eJournals Forum Modernes Theater 32/1

Forum Modernes Theater
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2021
321 Balme

Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones

31
2021
Annette Bühler-Dietrich
Ausgehend von Ernst Bloch entwickelt der queere Theaterwissenschaftler José Esteban Muñoz in Cruising Utopia den Gedanken, dass sich das Potential des Zukünftigen aus dem Nicht-Mehr-Bewussten von Vergangenem entwickeln ließe, und wendet seinen Blick dem vergessenen Archiv queerer Kunst vor den 1980er Jahren zu. Der vorliegende Artikel geht auf Blochs Texte zurück und entwickelt aus ihnen die Formel von „Hoffnung als Kritik“. Nach einem Aufzeigen der Parallelen und Differenzen von Bloch und Muñoz wird das Verständnis von Hoffnung als Kritik anhand der Lecture Performance The Process of Becoming Infinite von Bill T. Jones überprüft. Jones’ Reenactment seiner Choreografie 21 als Ausgangspunkt verbindet formal und inhaltlich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und deren Konzeptionen von Gender-Binarität mit der Untersuchung von deren utopischem Gehalt. Sein kritisches „erzählendes Denken“ (Adorno) stellt ihn auch stilistisch in eine produktive Reihe mit Bloch und Muñoz.
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Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones Annette Bühler-Dietrich (Stuttgart) Ausgehend von Ernst Bloch entwickelt der queere Theaterwissenschaftler José Esteban Muñoz in Cruising Utopia den Gedanken, dass sich das Potential des Zukünftigen aus dem Nicht-Mehr-Bewussten von Vergangenem entwickeln ließe, und wendet seinen Blick dem vergessenen Archiv queerer Kunst vor den 1980er Jahren zu. Der vorliegende Artikel geht auf Blochs Texte zurück und entwickelt aus ihnen die Formel von „ Hoffnung als Kritik “ . Nach einem Aufzeigen der Parallelen und Differenzen von Bloch und Muñoz wird das Verständnis von Hoffnung als Kritik anhand der Lecture Performance The Process of Becoming Infinite von Bill T. Jones überprüft. Jones ’ Reenactment seiner Choreografie 21 als Ausgangspunkt verbindet formal und inhaltlich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und deren Konzeptionen von Gender-Binarität mit der Untersuchung von deren utopischem Gehalt. Sein kritisches „ erzählendes Denken “ (Adorno) stellt ihn auch stilistisch in eine produktive Reihe mit Bloch und Muñoz. In seiner 2009 erschienenen Studie Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity befasst sich der Theaterwissenschaftler José Esteban Muñoz (1967 - 2013) mit der queeren Subkultur seit den 1950er Jahren. Tanz, Fotografie, Autobiografie und Theater sind die Kunstformen, auf die er seinen Blick richtet. Orte geraten ebenso in den Fokus wie bestimmte Künstler*innen; persönliche Erfahrungen mit Orten, Personen und Musikstilen verbinden den Wissenschaftler mit seinem Forschungsgegenstand. Geschult hat er, nach eigenen Angaben, seinen Blick an Ernst Bloch. 1 Der Philosoph Ernst Bloch (1885 - 1977) gehört zum weiteren Kreis der Frankfurter Schule; wie Muñoz bemerkt, ist seine Rezeption innerhalb der Queer Theory deutlich geringer als die von Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno. Muñoz wendet sich dem Philosophen zu, weil sich Bloch zentral mit der Frage der Utopie befasst. Sein dreibändiges Werk Das Prinzip Hoffnung entfaltet die Wirkung dieses Prinzips systematisch, ästhetisch, gesellschaftspolitisch und wissenschaftsgeschichtlich. Doch Bloch zeichnet sich daneben auch durch seinen Stil aus, der Reflexion, breite Kenntnis der deutschsprachigen Literatur und explizite Meinungsäußerungen verknüpft. Als Wissens- und Wissenschaftssubjekt nimmt er sich gerade nicht zurück. Blochs Hermeneutik wird Muñoz zum Leitfaden seiner Archivforschung, die das utopische Potential des Vergangenen auslotet. Hoffnung als Kritik ist eine Formel, die ich im Folgenden anhand der Schriften von Ernst Bloch entwickle. Hoffnung enthält eine Kritik der Wirklichkeit und verbindet sich darin mit dem Blick auf eine andere Zukunft, die José Muñoz im Blick hat. Bloch, wie in Anlehnung an ihn Muñoz, wende sich zunächst der Vergangenheit zu, um daraus das Potential für die Zukunft zu entwickeln. Diese Wendung zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägt auch die künstlerische Form des Reenactment. In das queere Archiv, das Muñoz erstellt, könnte auch der afrikamerikanische Tänzer und Choreograph Bill T. Jones eingetragen werden. In seine Lecture-Performance von 2016 Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 69 - 84. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0008 The Process of Becoming Infinite integriert Jones seine Choreografie 21 von 1983. Die Lecture Performance wird zum Anlass, über das Reenactment die Zeitstufen Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden und in das im Titel mehrfach kodierte Werden zu überführen. Die Auseinandersetzung mit Konstruktionen von Queerness bei Muñoz wird bei Jones aufgenommen und angesichts seiner heutigen Position als anerkannter Künstler und HIV-positiver homosexueller Tänzer in seiner Performance wie auch in Schriften und Gesprächen von ihm reflektiert. Hoffnung als Kritik ist für ihn vor allem die Hoffnung, die in der Kunst vermittelt wird und auf eine andere Gesellschaft hinarbeitet. Darin begegnet Jones dem Anliegen Ernst Blochs. Die folgenden Ausführungen wenden sich in chronologischer Reihenfolge zuerst Bloch und Muñoz zu, um im dritten Teil zu schauen, wie die Kunst, die beide als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nehmen, selbst Hoffnung als Kritik realisiert. Hoffnung als Kritik Also Hoffnung ist kritisch, Hoffnung ist enttäuschbar, Hoffnung nagelt aber doch immerhin eine Flagge an den Mast, auch im Untergang, indem er nicht akzeptiert wird, auch wenn er noch so mächtig ist. 2 Das Prinzip Hoffnung, veröffentlicht 1959 und geschrieben 1938 bis 1947 im US-amerikanischen Exil, ist Blochs Opus magnum innerhalb eines umfangreichen, in einem langen Leben verfassten Werks. Andere Texte greifen seine Thematik auf oder greifen vorweg, so die erstmals schon 1930 erschienene Sammlung von Denkbildern Spuren. Wichtig sind für die folgende Diskussion vor allem die Texte, die auch Muñoz liest, um zu zeigen, woher die Grundgedanken, die er aufgreift, kommen und in welchen Diskussionskontext Bloch selbst eingebunden ist - etwas, das bei Muñoz nicht zur Sprache kommt. Wie sich aus Blochs Aussagen die Formel der Hoffnung als Kritik ableiten lässt, werde ich schließlich besonders mit Blick auf Blochs Vorlesung Kann Hoffnung enttäuscht werden? (1961) und sein Gespräch mit Theodor W. Adorno Etwas fehlt (1964) zeigen. In seinem dichten Vorwort zu Das Prinzip Hoffnung schreibt Bloch: „ Sehnsucht, Erwartung, Hoffnung also brauchen ihre Hermeneutik, die Dämmerung des Voruns verlangt ihren spezifischen Begriff, das Novum verlangt seinen Frontbegriff. “ 3 Das Ziel der Erkenntnis des ‚ Noch-Nicht ‘ (Bloch) führt Bloch zu einer Auseinandersetzung mit den psychoanalytischen Theoremen Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs und zu einer Neubestimmung des Unbewussten. An Freud kritisiert Bloch, dass bei ihm das Unbewusste als Verdrängtes nur auf die Vergangenheit bezogen sei und gleichzeitig Freud seine Theorie an der bürgerlichen Schicht entwickelt habe, für die sie in besonderem Maße gelte. Dagegen verdammt er Jungs Archetypenlehre frei heraus, für ihn bleibt er „ der psychoanalytische Faschist “ . 4 Sowohl in Freuds Unbewusstem als auch in Jungs Archetypen richtet Bloch den Blick stattdessen auf das Noch-Nicht. Im Unterschied zur Libidotheorie Freuds, der er die Nicht-Beachtung „ ökonomisch-gesellschaftlicher Bedingungen “ 5 vorwirft, geht Bloch zuerst vom Hunger als originärem Trieb aus und differenziert die Affekte aus diesem Grundtrieb. Er kristallisiert darunter die Gruppe der Erwartungsaffekte heraus: Erwartungsaffekte (wie Angst, Furcht, Hoffnung, Glaube) dagegen sind solche, deren Triebintention weitsinnig ist, deren Triebgegenstand nicht bloß in der jeweiligen individuellen Erreichbarkeit, sondern auch in der bereits zurhandenen Welt noch nicht bereit liegt [. . .]. 6 70 Annette Bühler-Dietrich Blochs Interesse geht über das Individuum und dessen Lebensplanung hinaus und wendet sich stattdessen an die Hoffnung, die sich auf die Veränderung der Welt richtet. Deren Artikulation arbeitet er in Träumen, Wunschbildern und Kunstwerken heraus. Die Kategorie der Möglichkeit wird für ihn zentral, sie benennt das „ objektiv-real- Mögliche “ . 7 Blochs Verständnis der Welt als offene führt dazu, dass er statt der gefügten Form den Prozess betrachtet: „ Das Wirkliche ist Prozeß; dieser ist die weitverzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft. “ 8 Ihn interessiert dabei das Real-Mögliche, nicht das, was allein denkbar wäre. Dem Menschen räumt er grundsätzlich eine liminale Position ein: „ Der Mensch dieser Zeit versteht sich durchaus auf Grenzexistenz außerhalb des bisherigen Erwartungszusammenhangs von Gewordenheit. “ 9 Damit ist der Mensch nicht auf die vorgegebenen gesellschaftlichen Bahnen und Glücksvorstellungen verpflichtet, die Erwartung einer anderen Zukunft, die Hoffnung auf eine andere Gesellschaft ist ihm möglich. Weil Bloch die Wirklichkeit als Prozess sieht und den Menschen als Grenzwesen an der Schwelle zu einer möglichen anderen gesellschaftlichen Wirklichkeit, wird Hoffnung gerade zum Element der Kritik dieser Wirklichkeit. In seiner Antrittsvorlesung Kann Hoffnung enttäuscht werden? , gehalten im Jahr des Mauerbaus 1961, als Bloch, Professor in Leipzig, vom Mauerbau überrascht, die Professur in Tübingen annahm, greift er den Gedanken der Offenheit der Geschichte auf: Geschichtlich, prozeßhaft ist dieser Gang aber ebendeshalb, weil noch nichts als unwiderrufliches Faktum, das heißt Gewordensein, ausgemacht ist. Daher steht nicht nur der Affekt Hoffnung (mit dem Pendant Furcht), sondern erst recht das Methodikum Hoffnung (mit dem Pendant Erinnerung) im Gebiet eines Noch-Nicht, einer noch währenden Unentschiedenheit des Eintritts wie vor allem auch des letzten Inhalts. 10 Hoffnung ist für Bloch Affekt und Methodikum zugleich, der Unterschied wird in den Oppositionen Furcht und Erinnerung deutlich. Während die affektive Hoffnung sich auf eine Veränderung des Gefühls richtet, zu den Erwartungsaffekten gehört, richtet das Methodikum Hoffnung sich auf einen Zustand, dessen Eintritt weder bekannt ist noch exakt mit Inhalt gefüllt werden kann, der aber über das Gegenwärtige hinausgeht. Bloch insistiert dabei auf der Unterscheidung zwischen Hoffnung und Zuversicht mit Vehemenz. Während Hoffnung „ nach vornhin offen ist “ , 11 die Enttäuschung konstitutiv in sich trägt, ist Zuversicht geschlossen, lässt keinen Raum für kritisch wirkende Enttäuschung. Im Gespräch mit Theodor W. Adorno grenzt er Hoffnung überdies deutlich von einem „ naiven Optimismus “ ab. 12 In seiner Lektüre von Kunstwerken und Kunstformen arbeitet Bloch das Antizipatorische dieser Kunstwerke heraus. Dabei steht das Ziel für ihn fest: Es ist der „ reale[. . .] Humanismus “ , 13 den er als Maßstab an die Gesellschaft legt. Hoffnung als Kritik bedeutet dann zweierlei: Zum einen das Aufspüren des Utopischen im Gegenwärtigen und Vergangenen, was Bloch das „ Methodikum Hoffnung (mit dem Pendant Erinnerung) “ nennt. Hier spürt die Hoffnung das Potential des „ Noch-Nicht “ auf, die auf einen anderen Zustand verweisende Qualität, die ohne diese Befragung aus der Sicht der Hoffnung nicht zu Tage träte. Zum anderen ist die Enttäuschung von Hoffnung Zeichen eines gegenwärtigen Zustands, der falsch ist. 14 Adorno, der mit Bloch befreundet war und zu seinen Schriften Stellung nahm, schließt seinen Essay Kritik (1969) eben mit dem Verweis auf ein variiertes Spino- 71 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones za-Zitat, das auch von Bloch häufig zitiert wird, und schreibt, „ daß das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist. “ 15 Für Bloch ist die Richtschnur für diese Erkenntnis des Falschen die Utopie. Er beklagt, dass „ die Fähigkeit [. . .], ganz einfach das Ganze sich vorzustellen als etwas, das völlig anders sein könnte [, dem Menschen abhanden gekommen ist] “ . 16 Der Begriff des Humanismus ist heute umstritten, seine Entwicklung im 18. Jahrhundert wird ebenso kritisch betrachtet, wie die Möglichkeiten eines neuen Humanismus beleuchtet werden. 17 Adorno und Bloch präzisieren jedoch im Dialog, dass ein Utopisches eine grundsätzliche Veränderung meine, „ daß alle Kategorien sich ihrer eigenen Zusammensetzung nach verändern können “ , 18 dass sich also in einem veränderten Zusammenleben von allem nicht nur mehr Freiheit oder mehr Glück ergeben würden. Gerade das ist an die Destabilisierung von Hierarchien und Kategorien wie Geschlecht, Sexualität, Mensch, Tier, Natur heute anschließbar. Blochs Betonung der Grenzexistenz des Menschen und seine Auffassung von Geschichte als Prozess, der offen ist, der korrigiert werden kann und in dem Hoffnung als Leitlinie des Ungeformten dienen kann, macht Muñoz ’ Auseinandersetzung mit Bloch plausibel, weil er das utopische Potential in Queerness eintragen will. Dass Bloch vom Affekt der Hoffnung ausgeht, überhaupt seine Überlegungen in Das Prinzip Hoffnung mit den Affekten beginnt und dabei Kritik an Freud übt, stellt gleichzeitig einen Bezug zu den Affect Studies her, in die sich auch Muñoz einordnet. Wenn Adorno und Bloch im Gespräch auch eine Neubestimmung von Glück einfordern, 19 dann ist diese Kritik gerade an jüngere Schriften der Queer Studies anschließbar. Queer Utopia? Queerness is not yet here. 20 In ihrem 2017 erschienenen Buch The Ethics of Opting Out: Queer Theory ’ s Defiant Subjects befasst sich Mari Ruti kritisch mit der in den letzten Jahren sichtbaren Tendenz der Queer Theory, sich von Normalisierungsbemühungen innerhalb der LGBT-Community abzugrenzen. Nicht die Integration in den Mainstream, sondern das ‚ Opting Out ‘ aus dem Mainstream wird plakatiert. Dies könnte als ein Verdikt gegenüber Zukunft und Hoffnung allgemein verstanden werden. Dazu sieht Ruti sowohl in der von Jacques Lacan ausgehenden anti-relational queer theory, die besonders mit Lee Edelmans No Future (2004) verbunden ist, als auch in den relationsorientierten Affect Studies Tendenzen. 21 Muñoz setzt sich in Cruising Utopia explizit mit dieser antirelationalen queeren Theorie im Anschluss an Edelman auseinander. Ihr setzt er nicht nur die Utopie, sondern auch Formen nichthegemonialer, nicht-weißer Relationalität entgegen. In den Folgejahren haben Sara Ahmed in The Promise of Happiness (2010) und Lauren Berlant in Cruel Optimism (2011) im Bereich der Affect Studies untersucht, wie Hoffnung als Affekt Subjekte gerade in restriktiven heteronormativen Ordnungen festhalten kann, die für sie zur Quelle des Leidens werden. An die Stelle der Hoffnung auf Glück treten deswegen Affekte wie Wut und Eigensinn. Ahmed entwirft die queere Figur der Feminist Killjoy und wendet sich in ihrem folgenden Buchprojekt eigensinnigen Subjekten, Willful Subjects (2014), zu, die ihren eigenen Weg gehen, ohne den gesellschaftlichen Leitlinien zu folgen. 22 Sie führen also gerade eine solche ‚ Grenzexistenz ‘ , wie Bloch sie als Potential dem Menschen einräumt. Indem sie die Problematik normativer Glücksvorstellungen aufzeigen, postulieren sie einen 72 Annette Bühler-Dietrich anderen Weg als möglich. Darin begegnen sie dem von ihnen zitierten Muñoz. In der Einleitung zu Cruising Utopia wird seine Anstrengung, einen neuen Weg innerhalb queerer Theorie mittels anderer theoretischer Diskurse zu eröffnen, deutlich: „ I am using the occasion and example of Bloch ’ s thought, along with that of Adorno, Marcuse, and other philosophers, as a portal to another mode of queer critique that deviates from dominant practices of thought existing within queer critique today. “ 23 Analog zu Ernst Blochs eigener Infragestellung psychoanalytischer Positionen seiner Zeit richtet sich Muñoz gegen Edelmans von Lacans Psychoanalyse beeinflusste Schrift und wendet sich, auch darin Bloch verwandt, dem künstlerischen Archiv zu, denn: Turning to the aesthetic in the case of queerness is nothing like an escape from the social realm, insofar as queer aesthetics map future social relations. Queerness is also a performative because it is not simply a being but a doing for and toward the future. 24 Mit Hilfe von Blochs kritischer Hermeneutik der Hoffnung analysiert Muñoz im Folgenden autobiographische Schriften, Orte queerer Performance, Werke aktueller und verstorbener Künstler*innen. 25 Er übernimmt dabei von Bloch dessen doppelte Zuordnung von Hoffnung als Affekt und als Methodikum. 26 Blochs Position zusammenfassend, entwirft er einen Leitsatz seiner Untersuchung, den er im Laufe des Buches mehrfach wiederholt: „ A turn to the nolonger-conscious enabled a critical hermeneutics attuned to comprehending the notyet-here. “ 27 Blochs Umdefinition des psychoanalytischen Unbewussten als Verdrängtem hin zu einem Unbewussten, das auf das Noch-Nicht vorausweist, erlaubt es Muñoz, den Blick in das Archiv queerer Geschichte und gleichzeitig nach vorn zu werfen. Wenn Hoffnung, laut Bloch, enttäuscht werden kann, darin aber kritisch wirkt, dann entwickelt Muñoz Lektüren von Momenten des Widerstands und der Hoffnung, die trotz ihrer Enttäuschung weiterhin kritisch wirken. 28 Seine zahlreichen Beispiele queerer Gegenkultur sind, auch wo sie scheitern oder durch die Verbreitung von Aids beeinträchtigt oder gestoppt werden, für ihn Wegmarken in ein künftiges Noch-Nicht. So spürt er Orten queerer Kultur der 1960er und 1970er Jahre nach, wenn er sich mit Clubs und öffentlichen Toiletten befasst, erinnert an queere Beziehungsnetze und gedenkt queerer Künstler*innen wie des Tänzers Fred Herko. Seine Analysen unterstützen sein Argument einer zukunftsweisenden queeren Lebensform, deren Ansatz er in dieser vergessenen Kultur sieht, und argumentieren für eine eigenständige queere Bezüglichkeit. Als Gegenmodelle von Lebensformen wirken sie kritisch, obwohl sie am Rand bleiben, und ihr Scheitern als Zeichen enttäuschter Hoffnung desavouiert nicht ihr Projekt, sondern verweist auf den Mangel der Gegenwart. Muñoz ’ Valorisierung von Momenten von „ queer failure “ , die für ihn zum „ kernel of potentiality “ 29 werden, schreibt sich so in diese Logik des Verweises auf Zukünftiges ein. Seine Beschäftigung mit Bloch etabliert eine Verwandtschaftsbeziehung. Ziel ist nicht die kritische Bloch-Lektüre, sondern er greift Blochs zentralen Gedanken der Hoffnung als Affekt und Methodikum auf und macht ihn für seine eigene emphatische Lektüre queerer Vergangenheit fruchtbar. In seiner eigenen Mischung aus autobiographischem Bericht und wissenschaftlicher, performancehistorischer Analyse erweitert Muñoz das Feld der Kritik auf eine Art, die in Schriften von Affekttheoretiker*innen seit den 2010er Jahren etwas häufiger ist, wenn persönliche Erfahrungen, Affekte, Schreibblockaden und Krankheit zum kritischen Impetus selbst werden, wie in Ann Cvetkovichs Depression: A Public 73 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones Feeling (2012) oder Elspeth Probyns Writing Shame (2010). 30 Dennoch unterscheidet sich Muñoz von ihnen, da er nicht nur die eigenen Affekte mitdenkt, sondern auch - ausgehend von seiner Forschung zur Kunst der Performance - das Verhältnis zwischen Gegenstand und Forscher*in neu bestimmt: Writing about living artists helps one further debunk the false principle of the critic ’ s objectivity. [. . .] Attempting to imagine a convergence between artistic production and critical praxis is, in and of itself, a utopian act in relation to the alienation that often separates theory from practice, a sort of cultural division of labor. 31 Durchgängig arbeitet Muñoz heraus, wie der Dialog mit den von ihm behandelten noch lebenden Künstler*innen seinen Blick strukturiert oder wie Netzwerke, in denen er sich durch Freundschaften befindet, ihm Zugang zu vergessenen queeren Archiven verschaffen. 32 Der Zugang zum Noch-Nicht-Bewussten, Zukünftigen, im Nicht-Mehr-Bewussten ist somit auch ein vielfach vermittelter und geöffneter Zugang, eine Spurenlese und ein Spurenlesen des Nicht-Mehr-Sichtbaren. Dass Muñoz zu seiner Lektüre Blochs Spuren zählt, verwundert somit nicht. Denn für Spuren gilt, in Adornos Rezension: Der Fluß erzählenden Denkens strömt mit allem, das er hinführt, menschenfängerisch übers Argument hinweg, ein Philosophieren, in dem in gewissem Sinn gar nicht gedacht wird; eminent gescheit, gar nicht scharfsinnig nach Schulbrauch. 33 Adorno schreibt Bloch ein „ erzählendes Denken “ zu, was das Ineinander von Reflexionen und Erzählungen in Spuren genau trifft. 34 In Bloch findet Muñoz, betrachtet man Adorno, auch einen Vorläufer der Kritik an der Trennung von Subjekt und Objekt: Mit der Dialektik, die die Entfremdung von Subjekt und Objekt zu überwinden lehrt, hat er [Bloch] es so ernst genommen, daß er den sachlichen, gelassenen Ton des Akademikers verschmähte, der die kalte Beziehungslosigkeit zum Objekt verewigt. 35 An anderer Stelle verteidigt Adorno Bloch erneut, indem er seine Art des Denkens beschreibt: Unter den Denunziationen, die man gegen Bloch gerichtet hat, als er noch in Leipzig lehrte, hat eine ganz besondere Rolle das Argument gespielt, er schreibe einen feuilletonistischen Stil. Damit war nichts anderes gemeint, als daß sein Denken die Dynamik des Gedankens in seiner Darstellung auszudrücken sucht, anstatt in jener Mischung von festgelegten Termini und sprachlicher Undifferenziertheit sich zu bewegen, die für das verdinglichte Bewußtsein überhaupt charakteristisch ist. 36 Muñoz ’ Aussage, es handele sich bei seinem eigenen Schreiben um einen utopischen Akt, ließe sich folglich auch auf Bloch beziehen, der in seinem Schreiben selbst ein Aufblitzen des Noch-Nicht provoziert. Muñoz ’ Blick ins Archiv queerer Kultur widmet sich dem Zukünftigen im Vergangenen und Vergessenen und greift darin Blochs Idee der antizipatorischen Funktion von Kunst auf. Bloch, im Unterschied zu Muñoz, erkennt sie an den ‚ großen Werken ‘ . Nicht diese Werke, sondern ihr utopischer Gehalt muss neu gesehen werden. Der von Muñoz so häufig verwendete Begriff des ‚ nolonger-conscious ‘ spielt so für Bloch keine Rolle, ja, er unterscheidet das Nicht-Mehr- Bewusste als Zuständigkeit einer bürgerlichen Psychoanalyse gerade vom Potential des Noch-Nicht-Bewussten, das als Zukünftiges und nicht als Verdrängtes erkannt werden muss: „ Das Noch-Nicht-Bewusste insgesamt ist die psychische Repräsentierung des Noch-Nicht-Gewordenen in einer Zeit und ihrer Welt, an der Front der Welt. “ 37 Dafür braucht es eine Hermeneutik der 74 Annette Bühler-Dietrich Hoffnung, die erkennt, was in der Zeit über sie hinausgeht und darin Kritik an den gewordenen Zuständen entfaltet. Daran orientiert sich auch Muñoz. Muñoz ’ Bloch- Lektüre nimmt darin Blochs Gedanken auf und überführt sie in ein Themengebiet, die Queer Studies, die nicht zu Blochs Horizont gehörten, für die (und nicht nur für sie) seine Gedanken wie auch seine Denk- und Schreibweise aber durchaus Vorläufer-Funktion hätten haben können. Die weite Verbreitung des plötzlich und zu früh verstorbenen Muñoz in den Queer Studies heute hält gerade auch das kritische Potential der Hoffnung weiterhin wach, wie es der Theaterwissenschaftler von Bloch übernommen hatte. Bill T. Jones, The Process of Becoming Infinite Reenactment would at first seem only to have regard for the past, but move a bit closer and it becomes apparent that these returns draw us toward the future. 38 Bill T. Jones lässt sich, wie Bloch und Muñoz, als Vertreter eines „ erzählenden Denkens “ (Adorno) betrachten. Zu seinen Projekten seit 2010 gehören Mischformen von Vortrag, gesprochener Rede und Tanz, in denen er seine Position als Tänzer und Choreograph, als Schwarzer, homosexueller und HIV-positiver Mann zum Thema macht und darin Vergangenheit und Zukunft beleuchtet. Zu diesen Projekten gehören die in Princeton unter dem Titel Story/ Time (2012) gehaltenen Toni Morrison Lectures, die Solotanzperformance The Process of Becoming Infinite (2016) sowie die jüngste Produktion A Letter to my Nephew (2017). Die inhaltliche Ausrichtung dieser Projekte wie auch Jones ’ Befragung der eigenen Vergangenheit mit Blick auf eigenes wie gesellschaftliches Zukünftiges in Form eines erzählenden und tanzenden Denkens erlaubt es, ihn in eine Reihe mit den Reflexionen von Bloch und Muñoz zu stellen, um zu sehen, wie die Reflexion eines Zukünftigen im Raum der Kunst selbst stattfindet. Muñoz ’ These, „ [t]urning to the aesthetic in the case of queerness is nothing like an escape from the social realm, insofar as queer aesthetics map future social relations ” , 39 ist an Jones ’ Arbeit überprüfbar. Inwiefern Hoffnung als Kritik fungiert, lässt sich anhand des in The Process of Becoming Infinite integrierten Reenactments zeigen. Reenactments sind derzeit ein wichtiger Bestandteil der Auseinandersetzung von Tänzer*innen und Choreograph*innen mit fremder und eigener zeitlich zurückliegender Arbeit. Sie sind Teil der Tanzgeschichte, die nicht nur diskursiv, sondern auch verkörpert vermittelt wird, wohl wissend um damit einhergehende Verschiebungen. Beiträge im Oxford Handbook of Dance and Reenactment (2017) zeigen das breite Spektrum des Themas. 40 Randy Martin beginnt seinen Beitrag mit dem oben genannten Zitat und führt dann weiter aus: „ What might appear as repetition, then, is in practice a parsing of certain attributes of what we have found and what we are looking for. ” 41 Reenactment basiert also auf einer analytischen und motivierten Bestandsaufnahme und der Blick zurück führt in die Zukunft - „ these returns draw us toward the future “ . Nicht die museale historische Rekonstruktion, sondern die Eruierung dessen, was über den Moment in die Zukunft weist, stützt das Reenactment. Martins Verwendung des linguistischen Fachbegriffs ‚ parsing ‘ für die Analyse schreibt in den analytischen Blick zurück die Öffnung zur Zukunft ein. Damit kann das Reenactment zur Artikulation von zukunftsweisender Hoffnung als Kritik werden. Munoz ’ „ turn to the no-longer-conscious enabled a critical hermeneutics attuned to comprehending the not-yet-here “ , 42 kehrt hier in anderer Formulierung wieder. 75 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones Bill T. Jones (*1952) gehört zur amerikanischen Tanzavantgarde. 1982 gründete er mit seinem Partner Arnie Zane (1948 - 1988) die renommierte Bill T. Jones/ Arnie Zane Company. Als Tänzer und Choreograph hat er sowohl Soloperformances getanzt als auch die Choreografie und Regie für große Produktionen übernommen, darunter Still/ Here (1994), Fondly do we hope . . . fervently do we pray zum 200. Geburtstag Abraham Lincolns (2009), aber auch das Broadway Musical Fela! (2009). 2012 hielt er die Toni Morrison Lectures an der Princeton University, eine Kombination aus zwei Vorlesungen und einer Lecture Performance, in der Jones 100 von ihm gelesene 60sekündige Erinnerungen und Aperçus vortrug, während seine Tänzer*innen tanzend auf diese Texte reagierten. 2016 fand seine Solotanzperformance The Process of Becoming Infinite im Rahmen der TED Lectures in Vancouver statt. 43 TED ist eine gemeinnützige Organisation, die sich der Verbreitung neuer Ideen verschrieben hat und dazu Wissenschaftler*innen, Denker*innen, Künstler*innen aus allen Bereichen zu Vorträgen einlädt, die aufgezeichnet und dann über das Internet verbreitet werden. 44 The Process of Becoming Infinite ist somit frei im Internet zugänglich und im Bewusstsein der Mischung aus Lecture und Performance für das Publikum, aber auch für die Kamera entworfen. Mit dieser Soloperformance werde ich mich im Folgenden befassen. Da die Lecture Performance in ihrer Grundstruktur auf der Produktion 21 von 1983 basiert und Jones somit ein Reenactment seiner eigenen Choreografie vorführt, eignet sich die Performance besonders, um das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft zu diskutieren, und zwar in einem Kontext von Black Queer Studies, den Jones und Muñoz teilen. Jones ’ Autorität als Tänzer und Choreograph führt dazu, dass er zum Kommentator seiner Arbeit und der Veränderungen des gesellschaftlichen Umgangs mit Schwarzer Homosexualität wird. 45 Die Differenz zwischen ihm und den jüngeren Kollegen wird in den Dialogen sichtbar, eine überdeutliche Bewusstheit seiner Position wird in seinen Interviews artikuliert. 46 Seine autobiografische Bestandsaufnahme im Rahmen der TED-Lecture wird durch diese diskursive Verortung gerahmt. Im Unterschied zu Story/ Time tanzt und spricht Bill T. Jones in The Process of Becoming Infinite selbst. Das 24-minütige Stück, das Jones am Tag seines 64. Geburtstags zur Aufführung bringt, besteht aus einer Einleitung und 21 Positionen. In der Einleitung beginnt Jones mit dem Rückblick auf das Jahr 1983, in dem er Artist-in-Residence an einer Schule in Connecticut war, wo er für seine athletische und, darin konnotiert, nicht schwule Art zu tanzen, eingeladen wurde, wie Jones in seinen Gesten deutlich macht. Damals, 1983, hat er das Stück 21 erstmals aufgeführt, das er nun im Rahmen der Lecture Performance wieder aufnimmt. 47 Sein Reenactment von 21 im Rahmen von The Process of Becoming Infinite bildet das Gerüst der über den Verweis auf seinen Geburtstag eindeutig 2016 situierten Performance. Jones setzt so seine drei Jahrzehnte alte Choreografie in Bezug zum aktuellen Moment, den er aber angesichts des Titels und der Wiederaufnahme des Titels in der Performance ins Unendliche verlängert. Die Auseinandersetzung mit den 21 Positionen von Männlichkeit und deren Verknüpfung mit den Schlaglichtern auf das eigene Leben überprüft gerade kritisch, unterscheidend, ‚ parsing ‘ , wo die Samenkörner der Hoffnung sind, die auf ein Künftiges weisen. 48 Da ihn die Veranstalter gebeten haben, dem Publikum Kontext zu vermitteln - ein Wort, das er mit fließenden Bewegungen der Oberarme kommentiert - , erwähnt Jones sowohl den Kontext der folgenden Bewegungsreihe im Verweis auf 1983 und kontextualisiert gleichzeitig sein folgendes Tun 76 Annette Bühler-Dietrich in der Gattungszuweisung: Es handle sich um „ what we call in my world a task-based choreography “ und um einen offenen Prozess, um „ process as performance “ , einen Prozess als Weg, zu dem er das Publikum mit wellenartigen Armbewegungen einlädt. Nach einem kurzen Moment des Innehaltens tanzt er die 21 Positionen: Er lässt sie zunächst einmal konsekutiv aufeinander folgen, bis er beim zweiten Mal jeder einzelnen Position eine Nummer und beim dritten Mal einen Namen gibt. Dies entspricht der Choreografie von 1983. Die Namen verweisen auf bekannte Personen - Arnold Schwarzenegger, Muhammad Ali, Ingmar Bergmann - , Kunstgeschichte, Sport, Haltungen wie „ Erwartung “ (im Original Deutsch) und „ God, too, can go to hell “ , und Sexualität. Das sind die Elemente des Abends, die er von 1983 übernimmt. Diese Positionen sind als Posen von Männlichkeit dechiffrierbar und prägen sich über die Wiederholung im Laufe des Abends als wiedererkennbare ein. Ihre Datiertheit zeigt sich an den Namen, die zwar Teil des kulturellen Gedächtnisses sind, jedoch 1983 anders präsent und dominant waren als heute. Dieses Bewegungsrepertoire kombiniert er im Darauffolgenden mit vier Episoden, einer Art historischem Rückblick, der über seine eigene Geschichte hinausgeht und 1908 mit Isadora Duncan beginnt. Dabei wählt er bestimmte Positionen aus, die er zwischen seine Erzählung schaltet, ohne nochmals den ganzen Zyklus zu tanzen. Die zweite Episode betrifft seine Rückkehr zu den Eltern 1971, als ihn seine Mutter direkt und missbilligend auf seine Homosexualität anspricht und sein Vater ihn mit den Worten verteidigt: „ Leave that boy alone. He is a man. “ Jones ’ Überlegung, was dieses Wort ‚ man ‘ bedeute, hat 21 Posen der Männlichkeit 1983 veranlasst: „ At that time, what did that word mean, before we became aware that we didn ’ t have to be so goddam binary. “ 49 Jones schließt die folgende Episode unmittelbar an. In ihr treffen Leben und Tod aufeinander: Der 64. Geburtstag des Künstlers folgt auf den Tag, an dem eine Freundin und Mentorin zweiundneunzigjährig stirbt, wie er von deren Tochter erfährt. In einer Art Zwischenstory geht er danach kurz darauf ein, dass er nie weiß, als was ihn andere wahrnehmen - ob als Schwarzen Mann, als Sexobjekt oder als „ social goal “ . In seiner abschließenden Geschichte geht er dann auf das Jahr 1954 zurück. Er leitet sie damit ein, dass seine Lockerungsbewegungen des Oberkörpers krampfhaft und die Musik schrill werden, kulminierend in dem Satz „ that ’ s why I ’ m crazy like I am because I didn ’ t know who the fuck I was. “ Dann berichtet er, wie er als kleiner Knabe, der eine tote Katze über eine Mauer in einen Abgrund warf, gesagt haben soll, „ that poor cat went spinning into infinity. “ Jones greift diesen Satz auf und verbindet ihn mit der Nennung verstorbener und lebender Freunde und schließlich mit seinem eigenen stiller werdenden Körper. Die Performance endet mit den Worten: „ I am the ocean. [. . .] Good-bye binary. Hello future. I am dreaming, Chris. “ 50 Binarität, die Jones auch schon am Anfang benennt, wird als Einschränkung, „ stricture “ evoziert, deren Macht er aufruft und bricht. TED ist eine Organisation, die Veranstaltungen und Vorträge organisiert, die sich mit zukunftsweisenden Ideen beschäftigen - kurz vor Ende seiner Performance nennt Jones Schlagworte wie „ genome, computer, science “ und spielt darin auf diese Vorträge an. Als Tänzer ist sein Auftritt bei TED ungewöhnlich und Jones ist sich seiner Randposition bewusst. Zwar hat er mit anderen Vortragenden die kleine runde Bühne gemeinsam, doch steht er nicht wie sie am Rednerpult, um rhetorisch gekonnt aufgebaute, diskursive Vorträge zu halten, sondern nutzt den Kreis als Tanzfläche. In seiner Performance verbindet er geschickt verschiedene Ebenen: die genannten Episoden 77 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones aus seinem Leben mit einem kleinen Exkurs in die Tanzgeschichte, das Bewegungsrepertoire der 1983-Choreografie 21, tänzerische Bewegungen der Arme und Beine, die sich dem zeitgenössischen Tanz, aber auch dem klassischen Ballett zuordnen lassen, Einleitung und Schluss, die auf den Akt der Performance beziehungsweise den physischen Prozess selbst verweisen. Zusätzlich agiert die Musik der elektrischen Gitarre von Sam Crawford als weiteres Zeichensystem, Stille und Musik wechseln, die Musik erzeugt und verstärkt verschiedene Stimmungen. Der Veranstalter möchte Kontext, und Jones liefert dafür verschiedene Kontexte, die einander kommentieren und darin, wie seine fließenden Armbewegungen proleptisch andeuten, eine Verflüssigung bewirken. Das Bewegungsgerüst der 21-Choreografie begleitet und unterbricht die Geschichten. Es sichert den Tänzer über den beherrschten Bewegungsablauf gegenüber den schlecht beherrschbaren Affekten der Scham, des Schmerzes, der Furcht ab. Jones ’ „ process as performance “ wird zum „ process of becoming infinite “ , eine Paraphrase des in der Performance genannten „ spinning into infinity “ . Wie lässt sich Unendlichkeit um den Preis der Endlichkeit erreichen? In den Geschichten, die der Tänzer erzählt, kommen Kernthemen zum Ausdruck: Kreativität, Widerstand gegen gesellschaftliche Normen, Männlichkeit und Homosexualität, Alter, Vergänglichkeit und Verlust, Tod und Unendlichkeit. Diese kontrastiert und kommentiert er durch Bewegungsabläufe, die zwischen den verbalen Geschichten ihre eigene Geschichte über die Imaginationen von Männlichkeit vor der Aids-Epidemie erzählen und zwar in einem über Jahrzehnte dem Körper eintrainierten Repertoire an Bewegungen. Indem Jones auch diesen Körper als Tänzer ausstellt, die Anstrengung, den Schweiß und verschiedene Körperzonen benennt, kontrastiert er Vergänglichkeit und Präsenz. Jones ’ vielschichtige Lecture performance stellt die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft her. Sie ordnet sich im Werkkorpus einer Auseinandersetzung mit Subjektivität, Kunst und Zeit zu, die er auch in den genannten Princeton-Vorlesungen zum Ausgangspunkt macht unter den Titeln Past Time, Story/ Time und With Time. 51 Jones ’ schonungslos ehrliche Art, über sein Verhältnis zur Kunst zu reden - eine Ehrlichkeit, bei der man seine Position des hochanerkannten und ausgezeichneten Künstlers mitberücksichtigen muss - , bringt er auch in die TED-Lecture ein. Wenn er sich in Story/ Time mit dem Einfluss der Kunst und Haltung John Cages auf ihn befasst, kommt er, in Abgrenzung zu Cage, zur fragenden Aussage: „ Isn ’ t art - the experience of art making, the execution or performance of art - about feelings? “ 52 Dass Affekte und Gefühle ein wesentliches Element seiner Kunst sind, wird in The Process of Becoming Infinite deutlich. Hinsichtlich der Hermeneutik des Noch- Nicht-Bewussten in vergangenen Ereignissen lässt sich in dieser Performance Folgendes beobachten: Jones greift mit 21 eine Choreografie auf, die 33 Jahre zurückliegt. 1983 setzt sich diese Choreografie mit Bildern der Männlichkeit auseinander, die zur kulturellen Gegenwart oder zum kulturellen Gedächtnis gehören und die Konzeption von Männlichkeit im 20. Jahrhundert mitbestimmt haben, einer Zeit, in der die Gesellschaft „ so goddam binary “ war. Die Auseinandersetzung mit diesen Bildern geschieht augenzwinkernd, wenn er Posen wie „ Adam before - and after “ einbaut, oder für die Vancouver-TED-Lecture die Pose der „ pregnant Vancouver housewife “ einschmuggelt, die vermutlich nicht Teil der ursprünglichen Reihe war. Die Reihe der 21 Positionen selbst entwickelte er, wie erwähnt, in Reaktion auf die unerwartete Aussage des Vaters „ Leave that boy alone. He is a man. “ In ihr wird aus bloch ‘ scher 78 Annette Bühler-Dietrich Warte ein Moment des Noch-Nicht-Bewussten als ein Potential gesellschaftlicher Veränderung eröffnet, insofern die väterliche Vorstellung von Männlichkeit auch Homosexualität miteinschließt. Trotz Stonewall 1969 ist, und das macht Jones deutlich, dieser Satz seines Vaters, eines armen Wanderarbeiters, außergewöhnlich. Die Belastbarkeit dieser übernommenen Reihe erprobt er nun, indem er sie mit den Geschichten, die er am 15. Februar 2016 erzählt, kombiniert. Wenn er beginnt, diese Geschichten zu erzählen, wählt er einzelne Positionen aus, die er auch mit anderen Bewegungsabläufen verbindet. Auch in seiner verbalen Erzählung blickt Jones zurück: auf Isadora Duncans Widerstand gegen Tanznormen - „ artists always fighting the strictures of their society “ ; 53 auf die erwähnte unerwartete Verteidigung seiner Homosexualität durch seinen Vater; auf die Geste des Willkommenheißens, die er als junger Tänzer - „ this African-American showy young choreographer “ - durch Betty Winsloe/ Winslow 54 und andere Mentor*innen erfahren hat. In allen drei Fällen fokussiert Jones ein Verhalten, das in die Zukunft weist, eine Zukunft jenseits von Rassismus und Heteronormativität. Sein Hinweis auf seinen Geburtstag, den er über den Beatles-Song When I ’ m Sixty-Four einführt, dessen Zeilen er singt, unterbricht auf vorgesehene Weise die Performance, weil das Publikum vorhersehbar applaudiert. Die Anspielung auf seinen Geburtstag geht jedoch nahtlos in den Bericht von Bettys Tod über. „ Will you still need me, will you still feed me, when I ’ m sixty-four “ , singt Jones. Darin ist das Spiel mit dem Publikum enthalten, das den weitverbreiteten Song wiedererkennt, aber auch die dringenden, existentiellen Fragen, die sich um Brauchen und Ernähren gruppieren. Wird dieses angesprochene ‚ you ‘ - das im Song auf eine*n Partner*in verweist, in der Situation der Aussage aber das Publikum ansprechen könnte - ihn, Jones, noch sehen wollen, wenn er älter ist? Wie ist es mit der Verantwortung gegenüber dem alternden Menschen und Künstler? Was bringt die Vergänglichkeit mit sich, die er unterstreicht, indem er vom Tod seiner Mentorin erzählt? 55 Auf den Bericht von seinem eigenen Geburtstag und dem Tod seiner Mentorin folgen verschiedene Posen und Schrittfolgen. Während sein Körper auch während seiner Erzählungen nur selten still steht, schafft er durch die festgelegten Positionen aus 21 Zäsuren nach dem Gespräch mit den Eltern 1971 und nach dem Bericht vom Tod Bettys. Das Bewegungsvokabular zeigt sich hier als Gerüst, auf das sich Jones nach diesen affektiven Momenten stützt. Jones ’ Abschluss, der, wie eingangs erwähnt, physisch als Krisenerfahrung eingeleitet wird, indem der Tänzer den ganzen Körper in eine vibrierende Bewegung überführt, wendet sich einer Kindheitsepisode zu. Der markante Satz des kleinen Knaben, „ that poor cat went spinning into infinity “ hat sich als Redewendung im Familienvokabular erhalten. Nun greift Jones darauf zurück und stellt so eine Beziehung zwischen Bewegung, Unendlichkeit und Vergänglichkeit her, die seine Arbeit als Tänzer, der sich gerade mit Bewegung, Vergänglichkeit und Verwandlung auseinandersetzt, prägt. 56 Der vom Kind geäußerte Satz wird prognostisch für das Programm des Künstlers in der Überwindung des Todes durch Unendlichkeit. 57 In seiner Vorlesung With Time gibt er dieser Auseinandersetzung mit Verwandlung und Transzendenz mehr Raum und untersucht deren verschiedene Facetten. 58 2016 fasst er Verwandlung und Transzendenz im Bild des ‚ Spinning into infinity ‘ zusammen. Darin ist nicht nur die Transzendenz statt der Vergänglichkeit gemeint, die Jones durch die Nennung der verstorbenen Freunde konnotiert. Auch die lebenden Freunde sowie sein eigenes Ich gehören zu diesem Prozess, der auf die Vergänglich- 79 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones keit vorausweist, aber auch auf eine andere Transformation: „ a vision of a self that could in an instant transform from human being to the idea of human being. “ 59 Gerade die Überschreitung des Existierenden auf das Noch-Nicht ist hier konnotiert. ‚ Spinning into infinity ‘ meint so nicht nur einen jenseitigen Zustand der Unendlichkeit, sondern auch einen diesseitigen künftiger Veränderung und Veränderbarkeit und ersetzt hier den Begriff der Utopie. 60 Dass dies bei Jones nicht nur persönliche, sondern auch konkrete gesellschaftspolitische Implikationen hat, es also um konkrete Utopien geht, wie sie Bloch fordert, wird zum einen in seinen Gedanken zur Verwandlung deutlich: Which category of the world did I want to transform? The part that joined my voice to the voices of people across the country and the globe crying out “ We shall overcome ” in the age-old communal cry for social justice? Or the part of transformation that turns one into a free person, a powerful person, a desirable person - who says: “ I am not what the world tells me I am. I can adopt a lifestyle, choose friends, in a way that transforms me into a vision of myself more in keeping with an imagined world in which I am in control ” ? 61 Nicht nur die Veränderung des Subjekts, sondern auch die Veränderung der Gesellschaft ist Teil seiner Transformation. „ [A]n imagined world “ ist eine, die er über seine Choreografien und die Zusammensetzung seines Ensembles herstellen möchte. Dass er seit 2011 New York Live Arts leitet, mit dem Ziel „ to revisit the mission of a venerable research center and safe haven for the untried and unexposed in contemporary live arts, embodied research, and contemporary dance performance “ , 62 ist Teil dieser Anstrengung, eine andere Welt zu ermöglichen. Im Unterschied zu Bloch und Muñoz verbindet Bill T. Jones den Künstler und den erzählenden Denker in einer Person. In seinem Rückblick akzentuiert er die Momente seiner Vergangenheit, die in ihrer Utopie über den Zustand der genderbinären, rassistischen Gesellschaft hinauswiesen. Die Zeitverzögerung, mit der diese Momente bewusst wurden, zeigt sich schon in der Verzögerung zwischen der väterlichen Stellungnahme 1971 und der Choreografie 1983. Obwohl Jones zu Anfang betont, dass die (Gender)Binarität als Konzept hinterfragt sei, macht er sie doch implizit wiederholt als Problem zum Thema und setzt ihr diese Momente der Vergangenheit gegenüber. 63 Bill T. Jones beginnt seinen verbalen Auftritt mit den Worten „ I dreamed “ , nur um diese gleich wieder zurückzunehmen, und endet ihn mit dem Satz „ I ’ m dreaming “ . Statt einen Traum an den Anfang zu stellen, ersetzt er diesen durch einen verbalen und tänzerischen Rückblick, der sich emphatisch im Heute vollzieht - Jones ’ Geburtstag - und auf die Zukunft weist. Erst nach diesem Durchgang steht am Ende wieder die Möglichkeit des Traums. Dessen Inhalt jedoch verschweigt er. Schluss: Durchquerungen Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones gehören verschiedenen Generationen und Disziplinen an. Gemeinsam ist ihnen eine geschärfte Aufmerksamkeit für den Zustand der Gesellschaft und ihre Position in derselben sowie ihre mit unterschiedlichen Ausdrucksmitteln geübte Kritik an dieser Gesellschaft. Blochs Herkunft aus dem assimilierten jüdischen Arbeitermilieu Ludwigshafens situiert ihn ebenso außerhalb des Zentrums bürgerlicher Macht wie Bill T. Jones ’ Herkunft aus einer Schwarzen, armen und kinderreichen Arbeiterfamilie. Dies gilt auch für José Esteban Muñoz, der mit den Eltern aus Kuba einwandert und 80 Annette Bühler-Dietrich als schwuler kubanisch-stämmiger Jugendlicher wie Jones am Rand der Herkunftsfamilie und der weißen Mehrheitsgesellschaft stand. Jones und Muñoz gehen mit ihrer Herkunft und Sexualität offensiv um. Alle drei Denker üben Kritik an der scheinbar festgefügten weißen, bürgerlichen, hegemonialen Gesellschaft, indem sie die versteckten Samenkörner von Utopie in der Vergangenheit suchen und mit ihnen über die Gegenwart hinausweisen: „ Die wesentliche Funktion, die dann Utopie hat, ist eine Kritik am Vorhandenen. Wenn wir die Schranken nicht schon überschritten hätten, könnten wir sie als Schranken nicht einmal wahrnehmen “ , 64 schreibt Bloch. Muñoz ’ emphatische Betonung der Zukünftigkeit von Queerness sieht diese als Möglichkeit, die Schranken einer hetero- und homonormativen, hegemonial weißen Gesellschaft zu überschreiten. Jones ’ Insistenz auf Transformation und Transzendenz nimmt diese Bewegung der Überschreitung auf und bindet sie wiederum an seine Erfahrung als Schwarzer homosexueller Tänzer zurück. An die Stelle der direkten Kritik des Bestehenden tritt die Suche danach, wie sich aus der Sicht einer nicht konkret bestimmten Utopie dieses Bestehende als Veränderbares begreifen ließe. Blochs Fokus auf den Affekt und das Methodikum der Hoffnung macht ihn dabei in besonderer Weise anschlussfähig an die Queer Studies, zumal sein Begriff der Hoffnung eben nichts mit Optimismus gemein hat, dem ‚ cruel optimism ‘ , der uns laut Berlant an falschen, gesellschaftlich propagierten Idealen festhalten lässt. Bloch untersucht das Zukunftspotential der Vergangenheit, indem er in seiner breit angelegten Studie herausarbeitet, was über die Vergangenheit hinausweist, wo Möglichkeiten angelegt sind, die in den Trümmern der Geschichte verdeckt wurden. 65 Dabei vergisst er die Gegenwart nicht, die ein Gewordenes ist, das sich ändern lässt, „ antizipatorische Elemente sind ein Bestandteil der Wirklichkeit selbst “ , 66 und darin eben auch der Gegenwart. 67 Auch Jones betont diesen gegenwärtigen Moment sowie die Verzahnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in seinen Schriften und Aussagen wie in seiner emphatisch in der Gegenwart stattfindenden Tanzkunst. 68 Doch es ist eben keine teleologische Abfolge, sondern ein Schnittpunkt verschiedener Zeitstufen. Am Ende von Cruising Utopia schreibt Muñoz: This text is meant to serve as something of a flight plan for a collective political becoming. These pages have described aesthetic and political practices that need to be seen as necessary modes of stepping out of this place and time to something fuller, vaster, more sensual, and brighter. From shared critical dissatisfaction we arrive at collective potentiality. 69 Muñoz verweist emphatisch auf die Zukunft, indem er Leser*innen im Hier und Jetzt anspricht. Seine Rhetorik beschwört herauf, was er realisiert sehen möchte, sie stellt die Brücke her zwischen „ no longer conscious “ und „ not yet here “ . Die enttäuschte Hoffnung - „ critical dissatisfaction “ - wird zur vorwärtsweisenden Kritik am Ungenügen der Wirklichkeit. Im Unterschied zu Muñoz wendet sich Jones gerade dem Hier und Jetzt als Ort der Potentialität zu. Kunst wird zum Ort, wo soziale Beziehungen schon im Jetzt verändert werden können, wie Jones ’ künstlerische Arbeiten zeigen. Darin wird die Hoffnung, dass gesellschaftlich Gewordenes veränderbar ist, zur Kritik des Bestehenden, ohne dass eine konkrete Vision am Ende stehen muss. In seiner Metapher des „ flight plan “ knüpft Muñoz an ein Bewegungsbild an, das Bloch anhand eines anderen Mediums, des Schiffs, bereitstellt. Denn Bloch verlegt die Utopie von der Zeit in den Raum: 81 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones Aber sie ist nicht etwa Nonsens oder schlechthin Schwärmerei, sondern sie ist noch nicht im Sinne einer Möglichkeit, daß es sie geben könnte, wenn wir etwas dafür tun. Nicht nur wenn wir hinfahren, sondern indem wir hinfahren, erhebt sich die Insel Utopia aus dem Meer des Möglichen [. . .]. 70 Nur indem der Weg selbst beschritten, das Wasser befahren wird, ist eine Ankunft möglich. Muñoz ’ „ flight plan “ ist so Teil dieses Betreten des Weges. Jones ’ Wellenbewegung seiner Arme und sein Körper in fließenden Bewegungen lassen sich mit diesem Hinfahren assoziieren. Hoffnung als Kritik setzt so Bewegung in Gang. Dieser Hoffnung nachzuspüren, deren Spuren zu lesen und zu deuten, führt zu einer kritischen und darin nach vorne offenen (Re) Lektüre des vergangenen und gegenwärtigen Archivs. Anmerkungen 1 José Esteban Muñoz, Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity, New York 2009, S. 2 - 4. 2 Ernst Bloch, „‘ Etwas fehlt . . . Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. ‘ Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno. Gesprächsleiter Horst Krüger “ , in: Rainer Traub und Harald Wieser (Hg.), Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt a. M. 2 1977, S. 58 - 77, hier S. 75. 3 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt a. M. 4 1977, S. 5. 4 Ebd., S. 61. 5 Ebd., S. 71, i. O. kursiv. 6 Ebd., S. 82 - 83. 7 Ernst Bloch, „ Kann Hoffnung enttäuscht werden? “ , Eröffnungs-Vorlesung, Tübingen 1961, in: Ernst Bloch, Literarische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1965, S. 385 - 392, hier S. 387. 8 Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 225. 9 Ebd., S. 226. 10 Bloch, „ Kann Hoffnung enttäuscht werden? “ , S. 387. 11 Ebd. 12 Ebd. Im Gespräch mit Adorno betont Bloch diese Unterscheidung innerhalb weniger Zeilen drei Mal. Bloch, „ Etwas fehlt “ , S. 75; alle Verweise auf Zuversicht sind auf dieser Seite. Bachs Choral „ Jesus, meine Zuversicht “ und die häufige Apostrophierung Jesu als Zuversicht war Bloch sicherlich vertraut. 13 Bloch, „ Kann Hoffnung enttäuscht werden? “ , S. 389. 14 Vgl. ebd., S. 389 - 390. 15 Theodor W. Adorno, „ Kritik “ , in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, Bd. 10.2, S. 785 - 793, hier S. 793. 16 Bloch, „ Etwas fehlt “ , S. 61. 17 Die Kritik am Begriff des Humanismus der europäischen Aufklärung findet sich z. B. bei Achille Mbembe, Politiques de l ’ Inimitié, Paris 2016. 18 Bloch, „ Etwas fehlt “ , S. 65. 19 Vgl. Adorno in ebd., S. 65. 20 Muñoz, Cruising Utopia, S. 1. 21 Mari Ruti, The Ethics of Opting Out: Queer Theory ’ s Defiant Subjects, New York 2017. 22 Lee Edelman, No Future: Queer Theory and the Death Drive, New York 2004; Sara Ahmed, The Promise of Happiness, Durham NC 2010; Lauren Berlant, Cruel Optimism, Durham NC 2011; Sara Ahmed, Willful Subjects, Durham NC 2014. 23 Muñoz, Cruising Utopia, S. 2. 24 Ebd., S. 1. 25 „ Bloch offers us hope as a hermeneutic, and from the point of view of political struggles today, such a critical optic is nothing short of necessary in order to combat the force of political pessimism. “ Ebd., S. 4. 26 Er zitiert die oben erwähnte Textstelle Blochs aus „ Kann Hoffnung enttäuscht werden? “ , Muñoz, Cruising Utopia, S. 3., vgl. ebd. S. 4. 27 Ebd., S. 12. 28 Vgl. Blochs Ausführungen zur konstitutiven Enttäuschbarkeit von Hoffnung in Bloch, „ Kann Hoffnung enttäuscht werden? “ , S. 386 - 387. 29 Muñoz, Cruising Utopia, S. 173. 30 Ann Cvetkovich, Depression: A Public Feeling, Durham NC 2012; Elspeth Probyn, 82 Annette Bühler-Dietrich „ Writing Shame “ , in: Melissa Gregg und Gregory J. Seigworth (Hg.), The Affect Theory Reader, Durham NC 2010, S. 71 - 90. Wichtige Vorläufer*innen dieser Verbindung von Affekt und Kritik sind afrikamerikanische Kritiker*innen wie Audre Lorde oder James Baldwin, die Muñoz beide in Disidentification, nicht jedoch in Cruising Utopia zitiert. Vgl. José Esteban Muñoz, Disidentification: Queers of Color and the Performance of Politics, Minneapolis 1999. 31 Muñoz, Cruising Utopia, S. 101. 32 Siehe z. B. Muñoz, ebd., Kapitel 4 und 7. 33 Theodor W. Adorno, „ Blochs Spuren. Zur neuen erweiterten Ausgabe 1959 “ , in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 233 - 250, hier S. 236. 34 Ernst Bloch, Spuren. Neue erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1959. 35 Theodor W. Adorno, „ Für Ernst Bloch “ , in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 20.1., S. 190 - 192, hier S. 191. 36 Theodor W. Adorno, „ Zum Charakter von Blochs Terminologie “ , 1973, in: Burghart Schmidt (Hg.), Materialien zu Ernst Blochs ‚ Prinzip Hoffnung ‘ , Frankfurt a. M., S. 71. 37 Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 143. Im Original kursiv. 38 Randy Martin, „ Scenes of Reenactment / Logics of Derivation in Dance “ , in: Mark Franko (Hg.), The Oxford Handbook of Dance and Reenactment, New York 2017, S. 549 - 569, hier S. 549. 39 Muñoz, Cruising Utopia, S. 1. 40 Mark Franko (Hg.), The Oxford Handbook of Dance and Reenactment, New York 2017. 41 Martin, „ Scenes of Renactment “ , S. 549. 42 Muñoz, Cruising Utopia, S. 12. 43 Bill T. Jones, The Process of Becoming Infinite, https: / / www.youtube.com/ watch? v=QB Weo5FKoOA [Zugriff am 24. 03. 2019]. Das Video wurde am 17. 07. 2017 von TED veröffentlicht, also erst mehr als ein Jahr nach der Performance. 44 TED: Ideas Worth Spreading. https: / / www. ted.com [ Zugriff am 24. 03. 2019] 45 Zur Veränderung von Black Queer Studies siehe E. Patrick Johnson (Hg.), No Tea, No Shade, Durham, NC 2016 und dessen expliziten Bezug auf die von ihm herausgegebene Anthologie Black Queer Studies (2005). 46 Vgl. Bill T. Jones und Will Rawls, „ A duet, an argument, an inheritance. Bill T. Jones and Will Rawls in Conversation “ , in: Ishmael Houston-Jones, Will Rawls und Jaime Shearn Coam (Hg.), Lost and Found: Dance, New York, HIV/ Aids, Then and Now, New York 2016, S. 207 - 232. 47 Vgl. Bill T. Jones „ 21 “ , T-Magazine 2016. https: / / vimeo.com/ 203748396 [Zugriff am 24. 03. 2019]. 48 Die Etymologie des Worts Kritik führt zum Griechischen ‚ krínein ‘ , unterscheiden, trennen. 49 Jones, The Process of Becoming Infinite, 13: 10 - 13: 20. 50 Ebd., 23: 00. 51 Bill T. Jones, Story/ Time: The Life of an Idea, Princeton 2014, S. [v]. 52 Ebd. 102. 53 Jones, The Process of Becoming Infinite, 8: 50. 54 Trotz verschiedener Recherchen ist es mir nicht gelungen, Informationen über die Person und die richtige Schreibweise des Nachnamens zu finden. 55 Darin kontrastiert Jones ’ Verwendung des Beatles-Songs mit dessen Projektion der heterosexuellen Idylle nach langjähriger Partnerschaft. 56 Im Gespräch mit Will Rawls spricht Jones von seiner „ super awareness of mortality “ , Rawls und Jones, „ A duet “ , S. 209. 57 Im Gespräch von Adorno und Bloch wird die Frage der Abschaffung des Todes zur Kernfrage, an der sich „ [u]topisches Bewußtsein “ misst. Bloch, „ Etwas fehlt ” , S. 66. 58 Vgl. Jones, Story/ Time S. 100 - 101. 59 Ebd., S. 101. 60 „ Wo dies nicht drin ist, wo die Schwelle des Todes nicht zugleich mitgedacht wird, da gibt es eigentlich auch keine Utopie. “ Adorno in Bloch, „ Etwas fehlt ” , S. 68. 61 Jones, Story/ Time, S. 101. 62 Ebd., S. 12 - 13. 63 In den Gesprächen, die Jones mit deutlich jüngeren Gesprächspartnern wie Rawls führt, wird dieser Generationenunterschied und der verschiedene Erfahrungshorizont immer wieder deutlich. Auch Johnson be- 83 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones nennt in seiner Einleitung zu No Tea, No Shade die Veränderung der Aussagesituation und des Aussagbaren innerhalb der Black Queer Studies. Vgl. Johnson, „ Introduction “ , S. 1 - 2. 64 Bloch, „ Etwas fehlt “ , S. 70. 65 Während Benjamin in seinen Thesen die Trümmer hervorhebt, die der geschichtliche Fortschritt hervorbringt, untersucht Bloch die Trümmer auf ihr Potential für eine andere Zukunft. Vgl. Walter Benjamin, „ Über den Begriff der Geschichte “ , in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, Bd. I.2., S. 691 - 704. 66 Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 227. 67 Bloch erkennt die Mitte des 20. Jahrhunderts als Schwellenzeit, einen „ Übergang zu einem Anderswerden, einem Heraufkommenden “ , welchen das Bürgertum verweigert; „ die kapitalistische Gesellschaft spürt sich von der Zukunft verneint. “ Ebd., S. 155. 68 Jones ist seit 1985 HIV-positiv, das verheimlicht er nicht. Anzunehmen ist, dass dieses Leben auf Abruf seine Beziehung zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitprägt. Hinweise darauf lassen sich auch in Story/ Time finden, vgl. ebd. S. 33 und S. 73. 69 Muñoz, Cruising Utopia, S. 189. 70 Bloch, „ Etwas fehlt “ , S. 60. 84 Annette Bühler-Dietrich