Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2020-0019
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2020
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BalmeMatthias Warstat, Florian Evers, Kristin Flade, Fabian Lempa und Lilian Seuberling (Hg.), Applied Theatre. Rahmen und Positionen, Theater der Zeit Recherchen 129, Berlin: Theater der Zeit 2017, 307 Seiten
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2020
Simon Gröger
fmth311-20211
Rezensionen Matthias Warstat, Florian Evers, Kristin Flade, Fabian Lempa und Lilian Seuberling (Hg.), Applied Theatre. Rahmen und Positionen, Theater der Zeit Recherchen 129, Berlin: Theater der Zeit 2017, 307 Seiten. Die Anwendung theatraler Verfahrensweisen in einem nicht-ästhetischen Kontext, um diesen gezielt zu verändern - so lassen sich die verschiedenen Arten von Applied Theatre allgemein beschreiben. Der Sammelband Applied Theatre. Rahmen und Positionen zielt darauf ab, das ästhetische und politische Potenzial dieser Theaterform auszuloten. Die Ausgangsfrage dabei lautet: Wie können ästhetische Praktiken des Theaters als instrumentelles Verfahren in nicht-ästhetischen Kontexten genutzt werden und welche Probleme bringt dieses Nutzungsdenken mit sich, wenn man die nicht vollständig intentional kontrollierbare Aufführungssituation bedenkt? Eine konkrete Wirkung durch die ästhetische Qualität eines Aufführungsereignisses anzustreben, setzt das Verhältnis von politischer Absicht, künstlerischer Praxis und ethischer Verantwortung in Spannung. Denn es ist gerade die konkrete Intention in nicht-ästhetische Kontexte bzw. soziale Strukturen zu intervenieren, die eine konstitutive ethisch-politische Ambivalenz von Applied Theatre bedingt. Dies betrifft beispielsweise hierarchisierende Verhältnisse von Anleitenden und Teilnehmenden, Zuschreibung von ‚ Hilfsbedürftigkeit ‘ oder der Ersetzung staatlicher Aktivitäten durch künstlerische Projekte. Die Einleitung der Herausgebenden entwirft entlang der Termini Rahmen, Intervention, Dispositiv und Wiederholung eine allgemeine funktionalistische Theorie des Applied Theatre. Dabei zielt die Erörterung jedes der vier Termini auf die Herausarbeitung der für Applied Theatre typischen Spannung von Emanzipation von und Kritik an realen politischen Bedingungen einerseits, sowie einer Eingliederung in bestehende institutionelle Strukturen und Stabilisierung von sozialen Funktionsprozessen andererseits. Hervorzuheben ist dabei der Begriff des Rahmens, der auch im Untertitel des Bandes auftaucht. Als Rahmen begreifen die Herausgebende verhaltensleitende ‚ Sinneinheiten ‘ , in denen soziale Situationen erfasst und interpretiert werden. Darauf aufbauend meint Rahmung die jeweils konkrete Aktualisierung eines solchen Rahmens, also Situationen durch bestimmte Handlungen mit einem ‚ Sinn ‘ zu versehen. Applied Theatre lässt sich so als Verschiebung von ästhetischen Rahmungen in soziale Rahmen beschreiben, womit diese Rahmen als veränderbar erscheinen (sollen). Das spezifische Potenzial von Applied Theatre liegt, so die These des Bandes, im produktiven Umgang mit dieser Dynamik der Rahmungen und den damit verbundenen politisch-ethischen Ambivalenzen. Dieser These gehen die zwölf Beiträge des Bandes, in drei inhaltliche Abschnitte gegliedert, nach, indem sie die Beziehung zwischen den Intentionen, den ästhetischen Praktiken und den konkreten Folgen verschiedener Applied- Theatre-Projekte herausarbeiten. Der erste Abschnitt unter dem Titel „ Paradoxien der Fürsorge “ widmet sich Ansätzen von Applied Theatre, die wirkungsästhetisch als ‚ Heilung ‘ verstanden werden und erörtert den dabei vorausgesetzten Subjektstatus. Lilian Seuberlings Beitrag „ Rahmen wechsel dich! Die Unfreiwilligkeit der Übertragung “ geht der Dynamisierung von subjektkonstitutiven Machtrelationen durch theatertherapeutische Arbeit nach. Auf der psychoanalytisch geprägten Vorstellung des Unbewussten basierend, legt sie dar, dass Unfreiwilligkeit im Handeln nicht immer als repressiv empfunden wird. Therapie konzeptioniert Seuberling als speziellen Rahmen, in dem Subjektivität zur Disposition stehen kann. Die gezielte Übertragung (ergänzend zur unbewussten) von Vergangenheit in die Gegenwart, will das dynamische Machtverhältnis von Unfreiwilligkeit, Unbewusstem und Subjektivität im Therapieprozess transparent machen. Anhand einer theatralen Aufstellungsarbeit erläutert sie, wie dort in Hinblick auf Geschlecht soziale Zuschreibungen wirksam bleiben, doch zugleich andere Umgangs- Forum Modernes Theater, 31/ 1-2 (2020), 211 - 212. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMRe-2020-0019 weisen mit Geschlechtlichkeit ermöglicht werden und so Aktualisierung und Umdeutung von subjektivierenden Machtrelationen interagieren. Der zweite Abschnitt „ (Neben-)Wirkungen “ wendet sich gruppendynamischen Aspekten von Applied Theatre zu. Besonders eindrücklich ist James Thompsons Beitrag „ Ein Hacken und Stechen “ . Darin reflektiert Thompson selbstkritisch eines seiner Projekte in Sri Lanka und zeigt ethisch-politische Grenzen von künstlerischer ‚ Nachsorge ‘ in gewaltsamen politischen Konfliktsituationen auf. Ebenfalls lesenswert ist Julius Heineckes Darlegung, dass bestimmte Formen von Applied Theatre in Afrika trotz interkulturellem Anspruch kolonialistische Strukturen aktualisieren. In seiner Argumentation parallelisiert er die kolonialistische Verdrängung afrikanischer Trickster mit dem Ausschluss der Zanni aus der Commedia dell ’ Arte in der Aufklärung. Beide Figurentypen drücken ein soziale Normen hinterfragendes ‚ Zwischen ‘ aus, das einem rationalistischen Imperativ entgegensteht. Diese theatrale Degradierung wird von Heinecke als Ausdruck einer eurozentrisch-kolonialistischen Logik gedeutet, die sich, wie er diskursiv nachweist, bis in entwicklungspolitischen Konzepte von z. B. ‚ Development Theatre ‘ fortschreibt und auch deren Managementpraxis prägt. Sein Beitrag schließt mit konkreten Vorschlägen für ein interkulturelles Kulturmanagement basierend auf einer ‚ Ästhetik der Entähnlichung ‘ . Die dritte Sektion „ Institutionen “ untersucht Phänomene des Applied Theatre in Hinblick auf ihre organisatorischen und (kultur)politischen Entstehungsbedingungen. Für Applied Theatre und die Frage der Institutionskritik konstatiert Sruti Bala im abschließenden Beitrag des Bands drei relevante Verhältnisse zu Institutionen: Den Rückzug aus bestehenden Institutionen, die Neuschaffung institutioneller Verankerungen, die Veränderung bestehender Institutionen. Institutionenkritik, so erläutert Bala an zwei Beispielen, muss immer die jeweiligen politischen Bedingungen reflektieren unter denen kritische Intervention durch, sowie Partizipation an theatralen Formaten überhaupt möglich sind. Will man Institutionskritik als eine widerständige Kunstpraxis betreiben, brauche es ein breites, nicht-westliches Verständnis von Institution und Kritik. Bala beschließt ihren Text mit der Vorstellung mehrerer Theaterprojekte, die zwar mit kritischer Geste auftreten, ohne jedoch konkrete institutionelle Bedingungen zu adressieren. Dies bietet, so Bala, auch die Möglichkeit für einen interkulturellen Metadiskurs über Institutionenkritik. Insgesamt ist der vorliegende Band eine aufschlussreiche Bestandsaufnahme zum Einsatz theatraler Formen außerhalb konventionell ästhetischer Kontexte. Insbesondere die abwechslungsreiche Zusammenstellung der Untersuchungsgegenstände, die vom mittelalterlichen Höllentraktat bis zum Personalmanagement in Unternehmen reicht, vermittelt überzeugend die Heterogenität und Vielfalt von Applied Theatre sowie deren ästhetische Potenziale und ideologische Risiken. Mit der in der Einleitung eingeführten, auf einer Heuristik von Rahmen und Rahmungen basierenden, Theorie, wird diese Vielfalt überzeugend fundiert. So bietet der Band Anschlussmöglichkeiten an die Debatte über das Verhältnis von Ethik und Ästhetik, als auch weitere Impulse für die sich ausprägende Forschung zur institutionellen Ästhetik, d. h. der gegenseitigen Beeinflussung von institutionellen Voraussetzungen und künstlerischen Praktiken. München S IMON G RÖGER Johanna Zorn, Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes, Forum Modernes Theater 49, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2017, 275 Seiten. Johanna Zorns Buch Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes analysiert drei späte Theaterarbeiten Schlingensiefs: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008), Mea Culpa (2009) und Unsterblichkeit kann töten. Sterben lernen! - Herr Andersen stirbt in 60 Minuten (2009), in denen der an Lungenkrebs erkrankte Regisseur sein eigenes Leben „ von der Grenze des Forum Modernes Theater, 31/ 1-2 (2020), 212 - 214. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMRe-2020-0020 212 Rezensionen