eJournals Forum Modernes Theater 31/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2020-0010
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2020
311-2 Balme

Theaterwissenschaft als ethopoietische ‚feedback-Schleife’. Überlegungen zu einer disziplinären ‚Sorge um sich’ anhand von Gasparo Angiolinis Marionettenballett

31
2020
Marcel Behn
Nicht das kritische Potenzial theatraler Prozesse und die Modi seiner Entfaltung, sondern das poietische Moment selbstkritisch verfahrender Theatergeschichtsschreibung steht im Fokus dieses Beitrags, der sich mit dem bislang kaum beachteten Marionettenballett (1762) des Ballettreformers Gasparo Angiolini befasst. Als paradigmatisches Beispiel für die weitläufige Indifferenz der Tanz- und Theaterwissenschaft gegenüber figurentheatralen Phänomenen gibt dieses Ballett Anlass zur Hinterfragung fachimmanenter Phänomenhierarchien und Exklusionsmechanismen. Der Beitrag erbringt zum einen den quellengestützten Nachweis, dass die musikhistoriografische Forschung zu Johann Adolf Hasses dramma per musica Il triofo di Clelia, in welches Angiolinis Marionettenballett inszenatorisch eingelassen war, betreffend Auswahl, Nachweis und Deutung des herangezogenen Quellenmaterials korrekturbedürftig ist. Zum anderen wird diese Praxis der quellengestützten Überprüfung historiografischer Narrative selbst zum Gegenstand methodologischer Reflexion, indem sie als eine fallibilistisch operierende Form theaterwissenschaftlicher Ethopoiesis, d.h. als Modus einer disziplinären ‚Sorge um sich’ theoretisiert wird.
fmth311-20113
Theaterwissenschaft als ethopoietische ‚ feedback-Schleife ‘ . Überlegungen zu einer disziplinären ‚ Sorge um sich ‘ anhand von Gasparo Angiolinis Marionettenballett 1 Marcel Behn (Bern) Nicht das kritische Potenzial theatraler Prozesse und die Modi seiner Entfaltung, sondern das poietische Moment selbstkritisch verfahrender Theatergeschichtsschreibung steht im Fokus dieses Beitrags, der sich mit dem bislang kaum beachteten Marionettenballett (1762) des Ballettreformers Gasparo Angiolini befasst. Als paradigmatisches Beispiel für die weitläufige Indifferenz der Tanz- und Theaterwissenschaft gegenüber figurentheatralen Phänomenen gibt dieses Ballett Anlass zur Hinterfragung fachimmanenter Phänomenhierarchien und Exklusionsmechanismen. Der Beitrag erbringt zum einen den quellengestützten Nachweis, dass die musikhistoriografische Forschung zu Johann Adolf Hasses dramma per musica Il trionfo di Clelia, in welches Angiolinis Marionettenballett inszenatorisch eingelassen war, betreffend Auswahl, Nachweis und Deutung des herangezogenen Quellenmaterials korrekturbedürftig ist. Zum anderen wird diese Praxis der quellengestützten Überprüfung historiografischer Narrative selbst zum Gegenstand methodologischer Reflexion, indem sie als eine fallibilistisch operierende Form theaterwissenschaftlicher Ethopoiesis, d. h. als Modus einer disziplinären ‚ Sorge um sich ‘ theoretisiert wird. 2 Gasparo Angiolinis Marionettenballett: Ein forschungsgeschichtlicher Überblick Ausgangspunkt meiner Recherche zum Marionettenballett bildete Sibylle Dahms ’ Erwähnung desselben in einem von ihr kompilierten und als „ Sonde für die Spurensuche “ 3 beschriebenen Titelkatalog des choreografischen Repertoires dreier Ballettreformer. Zum Œ uvre eines dieser Reformer, Gasparo Angiolini 4 , zählt Dahms ein Marionettenballett, für das sie Werknummer (35), Ort (Wien) und Jahresdatum (1762) der Uraufführung angibt. 5 Aus welcher Feder die musikalische Komposition stammt, zu der dieses Ballett aufgeführt wurde, geht aus dem Eintrag nicht hervor. Einen Quellennachweis oder sonstige Hinweise, die eine zielgerichtete Folgerecherche zu diesem Ballett ermöglichen würden, beinhaltet dieser umfassende Titelkatalog nicht. Erst die Lektüre eines 1923 veröffentlichten Aufsatzes des Musikhistorikers Robert Haas lieferte einen konkreten Ansatzpunkt für die weitere Suche nach Quellenmaterialien. Er schreibt: Zinzendorf erwähnt aus diesem Jahr [1762] auch ein Ballet ‚ Cleopatra ‘ , das Angiolini 1780 in Mailand wiederholte. Wir hören von ihm auch, daß in Hasses ‚ Clelia ‘ ein Marionettenballet eingefügt war, worin man die Armee Porsennas darstellte, die in der Ferne militärische Bewegungen machte. 6 Haas bezieht sich hier - ohne expliziten Quellennachweis - auf den Tagebucheintrag Karl Graf von Zinzendorfs vom 1. Mai 1762, der über eine am Schlosstheater Schönbrunn aufgeführte Vorstellung von Johann Adolf Hasses dramma per musica Il trionfo di Clelia 7 schreibt: „ L ’ Opera fut bien éxécuté, on y a mis du nouveau c.[ ’ est] a. d.[ire] que Forum Modernes Theater, 31/ 1-2 (2020), 113 - 122. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2020-0010 durant le premier ballet des marionettes representant l ’ armée de Porsenna faisaient dans le lointain des evolutions militaires. “ 8 Haas ’ Hinweis auf den Aufführungskontext von Gasparo Angiolinis Marionettenballett erweist sich für eine erste theaterhistorische Einordnung desselben durchaus als hilfreich. Denn unabhängig zunächst davon, dass es sich hierbei spezifisch um ein Marionettenballett handelt, ist festzuhalten, dass es der damaligen Aufführungspraxis durchaus (noch) entsprochen hat, dass dieses in ein dramma per musica eingefügt gewesen ist, entwickelte sich das Handlungsballett als Genre doch erst Mitte des 18. Jahrhunderts vom integralen Bestandteil musiktheatraler Aufführungen zur eigenständigen Kunstform. 9 Jedoch ist Haas ’ Hinweis vor allem deshalb interessant, weil er eine zielgerichtete Suche nach weiteren Primärquellen zum Marionettenballett im musikhistoriografischen Diskurs zu Il trionfo di Clelia nahelegt. Bei näherer Betrachtung jedoch erweist sich dieser Diskurs aufgrund der deutlichen Disparität, die zwischen einzelnen Forschungsarbeiten hinsichtlich Auswahl, Deutung und Nachweis des jeweils herangezogenen Quellenmaterials besteht, als korrekturbedürftig. So konstatiert zum Beispiel die Musikwissenschaftlerin Alina Ż órawska- Witkowska - ebenfalls ohne hierfür einen Quellenbeleg zu liefern - , Il trionfo di Clelia, uraufgeführt am 27. April 1762 am Burgtheater Wien, sei bis einschließlich 25. Juni 1762 noch neunmal in Wien aufgeführt worden. 10 Die Kongruenz ihrer Angabe mit derjenigen Gustav Zechmeisters, der sich auf die im ehemaligen Wiener Hofkammerarchiv aufbewahrten Theatralkassenrechnungen selbigen Jahres stützt, 11 lässt dabei zumindest vermuten, dass sie sich auf diesen beruft. Denn auch Zechmeister stellt fest: „ Die Oper in drei Akten wurde bis zum 25. Juni neunmal wiederholt. “ 12 Diesbezüglich zu erwähnen ist allerdings zum einen, dass Zechmeister sich nur auf die erste Quartalsrechnung der Theatralkassenrechnungen bezieht (bzw. überhaupt beziehen kann, da die zweite Quartalsrechnung nicht überliefert ist) 13 , die eben nur den Zeitraum vom 10. April bis 25. Juni 1762 umfasst. 14 Spätere Vorstellungen wären also aufgrund dieser zeitlichen Eingrenzung bei seiner Zählung unberücksichtigt geblieben. Eine Überprüfung der von Zechmeister herangezogenen Quartalsrechnung ergab jedoch zum anderen, dass die von ihm behauptete Aufführungsanzahl gar nicht anhand dieser Quelle ermittelbar ist, da diese zwar die Theatereinnahmen und -ausgaben des genannten Zeitraums erfasst, nicht aber zusätzlich die Aufführungsanzahl bestimmter Produktionen. Es bleibt also unklar, wie Zechmeister zu dieser Aussage gelangt. Hingegen gibt der Musikwissenschaftler Gerhard Croll mit einem zwar vorhandenen, für Fachfremde aber im Grunde völlig unspezifischen Verweis auf eine „ Statistik des Repertoire-Verzeichnisses “ an, Il trionfo di Clelia sei in seiner Wiener Fassung insgesamt 21-mal aufgeführt worden. 15 Mit „ Repertoire-Verzeichnis “ meint er dabei das von Philipp Gumpenhuber handschriftlich verfasste Repertoire de tous les Spectacles qui ont été donné au Theatre près de la Cour [. . .] depuis le 1. r Janvier jusqu ’ au 31 Dec 1762, wobei Gumpenhuber tatsächlich 21 Vorstellungen dieser Oper zählt. 16 Bezeichnend für die ungenaue musikhistoriografische Aufarbeitung von Il trionfo di Clelia ist auch folgender Zusammenhang. Der bereits erwähnte Robert Haas berichtet in seiner Monografie Gluck und Durazzo im Burgtheater vom Schauspieler und Dichter Louis Dancourt, der auf Anraten seines Freundes Charles Favart nach Wien übersiedelte und diesem in einem Brief seine ersten Eindrücke der ihm neuen Stadt schilderte. 17 Der Brief, auf den sich Haas dabei stützt, ist im Original in französischer Sprache verfasst und eindeutig auf den 25. April 114 Marcel Behn 1762 datiert, also zwei Tage vor der Uraufführung von Il trionfo di Clelia. 18 In diesem Brief, so Haas, schreibt Dancourt von einer „ Oper des berühmten Hasse “ 19 , die er gesehen habe. In einer Endnote vermerkt Haas diesbezüglich, Dancourt meine damit „ [w]ohl Metastasios trionfo di Clelia “ , wobei er hinzufügt: „ Dann wäre das Datum des Briefes der 28. April. Allerdings spricht Dancourt von einer Wiederholung. “ 20 Es entbehrt nicht der Komik, dass Haas Dancourt unterstellt, sich bei der Datierung seines eigenen Briefs um ganze drei Tage geirrt zu haben. Indes, dieser Irrtum gründet in einem Übersetzungsfehler, da Haas das französische Verb „ répéter “ 21 mit ‚ wiederholen ‘ statt mit ‚ proben ‘ wiedergibt. Dem Musikwissenschaftler Bruce Alan Brown unterläuft dieser Übersetzungsfehler zwar nicht, 22 dafür jedoch ein Unterlassungsfehler - den er wiederum mit Haas teilt. Ihre jeweilige Unterlassung besteht darin, den Inhalt des Briefs entweder nicht überprüft oder in Bezug auf diesen nicht deutlich gemacht zu haben, dass Dancourt darin dem Wortlaut nach gar nicht über Il trionfo di Clelia spricht. Sondern, Dancourt schreibt: „ [. . .] le célèbre Hazze a fait hier répéter un opéra de sa composition: c ’ est le Poème de famille de Mostalazio. “ 23 Theaterwissenschaft als ethopoietische ‚ feedback-Schleife ‘ Damit sind nun zwar einige Unstimmigkeiten im historiografischen Diskurs zu Johann Adolf Hasses dramma per musica Il trionfo di Clelia benannt, jedoch noch nichts Näheres über Gasparo Angiolinis Marionettenballett an sich gesagt worden - ein Umstand, der zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht zu beheben ist, da sich das ursprüngliche Interesse, in diesem Diskurs Hinweise auf weitere Primärquellen zum Marionettenballett zu finden, bislang nicht einlöste. Insofern ist auch die Bedeutung des betreffenden Tagebucheintrags Zinzendorfs als die einzige bislang bekannte historische Erwähnung dieses Balletts kaum zu überschätzen. 24 Weshalb aber ist dieses Ballett dann überhaupt von theaterbzw. tanzwissenschaftlichem Interesse? Und welchen nennenswerten Beitrag leistet eine so spitzfindige Auseinandersetzung mit der musikhistoriografischen Tradierung von Il trionfo di Clelia für die Tanz-bzw. Theaterwissenschaft? Das Marionettenballett ist, in konstativer Beantwortung der ersten Frage, als Gegenstand theaterbzw. tanzwissenschaftlicher Forschung von zweifacher Relevanz. Zum einen ist es von historischer Bedeutung, weil dessen weitere Erforschung erkenntnisreich wäre sowohl in Hinblick auf das Verhältnis zwischen den theoretisch formulierten Ansprüchen Angiolinis und den historisch bedingten Grenzen ihrer praktischen Umsetzung, 25 als auch hinsichtlich der Frage, ob es sich bei diesem Ballett um eine ästhetische Singularität 26 oder eben doch um ein generisches 27 Phänomen handelte. Und zum anderen ist das Marionettenballett von fachlicher Bedeutung, weil es ein paradigmatisches Beispiel für das Desiderat der noch unerforschten historischen Interferenzen zwischen Figurentheater und Tanz auf diskursiver und ästhetischer Ebene darstellt, 28 und damit zugleich synekdochisch für die weitläufige Indifferenz der Theater- und Tanzwissenschaft gegenüber figurentheatralen Phänomenen als eindeutig in deren disziplinären Zuständigkeitsbereich fallende Untersuchungsgegenstände steht. Angiolinis Marionettenballett ist also auch deshalb interessant, weil es zur Hinterfragung jener implizit operativen Phänomenhierarchien und Exklusionsmechanismen Anlass gibt, die die tanz- und theaterwissenschaftliche Forschung durchziehen. Die Beantwortung der zweiten Frage ist etwas längeren Umfangs und wird reflexiv über eine Methodendiskussion erläutert. 115 Theaterwissenschaft als ethopoietische ‚ feedback-Schleife ‘ Die in vorliegendem Aufsatz geleistete Überprüfung und - bei aller Wertschätzung der individuellen Forschungsarbeiten, auf die sich dieser Beitrag stützt - Korrektur der musikhistorischen Tradierung von Il trionfo di Clelia nach den derzeit bekannten Quellen steht unter dem Vorzeichen des Kritischen Rationalismus Karl Poppers. Popper identifiziert, in Auseinandersetzung mit der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen des Erkenntnisgewinns und der Wissensakkumulation, zwei Grundprobleme der Erkenntnistheorie: das Induktionsproblem und das Abgrenzungsproblem. 29 Zur Beseitigung ersteren Problems schlägt er die Methode der Irrtumseliminierung, zur Auflösung zweiteren Problems das Kriterium der empirischen Prüfbarkeit von Aussagen vor. 30 Aus diesen Überlegungen heraus beschreibt Popper, dessen erkenntnistheoretische Position als fallibilistisch bezeichnet wird, 31 die allen Wissenschaften gemeinsame Methode als grundsätzlich aus einem „ Wechselspiel von Hypothesenkonstruktion und kritischer Prüfung “ 32 bestehend, wobei aus diesem Spiel austritt, wer wissenschaftliche Aussagen als endgültig verifiziert und der weiteren Überprüfung für unnötig erachtet. 33 Die Entscheidung, an diesem Spiel teilzunehmen und die dafür erforderliche „ Bereitschaft zur bewußten, kritischen Irrtumseliminierung “ 34 aufzubringen, ist dabei letztlich eine Frage der moralischen Verantwortung. 35 Auf diesen Punkt wird noch zurückzukommen sein. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die fachimmanente Bedeutung kritisch (im Sinne des Kritischen Rationalismus) betriebener Theatergeschichtsschreibung langsam ab. Durch sie lassen sich vermeintlich gesicherte Faktenlagen und scheinbare historische Gewissheiten überprüfen sowie Fehltradierungen und Leerstellen in der theaterhistorischen Forschung identifizieren und korrigieren - und zwar stets in der Gewissheit, selbst einmal dieser fallibilistischen Bewegung zum Opfer zu fallen. Diese Bewegung als rein destruktiv zu betrachten, griffe jedoch zu kurz, denn sie ist immer auch ein potenziell poietischer Akt insofern, als sie zur Konstituierung neuer Forschungsgebiete und Untersuchungsgegenstände beitragen kann. Kritisch betriebener Theatergeschichtsschreibung ist gerade deshalb auch eine fachkritische Dimension inhärent, da sie das Selbstverständnis der Tanz- und Theaterwissenschaft, welche sich nicht nur, aber immer auch über ihre Untersuchungsgegenstände und tradierten Narrative definiert, zur Disposition stellt. Aus diesem Grund ist sie mehr als nur eine Form von Geschichtsschreibung. Sie ist vielmehr Modus - in methodologischem wie ontologischem Sinn - 36 einer disziplinären ‚ Sorge um sich ‘ 37 (nach Michel Foucault), und zwar dergestalt, dass eine kritisch eingestellte und verfahrende Theaterwissenschaft sich erkennend und damit potenziell transformierend zu sich selbst verhält. Um den genauen Mechanismus dieser disziplinären ‚ Sorge um sich ‘ näher zu erläutern, sei zunächst auf eine Gemeinsamkeit Poppers und Foucaults hingewiesen. Diese besteht in ihrer jeweiligen Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Wissen (Popper) bzw. Subjekt und Wahrheit (Foucault) als reziprokes. Popper geht von der Annahme einer produktiven, wechselseitigen Rückkopplung von Subjekt und Wissen aus, die - durch bewusste Selbstkritik verstärkt - das Subjekt zu ständiger Selbsttranszendenz befähige. 38 In dieser Theorie Poppers, derzufolge das Subjekt durch autogene Selbstkritik stets über sich selbst hinauswachsen könne, sieht Hans Albert deshalb auch den „ Entwurf einer Lebensweise “ 39 begründet. Als eine ebensolche Lebensweise betrachtet Foucault wiederum die unter der Formel epimeleia heautou ( „ Sorge um sich selbst “ ) subsumierten antiken Selbstpraktiken der Introspektion, 40 deren Spezifität - im Gegensatz zur Objekt- 116 Marcel Behn erkenntnis cartesianischen Gepräges, die auf der Annahme beruht, das vernunftbegabte Subjekt erkenne Wahrheit, ohne durch diese selbst verändert zu werden - in der Annahme eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses zwischen Seinsmodifikation und Wahrheitszugang besteht. 41 Popper und Foucault betonen also beide die auf bestimmten Selbstpraktiken - hier: die Praxis der kritischen (Selbst-)Prüfung - beruhende Gleichzeitigkeit von Wissens- (bzw. Wahrheits-) und Subjekttransformation. Dieses von Popper und Foucault identifizierte, reziproke Verhältnis zwischen Subjekt und Wissen (bzw. Wahrheit) stellt dabei ein durchaus geeignetes Modell zur näheren Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Tanzbzw. Theaterwissenschaft und ihrer Wissensbestände dar. Insofern es sich bei der fallibilistisch verfahrenden Theatergeschichtsschreibung um eine Form der selbstkritischen Überprüfung ihrer eigenen Erkenntnisse und damit um einen Modus der disziplinären ‚ Sorge um sich ‘ handelt, konstitutiert sich - so werde ich abschließend argumentieren - die Theaterwissenschaft in und durch diesen Modus als ethopoietische ‚ feedback-Schleife ‘ 42 . In seinem Aufsatz „ Ethopoiesis: Foucault ’ s Late Ethics and the Sublime Body “ demonstriert James Lee, wie Foucault in seinem Spätwerk - anders als in seinen am Wechselverhältnis von Wissen und Macht interessierten früheren Arbeiten - 43 den Prozess der Subjektbildung als einer ästhetischen Logik folgend theoretisiert, 44 der zufolge sich das Subjekt durch Schreiben selbst hervorbringt. Diesen über den Akt des Schreibens geschalteten Prozess der Subjektbildung belegt Foucault mit dem Begriff der Ethopoiesis, wobei der Austragungsort dieser Ethopoiesis der Körper ist. 45 Gemeint ist damit, dass vom Subjekt gelesene Texte von diesem zu eigen gemacht, ja buchstäblich einverleibt werden, indem sie sich über die für die Ethopoiesis konstitutiven Verfahren des Transkribierens und Neuschreibens in den Körper des schreibenden Subjekts einschreiben. 46 Das Subjekt tritt so schreibend in ein reflexives, objektivierendes Verhältnis zu sich selbst und unterwandert so die cartesianische Trennung zwischen Text und Subjekt. 47 Der Akt des reflexiven Schreibens erschöpft sich allerdings niemals in reiner Selbstreflexivität. Vielmehr setzt sich das Subjekt schreibend und als Schreibendes ins Verhältnis zu anderen. 48 Foucault geht dabei (am Beispiel des persönlichen Briefs als spezifisches Genre von Schrifterzeugnis) 49 davon aus, dass sich die physische Präsenz des Subjekts durch das Schreiben im Text rematerialisiert und so eine face-to-face Kommunikation mit der/ m/ n jeweils adressierten Anderen ermöglicht. 50 Dieses von James Lee herausgearbeitete Foucaultsche Verständnis schriftbasierter Kommunikation als ethopoietische ‚ feedback-Schleife ‘ , in der sich Subjekte durch die Inkorporation und Neuschreibung fremden Schriftguts schreibend in ein reflexives und zugleich transformatives Verhältnis zu sich selbst und Anderen setzen, weist eine frappierende Ähnlichkeit zu Erika Fischer- Lichtes Konzept der ‚ autopoietischen feedback-Schleife ‘ 51 als konstitutives Moment der Kommunikationssituation theatraler Aufführungen auf. Denn auch Fischer-Lichte geht davon aus, dass „ [d]as Wirken der autopoietischen feedback-Schleife [. . .] die Vorstellung vom autonomen Subjekt [negiert]. “ 52 Sie [die autopoietische feedback-Schleife] setzt den Künstler wie generell alle Beteiligten vielmehr als ein Subjekt voraus, das immer sowohl andere/ s bestimmt als auch sich von anderen/ m bestimmen läßt; sie widerspricht der Vorstellung von einem Subjekt, das kraft eigenen freien Willens souverän entscheidet, was es tun und was es lassen will, das sich unabhängig von anderen und von externen ‘ Handlungsanweisungen ’ frei entwerfen kann als derjenige, der es sein will. 117 Theaterwissenschaft als ethopoietische ‚ feedback-Schleife ‘ [. . .] Die wahrnehmbare Autopoiesis der feedback-Schleife [. . .] eröffnet allen Beteiligten die Möglichkeit, sich im Verlauf der Aufführung als ein Subjekt zu erfahren, das Handeln und Verhalten anderer mitzubestimmen vermag und dessen eigenes Handeln und Verhalten ebenso von anderen mitbestimmt wird, als ein Subjekt, das weder autonom noch fremdbestimmt ist und das Verantwortung auch für eine Situation trägt, die es nicht geschaffen hat, in die es jedoch hineingeraten ist. 53 Diese von Fischer-Lichte beschriebene Verflechtung von Subjektbildung und Verantwortung in der Kommunikationssituation der Aufführung ist für die als ethopoietische ‚ feedback-Schleife ‘ verstandene Kommunikationsituation der Theaterwissenschaft ebenso konstitutiv. Denn als Körperschaft bringt sich die Theaterwissenschaft schreibend selbst hervor, wobei diesen ethopoietischen Prozess aufrechtzuerhalten die Bereitschaft zu konsequenter kritischer (Selbst- )Prüfung und damit zur Annahme moralischer Verantwortung nicht nur für das eigene Schreiben, sondern auch für das Schriftgebäude, das die Theaterwissenschaft gesamthaft konstituiert und auf welches im eigenen Schreiben fortwährend Bezug genommen wird, voraussetzt. Nur in der ständigen Aneignung, Überprüfung, Reiteration und - wo nötig - Modifikation bisheriger Forschungsergebnisse im Modus kritischer Geschichtsschreibung, wie sie hier am Beispiel eines scheinbar belanglosen Marionettenballetts demonstriert wurde, kann die Theaterwissenschaft eine Arbeit an sich selbst vollziehen. Anmerkungen 1 Ich danke Irene Brandenburg für ihre wertvollen Quellenhinweise sowie für ihre Durchsicht einer früheren Version dieses Beitrags. 2 Die Auseinandersetzung mit diesem Ballett erfolgt im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Forschungsprojekts Offene Manipulation. Figurentheater als Movens spartenübergreifender Theater-, Tanz- und Musiktheaterforschung am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern (Laufzeit: 01. 10. 2016 bis 30. 09. 2019; Leitung: Beate Hochholdinger- Reiterer, Christina Thurner, Andi Schoon). Ziel dieses Projekts ist es unter anderem, figurentheatrale Phänomene als Untersuchungsgegenstände der Theaterwissenschaft aufzuwerten. 3 Sibylle Dahms, „ Das Repertoire des ‚ Ballet en action ‘ . Noverre - Angiolini - Lauchery “ , in: Wolfgang Gratzer und Andrea Lindmayr (Hg.), De Editione Musices. Festschrift Gerhard Croll zum 65. Geburtstag, Laaber 1992, S. 125 - 142; hier S. 127. 4 Gasparo Angiolini, mit bürgerlichem Namen Domenico Maria Angiolo Gasparini (*09. 02. 1731 Florenz, † 16. 02. 1803 Mailand), war Tänzer, Choreograf, Komponist, Tanztheoretiker und - neben Jean Georges Noverre - der wichtigste Vertreter der sogenannten Ballettreform des 18. Jahrhunderts. Vgl. Irene Brandenburg, „ Angiolini, Gasparo “ , in: Annette Hartmann und Monika Woitas (Hg.), Das große Tanzlexikon. Tanzkulturen - Epochen - Personen - Werke, Laaber 2016, S. 20. 5 Vgl. Dahms, „ Das Repertoire des ‚ Ballet en action ‘“ , S. 137. 6 Robert Haas, „ Die Wiener Ballet-Pantomime im 18. Jahrhundert und Glucks Don Juan “ , in: Studien zur Musikwissenschaft 10 (1923), S. 6 - 36; hier S. 26. 7 Über Entstehung und Handlung von Il trionfo di Clelia sagt Klaus Hortschansky: „ Anfang 1762 erhielt Metastasio von Kaiserin Maria Theresia den Auftrag, zur bevorstehenden Entbindung der Erzherzogin Isabella von Parma, der Gemahlin des nachmaligen Kaisers Joseph II., ein Dramma per musica zu schreiben, [. . .]. Mit der Wahl des Stoffs sollte eine Frau verherrlicht werden, der nach Metastasios [. . .] Worten ‘ die Bewunderung und die Liebe der Götter und Sterblichen dieser Gegend ’ zuteil geworden 118 Marcel Behn ist. Gleichzeitig thematisiert die Auseinandersetzung zwischen dem etruskischen König Porsenna und Rom die hinter der Heirat Parma/ Wien zwischen den Habsburgern und den spanischen Bourbonen stehende politische Frage um die Einflußbereiche in Italien und vielleicht auch die vergebliche Belagerung der von Reichstruppen und Österreichern verteidigten Stadt Dresden durch König Friedrich II. von Preußen im Sommer 1760. Der Stoff geht dabei auf die [. . .] Legende von der tapferen Verteidigung der Tiberbrücke durch Horatius Cocles und der mutigen Flucht Cloelias aus der Geiselhaft Porsennas zurück. “ Klaus Hortschansky, „ Il trionfo di Clelia “ , in: Karl Dahlhaus (Hg.), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 2, München 1987, S. 721 - 723, hier S. 721 f. 8 Die Tagebücher Zinzendorfs - aus konservatorischen Gründen nur noch als Digitalisate einsehbar - liegen im Österreichischen Staatsarchiv, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Signatur: AT-OeStA/ HHStA KA Nachlass Zinzendorf Tagebücher. Dem Verfasser liegt eine Kopie des betreffenden Eintrags vor. Ich danke Melanie Sampayo Vidal vom Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern für Ihre Hilfe bei der Entzifferung und Übersetzung dieser von heutiger Orthografie abweichenden, handschriftlich verfassten und darum teils schwer lesbaren Passage. 9 Vgl. Dahms, „ Das Repertoire des ‚ Ballet en action ‘“ , S. 125. Vgl. auch: Gerhard Croll, „ Bemerkungen zum Verhältnis von Opera seria und Ballett im 18. Jahrhundert “ , in: Irene Brandenburg und Elisabeth Richter (Hg.), Gerhard Croll. Gluck-Schriften. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge 1967 - 2002, Gluck-Studien, Bd. 4, Kassel 2003, S. 89 - 96. 10 „ L ’ opera ebbe ancora 9 repliche (fino al 25 VI 1762), [. . .]. “ Alina Ż órawska-Witkowska, „ Il Trionfo di Clelia di Johann Adolf Hasse: versione varsaviana “ , in: Alina Ż órawska- Witkowska und Szymon Paczkowski (Hg.): Johann Adolf Hasse in seiner Epoche und in der Gegenwart. Studien zur Stil- und Quellenproblematik. Studia et Dissertationes Instituti Musicologiae Universitatis Varsoviensis, Seria B, Bd. 12, Warschau 2002, S. 83 - 98; hier S. 86. 11 Heute im Österreichischen Staatsarchiv, Abt. Allg. Verwaltungs-, Finanz- und Hofkammerarchiv aufbewahrt, Signatur: AT-OeStA/ FHKA SUS HZAB 365. 12 Gustav Zechmeister, Die Wiener Theater nächst der Burg und nächst dem Kärntnerthor von 1747 bis 1776. Theatergeschichte Österreichs, Bd. 3, Heft 2, Wien 1971, S. 245. 13 Auf Anfrage teilte mir das Österreichische Staatsarchiv, Abt. Allg. Verwaltungs-, Finanz- und Hofkammerarchiv, in einem Schreiben vom 14. 02. 2017 mit, „ dass der genaue Grund für die Lücke in den Theatralkassenrechnungen für den Zeitraum vom 26. Juni 1762 bis einschließlich 24. September 1762 nicht bekannt ist. Es kann sich dabei aber durchaus um Überlieferungsverluste handen, wie sie leider mehrmals in dieser Reihe vorkommen. “ 14 Die erste Quartalsrechnung liegt dem Autor gesamthaft in Kopie vor. 15 Vgl. Gerhard Croll, „ Gluck in Wien - 1762. Zwischen ‚ Don Juan ‘ und ‚ Orfeo ed Euridice ‘“ , in: Irene Brandenburg und Elisabeth Richter (Hg.), Gerhard Croll. Gluck-Schriften. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge 1967 - 2002, Gluck-Studien, Bd. 4, Kassel 2003, S. 75 - 83; hier S. 75. 16 Vgl. Philipp Gumpenhuber, Repertoire de tous les Spectacles qui ont été donné au Theatre près de la Cour [. . .] depuis le 1. r Janvier jusqu ’ au 31 Dec 1762, S. 135 (verso). Österreichische Nationalbibliothek, Signatur: Mus.Hs. 34580/ b MUS MAG, http: / / data.onb.ac.at/ rec/ AC14341348 [Zugriff am 09. 03. 2019]. Eine Überprüfung der Zählung Gumpenhubers ergab jedoch, dass sie nicht mit der Zahl der gesamthaft im Repertoire verzeichneten Erwähnungen Clelias (insg. 24) übereinstimmt. Die Diskrepanz lässt sich m. E. auf die Einträge vom 1. Mai (Operntitel nicht ausgeschrieben und deshalb bei der Zählung womöglich übersehen), 3. Juli (eine Probe) und 30. Juli 1762 (ein außerordentliches Konzert an der Accademie de Musique) zurückführen. 119 Theaterwissenschaft als ethopoietische ‚ feedback-Schleife ‘ 17 Vgl. Robert Haas, Gluck und Durazzo im Burgtheater. (Die Opera Comique in Wien), Wien 1925, S. 89 f. 18 Dass Il trionfo di Clelia am 27. April 1762 uraufgeführt wurde, belegen der entsprechende Repertoire-Eintrag Gumpenhubers sowie zwei Rezensionen zur Uraufführung, erschienen im Gazette de Vienne (im Supplement der Ausgabe Nr. 34 vom 28. April 1762: http: / / anno.onb.ac.at/ cgi-content/ ann o? aid=gdv&datum=17620428&zoom=33) und im Wienerischen Diarium (ebenfalls in der Ausgabe Nr. 34 vom 28. April 1762: http: / / anno.onb.ac.at/ cgi-content/ anno? aid= wrz&datum=17620428&zoom=33) [Zugriff am 09. 03. 2019]. 19 Haas, Gluck und Durazzo im Burgtheater, S. 90. 20 Ebd., S. 183. 21 „ [. . .] le célèbre Hazze a fait hier répéter un opéra de sa composition: [. . .]. “ Charles Simon Favart, Mémoires et correspondance littéraires, dramatiques et anecdotiques, Bd. 2. Faksimile-Ausgabe von 1808 [Paris], Genf 1970, S. 264. Dass es sich tatsächlich um eine Probe handelte, bestätigt der entsprechende Repertoire-Eintrag Gumpenhubers. 22 „ Following a rehearsal of Hasse ’ s Il trionfo di Clelia, Dancourt pronounced the orchestra ‘ sublime ’ ; [. . .]. “ Bruce Alan Brown, Gluck and the French Theatre in Vienna, Oxford u. New York 1991, S. 399. 23 Favart, Mémoires et correspondance littéraires, dramatiques et anecdotiques, S. 264. Wie Haas und Brown jeweils zu dem (in Anbetracht des Repertoire-Eintrags Gumpenhubers sicherlich korrekten) Schluss gelangen, hiermit sei Il trionfo di Clelia gemeint, geht aus ihrer Argumentation leider nicht hervor. 24 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass in der von Maria Breunlich und Marieluise Mader herausgegebenen und kommentierten Ausgabe der Tagebücher Zinzendorfs genau dieser Eintrag vom 1. Mai 1762 elidiert wurde, vgl. Karl Graf von Zinzendorf, Aus den Jugendtagebüchern. 1747, 1752 bis 1763, nach Vorarbeiten von Hans Wagner hrsg. u. komm. von Maria Breunlich und Marieluise Mader, Wien u. a. 1997, S. 282. 25 Dies in der Annahme, Angiolinis Reformbemühungen seien - ähnlich denen seines Kontrahenten Jean Georges Noverres - von „ Inkongruenzen zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Realisation “ durchzogen; Sibylle Dahms, Der konservative Revolutionär. Jean Georges Noverre und die Ballettreform des 18. Jahrhunderts, München 2010, S. 155. Eine Gesamtausgabe der tanztheoretischen Schriften Angiolinis wird derzeit von Irene Brandenburger und Sibylle Dahms vorbereitet. 26 Dafür, dass es sich um eine Sonderaufführung handelte, spricht, dass Zinzendorf das Marionettenballett erst (und einzig) mit Bezug auf die Vorstellung von Il trionfo di Clelia am 1. Mai 1762 am Schlosstheater Schönbrunn erwähnt und dabei mit der Formulierung „ on y a mis du nouveau “ (s. oben) explizit auf eine inszenatorische Differenz zur Premiere - die er ebenfalls gesehen hatte (vgl. Zinzendorf Aus den Jugendtagebüchern, S. 282) - aufmerksam macht. 27 Es ist zumindest für den Zeitraum um 1800 überliefert, dass Tänze bzw. Ballette durch Marionetten im Rahmen sog. ‚ Nachspiele ‘ dargestellt wurden, vgl. Lars Rebehn, „ Über das Metamorphosen-Theater. Kleist und die historische Puppenpraxis “ , in: double. Zeitschrift für Puppen-, Figuren- und Objekttheater 26/ 2 (2012), S. 20 - 23. Darüber, ob es Mitte des 18. Jahrhunderts eine vergleichbare Praxis gab, mit denen das Marionettenballett generisch verwandt sein könnte, liegen m. E. bislang keine Untersuchungen vor. 28 Für diese Interferenzen stehen exemplarisch Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater sowie Puppenrepräsentationen im Ballett. Bzgl. letzterer meint denn auch Gabriele Brandstetter: „ Ausgehend von E. T. A. Hoffmanns Nachtstück ‚ Der Sandmann ‘ wird der Tanz der Puppe zu einem Paradigma des Balletts in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis in die 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts: Coppélia (1870), Nußknacker (1882), Puppenfee (1888), Petruschka (1811) [sic! ], La boîte à joujoux (1921), L ’ enfant et les sortilèges (1925), um nur die 120 Marcel Behn bekanntesten Beispiele zu nennen. “ Gabriele Brandstetter, „ Der Tanz der Statue. Zur Repräsentation von Bewegung im Theater des 18. Jahrhunderts “ , in: Mathias Mayer und Gerhard Neumann (Hg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg i. Br. 1997, S. 393 - 422; hier S. 421. 29 „ Das Induktionsproblem ist die Frage, ob und wann Schlüsse von besonderen Sätzen auf allgemeine Sätze berechtigt sind. Das Abgrenzungsproblem besteht in der Aufgabe, ein Kriterium zu finden, mit dem sich die empirische Wissenschaft einerseits gegenüber Mathematik und Logik, andererseits gegenüber Metaphysik und Pseudowissenschaft abgrenzen läßt. “ Herbert Keuth, Die Philosophie Karl Poppers, Tübingen 2000, S. 27. 30 Vgl. ebd., S. 27. 31 Vgl. ebd., S. 52. Eben aufgrund der fallibilistischen Grundannahme, dass alle Erkenntnis letztlich fehlbar und damit nur vorläufig ist, verhalten sich der Kritische Rationalismus und die neuere, auf konstruktivistischen Annahmen basierende Geschichtsschreibung komplementär zueinander. Denn es wäre ein Missverständnis, die Identifizierung und Offenlegung von Fehlern in der Angabe, Übersetzung und Überprüfung des informationellen Gehalts geschichtlicher Quellen - also Methodenkritik, wie sie hier betrieben wurde - mit der impliziten Formulierung eines Wahrheitsanspruchs gleichzusetzen - ein Anspruch, der seit dem linguistic turn als unhaltbar gilt. In anderen Worten: Die Anerkennung der erkenntnistheoretischen Annahme der unhintergehbar sprachlichen Verfasstheit und Verfügbarkeit von (geschichtlicher) Wirklichkeit hat keinesfalls die Preisgabe methodischer Rigorosität in Form von Richtigkeits- und Objektivitätsansprüchen zur Folge. Vgl. für letztere Ansprüche Peter Borowsky, Barbara Vogel und Heide Wunder (Hg.), Einführung in die Geschichtswissenschaft I: Grundprobleme, Arbeitsorganisation, Hilfsmittel, 5. überarb. u. akt. Aufl., Opladen 1989, S. 18. 32 Jürgen August Alt, Karl R. Popper, 3. vollst. überarb. Aufl., Frankfurt a. M. 2001, S. 42. Herv. i. O. 33 Vgl. Keuth, Die Philosophie Karl Poppers, S. 78. 34 Ebd., S. 388. 35 Vgl. ebd., S. 291. Keuth zufolge leitet Popper hieraus inkonsequenterweise einen Imperativ in Form einer Pflicht zur Fehlerkorrektur ab, vgl. ebd., S. 232. 36 Gemäß der Doppelbedeutung dieses Begriffs als Seins- und Verfahrensweise, vgl. Duden Fremdwörterbuch, 5. neu bearb. u. erw. Aufl., Mannheim u. a. 1990, S. 508. 37 Die Provenienz und Bedeutung dieser Formel werden im Folgenden erläutert. 38 Vgl. Keuth, Die Philosophie Karl Poppers, S. 391. 39 Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 2. Aufl., Tübingen 1968, S. 41. 40 Vgl. Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/ 82). Übers. v. Ulrike Bokelmann. Frankfurt a. M. 2009, S. 26 f. 41 Vgl. ebd., S. 27, 31, 94 - 97, 240 - 243. Vgl. auch Philipp Sarasin, Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 2005, S. 200. 42 Die Bedeutung dieses Begriffs wird im Folgenden erklärt, s. Anm. 51. 43 Vgl. James Lee,: „ Ethopoiesis: Foucault ’ s Late Ethics and the Sublime Body “ , in: New Literary History 44/ 1 (2013), S. 179 - 198, hier S. 182. 44 Vgl. ebd., S. 180. 45 „ The body marks the site of ethopoiesis. “ Ebd., S. 184. 46 „ Transcription and rewriting allow the scholar to repeatedly exercise his body and mind according to the text ’ s parameters. The transcribed text functions as the template that governs the movements and structure of the body. The text regulates how the writer should train and care for this body. After many repetitions of this writing exercise, the text becomes integrated into one ’ s comportment and its most minute reflexes and automatisms. In this model, the writing of a text is the occasion to enter into a productive and regulative relationship with one ’ s physical self. For Foucault, the body can never 121 Theaterwissenschaft als ethopoietische ‚ feedback-Schleife ‘ be complete or ‘ natural ’ without such a constitutive labour of writing. [. . .] For Foucault, a linguistic object regulates the body of the ethical subject. “ Ebd., S. 186. 47 „ Writing turns the subject into its own object. [. . .] The writer cannot grammatically distinguish his status as writing subject from his status as a written object. “ Ebd., S. 194. 48 „ Therefore, if Foucault [. . .] demonstrate[s] that the act of writing establishes the subject ’ s self-reflexive relationship to her own body, the importance of writing is compounded in defining the subject ’ s relation to the other. [. . .] For [. . .] Foucault [. . .], the ethical relation with the other is a mode of poiesis, an ethos defined by the writing practices that reflexively give meaning to the subject ’ s position as subject and as writer in relation to the other. “ Ebd., S. 189. Herv. i. O. 49 Wobei Lee darauf hinweist, dass „ the textual recomposition of the subject is not limited by genre; it matters little if the text produced by the writing subject is a poem, notebook, or letter. It is the work of writing itself, and the conversion of the body into the langauge of the text, that marks the subject ’ s aesthetic nature. “ Ebd., S. 193. 50 „ Foucault insists upon the literal nature of this presence. The letter does not present the writer through description or the summary of information. The letter incarntes the ‘ physical presence ’ and the ‘ real traces ’ of the writer. However, the body of the writer undergoes an important change though the letter. The letter reincarnates the face and body of the writer in the material form of a text. The reader does not gaze upon the living flesh of the writer, but on the writer ’ s body materialized in language. [. . .] What is ‘ real ’ in the letter is not the reality of a living body, but the reality of textual ‘ impressions ’ that gain the status of the body. The writer ’ s ‘ impress ’ converts the body into a textual structure. The letter rematerializes the body as a text. The body ’ s reproduction occurs through the ‘ impress ’ of the writer ’ s hand. The ‘ impress ’ describes the material act of writing the letter, delineating how the writing hand materializes a ‘ face to face ’ encounter between the writer and reader. The movements of the impressing hand ‘ act ’ upon both the writer and reader so as to open up the ‘ face to face ’ encounter between the two. “ Ebd., S. 190 f. 51 Laut Erika Fischer-Lichte „ besteht die mediale Bedingung von Aufführungen in der leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern. “ Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 58. Genau in dieser Ko-Präsenz liegt dabei der autopoietische und zirkelhafte Charakter der Kommunikationssituation zwischen Agierenden und Zuschauenden begründet, denn: „ Was immer die Akteure tun, es hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer. In diesem Sinne läßt sich behaupten, daß die Aufführung von einer selbstbezüglichen und sich permanent verändernden feedback-Schleife hervorgebracht und gesteuert wird. Daher ist ihr Ablauf auch nicht vollständig planbar und vorhersagbar. “ Ebd., S. 59. Herv. i. O. 52 Ebd., S. 287, Herv. i. O. 53 Ebd., Herv. i. O. 122 Marcel Behn