eJournals Forum Modernes Theater 31/1-2

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2020-0020
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2020
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Johanna Zorn, Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes, Forum Modernes Theater 49, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2017, 275 Seiten

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Lore Knapp
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weisen mit Geschlechtlichkeit ermöglicht werden und so Aktualisierung und Umdeutung von subjektivierenden Machtrelationen interagieren. Der zweite Abschnitt „ (Neben-)Wirkungen “ wendet sich gruppendynamischen Aspekten von Applied Theatre zu. Besonders eindrücklich ist James Thompsons Beitrag „ Ein Hacken und Stechen “ . Darin reflektiert Thompson selbstkritisch eines seiner Projekte in Sri Lanka und zeigt ethisch-politische Grenzen von künstlerischer ‚ Nachsorge ‘ in gewaltsamen politischen Konfliktsituationen auf. Ebenfalls lesenswert ist Julius Heineckes Darlegung, dass bestimmte Formen von Applied Theatre in Afrika trotz interkulturellem Anspruch kolonialistische Strukturen aktualisieren. In seiner Argumentation parallelisiert er die kolonialistische Verdrängung afrikanischer Trickster mit dem Ausschluss der Zanni aus der Commedia dell ’ Arte in der Aufklärung. Beide Figurentypen drücken ein soziale Normen hinterfragendes ‚ Zwischen ‘ aus, das einem rationalistischen Imperativ entgegensteht. Diese theatrale Degradierung wird von Heinecke als Ausdruck einer eurozentrisch-kolonialistischen Logik gedeutet, die sich, wie er diskursiv nachweist, bis in entwicklungspolitischen Konzepte von z. B. ‚ Development Theatre ‘ fortschreibt und auch deren Managementpraxis prägt. Sein Beitrag schließt mit konkreten Vorschlägen für ein interkulturelles Kulturmanagement basierend auf einer ‚ Ästhetik der Entähnlichung ‘ . Die dritte Sektion „ Institutionen “ untersucht Phänomene des Applied Theatre in Hinblick auf ihre organisatorischen und (kultur)politischen Entstehungsbedingungen. Für Applied Theatre und die Frage der Institutionskritik konstatiert Sruti Bala im abschließenden Beitrag des Bands drei relevante Verhältnisse zu Institutionen: Den Rückzug aus bestehenden Institutionen, die Neuschaffung institutioneller Verankerungen, die Veränderung bestehender Institutionen. Institutionenkritik, so erläutert Bala an zwei Beispielen, muss immer die jeweiligen politischen Bedingungen reflektieren unter denen kritische Intervention durch, sowie Partizipation an theatralen Formaten überhaupt möglich sind. Will man Institutionskritik als eine widerständige Kunstpraxis betreiben, brauche es ein breites, nicht-westliches Verständnis von Institution und Kritik. Bala beschließt ihren Text mit der Vorstellung mehrerer Theaterprojekte, die zwar mit kritischer Geste auftreten, ohne jedoch konkrete institutionelle Bedingungen zu adressieren. Dies bietet, so Bala, auch die Möglichkeit für einen interkulturellen Metadiskurs über Institutionenkritik. Insgesamt ist der vorliegende Band eine aufschlussreiche Bestandsaufnahme zum Einsatz theatraler Formen außerhalb konventionell ästhetischer Kontexte. Insbesondere die abwechslungsreiche Zusammenstellung der Untersuchungsgegenstände, die vom mittelalterlichen Höllentraktat bis zum Personalmanagement in Unternehmen reicht, vermittelt überzeugend die Heterogenität und Vielfalt von Applied Theatre sowie deren ästhetische Potenziale und ideologische Risiken. Mit der in der Einleitung eingeführten, auf einer Heuristik von Rahmen und Rahmungen basierenden, Theorie, wird diese Vielfalt überzeugend fundiert. So bietet der Band Anschlussmöglichkeiten an die Debatte über das Verhältnis von Ethik und Ästhetik, als auch weitere Impulse für die sich ausprägende Forschung zur institutionellen Ästhetik, d. h. der gegenseitigen Beeinflussung von institutionellen Voraussetzungen und künstlerischen Praktiken. München S IMON G RÖGER Johanna Zorn, Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes, Forum Modernes Theater 49, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2017, 275 Seiten. Johanna Zorns Buch Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes analysiert drei späte Theaterarbeiten Schlingensiefs: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008), Mea Culpa (2009) und Unsterblichkeit kann töten. Sterben lernen! - Herr Andersen stirbt in 60 Minuten (2009), in denen der an Lungenkrebs erkrankte Regisseur sein eigenes Leben „ von der Grenze des Forum Modernes Theater, 31/ 1-2 (2020), 212 - 214. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMRe-2020-0020 212 Rezensionen bevorstehenden Todes her “ (S. 16) zum zentralen Thema machte. Der fünfte Punkt des zweiten Kapitels ist der Kern der Arbeit. Hier beschreibt Zorn das Theatergenre ‚ Autobiotheatralität ‘ . Sie geht von einer Vielzahl an Bezügen aus, die im ästhetischen Ausdrucksfeld der Autobiographie Tradition haben. Dazu gehören die analytische Selbstaussprache im Tagebuch, religiöse Beicht- und Bekenntnisformen und die psychoanalytisch geprägte Gesprächstherapie. In Schlingensiefs Inszenierungen erscheinen sie, so analysiert Zorn, durchgehend in theatral-medial transformierter Gestalt, wenn etwa das Selbstbekenntnis als Tonband-Dokument eingespielt und darüber hinaus auch von Schauspielern vorgetragen wird. Dabei entwickelt Schlingensief die Techniken der photographischen und filmischen Mehrfachbelichtung weiter und entlockt dem Theater Möglichkeiten, die aus der Literaturgeschichte bekannten Momente der Ich-Multiplikation und des Doppelgänger-Motivs in eine mehrschichtige, multiperspektivische Medialisierung der eigenen Person zu überführen. So werden auf der Bühne verschiedene Lebenszeiten des Ichs collagiert. In Kirche der Angst lässt Schlingensief „ einen Film, auf dem er als Kind zu sehen ist, mit seiner Tonbandstimme aus der jüngsten Vergangenheit kollidieren. In Mea Culpa wiederum kommentiert er im Rahmen eines Auftritts seine als Film archivierte Vergangenheit als Regisseur “ (S. 110). Zorn beschreibt bezogen auf diese beiden Inszenierungen sowohl analytisch-zerlegende Darstellungsmodi, die das Ich vervielfältigen, als auch komponierende Techniken, mit denen die Ich-Fragmente wieder zu Effekten des Ichs zusammengesetzt werden. Als Pointe eines groß angelegten Abrisses der Geschichte der Autobiographie im zweiten Kapitel von Augustinus über Rousseau und Goethe bis zu Dilthey und Misch, Lejeune, Pascal, Lacan, Derrida und anderen unterscheidet Zorn schließlich drei Formen der theatralen Selbstpräsentation Schlingensiefs: Erstens stellt Schlingensief sich selbst dar (Autopräsenz), zweitens wird sein Leben in filmischen, fotografischen und akustischen Dokumenten präsentiert (autopräsentes Archiv) und drittens lässt er Schauspieler sein Ich verkörpern (Autofiguration). Darüber hinaus spielt Schlingensief auf der Bühne selbst Rollen oder wird in den Rollen anderer Schauspieler erkennbar. Haben die dargestellten Figuren selbst mythischen Status, so spricht Zorn von einer Automythographie, bei der Schlingensief „ sich mitsamt seinem prekären existentiellen Zustand in eine Legende “ wie Parsifal, Amfortas oder Beuys einschreibt (S. 109). Verglichen mit literarischen Autobiographien wird die sprachliche Wiedergabe des Eigenen, wenn Schlingensief selbst auftritt, durch den repräsentational-verkörpernden Charakter des Theaters intensiviert, und der Erkenntnis, dass durch literarische Sprache das eigene Selbst erst geschaffen wird, entspricht der performativ-hervorbringende Grundzug des Theaters. In den folgenden drei Kapiteln liegt der Schwerpunkt jedoch gar nicht auf einer hieran anschließenden medialen Analyse - und das ist zugleich die Stärke der Arbeit. Es handelt sich um die erste umfassende Aufarbeitung der vielfältigen Bezüge in den drei späten Theaterarbeiten Schlingensiefs. Sie sind - auch mit Blick auf einen möglichen Einsatz in der Lehre - übersichtlich in Grafiken zusammengefasst. Was beim Besuch der Aufführungen unmöglich ist, nämlich die Quellen der Texte, Filme und Kompositionen im Einzelnen zu erkennen und auch die Kontexte, denen sie entstammen, mit in die Interpretationen einzubeziehen, ist hier auch unter Berücksichtigung von Schlingensiefs Regiebüchern geleistet worden. Im umfangreichsten, dritten Kapitel analysiert Zorn, wie das in Kirche der Angst dargestellte Ich durch drei Referenzrahmen codiert wird: durch den persönlich-intimen Rahmen zwischen Selbstaufgabe (Akzeptanz des Todes) und -behauptung (Auflehnung gegen den Tod), den künstlerischen Rahmen mit der Präsentation verschiedener Fluxfilms und filmischen Reenactments sowie den religiös-weltanschaulichen Rahmen, dem das katholische Schuldmotiv entnommen ist. Trotz der Abweichungen vom Schema der katholischen Messe, die Zorn erhellend in ein Verhältnis zu anderen Mythemen der Inszenierung setzt, interpretiert sie überraschenderweise, Schlingensief übernehme am Ende „ im eigentlichen Sinne die Rolle Jesu Christi “ (S. 153) und binde das Ich „ doch wieder an die göttliche Barmherzigkeit “ zurück (S. 166). Ein vierter Rahmen wird implizit mit der „ Fokussierung auf 213 Rezensionen messbare Größen des eigenen Lebens “ (S. 128) genannt, wenn Schlingensief das Röntgenbild seiner Lunge als „ faktisch verbürgte Bedingung seiner Existenz “ (S. 127) auf Leinwände projiziert. Die klugen Interpretationen der Szenen und inhaltlichen Abläufe in Mea Culpa werden durch informative Exkurse ergänzt, etwa zu Wagners Parsifal, Schlingensiefs Bayreuther Zeit und seinen animatographischen Arbeiten sowie zu Jelineks Tod-krank.Doc, also zu Werken, die Mea Culpa mit zu Grunde liegen. Entlang dieser und weiterer Intertexte vermag Zorn die zunächst verwirrende Handlung zwischen Ayurveda-Zentrum, Traumsequenzen und afrikanischem Opernhaus sowie das dichte Geflecht der Bilder, Texte und Auftritte in den drei Akten „ Blick aus dem Jenseits ins Hier “ , „ Jenseits der Grenze “ und „ Blick von hier ins Jenseits “ in ihren Bedeutungsschichten aufzuschlüsseln. Bezogen auf Sterben lernen beobachtet Zorn treffend, dass Schlingensief in dieser von Pfallers Konzept der Interpassivität geprägten Inszenierung nicht wie in den beiden vorangegangenen als zentrale Figur, sondern als Störfaktor auftritt. Das erinnert an seine früheren Aktionen und demonstriert, so ließe sich hinzufügen, die Heterogenität seiner Inszenierungsstile ‚ im Angesicht des Todes ‘ . Die von Zorn mehrfach wiederholte Interpretation, Schlingensief habe hier zu einem distanzierteren Inszenierungsstil gegriffen, weil es ihm gesundheitlich und psychisch besser gegangen sei, ist fragwürdig, betonte er doch bereits im Eingangsmonolog der Premiere am 4. Dezember 2009 die Worte „ in mir sieht es dunkel und schwarz aus “ . Das Kapitel bietet ein breites Panorama an philosophischen Positionen zum ‚ Sterben lernen ‘ , lässt dabei jedoch gerade die Mystiker Nikolaus von Kues und Meister Eckhart außer Acht, die in der dramaturgischen Vorbereitung der Inszenierung in Schlingensiefs Austausch mit dem Theologen Johannes Hoff eine besondere Rolle gespielt haben, und geht kaum auf deren szenische Umsetzung ein, etwa auf die Kreuzprozession im zweiten Akt, die eine besondere Nähe zu den mitlaufenden Zuschauern aufbaute. Das erste Kapitel bietet kompakte Zusammenfassungen des journalistischen Echos der Inszenierungen. Die Auseinandersetzung mit der Forschung zu Schlingensief ist allerdings unvollständig. Mehrere Beiträge, die schon deutlich vor Abschluss der vorliegenden Dissertation, also vor 2014/ 15 publiziert waren, etwa zur Autofiktion bei Schlingensief, zu den Paradoxien in seinem Theater oder zu seinen Animatographen, finden keine Erwähnung. Alles in allem steht jedoch außer Frage, dass es sich bei der dicht geschriebenen Arbeit um einen großen Gewinn für die Wissenschaft zum Gegenwartstheater sowie zu Christoph Schlingensief handelt. Bielefeld L ORE K NAPP Marita Tatari, Kunstwerk als Handlung. Transformationen von Ausstellung und Teilnahme, München: Fink 2017, 233 Seiten. In Kunstwerk als Handlung umreißt Marita Tatari einen Begriff des handelnden Kunstwerks, der verbreitete Vorstellungen zu Performativität und zum Postdramatischen unterläuft. An Grundlagentexten der Theaterwissenschaft orientiert und als Grundlagenforschung zwischen den Feldern der Geschichtsphilosophie und der Theorie des Dramas verortet, arbeitet Tataris Studie dabei eine Reflexivität der Aufführung heraus, die sie im Anschluss an Jean-Luc Nancy als Aktualisierung von Alterität und Selbstdifferenz im sinnlichen Element begreift. Entgegen eines Vorrangs der Präsenz und der Verwirklichung, so die These Tataris, verschiebe sich die Ordnung des Ästhetischen im Zeitalter nach einer Geschichtsteleologie heute zur Aufführung einer unendlichen Singularität. Die Theaterformen der Gegenwart seien weniger als eine Überwindung des (in sich geschlossen verstandenen) dramatischen Kunstwerkes zu begreifen, sondern vielmehr als eine Transformation jenes Feldes, welches von jeher durch Ausstellung und Teilnahme geprägt gewesen sei. (S. 10/ 11) Eine Geschichte des Theaters abseits der Auffassung von geschichtsteleologischem Fortschritt, so ließe sich der Zielpunkt der Studie zusammenfassen, sei nicht nur für eine Analyse von Gegenwartstheater hilfreich, wie Tatari im letzten Kapitel und auf vergleichsweise kleinem Raum mit der Diskussion von Arbeiten Forum Modernes Theater, 31/ 1-2 (2020), 214 - 217. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMRe-2020-0021 214 Rezensionen