Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2020-0009
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2020
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Balme„Brauchen Sie Kunst? Wenn ja: wozu?” Institutionskritik im Stadttheater der BRD nach 1968
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2020
Anna Volkland
Der Beitrag beschreibt das v.a. in der zeitgenössischen Kunsttheorie (rückblickend) reflektierte Phänomen ‚Institutionskritik’ als eine auf andere Felder übertragbare, kritische wie selbstkritische Haltung und Praxis, deren Intention die Hinterfragung und Transformation konventionalisierter Machtverhältnisse ist. Ausschnitthaft wird eine spezifische (historische) Möglichkeit eines institutionskritischen Modus im Stadttheater aufzeigt und knapp nach den jeweiligen zeitspezifischen Annahmen zur Motivation und Legitimation einer solchen kritischen Position der Theaterschaffenden gefragt. Als Besonderheit der Diskursformation um 1968 darf innerhalb der westdeutschen Stadttheaterlandschaft insbesondere die These gelten, dass es einen sichtbaren Zusammenhang zwischen Produktionsweise und ‚Produkt’., d.h. Inszenierung bzw. Aufführung gebe und folglich ‚Entfremdung’ und fehlende Mitbestimmung im Probenprozess sowie innerhalb der Institution Stadttheater zu überwinden seien. Es zeigt sich zudem, dass die Skizzierung dieser dispositivischen Zusammenhänge neue Forschungsfragen und -perspektiven für eine transdisziplinär und an gegenwärtigen Problemstellungen interessierte Theaterwissenschaft eröffnet.
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„ Brauchen Sie Kunst? Wenn ja: wozu? “ Institutionskritik im Stadttheater der BRD nach 1968 Anna Volkland (Berlin) Der Beitrag beschreibt das v. a. in der zeitgenössischen Kunsttheorie (rückblickend) reflektierte Phänomen ‚ Institutionkritik ‘ als eine auf andere Felder übertragbare, kritische wie selbstkritische Haltung und Praxis, deren Intention die Hinterfragung und Transformation konventionalisierter Machtverhältnisse ist. Ausschnitthaft wird eine spezifische (historische) Möglichkeit eines institutionskritischen Modus im Stadttheater aufgezeigt und knapp nach den jeweiligen zeitspezifischen Annahmen zur Motivation und Legitimation einer solchen kritischen Position der Theaterschaffenden gefragt. Als Besonderheit der Diskursformation um 1968 darf innerhalb der westdeutschen Stadttheaterlandschaft insbesondere die These gelten, dass es einen sichtbaren Zusammenhang zwischen Produktionsweise und ‚ Produkt ‘ , d. h. Inszenierung bzw. Aufführung gebe und folglich ‚ Entfremdung ‘ und fehlende Mitbestimmung im Probenprozess sowie innerhalb der Institution Stadttheater zu überwinden seien. Es zeigt sich zudem, dass die Skizzierung dieser dispositivischen Zusammenhänge neue Forschungsfragen und -perspektiven für eine transdisziplinär und an gegenwärtigen Problemstellungen interessierte Theaterwissenschaft eröffnet. Viele Bezüge zu uns finden wir im Tasso. Viele Fragen schließen sich an, z. B. die: Wozu braucht die Gesellschaft eigentlich Kunst? Nur als Schmuck vielleicht? Oder als sinnentleerte Erbauung? Nur als ein Instrument, die eigenen Emotionen zu ersetzen? Als ein Mittel, das Elend der Welt, die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme zu übertünchen? Ist Kunst letztlich nur ein Konsumgut wie so viele andere? Vieles von dieser Auseinandersetzung hätte ich gern dem Publikum vermittelt, aber es gibt nur wenige Szenen im Tasso, in denen sich etwas von meinen Problemen artikulieren kann; [. . .]. Die Frage ist, kann man dem Publikum überhaupt noch Inhalte, die uns betreffen, mit den Mitteln der Kunst vermitteln? Und mit welchen Mitteln? 1 Nach Interessen und Standpunkten fragen Eine kritische Praxis, die von einer beinahe paradoxen Innenposition ausgeht, indem sie mit Distanz auf die eigenen Verhältnisse blickt, beschreibe ich im Folgenden als Modus der Institutionskritik; die eigene Involviertheit, Betroffenheit und ‚ Erregung ‘ sind hier der Ausgangspunkt. Das eigene Betroffensein fällt dem Subjekt allerdings nicht einfach voraussetzungslos zu, die eigene Position innerhalb bestimmter Verhältnisse muss überhaupt erst erkannt, reflektiert und artikuliert werden können und wollen. „ What is to be done? “ , fragte 1970 der Filmemacher Jean-Luc Godard und erläuterte mit Bezug auf Karl Marx und Bertolt Brecht den Unterschied zwischen (einem bisherigen Verständnis nach) „ politischen Filmen “ und dem neuen Ziel: „ politisch Filme (zu) machen “ . 2 Tatsächlich verbanden sich in diesen späten 1960er und 1970er Jahren die Diskurse (und Forderungen) der politischen Linken mit Formen produktiver Kritik, d. h. durchaus praktischen Versuchen mit neuen Haltungen und Handlungsformen und der grundsätzlichen Einsicht in die Forum Modernes Theater, 31/ 1-2 (2020), 101 - 112. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2020-0009 Notwendigkeit des Engagements - innerhalb des künstlerischen wie intellektuellen Schaffens in verschiedenen Ländern. 3 Dabei wurde die Macht der bisherigen Institutionen durch Neugründungen ( „ Gegeninstitutionen “ ) 4 sowie Bekenntnisse zum „ langen Marsch “ 5 durch dieselben mit dem Ziel einer Umwandlung von innen zumindest öffentlich in Frage gestellt. Was heißt das für das heutige Theaterschaffen? Welche Spuren der damaligen Infragestellungen der Institutionen, ihrer Machtstrukturen und Funktionen sind heute zu finden? Und warum wird mit Blick auf ‚ das deutsche Stadttheater ‘ , um das es mir in diesem Beitrag geht, seit Jahrzehnten die Diagnose einer (allerdings je nach politischer Haltung sehr verschieden begründeten) Legitimationskrise gestellt, während nur sehr vereinzelt daran erinnert wird, dass viele heutige Fragen, Konflikte und Lösungsstrategien - zum Beispiel zur Frage einer demokratischen, gar ‚ herrschaftskritischen ‘ Konstitution eines Theaters - keineswegs neu sind? 6 Welche Ansätze zur Erschließung bzw. welche zu weiteren Auseinandersetzungen anregenden Darstellungen eines solchen ‚ vergessenen ‘ Wissens bietet die (deutschsprachige) Theaterwissenschaft? Zwar wurden eine Zeit lang jene Fragestellungen deutlich vernachlässigt, die Theater als gesellschaftliche Institution in den Blick nehmen würden. Mit der neueren Idee eines Theaters als Dispositiv bieten sich aber gerade hierzu produktive Ansätze. 7 Eben diese Perspektive aufgreifend möchte ich zuerst mit Blick auf eine historische Schauspielproduktion - Torquato Tasso, März 1969, Theater Bremen - den von mir vorgeschlagenen Dispositiv-Zusammenhang ‚ Die Theaterschaffenden und die Machtfrage ‘ in Ansätzen skizzieren. Dabei soll deutlich werden, dass die damaligen Auseinandersetzungen der Theaterschaffenden mit der ‚ ihnen Arbeit gebenden ‘ Institution Stadttheater fruchtbar als institutionskritisch zu beschreiben sind. 8 ‚ Institutionskritik ‘ im ‚ Stadttheater ‘ : Begriffe neu denken Der Begriff ‚ Institutionskritik ‘ mag vorrangig mit der Bildenden Kunst und zum Teil dem Autorenkino assoziiert sein. Der dahinter stehende, besonders in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren immer wieder formulierte Gedanke, die eigenen Produktionsverhältnisse seien immer Teil jener gesamtgesellschaftlichen (bzw. aus heutiger Sicht: auch globalen) Exklusion und Unfreiheit bedeutenden Verhältnisse, die nicht nur aufgezeigt, sondern auch verändert werden sollen, ist allerdings auch im Theater schon lange bekannt, nur anders benannt. Als Notwendigkeit, „ politisch Theater zu machen “ etwa wird das Godard-Zitat vor allem in der Gegenwart immer wieder paraphrasiert und durchaus auf die damalige Zeit rückbezogen. 9 Der Begriff ‚ Institutionskritik ‘ wird dabei i. a. R. nicht genutzt. (Ich komme hierauf zurück.) Ich verwende die Kurzform ‚ Stadttheater ‘ zunächst als Synonym eines überwiegend staatlich subventionierten, nicht gewinnorientierten Repertoirebetriebs mit überwiegend festangestelltem Schauspieler*innenensemble, der den von der Kulturpolitik in Auftrag gegebenen Anspruch zu vertreten hat, für eine möglichst breite Öffentlichkeit Inszenierungen, Diskussions- und Begegnungsräume vor allem innerhalb einer hierfür vorgesehenen festen Spielstätte zu bieten. 10 Gleichzeitig gestalten sich die jeweiligen ökonomischen, politischen, infrastrukturellen, juristischen und sonstigen Zustände wie Rahmenbedingungen an den konkreten Theaterhäusern allein schon innerhalb Deutschlands sehr unterschiedlich. 11 Es gibt dennoch, so meine These, zu bestimmten Zeiten die einander ähneln- 102 Anna Volkland den Selbsterzählungen der eigenen Geschichte, Aufgaben und Ziele: Wozu, für wen und wie Theater machen? In der Konsequenz müsste ‚ vom Stadttheater ‘ als konzeptuellem Modell gesprochen werden, das aber in seiner jeweiligen Interpretation und Ausführung an den einzelnen Häusern und über die Jahre weder ganz einheitlich noch zwingend unveränderbar ist. Zu beschreiben wäre also - so mein Vorschlag - die Performance der Institution Stadttheater als die immer wieder zu erneuernde Aufführung eines bestimmten Modells, dessen Selbstbeschreibungen, Funktionsbestimmungen und Legitimierungsstrategien sich in Abhängigkeit von den jeweiligen politischen, kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontexten aber auch immer wieder verändern. 12 Eine von der Performance der Institution ausgehende Perspektive lenkt den Blick - anders als die immer noch gebräuchliche, auf eine einseitig wirksame und machtvolle Struktur fokussierende Metapher des ‚ Apparats ‘ - darauf, dass es sich bei einer Institution, wie der Soziologe Robert Seyfert betont, um ein „ kunstvolles Gefüge bzw. Arrangement “ handelt, um eine „ Zusammensetzungen heterogener Elemente, die auf diese Weise vorher nicht da waren und deren Aufbau sowie Erhalt einer gewissen Anstrengung bedürfen “ . 13 Seyfert betrachtet Institutionen auch als ein Verhältnis sich wiederholender und zugleich variabler Elemente bzw. laminarer und turbulenter Strömungen - so wie auch jede Aufführung (Performance) mehr oder weniger auf die Reproduktion der verabredeten Elemente eines bestimmten Inszenierungskonzepts (inklusive der teils fest eingerichteten materiellen Bestandteile) abzielen kann, in jedem Fall aber den Möglichkeiten von intendierten wie zufälligen Störungen und Abweichungen ausgeliefert ist. 14 Diese Perspektive auf die Stadttheater als durchaus auch fragile, immer wieder einzurichtende Gefüge, die nicht allein aufgrund der Materialität ihrer Publikumssessel und Drehbühnenschrauben auf eine bestimmte Art funktionieren, betont besonders die individuellen wie kollektiven Handlungen und Spielräume der Akteur*innen. Zu ihnen zählen natürlich in besonders wirkmächtiger Weise Kulturpolitiker*innen und Interessensvertreter*innen, die nicht selbst innerhalb der Institutionen arbeiten, allerdings eben auch die dort künstlerisch Beschäftigten. Ein institutionskritischer Modus wäre jener, in dem eben diese Akteur*innen die Spielräume zu finden und zu nutzen versuchen, um die dominanten ‚ Strömungen ‘ öffentlich sichtbar zu machen und ‚ Turbulenzen ‘ zu erzeugen. Eine solche von Künstler*innen ausgehende (selbst-)kritische Praxis, zu der eigene Diskurse und Handlungsformen gehören, ist bisher als Phänomen innerhalb der gegenwärtigen Stadttheaterlandschaft nicht nur kaum untersucht, sondern auch bereits als Möglichkeit angezweifelt worden: ‚ Institutionskritik ‘ habe es hier nie gegeben, stattdessen sei es in den 1960er Jahren zu Neugründungen Freier Theater gekommen. 15 Dabei zu wenig beachtet wurden die ab spätestens 1968 in der BRD von den Theaterschaffenden selbst ausgehenden (und von Theatermedien wie etwa Theater heute engagiert unterstützten) Diskussionen: Etwa um das Berufsprofil der Schauspieler*innen als nicht mitdenken und -entscheiden sollende, lediglich ausführende Angestellte, um das als veraltet angesehene Intendantensystem oder um die Notwendigkeit, angesichts einer in Konflikte und Kriege verstrickten Welt, neue künstlerische wie auch aktionistische Formen zu finden. Es kam dabei zu einer Reihe von oft auch öffentlich diskutierten Versuchen mit neuen Mitbestimmungsmodellen - keineswegs nur in ‚ freien Gruppen ‘ , sondern an den größeren wie kleineren öffentlich finanzierten Theatern, 103 Institutionskritik im Stadttheater der BRD nach 1968 mit Kollektivregien, Ensembleprojekten und Stückentwicklungen, Publikumsgesprächen und anderen Formaten zur Aktivierung desselben, zu Diskussionen der eigenen gesellschaftlichen Relevanz und zu Projekten für (noch eher selten auch mit) Lehrlingen, Arbeiter*innen oder anderen ‚ Laien ‘ , häufig mit Bezug auf Brechts Lehrstücktheorien. 16 Der Versuch, sich dem ‚ Fall Tasso ‘ (Bremen, 1969) zu nähern Ich möchte mich dem Forschungsdesiderat einer jüngeren Geschichte ‚ des Stadttheaters ‘ und - so mein Vorschlag einer dynamischen, relationalen Perspektive - seiner selbstkritischen Transformationsversuche hier annähern, indem ich einen exemplarischen ‚ institutionskritischen Modus ‘ als ‚ Fall ‘ beschreibe: Ausgehend von v. a. textlichem Primärquellenmaterial rund um Peter Steins Inszenierung des Tasso-Textes von Johann Wolfgang von Goethe als ‚ gemeinsamem institutionskritischen Arbeits- und Erkenntnisprozess der Beteiligten sowie öffentlichem Aktions- und Diskurszusammenhang ‘ wären auch die verschiedenen Kontexte dieser Produktion - etwa institutionelle, personenbezogene, gesellschaftspolitische etc. - ausschnitthaft mit in den Blick zu nehmen. Es ergäbe sich ein komplexerer Problemzusammenhang, der die im Beispiel kristallisierten Interessenkonflikte, (selbst-)kritischen Reflektionen und Lösungsversuche der innerhalb eines Stadttheaters beschäftigten Künstler*innen, hier vor allem der Schauspieler*innen, rahmt als ein Ereignis innerhalb weiterer ‚ institutionskritischer ‘ Entwicklungen in der westdeutschen (Stadt-)Theaterlandschaft und Gesellschaft in den späten 1960er Jahren. 17 Methodisch ist diese Perspektive angelehnt an Gedanken zur Dispositivanalyse, wie sie für theaterwissenschaftliche Forschungszusammenhänge vergleichsweise neu sind und von Lorenz Aggermann wie folgt skizziert werden: Theater als Dispositiv zu betrachten, [sic] bedeutet, es in all seinen Dimensionen der institutionellen Verankerung und Arbeitsweisen, der Produktionswie der Rezeptionsverhältnisse, der gesellschaftlichen Diskurse und ihrer materiell-technischen Praktiken zu beschreiben [. . .]. Es heißt vor allem auch, das Theater in strategischer Beziehung zu einem künstlerischen und (oder) gesellschaftlichen Problem zu begreifen, und zu überlegen, wie sich die je spezifische Materialisation der theatralen Ordnung dazu verhält. Methodisch lässt sich [daraus] die Forderung ableiten, [. . .] an den Sollbruchstellen anzusetzen - den dysfunktionellen oder fiktiven Elementen - , in denen die bestehende Ordnung und die regulierende Vernetztung von Aktanten nicht mehr reibungslos funktioniert. 18 Der im Folgenden vorgestellte Fall beschreibt einen ab 1968 im westdeutschen Theater in verschiedener Form immer wieder auftauchenden Moment, in dem „ die bestehende Ordnung [. . .] nicht mehr reibungslos funktioniert “ und die dispositiven Anlagen als habitualisierte, gleichsam ‚ drückende ‘ Verhältnisse deutlich werden: Die bisher zum Sprechen jeglicher ihnen vorgelegter Texte verpflichteten Schauspieler*innen erkennen, so scheint es, ihre hinter der vermeintlichen Unkonventionalität und Kreativität ihres Berufs versteckte Unfreiheit und stellen, verkürzt formuliert, die Machtfrage. Das heißt, sie üben, mit Foucault gesprochen, „ die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden “ , also Kritik. 19 Das Zitat meines Beitragstitels - „ Brauchen Sie Kunst? Wenn ja: wozu? “ - gehört zu einer Reihe von „ Fragen an das Publikum “ , die das junge Produktionsteam der am Bremer Stadttheater entwickelten Inszenierung Torquato Tasso für eine selbst so benannte „ Pausenveranstaltung “ formulier- 104 Anna Volkland te. 20 Laut Darstellung des Regisseurs Peter Stein wurde die in keiner der heute zur Verfügung stehenden Videoaufzeichnungen dokumentierte Intervention in der Aufführungspause schon bald von der Theaterleitung zensiert. Sie sah etwa unter der (zumindest später im Regiebuch gesetzten) Überschrift „ Kennen Sie Ihre Bedürfnisse? “ einen selbstkritischen Produktionsbericht der fünf Schauspieler*innen vor - gerichtet an das noch im Saal befindliche Publikum. Zudem sollten die wie ein vierstrophiges ungereimtes Gedicht strukturierten „ Fragen “ vorgetragen werden, die auf die möglichst ehrliche, Konventionen nicht gelten lassende Selbstreflektion zu zielen scheinen und darum sicherlich auch Unsicherheit evozierten, möglicherweise auch Parteinahme (etwa: „ Vertritt das Theater Ihre Interessen? “ ): Was ist eine gute Aufführung? Was ist eine schlechte Aufführung? Wir wollen wissen: gut für wen? Schlecht für wen? [. . .] Wir haben das Bedürfnis, Theater zu spielen. Was für Bedürfnisse haben Sie? 21 Daran anschließen sollte sich - so jedenfalls die letztlich vermutlich nie realisierte Idee - eine offene Diskussion mit dem Publikum. 22 Anlass dieses Gesprächsbedürfnisses war eine den fünf beteiligten Schauspieler*innen Edith Clever, Bruno Ganz, Jutta Lampe, Werner Rehm und Wolfgang Schwarz zunehmend Unbehagen bereitende Erkenntnis, die ihr Regisseur angeregt hatte: die Parallelität zwischen der von ihnen dargestellten Lage des Hofdichters Tasso und ihrer eigenen Rolle als am Stadttheater ebenso abhängig beschäftigte und kaum freiere „ Emotionalclowns “ . 23 Die Bremer Analyse des Goethe ’ schen Dramas fokussierte auf den strukturellen Konflikt des selbst mittellosen Tasso mit seinem Herrn und Förderer, dem Herzog von Ferrara, der den Künstler für verschiedene Zwecke benötigte und diesem gewisse Freiheiten gewährte - ihm aber die Verfügungsgewalt über dessen eigenes dichterisches Werk und Leben verwehrte. Ein solcher Fokus auf die komplexen Machtbeziehungen und resultierenden Entfremdungsverhältnisse zwischen Mäzen und Kunstschaffendem war nie derart klar herausgearbeitet, die Frage nach dem Bezug zur eigenen gegenwärtigen Situation (am Theater) so scharf gestellt worden. Neue Perspektiven auf das scheinbar wohlbekannte Goethe-Drama zeigten sich - mit Konsequenzen v. a. für diejenigen, die damit im Spiel umgingen. Edith Clever beispielsweise - wie die Anderen vom Theaterkritiker Erich Emigholz fürs Programmheft befragt, ob das „ eigene kritische Bewusstsein “ durch die Arbeit am Tasso zugenommen habe - stellte fest: Die meisten Schauspieler [. . .] haben ständig Existenzangst. Sie müssen ankommen. Beim Publikum, beim Regisseur, beim Intendanten, bei Kollegen etc. - Will er [sic] eine Rolle nicht spielen, wird er bestenfalls mit dem Argument gezwungen, er solle fürs Haus denken wie ein Intendant. Zur Spielplanbesprechung wird er nicht hinzugezogen. Und selbst Kostüme werden aufgezwungen, wenn der Regisseur es für richtig hält. So träumt jeder Schauspieler davon, einmal Star zu werden, um mehr Rechte zu bekommen. Das heißt, er will Macht. 24 Durch die Tasso-Arbeit habe Clever begriffen, „ daß diese Zustände veränderbar sind, daß es nicht zwangsläufig so sein muß. “ 25 Gleichzeitig erlebt die Gruppe die kompromisslose Durchsetzung der Macht des Intendanten Kurt Hübner - v. a. angesichts der parallel geprobten, dann jedoch abgesetzten Kollektivregieproduktion Frauenvolksversammlung. 26 Dennoch zeigten sich die Schauspieler*innen und der Regisseur vor allem mit sich selbst unzufrieden: Mit 105 Institutionskritik im Stadttheater der BRD nach 1968 ihrer eigenen Arbeit waren sie vollständig im „ schönen “ Kunstrahmen verblieben und ihre eigene Kritik hatten sie als ‚ gut konsumierbare Abendunterhaltung ‘ serviert. „ Die schönen alten Mittel [der Inszenierung] haben Kritik so integriert, daß die Wirkungslosigkeit von Tasso etwa seinem Erfolg entspricht “ , kommentierte Bruno Ganz. Auch an der nicht gleichberechtigten Position der Schauspieler*innen im Produktionsprozess hatte die Gruppe im Wesentlichen nichts verändert. 27 „ Der Fragenkatalog [im Programmheft] könnte den Eindruck erwecken, der Bremer Tasso sei in einer Kollektivarbeit aller Beteiligten entstanden. Das ist nicht der Fall “ , korrigierte etwa Werner Rehm. Er betonte dennoch, die Arbeit am Tasso mit ihren „ winzige[n] Ansätze[n] zu einer kollektiven Arbeit “ auf den Proben sei für ihn „ die wichtigste bisher am Theater “ gewesen. 28 Es zeigt sich schon hier, dass Institutionskritik nicht als ‚ Korrektur ‘ , als Durchsetzung einer Problemlösung verstanden werden kann, dass es sich vielmehr um einen längerfristigen Prozess und eine Anstrengung handelt, die auf sich genommen wird, trotz der Aussicht zu scheitern. 29 Eine Dokumentation dessen samt ausführlicher, bemerkenswert weitsichtiger und reflektierter Stellungnahmen, besonders auch zur Frage nach der Wirksamkeit und tatsächlichen Funktion von Theater in seiner damaligen spezifischen Verfasstheit, erschien 1970 im Regiebuch zur Inszenierung, das die Hauptquelle zum sonst wenig beachteten bzw. nicht dokumentierten Ereignis der Tasso-Pausenveranstaltung darstellt. Das Regiebuch verschafft den Schauspieler*innen zudem eine sonst nie gegebene, souverän in Anspruch genommene Autor*innenposition, die die gängige Rezeption der Inszenierung als einer Aufsehen erregenden Klassiker(neu)inszenierung des sich etablierenden Regisseurs Peter Steins aus mehrfacher Sicht anders perspektivieren kann. Zeitlichkeit von Institutionskritik Kritik ist immer spezifisch, soll sie produktiv sein. Im Nachvollzug muss also ihr Kontext präzise beschrieben werden, auch ihr ‚ Anlass ‘ . 30 Wenn Foucault das Dispositiv benennt als eine „ Formation, deren Hauptfunktion zu einem historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand zu antworten “ , stellt sich nun u. a. die Frage, wie der 1968/ 69 empfundene bzw. geäußerte ‚ Notstand ‘ westdeutscher Schauspieler*innen begründet werden kann, während deren Arbeitsbedingungen und Rolle innerhalb des Stadttheaters sich zunächst gar nicht verändert zu haben scheinen. 31 An dieser Stelle kann ich weder auf die konkreten Verhältnisse eingehen noch die sich ähnelnden Aussagen der Schauspieler*innen bzw. Theaterschaffenden analysieren, sondern lediglich feststellen, dass sich hier eine Diskursformation herausbildete, in der sich fraglos die damals wichtigen Themen (Mitbestimmung, Mitverantwortung), das politische und gesellschaftliche ‚ Klima ‘ in der BRD kurz nach 1968 spiegelten. Auch wenn die Anlässe der Unzufriedenheit mit dem Theater im Theater lagen, sind die Gründe für deren Bewusstwerdung und die Ermutigung zur öffentlichen Artikulation vor allem ‚ außerhalb ‘ (etwa in gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozessen) zu suchen. 32 Dennoch ist die Idee, die gerade die bisher nie gefragten Schauspieler*innen ab 1968 ermutigte, aus ihrer - wie man meinen könnte, eigentlich wenig ‚ Überblick ‘ bietenden - Position als „ de[m] zentrale[n] Standort [. . .] innerhalb der Theaterproduktion “ Kritik am Stadttheater zu üben, nicht so verständlich, wie es scheinen mochte. Als etwa die beiden erst 22 bzw. 23 Jahre alten, am Theater Dortmund engagierten Schauspieler*innen Barbara Sichtermann und Jens Johler in Theater heute den dann viel kommentierten Essay „ Über den autoritären 106 Anna Volkland Geist des deutschen Theaters “ veröffentlichten, beendeten sie ihn u. a. mit der Forderung nach kollektiver Leitung, Mitbestimmung bei Spielplangestaltung, Ensemblezusammensetzung und Rollenbesetzung, kollektiver Regie und Einheitsverträgen sowie der Feststellung: „ Denn das Theater kann nur das nach außen hin zur Wirkung bringen, was seiner inneren Wirklichkeit entspricht. “ 33 Der wahrnehmbare Zusammenhang zwischen dieser „ inneren Wirklichkeit “ , also den Produktionsbedingungen und -weisen im Theater und der „ Wirkung nach außen “ , d. h. den Inszenierungen, die als Aufführungen dem Publikum begegneten und nach öffentlicher Diskussion forderten, galt als gegeben. Der Theaterkritiker Peter Iden bemerkte in seinem Portraitbuch zur Schaubühne am Halleschen Ufer (1970 - 1979) mit Blick auf das zu Beginn dort vereinbarte Ziel der Mitbestimmung aller Mitarbeiter*innen - „ in den künstlerischen Fragen vor allem die Schauspieler “ - zur „ damit verbundene[n] Hoffnung “ : Denn anders als im industriellen Fertigungsvorgang, in dem organisatorische Veränderungen weder den Entfremdungscharakter der Arbeit aufheben, noch unbedingt am Produkt erkennbar werden müssen, schließt jede Reorganisation der Theaterarbeit ebenfalls die Erwartung ein, es werde am Resultat wahrzunehmen sein, unter welchen Umständen es entstanden ist. (Diese andere Erwartung gründet auf der richtigen Vorstellung, Theaterspiel sei mit einem Begriff wie ‚ Entfremdung ‘ grundsätzlich nicht zusammenzubringen.) “ 34 Weder der Begriff der ‚ Entfremdung ‘ ist inzwischen noch üblich, noch ist die Erwartung selbstverständlich, „ es werde am Resultat wahrzunehmen sein, unter welchen Umständen es entstanden ist “ . Dahinter stehen wichtige diskursive Verschiebungen (etwa zum Verhältnis von Subjekt und Arbeit, aber auch von ‚ Wahrheit ‘ und ‚ Kunst ‘ ) wie auch reale Veränderungen der Arbeitsbedingungen, materiellen wie institutionellen Verhältnisse, die sowohl wesentlich flexibler als auch prekärer geworden sind. In der Konsequenz würde ich mit Blick auf die heutigen Verhältnisse und Konfliktlinien innerhalb der Stadttheater etwa nicht mehr das Dispositiv ‚ Die Theaterschaffenden und die Machtfrage ‘ zur Untersuchung vorschlagen (auch wenn es keinesfalls irrelevant geworden ist), sondern eher das Spannungsverhältnis der ‚ Theaterschaffenden zwischen Selbstfürsorge und Institutionsrettung ‘ , das allerdings völlig andere Formen eines institutionskritischen Modus ’ zu beschreiben hätte. Wo ist die Kunst? Perspektiven und Bewegungen Ich habe es bewusst vermieden, meinen Überlegungen eine Definition von ‚ Institutionskritik ‘ voranzustellen. Der längst selbst institutionalisierte und problematisierte Begriff wurde erst rückwirkend auf bestimmte künstlerische Ansätze der 1960er Jahre bezogen. Er meint keinen ästhetischen Regelkanon oder ein bestimmtes Genre, sondern umfasst eine Vielfalt von Positionen und Arbeiten, die kritisch ihre eigenen Produktions-, Präsentations- und Rezeptionsbedingungen reflektieren. 35 Ebenso wie die Künstlerin Andrea Fraser betrachte ich Institutionskritik als eine Praxis, die auf die Veränderung eben jener kritisierten institutionellen Strukturen abzielt. 36 Dabei ginge es nicht nur darum, so Fraser, die substanziellen, sichtbaren Manifestationen dieser Verhältnisse zu transformieren, sondern deren Struktur, insbesondere das Hierarchische in dieser Struktur und die Formen von Macht und Herrschaft, symbolischer und materieller Gewalt, die von diesen Hierarchien produziert werden. 37 107 Institutionskritik im Stadttheater der BRD nach 1968 Ein wichtiger Unterschied zwischen institutionskritischer Praxis und dem allgemeineren Begriff der politischen Kunst bestehe demnach auch darin, dass deren transformative Intentionen „ vor allem gegen jene Formen von Herrschaft gerichtet “ seien, „ die in ihrem direkten Betätigungsfeld wirksam sind “ . 38 Es geht, mit anderen Worten, um den jeweils aktuellen eigenen Ort, nicht etwa nur um die Fehler und Krisen anderswo. Beabsichtigt werde aber auch keine rein selbstreferentielle „ Kunst über Kunst “ , vielmehr wird das eigene Feld in seinen Analogien zu und Verflechtungen mit anderen gesellschaftlichen Feldern gesehen. 39 Eine Frage, die u. a. Stefan Nowotny stellt, erscheint mir absolut relevant, „ ob nämlich der Kritik, die sich in institutionskritischen Praxen manifestiert, nicht zu wenig zugetraut wird, wenn sie auf ihr Kunstsein festgeschrieben wird “ . 40 Die Frage nach der Zuschreibbarkeit eines „ institutionskritischen Modus “ innerhalb des Feldes Theater, ist keine einfache, dies allerdings auch grundsätzlich. Anstelle einer eindeutigen Einordnung unter das Label ‚ Institutionskritik ‘ kann es meiner Ansicht nach nur Vorschläge geben, die sorgfältig zu begründen sind. Mein Kriterium wäre hier nicht, ob Kritik etwa in Form einer ‚ ästhetischen Erfahrungen ‘ angeboten wird, sondern ob ein klarer Bezug auf die eigenen Verhältnisse (der Kunstproduktion) bzw. eine Intervention in diese erkennbar ist und die Absicht, Machtstrukturen und Glaubenssätze innerhalb dieser Verhältnisse zu verändern. 41 (Im Fall der Tasso- ‚ Pausenveranstaltung ‘ war dies der Fall, wenn auch eine grundlegende Umgestaltung der theaterinternen Machtverhältnisse erst kurz darauf an der Westberliner Schaubühne am Halleschen Ufer erprobt werden konnte.) Die Herausforderung im Feld des Theaters besteht - möglicherweise mehr noch als im Feld der Kunst - in der ‚ Neutralisierung ‘ jeglicher politischer Anliegen durch die ‚ Filter ‘ Spiel und Fiktion, d. h. in der Gefahr, dass Kritik eine reine Geste (für das Publikum) bleibt, die den Bühnen mit ihren emanzipatorischen Dramen der Aufklärung samt den bis in die Gegenwart reichenden Revolutionsrufen nur allzu vertraut ist. Eben dies reflektierten die Theaterschaffenden zu jener Zeit, in der sich auch das postdramatische Theater herausbildete, und in der - übrigens auch (und vielleicht besonders) im an Brecht interessierten Theater der DDR - das Verhältnis von Theater und Realität, von ‚ So-tun-als-ob ‘ und tatsächlichem Meinen auf dem Prüfstand zu stehen schien. 42 Dieses Spannungsfeld beschreibt ein ‚ Thema ‘ von Institutionskritik, das auch in der Bildenden Kunst u. a. von Fraser benannt wurde, aber vor allem im Theater immer wieder und verstärkt in der Gegenwart selbstkritische Fragen nach der ‚ eigentlichen Aufgabe ‘ der Institution aufwirft: Wie ‚ real ‘ darf das politische, soziale Engagement eines Stadttheaters, der Umgang mit Utopien sein? Oder: Wie glaubhaft ist es überhaupt? Und steht bzw. stünde es im Widerspruch zum (von wem gegebenen und definierten? ) ‚ Auftrag Kunst ‘ ? 43 Institutionskritik im Stadttheater produziert - dies wäre das Resümee der Ausführungen und sollte das Beispiel der Tasso- Selbstkritik zeigen - entlang der von den Akteur*innen einer bestimmten Zeit jeweils neu definierten ‚ Sollbruchstellen ‘ (der nicht mehr zu ignorierenden Konfliktlinien) öffentlich selbstreflexive Störungen des institutionellen Betriebsablaufs, zu dem auch das Publikum gehört. Dies sind Bewegungen, keine Werke. Anmerkungen 1 Der Schauspieler Werner Rehm antwortet auf die Fragen des Theaterkritikers Erich Emigholz zur Inszenierung von Torquato Tasso, Regie Peter Stein, Premiere am 30. 03. 108 Anna Volkland 1969 im Theater am Goetheplatz Bremen. Werner Rehm, „ 30 Fragen zum Bremer ‚ Tasso ‘ von Erich Emigholz “ , in: Volker Canaris (Hg.), Goethe u. a.: Torquato Tasso. Regiebuch der Bremer Inszenierung, Frankfurt a. M. 1970, S. 143. 2 Jean-Luc Godard, „ What is to be done? “ , übersetzt aus dem Französischen ins Englische von Mo Teitelbaum, in: Afterimage. The Journal of Media Arts and Cultural Criticism 1 (1970), keine Seitenangaben. Deutsche Übersetzung von mir. 3 Ich konzentriere mich in diesem Beitrag auf die Bundesrepublik Deutschland, dennoch ist ‚ 1968 ‘ kein rein ‚ westliches ‘ Phänomen, auch ‚ Institutionskritik ‘ nicht. 4 Zum Begriff der „ Gegeninstitutionen “ vgl. Claus Röger, „ Das Ende, das ein Anfang war. Geschichte einer Gegeninstitution “ , in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), „ 1968 “ - Eine Wahrnehmungsrevolution? Horizont-Verschiebungen des Politischen in den 1960er und 1970er Jahren, eBook, 2013, S. 87. 5 Zum „ langen Marsch “ s. Rudi Dutschke, Vorwort zu Ulrike Marie Meinhof, „ Briefe an Rudi D. “ , in: Ulrike Marie Meinhof, Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken, Berlin 1980/ 1992, S. 5. 6 Die Rede von der ‚ Krise des (Stadt-)Theaters ‘ lässt sich - mit sich teils wandelnden, teils gleich bleibenden Argumenten - allein mit Blick auf das 20. Jahrhundert bis in die 1950er Jahre zurückverfolgen. 7 Grundlegende Überlegungen zur Anwendung des ‚ Dispositiv ‘ -Begriffs in der Theaterwissenschaft wurden etwa im DFG-Projekt „ Theater als Dispositiv. Ästhetik, Praxis und Episteme der darstellenden Künste “ formuliert und erprobt. Vgl. Lorenz Aggermann, Georg Döcker und Gerald Siegmund (Hg.), Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in Ordnung der Aufführung, Frankfurt a. M. 2017. 8 Auch im Kunstfeld wurden bestimmte Praktiken erst nachträglich (um 1985) als „ Institutional Critique “ bezeichnet; siehe meine späteren Erläuterungen zur Begriffsgeschichte. 9 Vgl. Jan Deck und Angelika Sieburg (Hg.), Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld 2011. 10 Verschiedene Ansätze zur Beschreibung der Organisations- und Rechtsformen lassen sich in Kulturbzw. Theatermanagement- Handbüchern finden. Als am aktuell umfang- und sicher auch kenntnisreichsten kann gelten: Thomas Schmidt, Theater, Krise und Reform. Eine Kritik des deutschen Theatersystems, Heidelberg 2017. 11 Zum Problem fehlenden empirischen Materials zur Gesamtsituation der öffentlichen Theaterbetriebe und der starken Heterogenität der einzelnen Häuser trotz grundsätzlich vergleichbarer ‚ Grundstrukturen ‘ siehe Patrick S. Föhl, Kooperationen und Fusionen von öffentlichen Theatern. Theoretische Grundlagen, empirische Untersuchungen und Gestaltungsempfehlungen, Wiesbaden 2011, S. 103. 12 Mit dem hier in seinen Konnotationen schillernden Begriff ‚ Performance ‘ sind praktische Vollzüge gemeint, nicht nur Sprechhandlungen; linguistische, kultur- oder theaterwissenschaftliche Diskurse etwa zur Unterscheidung von ‚ Performativität ‘ und ‚ Performanz ‘ vertiefe ich an dieser Stelle bewusst nicht. 13 Robert Seyfert, Das Leben der Institutionen. Zu einer Allgemeinen Theorie der Institutionalisierung, Frankfurt a. M. 2011, S. 15. Die ‚ Apparat ‘ -Metapher wird bis heute für ein spezifisches Bild ‚ des Stadttheaters ‘ verwendet, das die Institution im Sinne Max Webers v. a. als „ stahlhartes Gehäuse “ beschreibt (Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1920), Tübingen 1988, S. 203; zitiert nach Seyfert 2011, S. 13). Bertolt Brecht und Walter Benjamin betonten dagegen bereits um 1930 in verschiedenen Texten die Notwendigkeit, den ‚ Produktionsapparat ‘ nicht zu beliefern, sondern zu verändern (siehe u. a. Walter Benjamin, „ Der Autor als Produzent “ , in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Aufsätze, Essays, Vorträge, Band II/ 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 697.). 14 Seyfert, Das Leben der Institutionen, S. 21. Zum Verhältnis von Aufführung und Inszenierung siehe etwa Erika Fischer-Lichte, Äs- 109 Institutionskritik im Stadttheater der BRD nach 1968 thetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 327 f. 15 Zum grundsätzlichen Zweifel vgl. etwa Esther Boldt, „ Verspielte Institutionen. Ein Vorwort von Esther Boldt “ , in: Melanie Mohren und Bernhard Herbordt (Hg.), Vorgestellte Institutionen / Performing Institutions, Berlin 2015, S. 7 f. Oder auch Henning Fülle, Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 - 2010), Berlin 2017. Daneben wurde natürlich die Selbstreflexivität verschiedener Theaterexperimente beschrieben, der analytische Bezugsrahmen hier blieb aber vorrangig die Aufführung, siehe etwa bei Nikolaus Müller-Schöll, „ Theater außer sich “ , in: Hajo Kurzenberger und Annemarie Matzke (Hg.): TheaterTheoriePraxis, Berlin 2004, S. 342 - 352. 16 Für das Genannte Referenzen zu nennen, ist hier kein Raum; die Autorin dieses Beitrags arbeitet in ihrer Promotion jedoch daran, eben diese Aspekte selbstkritischer Transformationsversuche in der jüngeren westwie auch ostdeutschen (Stadttheater-)Geschichte fundiert nachzuweisen und in ihrer Komplexität darzustellen. 17 Tatsächlich müssen weitere Beispiele und eine Darstellung der Kontexte hier aus Platzgründen entfallen. 18 Lorenz Aggermann, „ Die Ordnung der darstellenden Kunst und ihre Materialisation. Eine methodische Skizze zum Forschungsprojekt Theater als Dispositiv “ , in: Aggermann, Döcker, Siegmund (Hg.), Theater als Dispositiv, S. 22 f. 19 Michael Foucault, Was ist Kritik? , Berlin 1992, S. 11 f. 20 Vgl. “ Fragen an das Publikum “ , in: Volker Canaris (Hg.), Goethe u. a.: Torquato Tasso. Regiebuch der Bremer Inszenierung, Frankfurt a. M. 1970, S. 121 - 159. 21 Ebd., S. 126. Das hier benutzte „ wir “ meint vermutlich das gesamte Produktionsteam. 22 Siehe zum Vorwurf der Zensur durch die Theaterleitung Peter Steins Vorbemerkung zur „ Pausenveranstaltung “ im Regiebuch a. a. O., S. 121. 23 Der Ausdruck „ Emotionalclown “ meint zunächst Tasso. Im Bremer Programmhefttext „ Zum ‚ Tasso ‘“ ziehen Peter Stein und sein Co-Autor Yaak Karsunke jedoch auch die Parallele zur eigenen Theaterarbeit, in offensichtlich großer Identifikation mit der tatsächlichen praktischen Arbeit der Schauspieler*innen: „ Ähnliche Erwartungen wie die höfische Gesellschaft ihrem Dichter, bringt die bürgerliche Gesellschaft ihrem Theater entgegen. [. . .] Wir füllen die bereitgestellten Rollen aus und erfreuen mit kunstvollen Verrenkungen und Verkrampfungen den Blick der Mächtigen. “ (Canaris, Goethe u. a.: Torquato Tasso, S. 135). 24 Clever zitiert nach Erich Emigholz, „ 30 Fragen zum Bremer ‚ Tasso ‘“ , in: Canaris Goethe u. a.: Torquato Tasso, S. 150 f. Auch die anderen Schauspieler*innen, besonders Werner Rehm (vgl. S. 141 - 144), äußerten sich ausführlicher kritisch und selbstkritisch über die Beschneidung der eigenen Fähigkeiten und Wünsche als Schauspieler*in (etwa, in gesellschaftlichen und historischen, nicht nur privat-psychologischen Zusammenhängen zu denken). 25 Ebd., S. 151. 26 Vgl. ebd., u. a. S. 140 sowie Claus Bremer u. a., „ Probennotizen zur Bremer Arbeit an Aristophanes/ Bremer ‚ Frauenvolksversammlung ‘“ als Teil der „ Materialien zur Kollektivarbeit im Theater “ , in: Theater heute April (1969), S. 23 - 24. 27 Canaris, Goethe u. a.: Torquato Tasso, S. 155. 28 Ebd., S. 141 und S. 144. 29 Die Mitbestimmungsversuche an verschiedenen Theatern der BRD bspw. wurden spätestens um 1980 bzw. werden im medialen Diskurs sowie von früheren Protagonist*innen immer wieder als „ gescheitert “ bezeichnet; grundsätzlich wäre zu fragen, in welcher Form von „ Erfolg “ - in Bezug auf das Ziel der Transformation bestimmter Machtstrukturen etwa - gesprochen werden könnte. 30 „ Kritik ist immer die Kritik einer institutionalisierten Praxis, eines Diskurses, einer Episteme, einer Institution, und sie verliert ihren Charakter in dem Augenblick, in dem von dieser Tätigkeit abgesehen wird und sie nur noch als rein verallgemeinerbare Praxis dasteht. “ (Judith Butler, „ Was ist Kritik? Ein 110 Anna Volkland Essay über Foucaults Tugend “ , zuerst 2001, in: Rahel Jaeggi und Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? , 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2013, S. 221.) 31 Michael Foucault, Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 17; zitiert nach Aggermann Theater als Dispositiv, S. 119. Die Unschärfe zwischen ‚ Schauspieler*innen ‘ und ‚ Theaterschaffenden ‘ muss ich an dieser Stelle bestehen lassen. Tatsächlich wandelte sich die Rolle Ersterer u. a. durch das sich herausbildende (später) sog. ‚ Regietheater ‘ . 32 Vgl. hierzu u. a. Dorothea Kraus, „ Zwischen Selbst- und Mitbestimmung: Demokratisierungskonzepte im westdeutschen Theater der frühen siebziger Jahre “ , in: Ingrid Gilcher-Holtey, Dorothea Kraus und Franziska Schößler (Hg.), Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt a. M. 2006, S. 125 - 152. 33 Vgl. Johler und Sichtermann 1968 nach Henning Rischbieter, Theater im Umbruch. Eine Dokumentation aus ‚ Theater heute ‘ . Herausgegeben und eingeleitet von Henning Rischbieter, München 1970, S. 130 und S. 136 ff. Zur von Friedrich Nietzsche vertretenen Idee eines notwendigen „ Verlassens der Stadt “ , um einen Standpunkt der Neubewertung des Gewohnten einnehmen zu können, vgl. Martin Saar, „ Die Kunst, Abstand zu halten. Überlegungen zur Logik der Sozialkritik “ , in: Texte zur Kunst 70 (2008), S. 40 - 50. 34 Peter Iden, Die Schaubühne am Halleschen Ufer (1970 - 1979), München, Wien 1979, S. 31. 35 Vgl. zur Frage der unklaren Herkunft des Begriffs „ Institutional Critique “ u. a. Isabelle Graw, „ Jenseits der Institutionskritik. Ein Vortrag im Los Angeles County Museum of Art “ , in: Texte zur Kunst 59 (2005), S. 40 - 53, oder Andrea Fraser, „ From the Critique of Institutions to an Institution of Critique “ , in: Artforum International Magazine Vol. 44, Iss. 1, New York 2005, S. 278 - 285. 36 Andrea Fraser, „ Was ist Institutionskritik? “ , übers. v. André Rottmann, in: Isabelle Graw, Helmut Draxler und André Rottmann (Hg.), Erste Wahl. 20 Jahre „ Texte zur Kunst “ , 2. Dekade, Hamburg 2011, 73 f. 37 Ebd., 74 f. 38 Ebd., 75. 39 Ebd., 73 und 75. 40 Stefan Nowotny, „ Anti-Kanonisierung. Das differenzielle Wissen der Institutionskritik “ , in: Stefan Nowotny und Gerald Raunig, Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien 2008, S. 14. Vgl. auch Nowotny 2008, S. 11 zum paradoxen Widerspruch, eine institutionskritische (Kunst-) Praxis im Rahmen der eigenen (kunst)wissenschaftlichen institutionellen Praxis festschreiben, einordnen und bewerten, sprich kanonisieren zu wollen. Die Monographie Institutionskritik als Methode. Hegemonie und Kritik im künstlerischen Feld (2016) von Sønke Gau argumentiert ebenso: „ Institutionskritik als Methode beschränkt sich nicht mehr nur auf das künstlerische Feld, sondern greift auf andere gesellschaftliche Felder über, um so ein erweitertes Spektrum an Handlungsoptionen zu gewinnen. “ (Buchrückentext, Verlagsmeldung). 41 Wenn etwa Matthias Warstat in seinem Vortrag „ Wie man gegen sich selbst protestiert. Institutionelle Kritik im Theater “ im Rahmen der Berliner Ringvorlesung „ The Art of Protest “ (April 2015) definiert, unter „ institutioneller Kritik “ werde „ eine Kunstrichtung verstanden, die sich bemüht, die Reflexion über die institutionellen Bedingungen von Kunst zum integralen Bestandteil von ästhetischer Erfahrung zu machen “ , erscheint mir dies sehr eng gegriffen - zumal, wenn er nach dem „ Wert dieses Impulses für das Theater “ fragend anmerkt, „ dass diese Kritik nicht automatisch in Werke und Aufführungen einging; dass es im Theater nur wenige verstanden haben, eine Kritik an der Institution tatsächlich in der ästhetischen Erfahrung wirksam werden zu lassen. “ (S. 24 f des unveröffentlichten Vortragsmanuskripts.) 42 Der hier angesprochene Konflikt wird von Theaterschaffenden an vielen Stellen (und bis heute) reflektiert (für das in diesem Aufsatz nicht berücksichtigte Theater in der DDR vgl. etwa Petra Stuber, Spielräume 111 Institutionskritik im Stadttheater der BRD nach 1968 und Grenzen. Studien zum DDR-Theater, 1998, S. 225 ff). Präzise formuliert hat ihn Fraser: „ Das offensichtliche, hartnäckige und, wie es scheint, immer größer werdende ‚ Nicht-Zusammendenken ‘ (mis-alignment) zwischen den legitimierenden Diskursen [der Kunstinstitutionen, A. V.] - vor allem hinsichtlich ihrer kritischen Ansprüche - und den gesellschaftlichen Bedingungen der Kunst erschien mir als zutiefst und oft auf schmerzliche Weise widersprüchlich, wenn nicht gar unredlich. “ Nach Fraser: „ Über das die soziale Welt sprechen . . . “ , übers.: Karl Hoffmann, Vortrag gehalten auf dem Symposium „ Wo stehst du, Kollege? ", Berlin, HAU 1, Dezember 2010, in: Texte zur Kunst 81 (2011), S. 88. 43 Zu diesen Fragen ließen sich sehr viele (sowohl theoretische als auch künstlerische) Referenzen nennen. Einen interessanten (institutionskritischen) Diskussionsbeitrag mit Blick auf theatrale Aktionsformen bietet etwa Holger Kube Ventura, „ Gegen Kunsttheorie. Zur Frage nach dem politischen Charakter von Kunst “ , in: Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.), Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken, Bielefeld 2016, S. 199 - 210. 112 Anna Volkland