ Außen “ beruht, auf der Annahme eines Standpunktes außerhalb des kulturellen Bedeutungskosmos. Der „ Mythos des ‚ Versus ‘“ verschleiert das fundamentale Verstricktsein auch kritischer Formen in den Status quo. Diese Verstrickung resultiert aber nicht etwa aus moralischer Verworfenheit oder Bigotterie sich kritisch verstehender Individuen, sondern aus der epistemischen Konfiguration kultureller Formen und der daraus resultierenden je eigentümlichen Hermetik, welche die kritisch-interventiven Ansprüche beständig unterläuft. Diese Paradoxie erläutert Barthes am Beispiel des französischen Avantgardetheaters: Zum einen verwirft er [der Künstler] heftig die akademische Ästhetik der Klasse, aus der er selbst kommt, zum andern aber benötigt er diese Klasse, um sein Publikum zu machen; in einer bürgerlichen Gesellschaft zum Beispiel lehnt der Avantgardeschriftsteller die bürgerlichen Werte ab, aber diese Ableh- 67 Artaud, Barthes und der Mythos der Kritik nung, die er zum Schauspiel erhebt, kann letzten Endes nur von der Bourgeoisie konsumiert werden - die Avantgarde ist, mag der Schein auch trügen, eine Familienangelegenheit. 13 Wo Versus behauptet wird, kann es sich also stets nur um Cum handeln, da Kritik, um als solche verstanden zu werden, epistemischer Voraussetzungen bedarf. Diese gefährden allerdings die wirklichkeitsverändernde Kraft der Kritik erheblich, insofern sie dann nur als ein fundamental hermetisches Verfahren gedacht werden kann, also höchstens als Selbstkritik funktioniert. Die zweite Aporie kritischer Verfahren ergibt sich aus der Beschaffenheit des Kulturellen selbst, das ich im Anschluss an die Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts als Prozess menschlichen Hervorbringens, Zurechtmachens und Inventarisierens begreife. So gerinnen kritische Verfahren im Laufe ihrer Etablierung selbst zum Mythos und werden dergestalt Teil eines kulturellen Inventars. Dies führt dann dazu, dass das Kritische, wie z. B. der theatralen Avantgarde, anerkannt wird und so ihren Stachel verliert. Kritik wird zur „ Legende “ 14 , oder, mit Walter Benjamin, zum „ Genre “ als Inbegriff der Geschichtsvergessenheit. 15 Auch Barthes hat dieses Problem beschrieben, für ihn verkommt sie zu einem „ Korpus von Phrasen [. . .], einer katechetischen Aussage “ 16 , ich möchte zuspitzen: zur Selbstverständlichkeit. Wenn nun die kritische Kraft von Theater darin besteht, die Selbstverständlichkeiten des alltäglich Hingenommenen in Frage zu stellen, wirkt diese Kraft dann noch, wenn Modi des Kritischen selbst zur Selbstverständlichkeit geworden sind? Ich möchte nun beide Aporien zusammenführen. Kritik, die - mit Barthes gesprochen - zum Katechismus geworden ist, ist immer hermetisch, das heißt, von der Notwendigkeit einer Komplizen- und Kennerschaft geprägt. Diese hermetische Geschlossenheit steht dann allerdings im fundamentalen Gegensatz zur beanspruchten Wirksamkeit über das Feld der Kunst hinaus, sodass sich die Frage stellt, ob eine solche Paradoxie philosophisch aufgelöst werden kann, ob Behauptungen kritischer Potenz einzuschränken sind oder ob die kritische Wirksamkeit von Theater anders bestimmt werden könnte. Wider das Genre: Von Barthes zu Artaud Barthes selbst hat im Zuge der Studentenrevolte der 1960er Jahre erlebt, wie seine eigene mythologische Methode an den Universitäten mehr und mehr zum Katechismus wurde. Aus dieser Entwicklung folgt für ihn, so zeigen die Texte dieser Zeit, die Notwendigkeit einer Verlagerung der mythologischen Tätigkeit: „ Nicht mehr die Mythen gilt es zu demaskieren [. . .], sondern das Zeichen selbst gilt es ins Wanken zu bringen. “ 17 Im Anschluss an diese Einsicht wird Barthes sich in seinen Texten auf die Suche machen nach dem Auftauchen eines solchen Wankens, das er schließlich im Ästhetischen finden wird. In zahlreichen Essays und philosophischen Miniaturen wird er in den folgenden Jahren Phänomene des Wankens aufspüren - das Korn der Stimme, die Lust am Text, das Punctum der Fotografie, um nur die bekanntesten zu nennen. Im Begriff des Wankens liegt indes, dies ist für unseren Zusammenhang von besonderer Bedeutung, keine Zerstörung des Zeichens, keine Behauptung einer potentiellen Gegenkultur, die nach Abschaffung der Welt der Zeichen aufzubauen wäre - in einem Wort: kein Versus. Vielmehr deutet der Begriff auf die Vergegenwärtigung einer fundamentalen Ungewissheit, die dem vermeintlich Fixierten und Bekannten, dem Selbstverständlichen immanent ist. Ob das 68 Melanie Reichert Zeichen wirklich fällt, bleibt offen und ist nicht von Belang: Im Suspens liegt die besondere Herausforderung, die ich im Zusammenhang der Frage nach der kritischen Potenz von Theater fruchtbar machen möchte. Hierzu werde ich im Folgenden Barthes ’ Interesse an der Ästhetizität und Riskanz der Zeichen mit den Gedanken Antonin Artauds verbinden, über den er sich bewundernd geäußert hat, wenngleich er ihn selten zum Gegenstand dezidierter Auseinandersetzung gemacht hat. 18 Im Theaterkonzept Artauds ist, so meine These, eine am Suspens orientierte Neukonfiguration des Verhältnisses von Theater und Kritik angedeutet, die auch für das gegenwärtige Nachdenken über dieses Verhältnis fruchtbar ist. Die theatertheoretischen Schriften Artauds können so für eine philosophische Theorie der Kulturkritik von Bedeutung sein. Vor diesem Hintergrund zeigt sich nämlich, dass sein theatrales Ins-Wanken-Bringen der Zeichen als ästhetische Praxis „ postrestitutiver Kulturkritik “ 19 zu deuten ist, die Konersmann wie folgt bestimmt: Anders als die restitutive, auf eine überempirische Ordnung vertrauende Kulturkritik operiert die neue, die postrestitutive Kulturkritik immer nur aus dem Inneren der Kultur heraus. 20 Im Gegensatz zum Versus rechnet diese Form der Kulturkritik also mit der Immanenz des Kulturellen. Der Artaud ’ schen Konzeption erwachsen außerdem einige spezifische Tugenden, die für unseren Zusammenhang von Interesse sind. Diese mögen ihre Fruchtbarkeit gerade in einer Zeit entfalten, in der die kritisch-interventive Kraft der Kunst zwar immer stärker behauptet wird, ihre gesellschaftspolitische Potenz angesichts der zunehmenden Infragestellung humanitärer Werte aber zumindest reexaminiert werden sollte, worauf ich am Schluss zurückkommen werde. 21 Bereits 25 Jahre vor Barthes hat Artaud die eigentümliche Spannung, die das Verhältnis von Kultur und Kritik kennzeichnet, zur Grundlage seiner Theatertheorie gemacht, wie ich nun zeigen werde. In „ Das Theater und sein Double “ hat Artaud das Problem der Fixierung kultureller Formen in seine ästhetische Kulturkritik einbezogen, wenn er schreibt: Einer der Gründe für die erstickende Atmosphäre, in der wir leben, ohne mögliche Ausflucht und Zuflucht - und an dem wir alle unsern Teil Schuld haben, selbst die Revolutionärsten unter uns - , liegt in dem Respekt vor dem Geschriebenen, Formulierten oder Gemalten, vor dem, was Gestalt angenommen hat, als wenn schließlich nicht aller Ausdruck am Ende wäre, nicht an dem Punkt angelangt wäre, an dem die Dinge bersten müssen, wenn es einen neuen Aufbruch und einen neuen Anfang geben soll. 22 Diese Kritik verbindet Artaud mit einer Kritik begrifflicher Repräsentation: Das „ Besessensein vom einleuchtenden Wort [. . .] führt zum Verdorren der Wörter “ 23 . Der Fetisch des ewig Einleuchtenden, der Evidenz, des sicheren Bedeutens führt für ihn schließlich zum Verdorren des Denkens 24 . Der Unterdrückung durch fixierte Bedeutungen kann allerdings nicht diskursiv, sondern nur situativ, mit theatralen Mitteln begegnet werden. Diese Annahme Artauds basiert auf seiner Einsicht in die Ereignishaftigkeit körperlicher Repräsentation, wie sie im Theater erfahrbar wird und die sich den Wiederholungsschleifen des Selbstverständlichen entzieht: sehen wir ein, dass [. . .] jedes Wort tot ist, sobald es ausgesprochen ist, und nur in dem Augenblick wirkt, in dem es ausgesprochen wird, dass eine einmal verwendete Form zu nichts mehr nütze ist und nur dazu einlädt, nach einer anderen zu suchen, und dass das 69 Artaud, Barthes und der Mythos der Kritik Theater der einzige Ort auf der Welt ist, wo eine Gebärde unwiederholbar ist. 25 Dabei vertritt Artaud jedoch keinen radikalen Konstruktivismus, der kulturelle Bedeutungen als jederzeit und beliebig veränderbar auffasst. So betont er, „ dass bei der Bestimmung eines Gegenstandes, beim Sinn oder der Verwertbarkeit einer Naturform alles der Konvention unterworfen ist “ 26 . Dennoch können Bedeutungen aufgeweicht und ihre Prozessualität erfahren werden, und dies insbesondere durch die körperliche Dimension des Theaters. Damit soll das Theater zu einem Ort werden, der „ mit dem Werden versöhnt “ 27 . Es lassen sich bei Artaud zwei körperzentrierte Strategien identifizieren, mit denen dies erreicht werden soll. Die erste Strategie besteht in der Konstruktion einer neuen Körpersprache, die zweite im Auflösen von Wortbedeutungen durch die Stimme. Zunächst ist für Artaud die Entwicklung einer eigenen Theatersprache abseits des gesprochenen Dialogs nötig, die sich „ Zeichen, Gebärden und Haltungen, die einen ideographischen Wert besitzen [. . .] “ 28 ,bedient. Dazu gehören pantomimische Darstellungen genauso wie Versuche, über Lichteffekte, Raumtemperatur und Rhythmus die Körper der Zuschauenden zu infizieren. Die Diffusität einer solchen Sprache soll konventionalisierte Bedeutungen ins Wanken bringen. Die zweite Strategie nutzt zwar immer noch das gesprochene Wort, verschiebt aber den Fokus weg vom begrifflichen Verstehen hin zur körperlichen Wahrnehmung der Stimme. So Artaud: die Wörter brauchen nur, statt einzig und allein für das genommen zu werden, was sie, grammatisch gesehen, sagen wollen, unter ihrem klanglichen Gesichtspunkt verstanden [. . .] zu werden [. . .] und schon bildet die Sprache der Literatur sich neu und wird lebendig [. . .]. 29 Der Körper wird hier zu dem Medium, durch das sowohl die Arbitrarität von Bedeutung als auch er selbst als Bedeutungsträger erfahrbar wird. Der Körper ist also nicht als kulturunabhängig gedacht: Dennoch [d. h. trotz der Anarchie der Poesie] muss man zugeben, dass bei der Bestimmung eines Gegenstandes, beim Sinn oder der Verwertbarkeit einer Naturform alles der Konvention unterworfen ist. 30 Besonders in seinen späten Schriften wird diese Einsicht Artaud zur Akzentverschiebung und Radikalisierung seiner Theatertheorie treiben. 31 Artaud greift, in der Terminologie Barthes ’ , sowohl den Mythos der ewig feststehenden Bedeutung als auch den Mythos der begrifflichen Repräsentation an, der fraglos von deren Klarheit und Überzeitlichkeit ausgeht. Artaud setzt hier auf jene Effekte, die Barthes etwa mit der Körnung der Stimme beschreibt: Indem sie Materialität zum Ereignis werden lassen kann, vermag die Form körperlicher Repräsentation Signifikant und Signifikat zu entkoppeln. 32 Der Körper wird also nicht ausschließlich als ein lesbarer, als Bedeutungsträger, erfahren. Vielmehr ereignet sich in seinem Auffälligwerden die Offenbarung seines fundamentalen Entzogenseins: Körper und Bedeutung können niemals völlig zur Deckung gebracht werden - oder anders: Der Körper geht, bei aller kulturellen Determiniertheit, niemals völlig in dem auf, was er bedeutet. 33 Damit machen körperliche Repräsentationsformen die Diffusität dieser vermeintlichen Klarheit und Evidenz erfahrbar und offenbaren so die grundlegende hermeneutische Prekarität „ kultureller Tatsachen “ 34 . Artauds Kulturkritik mündet somit in eine kritische Praxis, die sowohl bezogen auf die Darstellenden als auch bezogen auf die Zuschauenden ästhetisch erfahrbar wird. Sein körperzentriertes Theater bringt Be- 70 Melanie Reichert deutung ins Wanken und belässt sie dort, im Ungewissen. Mit dem Theater als ästhetischer Praxis gerät so nicht zuletzt die Vorstellung künstlerischer Vermittlung unter Druck, die Annahme einer allzeit übersetzbaren, verlässlichen und störungsfreien Bezugnahme auf Bedeutungssysteme, und damit eben auch: das vermeintlich selbstverständlich Kritische im Sinne des Barthes ’ schen Versus. Damit sind also bereits bei Artaud einige Bedingungen der Möglichkeit wie auch die Aporien ästhetischer Kulturkritik vorgezeichnet, die Barthes in den 1960er- und 1970er Jahren bedeutungstheoretisch fundieren wird. Mit Artaud können wir dann auch Barthes ’ Problematisierung des kritischen Versus erweitern: Kritisches Theater ist nicht nur paradox, weil es innerhalb der epistemischen Hermetik einer bestimmten Form verbleibt, sondern auch als spezifisch ästhetische Ausdrucksform ist seine kritische Bezugnahme immer prekär - was nicht heißt, dass sie unmöglich ist. Was aber die Auseinandersetzung mit den bedeutungstheoretischen Implikationen der Artaud ’ schen Ästhetik zeigt, ist die Notwendigkeit einer selbstkritischen, sensiblen Bestandsaufnahme der besonderen - und eben nicht unendlichen - kritischen Potenz theatraler Repräsentation. Diese entfaltet das Theater tatsächlich, entsprechend der Artaud ’ schen Intuition - auf metaphysischem Feld, als Meditation über die Ungewissheit des vermeintlich Gewissen und Gewussten. Hierunter fallen dann auch die Rede von der kritischen Kunst, wo immer sie unhinterfragt erfolgt und zum identitätsstiftenden Genre gerinnt, und letztlich ebenso die weltanschaulichen Grundlagen der jeweils konkreten kritischen Positionierung. Dem Theater kritische Bedeutung und Potenz zuzuschreiben, ist selbst das Produkt eines kulturellen Prozesses; es wäre daher geboten, nach den Bedingungen dieses Prozesses zu fragen. Denn es ist durchaus möglich, dass die allzu vage Zuschreibung von kritischer Potenz Ausdruck eines Legitimationsbedürfnisses angesichts ökonomistischer Prekarisierung inkommensurabler kultureller Ausdrucksgestalten ist, welches - ob gewollt oder ungewollt - theatrale Repräsentationsformen in den Koordinaten einer Kosten-Nutzen-Rechnung organisiert. Prekarität des Kritischen Artauds Konzept konfrontiert mit der epistemisch-hermeneutischen Inkommensurabilität des Kulturellen, insofern das, was sich im Theater als ästhetischer Form ereignet, niemals vollständig in Verstehen überführt werden kann. Es bleibt immer ein Rest, mit dem sich nicht umgehen lässt, der sich nicht zur Identifikation, Orientierung oder kurz: Situationsbewältigung nutzbar machen lässt. Diese Inkommensurabilität zuzulassen, ohne in ein weltabgewandtes L ’ art-pour-l ’ art zu verfallen, ist eine der zentralen Herausforderungen, der sich Artaud mit seinem Entwurf zu stellen versucht. Über sein ideales Theater schreibt er, dass „ die Verärgerung darüber, dass man [. . .] es nicht richtig verstehen kann, [. . .] ein zusätzlicher Reiz “ ist. 35 Mit dem Motiv des reizvollen Nichtverstehens als Schwanken zwischen Lust und Unlust kündigt sich hier bereits eine Verknüpfung von Bedeutungsauflösung, Lust und Kritik an, die 1973 von Barthes in Die Lust am Text weiter konkretisiert, wenn auch nicht abschließend systematisch ausgearbeitet wird. Lustvolle Erfahrungen sind für Barthes Erfahrungen des „ Flackerns “ von Bedeutung, des „ fadings “ , des „ Auf- und Abblendens “ . 36 All dies sind Figurationen der Spannung, und ich möchte auch das bereits 71 Artaud, Barthes und der Mythos der Kritik erwähnte Wanken des Zeichens in dieser Reihe verorten. Das Wanken des Zeichens offenbart sich, so deutet es Barthes an, vor allem dort, wo der sprechende Körper in seiner Materialität wahrnehmbar wird. 37 Man muss dazu „ in ihrer Sinnlichkeit den Atem, die Rauheit, das Fleisch der Lippen, die ganze Präsenz des menschlichen Maules “ 38 hörbar machen, wie es im Gesang, im Radio und im Theater geschehen kann. An dieser Stelle bezieht Barthes sich direkt auf Artaud und seine Fokussierung des klanglichen Aspekts der Worte, die nicht nur sein Theater, sondern auch sein Schreiben durchzieht. Dann „ gelingt es, das Signifikat ganz weit weg zu rücken und den anonymen Körper des Schauspielers sozusagen in mein Ohr zu werfen “ 39 , so Barthes. Für Barthes ereignet sich in dieser Entselbstverständlichung, diesem Auffälligwerden der Materialität ein bestimmtes Verhältnis von Individuum und Kultur, nämlich das der Jouissance. In ihr laufen, so meine ich, Kritik und Episteme zusammen, insofern das Individuum sich hier für einen kurzen Moment aus den Verstrickungen der Unerschütterlichkeits- und Klarheitsbehauptung des Selbstverständlichen löst. Damit setzt es sowohl das Gewebe seiner Kultur, als auch seiner Subjektivität aufs Spiel, weil mit dem Selbstverständlichen eben nicht nur Unterdrückung, sondern auch Orientierung, Identifikation, Sicherheit und Handlungsbefähigung preisgegeben wird. Das Theater wird damit zu einem Ort, an dem der von Barthes behaupteten Notwendigkeit, „ Kritik und Lust nebeneinander bestehen zu lassen “ 40 Genüge getan wird. Mit Blick auf das Konzept Artauds liegt das kritische Potential des Theaters somit in einer körperlich-geistigen, genussvollen Konfrontation mit jener Ungewissheit, die der uneinholbaren Vorläufigkeit kultureller Formungen und Selbstverständlichkeiten erwächst. Damit deutet sich in den theatertheoretischen Schriften Artauds ein Kritikkonzept an, in dem Möglichkeiten zur Überwindung ihres Erstarrens zur Pose durch ästhetische Erfahrung vorgezeichnet sind. Kritik ist hier weder bloßes Versus, noch kann sie durch den ebenfalls allzu vagen Begriff der Reflexion erfasst werden. 41 Im Licht einer philosophischen Theorie der Bedeutungsgenese zeigt sie sich vielmehr als Genuss des Entzugs von Selbstverständlichkeit - die Höhe dieses Anspruchs ist kaum zu überschätzen. Wirklich stimmig wird sie aber nur dann, wenn sie sich im Zeichen dieses Genusses selbst ins Wanken bringt, als performative Selbstprekarisierung mit „ der Bereitschaft zur permanenten Revision der eigenen Grundlagen und Maßstäbe “ 42 . Hier entfaltet Artauds Konzept der Aufweichung erstarrter Formen dann - obgleich selbst durchaus hermetisch, diesen Umstand aber affirmierend - eine zweifache Brisanz für heutige Zuschreibungen kritischer Potenz. Wenn man dieses Konzept nämlich erstens mit der Transitivität kultureller Bedeutung konfrontiert, dann gilt diese Transitivität nicht zuletzt - wie oben bereits angedeutet - für die Zuschreibung einer kritischen Bedeutung von Theater. Dieses ist eben nicht selbstverständlich kritisch. Mit Artaud wäre die Forderung zu stellen, sich der aus solcher Selbstverständlichkeit erwachsenden Gefahr eines diskursverarmenden Kritikspezialistentums wie auch der Herausbildung oberflächlicher kritischer Routinen 43 bewusst und entschieden entgegenzustellen, wenn die Wirksamkeit von Kritik überhaupt ein erstrebenswertes Gut sein soll. 44 Zweitens offenbart eine Annäherung an das Spezifische theatraler Repräsentation die untilgbare Ungewissheit ihres Wirkens. Ob sie überhaupt Wirkung entfaltet, bleibt ebenso ungewiss wie die Frage nach dem Wie dieses Wirkens. So zeigt sich hier zugleich paradigmatisch die fundamentale 72 Melanie Reichert Ambiguität und Unberechenbarkeit kultureller Formen, die eben sowohl zur Stärkung wie zur Schwächung des Status quo beitragen können, ein inhumanes System angreifen oder stützen können. Aus diesen Überlegungen ergibt sich indes keine totale Absage an eine Verbindung von Theater und Kritik, wie oben gezeigt wurde. Artauds Theaterkonzept, das zugleich eine Metaphysik der Kultur enthält, gibt allerdings den Blick frei auf die Potentiale und Begrenzungen, die der Spezifik der Form erwachsen. Vor diesem Horizont zeichnen sich dann Konsequenzen für eine Haltung zum Interventiven ab, die aus der Achtung und Affirmation dieser Spezifik erwachsen kann. Die hier vorgenommene Bestimmung der prekären Wirksamkeit theatraler Kritik erlaubt nämlich schlussendlich auch ihre entschiedenere Abgrenzung vom Interventiven im Sinne des Politischen. Sich die Hermetik und Unberechenbarkeit des theatralen Geschehens einzugestehen und diese sogar als unersetzbare Erfahrung wertzuschätzen, ist eine Lehre aus Artauds Schriften, die politische Brisanz entwickeln kann, insofern sie mit der Einsicht verbunden wird, dass sich mit solcher Kritik eben keine Politik machen lässt. Denn indem mit Artaud die kritische Potenz theatraler Repräsentationsformen zwar näher bestimmt werden kann, die Abgrenzungsnotwendigkeit 45 von politischer Intervention aber dadurch auch umso deutlicher zutage tritt, öffnet sich hier ein Freiraum und vielleicht sogar ein Gebot, außerhalb des Theaters zur politischen Aktion zu finden. So kann der Blick auf Artaud auch der Gefahr entgegenwirken, sich in der Kunst zu verschanzen, im Theater etwas zu suchen, was dort so nicht gefunden werden kann und damit das politische Feld jenen zu überlassen, die es in ein real existierendes Theater der Grausamkeit zu verwandeln drohen. Anmerkungen 1 Vgl. Luc Boltanski und Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, aus dem Französischen von Michael Tillmann, Konstanz 2006. Außerdem Bojana Kunst, Artist at work. Proximity of art and capitalism, Winchester 2015. Zur Spannung zwischen Kritik-Hype und Kritik-Enttäuschung siehe Ines Kleesattel, „ Kunst und Kritik. Das Problem in Rancières politischer Kunsttheorie und eine Erinnerung an Adorno “ , in: Ines Kleesattel und Leonhard Emmerling (Hg.), Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken, Bielefeld 2016, S. 184. 2 Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 113 - 129. 3 Zur Charakterisierung von Performativität als wirklichkeitskonstituierend siehe Erika Fischer-Lichte, Performativität, S. 29. Zur Verschmelzung von Theorie, Kritik und Praxis siehe Helmut Draxler, „ Der Habitus des Kritischen. Über die Grenzen reflexiver Praxis “ , in: Transversal 03/ 2008. Abrufbar unter: http: / / eipcp.net/ transversal/ 0308/ drax ler/ de [Zugriff am 25. 07. 2018]. Außerdem Alexander Garcia Düttmann, „ Die teilnahmslose Kunst. Über politische Veränderung und die Unzulänglichkeit der Reflexion “ , in: Lettre International 110, Herbst 2015, S. 121 - 125. 4 Hierzu siehe etwa Theodor W. Adorno, „ Engagement “ , in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. II Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt a. M. 1996, S. 409 - 430. 5 Vgl. Roland Barthes, Ich habe das Theater immer sehr geliebt und dennoch gehe ich fast nie mehr hin. Schriften zum Theater, hg. von Jean-Loup Rivière, aus dem Französischen von Dieter Hornig. Berlin 2001, S. 122 - 125. 6 Roland Barthes, Mythen des Alltags, aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 2012, hier bes. S. 280 - 299 sowie S. 312 - 316. 7 Ebd., S. 146. 73 Artaud, Barthes und der Mythos der Kritik 8 Ebd., S. 146. 9 Ebd., S. 148. 10 Josette Féral und Ronald P. Bermingham, „ Theatricality. The specificity of theatrical language “ . In: Substance. Vol. 31, No. 2/ 3, Issue 98/ 99, S. 94 - 108. 11 Draxler, „ Der Habitus des Kritischen “ , S. 5 f. 12 Roland Barthes, Die Lust am Text. Frankfurt a. M. 2015, S. 81. 13 Barthes, Ich habe das Theater immer sehr geliebt, S. 254. 14 Roland Barthes, Mythen des Alltags, aus dem Französischen von Helmut Scheffel, Frankfurt a. M. 1964, S. 255. 15 Walter Benjamin (Rezension), „ Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten vom neunzehnten Jahrhundert “ , in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften III, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M. 1972, S. 575. 16 Roland Barthes, Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2006, S. 74. 17 Barthes, Das Rauschen der Sprache, S. 74. 18 Barthes bezeichnet Artaud etwa als einen „ großen Surrealisten “ (vgl. ders., Ich habe das Theater immer sehr geliebt, S. 256) oder sogar als „ heterologische[n] Gott “ (vgl. ders., Über mich selbst, aus dem Französischen von Jürgen Hoch, Berlin 2010, S. 185). Zur Rezeption Artauds durch Barthes vgl. auch Melanie Reichert, Der heterologische Gott. Roland Barthes über die Grenzen und Potentiale des Schreibens mit Artaud, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2017/ 1, S. 235 - 246. 19 Ralf Konersmann, Kulturkritik, Frankfurt a. M. 2008, S. 8. 20 Ebd., S. 105. 21 Zur politischen Deutung dieses Auseinanderdriftens von Anspruch und Wirklichkeit siehe Michael Hirsch, Logik der Unterscheidung. Zehn Thesen zu Kunst und Politik, Hamburg 2015. 22 Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, aus dem Französischen übersetzt von Gerd Henniger, ergänzt und mit einem Nachwort versehen von Bernd Mattheus, Berlin 2012, S. 97. 23 Ebd., S. 155. 24 Ebd., S. 154. 25 Ebd., S. 99 (Herv. M. R.). Gleichwohl existiert grundsätzlich, nach Dieter Mersch, durch Reproduktionstechniken die Möglichkeit einer ereignishaften „ paradoxalen Wiederholung “ , die „ keine Einschreibung und kein Gedächtnis erlaubt (. . .), wenn wir beispielsweise die Stimme eines längst Verstorbenen hören “ . Vgl. hierzu Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 120. 26 Artaud, Das Theater und sein Double, S. 55. 27 Ebd., S. 141. 28 Ebd., S. 50. 29 Ebd., S. 157. 30 Ebd., S. 55 (Herv. M. R.) 31 Hierzu siehe besonders Artrauds Letzte Schriften sowie Petra Maria Meyer, „ Encore - en corps - a corps “ , in: Forum Modernes Theater 1998/ 1, S. 18 - 41. 32 Zu diesem Phänomen siehe bes. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1990, S. 269 - 278.Vgl. außerdem Mersch, Was sich zeigt, bes. S. 55 - 65. 33 Hier folge ich Dieter Mersch: „ So wäre denn in die Semiotik des Körpers eine Duplizität einzutragen: Lesbarkeit eines kulturell überformten oder abgerichteten Ausdrucks, aber auch ein ausdrucksloses Enthüllen, das dem entspringt, was ihm als materielles Korrelat stets vorgängig bleibt. Zweifellos erscheint die »Sprache des Leibes« kulturell determiniert und kontextuell entschlüsselbar [. . .]. Dennoch bleibt sie an den Eigensinn der Leiblichkeit gekoppelt [. . .]. “ Dieses Enthüllen hat, so Mersch, den Charakter eines Ereignisses, ist also schwer zu kontrollieren. Vgl. Mersch, Was sich zeigt, S. 59 (Herv. i. O.). 34 Den Begriff der kulturellen Tatsache übernehme ich von Ralf Konersmann, der diese als „ Werk “ bestimmt beschreibt: „ Ein Werk ist [. . .] eine Realisierung, die von menschlicher Praxis zeugt. Das Werk verweist auf die Praxis, aus der es hervorgegangen ist, und dokumentiert zudem das Daß dieser Praxis im Horizont situativer Umstände. In 74 Melanie Reichert den Blick kommt damit der Kontextbezug, die Bedingungen der Genese und der Aktualität. Zugleich ist aber das Werk Resultat einer entschiedenen Ablösung, mit der es die Umstände seiner Entstehung immer schon hinter sich gelassen hat. “ Ralf Konersmann, Kulturelle Tatsachen, Frankfurt a. M. 2006, S. 61 (Herv. i. O.). 35 Artaud, Das Theater und sein Double, S. 74. 36 Barthes, Die Lust am Text, S. 14, sowie Ebd., S. 13: „ Weder die Kultur noch ihre Zerstörung sind erotisch; erst die Kluft zwischen beiden wird es. “ Außerdem Ebd., S. 17: „ die Unterbrechung ist erotisch [. . .]: die Haut, die zwischen zwei Kleidungsstücken glänzt [. . .]; das Glänzen selbst verführt, oder besser noch: die Inszenierung eines Auf- und Abblendens. “ Auch bei Artaud ist das Motiv des Auf- und Abblendens und die damit verbundene epistemische Unsicherheit immer wieder präsent, hierzu siehe etwa Artaud, Das Theater und sein Double, S. 42 - 61. 37 Barthes, Die Lust am Text, S. 97. 38 Ebd., S. 98 39 Ebd., S. 98. 40 Roland Barthes, Die Körnung der Stimme. Interviews 1962 - 1980, aus dem Französischen von Agnès Bucaille-Euler, Birgit Spielmann und Gerhard Mahlberg, Frankfurt a. M. 2002, S. 194. 41 Zur Problematisierung des Begriffs der Reflexion siehe Düttmann, Die teilnahmeslose Kunst. 42 Konersmann, Kulturkritik, S. 131. 43 Auf das Problem routinierten Kritikertums verweist Walter Benjamin in seinem Aufsatz „ Der Autor als Produzent “ , in: Gesammelte Schriften Bd. II.2 hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1997, S. 692. 44 Die hier problematisierten Phänomene sind, so möchte ich ausdrücklich festhalten, nicht allein Sache des Theaters oder der Kunst, sondern treten ebensowohl im Rahmen von Zuschreibungen kritischer Potenz auf dem philosophisch-wissenschaftlichen Feld auf. 45 Artaud selbst hat sein Theater explizit vom Interventiven im Sinne des Politischen unterschieden, worüber sich schließlich der Bruch mit der surrealistischen Gruppe um André Breton vollzog. Als Replik auf den Text „ Am hellichten Tag “ , in dem die Gruppe den Ausschluss Artauds und ihren eigenen Anschluss an die Kommunistische Partei Frankreichs verkündete, veröffentlicht Artaud 1927 ein wütendes Pamphlet mit dem Titel „ In tiefster Nacht oder Der surrealistische Bluff “ (Vgl. hierzu Antonin Artaud, Surrealistische Texte, Briefe hg. und übersetzt von Bernd Mattheus. München 1996, S. 147). Darin heißt es bezüglich der surrealistischen Vermischung von Kunst und Politik: „ [. . .] ist der Surrealismus nicht seit jenem Tage tot, da Breton und seine Adepten glaubten, sich dem Kommunismus anschließen zu müssen, und auf dem Gebiet der Tatsachen und der unmittelbaren Materie das Ergebnis eines Tuns zu suchen, das sich normalerweise nur im inneren Bereich des Hirns abspielen konnte. “ Vgl. Artaud, Surrealistische Texte, S. 75. 75 Artaud, Barthes und der Mythos der Kritik