Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2021
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BalmeVon der krisenhaften Schönheit der Sirenen: Trajal Harrells Antigone Sr./Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (L)
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2021
Julia Ostwald
In Trajal Harrells Produktion Antigone Sr. (2012) verbindet der afroamerikanische Choreograph performative Strategien von Voguing und postmodernem Tanz zu einer höchstgradig affektiven Choreophonie von Posen, Gesten und zu Popsongs singenden Stimmen. In dieser stilisierten Ästhetik rückt das Schöne in vielfältigen Brechungen in den Mittelpunkt. Der Artikel verfolgt die Frage, inwiefern Schönheit hier als ein Mittel der Kritik an geschlechtlichen, sexuellen und kulturellen Normierungen fungiert? Als Modell für eine solche kritische Schönheit dient die Figur der Sirenen, deren gleichermaßen schöner wie tödlicher Gesang die heteronormative Ordnung bedroht durch in Begehren, Imagination und queerer Zeitlichkeit wurzelnden Spannungen. Dieses Modell einer sirenenhaft kritischen Schönheit dient als Ausgangpunkt der Analyse der konkreten Modellierungen von Singstimmen und Posen in Antigone Sr., die – wie abschließend argumentiert wird – die temporäre Utopie einer nicht-heteronormativen Gemeinschaft entwerfen
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Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen: Trajal Harrells Antigone Sr./ Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (L) Julia Ostwald (Salzburg) In Trajal Harrells Produktion Antigone Sr. (2012) verbindet der afroamerikanische Choreograph performative Strategien von Voguing und postmodernem Tanz zu einer höchstgradig affektiven Choreophonie von Posen, Gesten und zu Popsongs singenden Stimmen. In dieser stilisierten Ästhetik rückt das Schöne in vielfältigen Brechungen in den Mittelpunkt. Der Artikel verfolgt die Frage, inwiefern Schönheit hier als ein Mittel der Kritik an geschlechtlichen, sexuellen und kulturellen Normierungen fungiert? Als Modell für eine solche kritische Schönheit dient die Figur der Sirenen, deren gleichermaßen schöner wie tödlicher Gesang die heteronormative Ordnung bedroht durch in Begehren, Imagination und queerer Zeitlichkeit wurzelnden Spannungen. Dieses Modell einer sirenenhaft kritischen Schönheit dient als Ausgangpunkt der Analyse der konkreten Modellierungen von Singstimmen und Posen in Antigone Sr., die - wie abschließend argumentiert wird - die temporäre Utopie einer nichtheteronormativen Gemeinschaft entwerfen. „ Do you know what realness is? Realness is when you try to be something that you are not, but you try anyway and how close you get is your degree of realness. “ (Trajal Harrell, Antigone Sr.) „ jenen Abstand zwischen dem Wirklichen und dem Imaginären [. . .], den zu durchmessen [. . .] der Gesang der Sirenen gerade verlocken will. “ (Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen, 1962) Die Produktion Antigone Sr./ Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (L) ist Teil der groß angelegten Serie Paris is Burning at the Judson Church (2009 - 2012), durch die der afroamerikanische Choreograph Trajal Harrell internationale Bekanntheit erlangte. Neben Harrell selbst als Antigone agieren hier vier weitere, ausschließlich männliche Tänzer. Das von ihnen erzeugte vielschichtige und vielstimmige Gewebe teils zitierter, teils imaginierter Posen, Gesten und Figuren sowie singender, skandierender und kommentierender Stimmen (wobei eingespielte Pop-Songs und vokale Liveperformance einander durchdringen) entwirft - so meine These - die Utopie einer Gemeinschaft, in der Femininitäten und Maskulinitäten nicht an bestimmte Körper gebunden sind, sondern das Spektrum eines variablen Kontinuums bilden, das mit verschiedensten Richtungen des Begehrens korrespondiert. Zugleich ist in inszenatorischer und performativer Hinsicht der Aspekt der Schönheit wesentlich für Harrell. Er bezeichnet sie als „ the tension in the works. “ 1 Die zentrale Frage meiner Überlegungen ist daher, wie genau Harrell Stimmen und Bewegungen in Antigone Sr. modelliert und inszeniert, so dass mit dem Begriff des Schönen ein aus der (Tanz-) Ästhetik nahezu verschwundener Begriff wieder relevant wird, der zudem in scheinbarem Gegensatz zum Kritischen steht. Wie ist diese Schönheit zu verstehen? Und inwiefern produziert sie Spannungen, die binäre, heteronormative Geschlechterver- Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 99 - 113. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0010 hältnisse und ihre intersektionalen Verflechtungen mit Fragen von ‚ race ‘ betreffen? Diesen Fragen nachgehend, werde ich (1) den referenzreichen Kontext der Produktion skizzieren, (2) unter Bezugnahme auf den Sirenenmythos als einem Modell krisenhafter Schönheit die strukturelle Verflechtung von Stimmen und Bewegungen sowie deren jeweils spezifische Materialität analysieren, um abschließend (3) das kritisch-utopische Potential dieser spannungsgeladenen, von Begehren, Imagination und queerer Zeitlichkeit geprägten Schönheit zu umreißen, die feministische, postkoloniale und queere Belange zugleich kollidieren lässt und produktiv zu machen versteht. 2 Voguing Antigone: Kontextuelle Verflechtungen Der gesamten Serie Paris is Burning at the Judson Church liegt die Frage zu Grunde: „ What would have happened in 1963 if someone from the voguing ball scene in Harlem had come to downtown New York to perform alongside the early post-moderns at the Judson Church? ” 3 In kritischer Auseinandersetzung mit performativen Strategien von Voguing und postmodernem Tanz entwickelt Harrell mit den einzelnen Versionen der Serie Vorschläge eines imaginierten Dritten. 4 In den beiden Versionen Antigone Jr. und Antigone Sr. greift der Choreograph thematisch Sophokles ‘ Tragödie auf. Antigones emanzipatorisches Hinwegsetzen über das Verbot ihres Onkels König Kreon, ihren toten Bruder Polyneikes zu beerdigen, und das Ergreifen der ihr als Frau verbotenen öffentlichen Rede, bringen die Ordnung der Geschlechter durcheinander: Die Figuren Antigone und Kreon nähern einander an und überlagern sich in queeren Verschiebungen ihrer verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Positionierungen. 5 Das Queering heteronormativer Strukturen ist ebenso grundlegend für Harrells Antigone Sr., jedoch basiert seine Strategie nicht auf dem Ergreifen der Sprache der Mächtigen (wie Antigone es tut) 6 - also einer explizit formulierten Kritik - , sondern auf der ästhetischen Struktur selbst. Das heißt, die Tragödie Antigone wird bei Harrell weder als (lineare) Handlung dargestellt, noch primär über das gesprochene Wort vermittelt, vielmehr wird die dramatische Vorlage in eine Choreographie von Stimmen und Bewegungen überführt, die man Choreophonie nennen könnte. Die Figuren dienen als Grundlage eines Spiels mit Identitäten und Affekten, welches sich ästhetisch neben Bewegungen, Gesten und Posen maßgeblich über singende Stimmen entfaltet. Entscheidende performative Strategien, die Harrell aus Voguing einerseits und Postmodern Dance andererseits entlehnt, sind ‚ Realness ‘ und ‚ Authentizität ‘ . 7 Beide Konzepte stellen ästhetische Verfahren dar, die konträre Identitätspolitiken und damit verbundene Positionen gegenüber Schönheit verfolgen. Das in den 1950er Jahren im Umfeld der queeren Afro-amerikaner*innen und Latinos im New Yorker Harlem entstandene Voguing basiert auf der performativen Verkörperung von zumeist weißen, privilegierten und ‚ straighten ‘ Identitäten wie sie in Modemagazinen wie der Vogue dargestellt werden. Im Rahmen von Voguing-Bällen wird Identität als temporäre Inszenierung des Körpers und seiner sozialen wie geschlechtlichen Konstitution sowie sexuellen Orientierung gedacht. Während der laufstegartig inszenierten Auftritte steht durch die präzise Aneignung der Kleidung und Posen der Vorbilder ‚ Realness ‘ als „ Effekt von Echtheit “ 8 im Vordergrund. Oder wie Harrell es im Stück erklärt: „ Realness is when you try to be something that you are not, but you try anyway and how close you get is your degree of realness. ” Dieser Effekt wird durch eine Darstellung erzeugt, die ihre eigene Künstlichkeit im Idealfall verschlei- 100 Julia Ostwald ert, „ der darstellende Körper und das dargestellte Ideal erscheinen ununterscheidbar. “ 9 Gelingt dies nicht, und können Schwachstellen in der Darstellung der Verkörperung von Geschlecht und sexueller Orientierung entlarvt werden, so ist im Voguing von ‚ Reading ‘ die Rede. Mit ‚ Lesbarkeit ‘ sind dementsprechend die Brüche im Echtheitseffekt der ‚ Realness ‘ gemeint. In diesem Spannungsfeld affirmiert Voguing heteronormative Körperideale einerseits, wie Judith Butler betont, während es zugleich, wie sie ebenso anmerkt, die Performativität und Zitathaftigkeit jeglicher sozialer Rollen- und Geschlechterverhältnisse bloßlegt und diese ihrerseits als ‚ drag ‘ markiert. 10 Der postmoderne Tanz stellt demgegenüber nicht den Effekt, sondern die Suche nach einer ‚ echten ‘ Authentizität ins Zentrum. 11 Authentizität in diesem Verständnis geht mit dem Streben nach einer Demokratisierung der Körper einher, die sich unter anderem im Nicht-Virtuosen und Alltäglichen des Materials, in neutraler Geschlechtlichkeit sowie der Ablehnung von Spektakel und Illusion zeigt. Auffällig ist hier die Nähe zur zeitgleich in den 1960/ 70er Jahren laut werdenden, feministischen Kritik an konformisierenden, vornehmlich Frauen betreffenden Schönheitsidealen. Die Inszeniertheit und Kommodifizierung des weiblichen Körpers - gerade in Modezeitschriften wie der Vogue - wurde zugunsten eines ‚ wahren ‘ und handlungsmächtigen Selbst größtenteils abgelehnt. 12 In der Kollision von ‚ Realness ‘ - und ‚ Authentizitätskonzept ‘ kritisiert Harrell den Glauben der Judson- Protagonist*innen an eine Authentizität und Neutralität von Körpern jenseits ihrer kulturellen ‚ Hervorgebrachtheit ‘ als Illusion, die intersektionale Ausgrenzungskategorien wie Klasse, ‚ race ‘ und Geschlecht ignoriere. 13 ‚ Voguing Antigone ‘ bedeutet in diesem Sinn - so viel sei hier vorweg genommen - , dass das ‚ Schöne ‘ als ästhetisches Mittel der Verführung und Affizierung aufgegriffen, zugleich aber in seiner normierenden, ausgrenzenden Funktion gebrochen wird. Sirenen und das prekäre Verhältnis von Singstimme und Körper Den Prolog der Tragödie, der die Auseinandersetzung der Schwestern Antigone und Ismene verhandelt, inszeniert Harrell als eine Folge von Szenen, die Reminiszenzen an Sirenen und ihre späteren Verwandten, die Meerjungfrauen, aufrufen. Mittels Gesangs einerseits und Bewegungen andererseits stehen diese Figuren auf paradigmatische Weise für eine die heteronormative Ordnung bedrohende Schönheit, die mit ambivalenten Richtungen des Begehrens verknüpft ist. Grundlegend ist dabei die sirenenhafte, strukturelle Aufteilung von Sehen und Hören, die ich hier als Modell einer Schönheit aufgreifen möchte, die das Subjekt in ihrer Wirkung in eine Krise versetzt. Im ‚ cross-dressing ‘ mit hellgrauem und schwarzem Kleid in weiblich konnotierter Meerjungfrauen-Pose - das heißt seitlich, mit angewinkelten Knien auf einem Podest sitzend - vollführen Trajal Harrell (Antigone) und der Tänzer Thibault Lac (Ismene) einen eindringlichen, sensuellen Tanz mit ihren Händen: 14 Bis in die Fingerspitzen artikulierend, bewegen sie sie in Wellen umeinander kreisend, öffnend und schließend, auf und ab. Bei Harrell langsamer, mit mehr Kraft ausgeführt, während Lac vielfach den Rhythmus des von einer hohen weiblichen Kopfstimme gesungenen, eingespielten Songs 15 in strudelartigen kleinen Wellen aufgreift. Diese lockenden und verinnerlicht erscheinenden Bewegungen generieren eine dezidiert feminin markierte Körperlichkeit affektiver Intensität. Eine ähnliche Intensität erzeugen Lac und Harrell wenig später auf vokaler Ebene, wenn sie in derselben Meer- 101 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen jungfrauen-Pose als Ismene/ Antigone, verstärkt durch zwei vor ihnen stehende Mikrophone, in den Song The Darkest Side der Band The Middle East einstimmen. Dieser thematisiert in bezeichnender Weise die aus Liebe erbrachten Opfer und damit verbundene Fragen der Identität, wie sie im Refrain - „ Oh when I die I ’ m alive and when I lose I find my identity “ - anklingen. Live gesungene und aufgezeichnete Stimmen treten hier ununterscheidbar miteinander verflochten als affektgeladenes polyphones Objekt in den Vordergrund, das die geschlechtlichen Zuordnungen der Stimmen dynamisiert. In diesen Szenen sind Hören und Sehen zwar nicht grundsätzlich getrennt, werden aber mit alternierenden Gewichtungen adressiert. Diese Struktur ist bestimmend für Antigone Sr., indem sich tendenziell statische Szenen besonderer vokaler Intensität, 16 in denen die Singstimmen in den Vordergrund treten, mit solchen ablösen, die mittels bewegter Körper eine Art visuelle Intensität erzeugen. Inwiefern steht diese Struktur mit der den Sirenen und Meerjungfrauen zugeschriebenen tödlichen Schönheit in Bezug? Im Gegensatz zur dominierenden Verbindung von Eros mit visueller Schönheit in Homers Zeit, 17 treten die Sirenen in der Odyssee nicht sichtbar, sondern nur durch ihre „ bezaubern[de] “ , „ honigtönende “ , „ schöne Stimme “ 18 in Erscheinung. Ihr Gesang repräsentiert in stereotyper Lesart das Geschlechterverhältnis von irrationaler, weiblicher Verführungskraft und deren fataler Wirkung auf das mutmaßlich rationale Männliche. Die Nähe der Sirenen zum Flüssigen (sie singen an der Meeresküste) dient als Bild, in dem Hörsinn, Femininität und die Liquidierung von Sinn miteinander verknüpft werden. Diese Argumentationslinie kann von Platon bis zur Gegenwart in der ambivalenten Haltung der westlichen Musiktheorie gegenüber dem Lyrischen des Gesangs nachverfolgt werden. 19 Indem das Lyrische die Semantik der Worte tendenziell zu übersteigen und aufzulösen vermag, wurde es wiederholt nicht nur als potenzielle Gefahr für die soziale Ordnung, sondern, je größer der Verlust der Sinnhaftigkeit, als weiblich bestimmt. In der Schönheit der singenden Sirenen verbinden sich in dieser Rezeption Verführung und Verderben. 20 Mladen Dolar bezeichnet die Singstimme dementsprechend als „ zugleich die feinsinnigste und die perfideste Form des Fleisches “ . 21 Als Urszene einer fatalen ersten Form aufklärerischer Beherrschung des Begehrens und unter Fortsetzung der erwähnten geschlechtlichen Differenzen beschreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer den Sirenenmythos in der Dialektik der Aufklärung. In ihrer Auffassung ist es der „ identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen “ 22 , der angesichts der „ archaischen Übermacht “ 23 des Sirenengesangs mit der „ Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten “ 24 ringt. Den ‚ Zauber ‘ der Sirenenstimmen situieren sie jedoch weniger im Klang als im Inhalt der Lieder. Denn während bei Homer kaum genauere Beschreibungen dessen zu finden sind, was die ‚ Schönheit ‘ ausmacht, erfahren wir, dass die Sirenen Odysseus Teilhabe an ihrem allumfassenden Wissen versprechen. Ihr Gesang ist demnach alles andere als wortlose Stimme, vielmehr kündigen sie an, Odysseus von seinen eigenen Heldentaten zu berichten. 25 Die Sirenen verlassen dabei die teleologische Zeitordnung einer heteronormativen Fortschrittserzählung, wie Adorno/ Horkheimer betonen: Ihre Lockung ist die des sich Verlierens im Vergangenen. [. . .] Indem sie jüngst Vergangenes unmittelbar beschwören, bedrohen sie mit dem unwiderstehlichen Versprechen von Lust, als welches ihr Gesang vernommen wird, die patriarchale Ordnung [. . .]. 26 102 Julia Ostwald Das derartig singend vermittelte Wissen der Sirenen ist im wahrsten Sinne des Wortes undomestiziert, verführt ihr Gesang doch, die bestehenden familiären und damit auch gesellschaftlichen Bande hin zum Imaginären zu verlassen. 27 Ihre lyrische Verlockung ist der Ruf in ein noch nicht nach Zeitstrukturen geordnetes Reich des Imaginären, welches von ihrerseits wiederum irreführenden Gedanken, Bildern und Gefühlen als Kräften des unerledigten Vergangenen bevölkert ist. 28 Trotz der erwähnten vielfach stereotypen Geschlechterverhältnisse der Sirenenszene, finden sich nicht nur im Entwurf einer nicht linearen, queeren Zeitlichkeit andere, ambivalentere Richtungen des Begehrens. Auch die Wirkungsweise der Hörsituation kehrt codierte Geschlechterverhältnisse fundamental um, wenn die Stimmen der Sirenen über das Ohr in den gefesselten und dadurch zur Passivität gezwungenen Odysseus eindringen. 29 Nicht zuletzt ist seinem Hören ein auto-erotischer Aspekt eigen, wie Judith Peraino argumentiert, indem sein Begehren von Stimmen erzeugt wird, die über ihn selbst singen. 30 In ihren späteren Transformationen 31 , etwa zu den Meerjungfrauen des 19. Jahrhunderts, verstummen die Sirenen. Dabei ‚ substituieren ‘ sie „ ihren Stimmverlust wiederholt mit einer Virtuosität im Tanz “ 32 . Die akustische Transgression ihrer Stimmen zeigt sich, übertragen in die visuelle Ordnung, in fließenden Konturen, geschwungenen Linien, Kreisen und Schwüngen. 33 Auch die Meerjungfrauen entziehen sich eindeutigen Geschlechterverhältnissen. Andreas Kraß bezeichnet ihre wässrige Gesellschaft vielmehr als „ Prinzip der Verschwisterung, ein utopischer Gegenentwurf zum Patriarchat “ 34 . Beide, singende Sirenen und bewegte Meerjungfrauen, sind Figuren der Transgression, die ein prekäres strukturelles Verhältnis von Stimme und Körper kennzeichnet. Als Modell ist ihre Schönheit nicht an bestimmte Eigenschaften gebunden, sondern in ihrer Wirkung zu situieren. Diese ist maßgeblich durch Spannungen charakterisiert. Spannungen, die sich zwischen Sinnlichkeit und Semantik, Begehren und Bedrohung, Vergangenheit und Gegenwart und nicht zuletzt zwischen heteronormativen und queeren Geschlechterentwürfen entfalten. Anders ausgedrückt: Sie ist in den aufgeladenen Beziehungen zwischen Mündern und Ohren, Gesten und Augen zu suchen, die einen affektiven Zwischenraum des Begehrens und der Imagination erzeugen und so die einzelne Zuschauerin, den einzelnen Zuschauer in eine Krise zu versetzen vermögen. Im etymologischen - auch medizinisch auf den Krankheitsverlauf bezogenen - Sinn von „ Scheidung, Entscheidung “ 35 verweist die Krise auf einen unentschiedenen, potenziell transformativen Moment zwischen zwei Möglichkeiten. Die Sirenen führen die Zuhörenden in eine solche Krise, deren ‚ tödliche ‘ Wirkung letztlich in der Verflüssigung der Identitätskonstruktion des Subjekts liegt. Die Attribuierung der Sirenen als ‚ schön ‘ bei Homer verweist zudem darauf, dass sie nicht völlig außerhalb des Gesellschaftlichen, nicht als gänzlich Andere erscheinen, gleichwohl aber in ihrer zerstörerischen Wirkung die Normen aufbrechen. So versetzt ihre Schönheit die heteronormative Ordnung im Allgemeinen in eine Krise, indem sie ausgehend vom Bekannten, Erkennbaren ein Geflecht neuer Beziehungen und Genealogien voller Ambivalenzen, Brüchen und Zwischenräumen entwirft. Die Sirenenszene Harrells, in der die Schwestern Antigone und Ismene Stimmen und Bewegungen - sowie tatsächliche Fäden, die von Harrells Hand aus durch den gesamten Saal gespannt werden - zu einem solchen Netz krisenhafter Schönheit verknüpfen, kann als Schlüssel des Stücks 103 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen gesehen werden. Die folgenden beiden Abschnitte fragen, wie Singen und Posieren in den Szenen visueller und vokaler Intensitäten konkret modelliert werden, um die genannten spezifischen Spannungen zu erzeugen. Das heißt genauer: Was zeichnet die Materialität von Bewegungen einerseits und Stimmen andererseits aus und wodurch versetzen sie die Wahrnehmung in einen affizierten Modus der Krise? Choreophonie 1: Posen verque(e)rter Schönheit Der Hauptteil von Antigone Sr. setzt sich aus drei Szenen zusammen, die mit den von Harrell ausgerufenen Kategorien (The King ’ s Speech, Prince on the Runway, Mother of the House) und in ihrer Dramaturgie explizit an Voguing und Laufstegkultur angelehnt sind. Innerhalb der drei dezidiert geschlechtlich differenzierten Kategorien lassen die Performer im Zusammenspiel mit ihren jeweils improvisierten, aus Tüchern, Stoffen, Accessoires drapierten Kostümen Kreon, Haimon und Eurydike in einer Vielzahl potenzieller Verkörperungen erscheinen. Diese werden von Harrell im spezifischen Modus der für die Voguing- Bälle essenziellen Kommentatoren (der ‚ MCs ‘ ) beschrieben, die zwischen Publikum und Tänzer*innen moderieren. Das heißt verschiedenste zuschreibende Namensgebungen und Assoziationen ‚ definieren ‘ die Verkörperungen erst als bestimmte Stile. Die einzelnen Auftritte sind mit leichten Variationen in typischer Laufstegdramaturgie strukturiert in Auftrittspose, Gang nach vorne, weitere Pose, Gang zurück, Abgangspose. Dabei werden die je spezifische Art des Schrittesetzens, die posierenden Momente des Innehaltens sowie vereinzelte Gesten zu den primären Ausdrucksmitteln. Bewegungsanalytisch dominieren hier die folgenden vier Aspekte: 1) Das Element der Aufrichtung und Vertikalität des Körpers. 2) Das Prinzip der Opposition in der Anordnung der Körperteile zueinander als einer dynamischen Spannung. 3) Die Isolation der Körperbereiche (Kopf, Oberkörper, Arme/ Hände, Hüfte, Beine/ Füße) und ihre vielfach sequenziellen Bewegungen. Das heißt Schritte, Gesten der Arme, Drehungen der Hüfte oder des Kopfes werden als sukzessiver, zusammengesetzter Bewegungsfluss komponiert, wobei mit der Setzung vereinzelter, detaillierter Gesten oder Blicke das Ornamentale akzentuiert wird. 4) Eine als ‚ leicht ‘ zu bezeichnende Modulierung der Energie im Wechsel von Bewegung und Innehalten, die den Effekt von Natürlichkeit erzeugt. In dieser das Androgyne betonenden Körpermodellierung schimmern klassizistische Schönheitsideale durch, wie sie in je unterschiedlichen Rezeptionen in Tanz und Theater vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert sowie der um 1900 aufkommenden Laufstegkultur zu finden sind. 36 Wie Whitney Davis in ihrer Studie Queer Beauty über das Verhältnis von Sexualität und Ästhetik darlegt, liegen diesem kanonisierten idealistischen Körpermodell selbst inhärent queere Bedeutungsschichten zu Grunde. Sie zeigt auf, dass das maßgeblich auf Winckelmanns Studien antiker Skulpturen basierende Körperideal einen weißen männlichen Körper favorisiert. Dieser findet jedoch mit dem Modell des ephebenhaften Jünglings seinen Ausdruck in einem androgyn-femininen Körperbild, das durch eine dreidimensionale, aufgerichtet stehende Haltung und fließende, noch nicht ausmodellierte Konturen markiert wird. Nicht zuletzt ist dieser als idealisierte Schönheit verstandene Körper in seinem antiken Entstehungskontext von einem inhärent homoerotischen Begehren geprägt. 37 Diese ambivalente erotische Aufladung der Skulpturen wird jedoch nach Davis mit der Überhöhung des Winckelmann ‘ schen Schönheitsideals zur ästheti- 104 Julia Ostwald schen Norm durch Kant und folgende Generationen verdrängt. 38 Davis verweist diesbezüglich nicht nur auf die diesem ästhetischen Idealkörper inhärente Queerness, sondern auch auf die in ihm in historischem Wandel sedimentierten Bedeutungen. Unter ‚ queer beauty ‘ versteht sie dementsprechend die reflexive Offenlegung der ambivalenten, zirkulären Wechselwirkungen zwischen vermeintlich universeller Normierung als Ideal und individuellem (queerem) Begehren. Ein Körpermodell, das immer neue historische Bedeutungsschichten, Aneignungen, Umdeutungen und Verschiebungen erfahren hat: „ Kantian beauty - queered: queer beauty is reified or perfected canonical beauty relocated in its corporeal and communal contexts of affective, cognitive, and social significance “ 39 . In Antigone Sr. überlagern und durchkreuzen die Tänzer in ihren Körpermodellierungen dieses idealistische Körpermodell mit davon abweichenden nicht-westlichen und imaginierten Elementen. Der ‚ uninteressierte ‘ , Natürlichkeit suggerierende performative Modus des kanonisierten Schönheitsideals dient dabei als Folie für vielfältig vom Ideal abweichende Körper und wird so von innen heraus, auf teils ironische Weise, zersetzt. Etwa durch die Akzentuierung einzelner Körperteile wie einem als „ the ass “ der „ mythic black people “ kommentierten Auftritt oder aber durch phantastische Verkörperungen wie des von Harrell im Stück ausgerufenen Stils des ‚ elefatism ‘ , einer Mischung von „ elegance and fabulosity “ . In den Posen und Bewegungen werden so kanonisiert als elegant und schön attribuierte Formen überblendet mit fabulierten Identitäten. Dieses Verfahren des Fabulierens in Bewegungen und Benennungen erzeugt ein unendliches, an Referenzen überschießendes Geflecht undomestizierter Verwandtschaften. Hier scheinen Bezüge auf zu dem von Donna Haraway im Kontext ihrer feministischen Methode des ‚ spekulativen Fabulierens ‘ entworfenen Bildes der Fadenspiele (string figures): Playing games of string figures is about giving and receiving patterns, dropping threads and failing but sometimes finding something that works, something consequential and maybe even beautiful, that wasn ’ t there before, of relaying connections that matter, of telling stories [. . .]. String figures require holding still in order to receive and pass on. [. . .] [P]assing on in twists and skeins that require passion and action, holding still and moving, anchoring and launching. 40 In ähnlicher Weise können Harrells fabulierende Posen im Bild der Fadenspiele als permanent umverknotete, provisorische Figuren gedacht werden, die Verknüpfungen zu ständig neuen Genealogien herstellen. Während Haraway Verwandtschaften zwischen Menschen und anderen Spezies ins Zentrum stellt, sind es bei Harrell normierte geschlechtliche und kulturelle Grenzen, die gewissermaßen aufgetrennt und neu versponnen werden. Als Grundlage dieses Flechtwerks dient die Benennung der jeweiligen Stile der Figuren. Die Namen binden die Posen ein in ein fabuliertes kulturelles Wissen. Stil ist ein grenzverlagernder Charakter eigen, indem er zwischen bestehenden Normen und deren transformierender Überhöhung agiert. So versteht Stuart Hall die Stilisierung körperlicher und musikalischer Ausdrucksformen im Kontext der ‚ black popular culture ‘ als Mittel der Umwertung kultureller Hegemonie. 41 In geschlechtertheoretischer Hinsicht bezeichnet Judith Butler Stil als eine Kunst der Kritik, die zu einer „ Stilisierung des Selbst an der Grenze des etablierten Seins “ 42 führe. In diesem Sinn machen die fabulierten Posen und die ihnen zugerufenen Stile die dem idealistischen Körpermodell inhärenten Widersprüche - das heißt seine geschlechtlichen, sexuellen und auch kolonialistischen 105 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen Ein- und Ausschlüsse - in stetigen komplexen Bedeutungsverschiebungen produktiv. Im queeren Nacheinander entwerfen diese Szenen visueller Intensität die Verkörperung von Geschlecht nicht als an spezifische Körper gebundene Differenz, sondern als das Spektrum eines Kontinuums von Maskulinitäten und Femininitäten. Choreophonie 2: Vokale Mannigfaltigkeit Die geschlechtliche Fluidität, wie sie auf der visuellen Ebene beschrieben wurde, setzt sich in den singenden Stimmen fort. Mit dem scheinbar alltäglichen Akt des Singens zu Popsongs entwickelt Harrell dabei ein komplexes Verfahren der Pluralisierung der Stimmen. Entscheidend sind dabei zwei miteinander verknüpfte Aspekte: 1) die das Verhältnis von Hören und Sehen betreffende strukturelle Verflechtung von Livegesang und vom Band gespielter Popsongs sowie 2) die spezifische Materialität der Stimmen. Übergreifendes dramaturgisches Mittel der Produktion ist ihr ‚ Soundtrack ‘ : eine eklektische Aneinanderreihung und Schichtung vom Band gespielter - vor allem populärer - Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. 43 In einem bewusst improvisatorischen Gestus erstellt Harrell dieses musikalische Arrangement selbst und versteht es als integralen Teil der Choreographie. 44 Er begründet seine Präferenz für aufgenommene statt live gespielter Musik einerseits mit der größeren Alltäglichkeit und Intimität ersterer sowie andererseits dem gemeinschaftsbildenden Effekt des Wiedererkennens populärer Musik. 45 Steht die Stimme generell im Zentrum von Popmusik, 46 so entwirft die Playlist von Antigone Sr. ein intertextuelles Gewebe, das vielfältig codierte Stimmen in Beziehung zueinander treten lässt. Populäre Musik wird hier als gemeinsames und geteiltes kulturelles Imaginäres verwendet, das die individuelle, intime Erfahrung mit der gemeinschaftlichen verbindet, das - ähnlich den wissenden Sirenen - eine Brücke schlägt zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. In diesem Sinn dient das Arrangement der akusmatischen Popstimmen Harrell und seinen vier Performern als Archiv konservierter Gefühle. Zugleich werden diese Stimmen und ihre Expressivität inszenatorisch in die Gegenwart transportiert, wenn sie zu Gesangspartner*innen der Performer werden. Diese Zweiteilung der Quellen des Hörbaren wird über die explizit sichtbaren Mikrophone betont. Sie verweisen auf eine ontologische Trennung zwischen den aufgezeichneten Stimmen des ‚ Soundtracks ‘ und den sich im Hier und Jetzt ereignenden ‚ authentischen ‘ Stimmen der Performer. 47 Gleichwohl verbinden sich beide zu polyphonen Formen (etwa als Heterophonie 48 , heterogene Polyphonie 49 oder Wechselgesang), die im Hören jegliche Hierarchisierung zwischen ‚ live ‘ und ‚ aufgezeichnet ‘ auflösen, zugunsten einer „ Zeitgenossenschaft “ 50 des Pluralen. Diese strukturelle Vervielfältigung der Subjektpositionen - die Multiplizierung der Persona der Songs - zu vokalen Gemeinschaften steht geschlechtertheoretisch perspektiviert dem männlich codierten, solipsistischen Sologesang gegenüber. 51 Wesentlicher Aspekt dieser polyphonen Pluralisierung der Stimmen ist ihre spezifische Materialität oder genauer: ihre Körper- und Klanglichkeit. 52 Analog zur visuellen Ebene werden hier über die Stimmen Vorstellungen normierter Männlichkeit unterlaufen und - allgemeiner gesprochen - die eindeutige Zuordnung geschlechtlicher und sexueller Identitäten dynamisiert. Als stereotype Kategorie der Identifizierung männlicher oder weiblicher Stimmen gilt die Tonhöhe. 53 Diesem Identifikationsmechanismus entziehen sich sowohl die 106 Julia Ostwald Stimmen der Popsongs als auch jene der Performer, indem sie gerade nicht ‚ straight ‘ erscheinende Klangmodellierungen präferieren. 54 So verleiht etwa Harrell Eurydike eine durch starken Druck erhöhte und damit bewusst weiblich erscheinende lamentierende Bruststimme oder nimmt ‚ Kreon ‘ in Minikleid und Highheels im Wechsel von hoher Kopf- und sonorer Bruststimme eine prekäre Position zwischen normierter und femininer Männlichkeit ein. Während die männliche Bruststimme geschlechtliche Eindeutigkeit vermittelt, verfügt die männliche Kopfstimme über eine ambivalente Androgynität. Damit ist sie in westlicher Rezeption mit Falschheit, Maskerade und Effeminiertheit, zugleich aber auch einer entkörperlicht geschlechtslosen Engelhaftigkeit konnotiert. 55 Im Kontext der für Harrell einflussreichen Bluestradition ist die hohe Männerstimme zugleich mit der Abkehr von hegemonialen Männlichkeitsnormen sowie dem Anprangern prekärer gesellschaftlicher Verhältnisse verknüpft. 56 Judith/ Jack Halberstam spricht von dem Blues inhärenten „ queer politics of sexuality “ , die sich mittels tiefer Frauenbzw. hoher Männerstimmen als „ queer articulations of desire and affiliation “ 57 äußern. Durch ihre androgyne Klanglichkeit vermag die Falsettstimme nicht nur ein geschlechterübergreifendes Begehren zu erzeugen, 58 sondern auch andere - utopische - Welten und Geschlechterverhältnisse hörbar zu machen, so Halberstam: the falsetto partakes less in the unnatural and becomes supranatural, the sound of ‘ reaching ’ , [. . .] the falsetto surpasses the word and takes the listener into a new world, a new world we might add, of gender. 59 Das schnelle Kippen zwischen Kopf- und Brustregister - im Blues als ‚ Crying ‘ bezeichnet 60 - wie es vor allem Harrell wiederholt aufgreift, verlagert den Fokus demgegenüber auf die Körperlichkeit des Sängers. Die mit der expressiv physischen Bewegtheit der Stimme einhergehende klangliche Rauheit, ihr ‚ Korn ‘ im Sinne Roland Barthes ‘ , 61 erzeugt den Effekt von Authentizität und Unmittelbarkeit. Konträr zur zuvor erwähnten Öffnung utopischer Räume durch die Artifizialität der entkörperlichten männlichen Kopfstimme wird vielmehr das Hier und Jetzt betont. Gleichwohl rekurriert diese Ausdrucksform in ihrer intensiven Emotionalität ebensowenig auf eine normierte Männlichkeit, sondern affirmiert eher feminin konnotierte Qualitäten. Auf diese Weise auf vokaler Ebene Authentizität und Realness verknüpfend, ließe sich das eingangs erwähnte imaginierte Dritte in einer grundsätzlichen Fluidität der Stimmen bestimmen: Sie vermitteln zwischen Gewesenem und Gegenwärtigem, changieren klanglich zwischen utopischer Ent-körperung und Authentizität vermittelnder Ver-körperung, sind weder männlich noch weiblich codiert und werden so zu Objekten unterschiedlichster Richtungen des Begehrens. Sich-selbst-anders-Imaginieren: Zur utopischen Wirksamkeit der Choreophonie Schönheit ist aus Perspektive feministischer und politisch motivierter Kunst im 20. und 21. Jahrhundert zumeist als Gegenteil von Kritik verstanden worden. Ein Argument, das diese Sicht maßgeblich bestimmt, ist die auf Kant zurückreichende Bestimmung von Schönheit als ‚ Zweckfreiheit ‘ . 62 Die Vorwürfe gegen die Schönheit sind vielfältig: Verstanden als ‚ nur schön ‘ wird ihr in ihrer vermeintlichen Oberflächlichkeit jegliche weitere Funktion abgesprochen; 63 als ‚ zu schön ‘ verdecke ihre sinnliche Übermacht kritische Aspekte; in ihrer Verbindung mit dem Weiblichen, lässt sie die Frau zum 107 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen Bildobjekt des männlichen Blicks werden; 64 als bedeutendes Element neoliberaler Selbstoptimierung ist vom „ Terrorregime des Schönen “ 65 die Rede. Diese Kritik an der Schönheit, wendet Harrell zu einer Kritik durch Schönheit, 66 die im Sinne des skizzierten Modells der Schönheit der Sirenen durch innere Spannungen charakterisiert ist. Schönheit steht immer in einem engen Verhältnis zur Imagination, weshalb ihr, wie Fred Moten in Anlehnung an Winfried Menninghaus betont, immer eine kontingente Prekarität eigen ist. Gerade durch die unhintergehbare Bindung von Schönheit an Materialität (also eine singuläre Verkörperung) einerseits und die Unberechenbarkeit der Imagination andererseits lauert im Schönen, so Moten, stets die Gefahr der Umdeutung, des Transformierens: The irreducible materiality of the beautiful and the irreducible irregularity of the imagination define an enclosure that will have always been invaded, as it were, from the inside. This troubled interiority is domesticated by way of a cycle of projection and importation or exoticized as an object of attraction, incorporation and exilic hope. 67 Es sind gerade jene inneren Spannungen und Widersprüche der Schönheit, die Antigone Sr. in der spezifischen geschlechtlich fluiden Materialität von Stimmen und Körpern sowie ihrer choreographischen - oder besser: choreophonen - Verflechtung produktiv macht. Dieses Verfahren bewirkt eine grundlegende Destabilisierung der Lesbarkeit sicht- und hörbarer Identitäten und verweist auf die potenziell transformative Kraft des Schönen als Form der Kritik. Damit ist eine Schönheit gemeint, die ihre eigenen Herstellungsweisen und referentiellen Kontexte reflektiert oder auch ironisch unterläuft, um kulturelle Codierungen gleichzeitig aufzuzeigen und zu überwinden, dabei aber gerade über ihre affektive Sinnlichkeit wirksam ist. 68 In ihrer Wirkung rückt die hochgradige Stilisiertheit von Antigone Sr. - die sich in ihrem fabulierenden Übermaß zugleich jeglicher stilistischer Festlegung entzieht - mit der affektgeladenen Beziehung zwischen Posen und Augen, Stimmen und Ohren die Sphäre der undomestizierten Imagination in den Mittelpunkt. Hier sei an die Sirenen und das besondere Vermögen des Liedes in der etymologischen Bedeutung von ‚ cantare ‘ als Verzauberung 69 erinnert, imaginäre Räume zu öffnen, in denen mit den Worten Maurice Blanchots „ die unterschiedlichen Ekstasen der Zeit koinzidieren “ 70 . Diese queere, das heißt nicht-lineare Zeitlichkeit, 71 die den singenden Stimmen ebenso wie den überblendeten Posen von Antigone Sr. eigen ist, navigiert zwischen historischem Raum, Gegenwart und zukünftigen Möglichkeiten, und verweist damit auf die Bedeutung der Utopie als (künstlerischem) Mittel der Kritik bestehender heteronormativer und hegemonialer Machtverhältnisse. José Esteban Muñoz plädiert im Anschluss an Ernst Bloch für die Bedeutung einer sinnlichen Schönheit, die sich nicht in der gegenwärtigen Vervollkommnung genügt, sondern durch das Unfertige, Fragmentierte auf etwas immer noch Zukünftiges verweist. 72 Im Kontext queerer people of colour beschreibt er die Notwendigkeit eines Imaginierens, das sich vom Gegenwärtigen löst, um andere Möglichkeiten zu eröffnen: The here and now is a prison house. We must strive, in the face of the here and now ’ s totalizing rendering of reality, to think and feel a then and there. [. . .] Queerness is essentially about the rejection of a here and now and an insistence on potentiality or concrete possibility for another world. 73 Dieses Imaginieren anderer möglicher Welten ist nicht auf die Ebene der Herstellung, 108 Julia Ostwald also die performativ hervorgebrachte Pluralität der Tänzer zu beschränken, sondern umfasst in Harrells ethisch-politischem Anspruch maßgeblich das Publikum: „ I am trying to get people to be together on an imaginative plane. Because this is what I think is empowering for us as a group of people. ” 74 Mit Imaginieren ist dabei in keinerlei Weise ein vernunftbestimmtes Vorstellen gemeint. Es handelt sich vielmehr um ein sinnliches In-Beschlag-Genommen- oder Überfallen- Werden von Affekten, in dem das Begehren an zentraler Stelle steht im Sinne von Maurice Blanchot, der dies als prozesshafte Bewegung auf die Sirenen zu beschreibt: Dieser Gesang [. . .]; er war eine Strecke zwischen einem Hier und einem Dort, und was er offenbarte, war die Möglichkeit, diese Strecke zu durchmessen, aus dem Gesang eine Bewegung zum Gesang hin zu machen und aus dieser Bewegung den Ausdruck innigsten Verlangens. 75 Die Abkehr von einer heteronormativen und teleologisch-linear gedachten ‚ straightness ‘ überträgt sich damit als Tendenz zur Auflösung des Selbst auf die Zuschauenden, Zuhörenden. In der Verführung des Schönen liegt hier nicht nur eine öffnende Bewegung hin zur Anerkennung des Anderen, Diversen, sondern auch ein Sich-Selbst-Anders-Imaginieren oder - mit Butler gesprochen - eine Stilisierung des Selbst an seinen Grenzen. Hier trifft zu, was Judith Ann Peraino als ‚ verqueerende ‘ Wirkung des Sirenengesangs resümiert: „ The Siren episode [. . .] is about the desire to become ‘ otherwise ’ , to question and to be questionable, to risk self-obliteration in music in order to become queer to oneself. ” 76 In diesem selbst ‚ Queer-Werden ‘ , das heißt dem Infragestellen der eigenen Wahrnehmungsmechanismen von Geschlecht sowie dem Verflechten von vielfältigen Richtungen des Begehrens, liegt die hohe kritische und ethische Wirksamkeit der von Harrell inszenierten Schönheit. Anmerkungen 1 Trajal Harrell in unveröffentlichtem Interview mit Julia Ostwald am 31. 07. 2018. 2 Zu einer anders perspektivierten Auseinandersetzung mit derselben Produktion siehe Nicole Haitzinger und Julia Ostwald, „ Das kreolisierte Tragische “ , in: Silke Felber und Gabriele Pfeiffer (Hg.), Spuren des Tragischen, Themenheft in Forum Modernes Theater, Tübingen 2020. Ich danke Nicole Haitzinger für erkenntnisgenerierende Gespräche. 3 Trajal Harrell, https: / / betatrajal.org/ artwork/ 567890-Twenty-Looks-or-Paris-is- Burning-at-The-Judson-Church-S.html, [Zugriff am 17. 2. 2019]. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. Judith Butler, Antigone ’ s Claim. Kinship between Life and Death, New York 2000, S. 5 - 6: „ Opposing Antigone and Creon as the encounter between the forces of kinship and those of state power fails to take into account the ways in which Antigone has already departed from kinship, herself daughter of an incestuous bond, herself devoted to an impossible and death-bend incestuous love with her brother, how her actions compel others to regard her as ‚ manly ‘ and thus cast doubt on the way that kinship might underwrite gender, how her language, paradoxically, most closely approximates Creon ’ s, the language of sovereign authority and action, and how Creon himself assumes his sovereignty only by virtue of the kinship line that enables that succession, how he becomes, as it were, unmanned by Antigone ’ s defiance, and finally by his own actions, at once abrogating the norms that secure his place in kinship and in sovereignty. [. . .] [T]here is, in fact no simple opposition between the two. “ 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. Trajal Harrell im Interview mit Ariel Osterweis, „ Trajal Harrells (email) Journey from Judson to Harlem ” , in: Trajal Harrell 109 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen (Hg.), Vogue. Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (XL) 2017, S. 119 - 121, hier S. 119. 8 Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a. M. 1997, S. 183. 9 Ebd. 10 Vgl. ebd., S. 185. 11 Dies zeigt sich auf paradigmatische Weise in Yvonne Rainers No-Manifesto (1965), siehe: Yvonne Rainer, „ No Manifesto ” , in: Dies., Work 1961 - 73, Halifax/ New York 1974, S. 45. 12 Vgl. Uta Poiger, „ Auf der Suche nach dem wahren Selbst. Feminismus, Schönheit und Kosmetikindustrie in der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren “ , in: Zeithistorische Forschungen 2 (2017), https: / / zeithistorische-forschungen.de/ 2 - 2017/ id%3D5490, [Zugriff am 18. 2. 2019]. Hier wäre auch auf den historisch tief verankerten Topos der vermeintlich ‚ natürlichen ‘ Nähe von Frauen zu Maskerade, Verkleidung und Falschheit zu verweisen. Siehe dazu u. a. Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a. M. 1994. 13 Vgl. Trajal Harrell im Interview mit Philip Bither, 11. 3. 2016, https: / / www.youtube. com/ watch? v=r5kWMide7lw, [Zugriff am 17. 2. 2019]. 14 Grundlage der Analyse ist eine Videoaufnahme einer Aufführung der Produktion aus dem Jahr 2014, https: / / vimeo.com/ 70719459, [Zugriff am 18. 2. 2019]. 15 Dabei handelt es sich um Prayer Dance von Rachelle Ferell. 16 Vgl. Jenny Schrödl, Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012, bes. S. 289 - 292. Jenny Schrödl verortet Situationen vokaler Intensität in der prozesshaften, veränderlichen Beziehung zwischen einer auffällig werdenden Materialität von Stimmen einerseits und einem Aufmerksam- und Affiziert-Werden andererseits. Dies kann ebenso für die Materialität und Wahrnehmung von Bewegungen geltend gemacht werden. Darüber hinaus sei hier auf die enge Beziehung des Begriffs Intensität mit engl. ‚ tension ‘ (Spannung) verwiesen, die etymologisch beide auf das lat. tendere als „ spannen, sich anstrengen für, bestrebt sein “ zurückgehen (vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/ New York 1989, S. 334). 17 Vgl. Judith Ann Peraino, „ Listening to the Sirens: Music As Queer Ethical Practice ” , in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 4 (2003), S. 433 - 470, hier S. 440. 18 Homer, Die Odyssee (Deutsch von Wolfgang Schadewaldt), Hamburg 1958, S. 159. 19 Für einen musikhistorischen Überblick über die Rezeption des Singens als bedrohlich weiblich codierte Schönheit siehe Elizabeth Eva Leach, „ The Sound of Beauty “ , in: Lauren Arrington, Zoe Leinhardt und Philip Dawid (Hg.), Beatuy, Cambridge 2013, S. 72 - 98. Siehe dazu auch Michel Poizat, „ Teuflisch oder göttlich? Der lyrische Genuß “ , in: Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2008, S. 215 - 232. 20 Odysseus wird von Kirke gewarnt, dass, wer sich den Stimmen hingibt, auf der Wiese der Sirenen verfaulen werde (Vgl. Homer, Die Odyssee, S. 156). 21 Mladen Dolar, His Master ‘ s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt a. M. 2007, S. 67. 22 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Die Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1969, S. 40. 23 Ebd., S. 66. 24 Ebd., S. 40. 25 Vgl. Homer, Die Odyssee, S. 159. 26 Adorno und Horkheimer, Die Dialektik der Aufklärung, S. 39. 27 Vgl. Homer, Die Odyssee, S. 156. 28 Leon Gabriel, „ Die Täuschung der Parabel: Das Schweigen der Sirenen am Abgrund der Moderne “ , in: Matthias Dreyer et. al. (Hg.), THEWIS. Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, Kafka und Theater (2017), http: / / www.theater-wissenschaft.de/ artikel-die-taeuschung-der-parabel-dasschweigen-der-sirenen-am-abgrund-der-erzaehlungen/ , [Zugriff am 22. 11. 2018]. 110 Julia Ostwald 29 Vgl. Andreas Kraß, Meerjungfrauen: Geschichten einer unmöglichen Liebe, Frankfurt a. M. 2010, S. 56 - 57. 30 Vgl. Peraino, Listening to the Sirens, S. 440. 31 Ovid beschreibt sie als singende Vogelfrauen mit Mädchengesicht, die Vorbild weiblicher Liebeskunst seien. Bei Dante fungieren die Sirenen mit ihren gefiederten Flügeln und betörenden Stimmen als säkularisierte, fleischlich-lasterhafte Pendants der Engel (vgl. Kraß, Meerjungfrauen, S. 60 - 62 und S. 69 - 72.) 32 Nicole Haitzinger, „ Meerjungfrau der Wiener Moderne “ , in: Silke Felber und Gabriele Pfeiffer (Hg.), Das Meer im Blick. Betrachtungen der performativen Künste und der Literatur (Reihe Galatea), Rom 2018, S. 73 - 84, hier S. 75. 33 Vgl. ebd., S. 82. 34 Andreas Kraß, „ Camouflage und Queer Reading. Methodologische Überlegungen am Beispiel von Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau “ , in: Anna Babka und Susanne Hochreiter (Hg.), Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen, Göttingen 2008, S. 29 - 42, hier S. 38. 35 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, https: / / www-1degruyter-1co m1q3uoiwdr00c5.han.onb.ac.at/ view/ Kluge/ kluge.6248? rskey= NqmaK4&result=2&dbq _0=krise&dbf_0=kluge-fulltext&dbt_0=full text&o_0=AND, [Zugriff am 18. 9. 2019]. 36 Zur Modellierung des Körpers in Tanz und Theater des 18. Jh. siehe Dene Barnett, The Art of Gesture: The practices and principles of 18th century acting, Heidelberg 1987 sowie Nicole Haitzinger, „ Der rhetorische Körper: Zur Inszenierung von tragischen Figuren in den szenischen Künsten im frühen 18. Jahrhundert “ , in: Rheton - Online Zeitschrift für Rhetorik 2017, http: / / www.rheton.sbg.ac.at/ rheton/ 2017/ 01/ der-rhetorische-koerper/ , [Zugriff am 18. 2. 2019]. Die Geschichte der Modellierung von Körpern auf dem Laufsteg ist ein Forschungsdesiderat. Es können jedoch zahlreiche Transfers zwischen bewegten, gestischen Körpern in Tanz und Theater und denen der Modepräsentation nachverfolgt werden, etwa in theatralisierten Modeschauen. Siehe dazu u. a. Caroline Evans, „ The Ontology of the Fashion Model ” , in: AA Files 63 (2011), S. 56 - 69 sowie Caroline Evans, „ The Enchanted Spectacle ” , in: Fashion Theory. The Journal of Dress, Body and Culture 3 (2001), S. 271 - 310. Als einflussreich für die Gestaltung von Posen in Tanz, Theater und Bewegungskultur sind zudem die um 1900 virulenten Lehren François Delsartes und seine transatlantische Rezeption als Delsartismus zu nennen. Letzterer erfährt als Lehre harmonischer Bewegung eine enorme Popularität in den USA, wobei trotz unterschiedlicher Ausprägungen Gehen und das Posieren nach klassizistischen Skulpturen stets entscheidende Elemente sind. Dabei werden etwa in Geneviève Stebbins Adaption als Delsarte System of Expression ohne zu differenzieren Haltungen weiblicher wie männlicher Statuen eingenommen (vgl. Nancy Lee Chalfa Ruyter, The Cultivation of Body and Mind in Nineteenth-Century American Delsartism, Westport / London 1999, S. 119 - 120). 37 Vgl. Whitney Davis, Queer Beauty, New York 2010, S. 23 - 50; siehe zu fluiden Konturen idealisierter klassizistischer Schönheit auch Mechthild Fend, „ Jungfräuliche Knaben. Androgynie und männliche Adoleszenz in der Bildkultur um 1800 “ , in: Dies. und Marianne Koos (Hg.), Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 196 - 197. 38 Vgl. Davis, Queer Beauty, S. 27 und S. 37 - 39. 39 Ebd., S. 44. 40 Donna Haraway, Staying with the Trouble Making Kin in the Chthulucene, Durham/ London 2016, S. 10. 41 Stuart Hall, „ What Is This ‘ Black ’ in Black Popular Culture? ” , in: Social Justice, Rethinking Race 1/ 2 (1993), S. 104 - 114, hier S. 109. 42 Judith Butler, „ Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend “ , (2001), http: / / eipcp.net/ transversal/ 0806/ butler/ de, [Zugriff am 18. 2. 2019]. 43 Das Verfahren der dramaturgischen Gliederung durch Popsongs, die eine Zeitlichkeit und expressive Färbung generieren sowie in ihrer Referenzialität als kulturelle Zeichen 111 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen verwendet werden, erinnert an Jerôme Bel. Allerdings steht bei Letzterem die Semantik der Songs stärker im Vordergrund, während Harrell deren affektive Qualität akzentuiert. 44 Vgl. Trajal Harrell im Interview mit Moriah Evens, in: MR Performance Journal #49: Trajal Harrel, Herbst (2016), S. 2 - 5, hier S. 4. 45 Vgl. Trajal Harrell im Interview mit J. O.: „ The recorded music actually has an intimacy for people because they have an experience of it, you know of what that is like to hear this thing from speakers which is very different than hearing someone to play an instrument or singing in front of us. [. . .] And sometimes of course [. . .] it can be something I know that a lot of people familiar with are recognizing this voice, or they may know the voice, but they haven ’ t heard the song. And all those various manoeuvres become important in terms of this kind of togetherness that I want. “ 46 Vgl. Martin Pfleiderer, „ Zur Einführung “ , in: Ders. et al. (Hg.), Stimme, Kultur, Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900 - 1960, Bielefeldt 2015, S. 9 - 22, hier S. 9. 47 Zu einer ausführlichen Analyse des Mikrophons als Zeichen der Präsenz im zeitgenössischen Tanz siehe Katja Schneider, Tanz und Text. Zu Figurationen von Bewegung und Sprache, München 2016, S. 119 - 140. 48 Heterophonie bezeichnet Stimmen, die zeitgleich dasselbe Thema singen, jedoch durch unterschiedliche Verzierungen, andere Klanglichkeit oder versetzte Einsätze ihre Verschiedenheit hervorheben (vgl. David Roesner, Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen 2003, S. 244). 49 Heterogene Polyphonie meint Stimmen, die gleichwertig und unabhängig voneinander agieren (vgl. Roesner, Theater als Musik, S. 244). 50 Nancy setzt der Simultanität des Visuellen das Zeitgenössische des Hörens entgegen (vgl. Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, Zürich/ Berlin 2014, S. 30). 51 Der Gegensatz zwischen „ self sufficient solo masculinity ” und „ anonymous collective feminitiy ” war und ist trotz vielfältiger Brechungen und alternativer Geschlechtercodierungen eine starke Linie populärer Musik (vgl. Ian Biddle und Freya Jarman- Ivens, „ Introduction: Oh Boy! Making Masculinity in Popular Music “ , in: Dies. (Hg.), Oh Boy! Masculinities and Popular Music, NewYork/ London 2007, S. 1 - 20, hier S. 2). 52 Vgl. Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 36 - 42. 53 Siehe dazu u. a. Katharina Rost, „ Genderlose, asexuelle Stimme? Von der Kopfstimme im Pop “ , in: PopScriptum - Sound, Sex und Sexismus 12 (2016), http: / / www.popscriptum.hu-berlin.de/ themen/ pst12/ pst12_rost. html, S. 2, [Zugriff am 17. 2. 2019]. 54 Beispielsweise die sehr tiefe Altstimme der queeren Sängerin Gurevich oder die androgyn hauchende und hallende Stimme von Ruth Radelet im Song I want your Love der Chromatics. 55 Vgl. Rost, „ Genderlose, asexuelle Stimme? “ , S. 4 - 7. 56 Vgl. ebd., S. 7. 57 Judith Halberstam, „ Queer Voices and Mucial Genders “ , in: Biddle und Jarman-Ivens (Hg.), Oh Boy! , S. 183 - 195, hier S. 187. 58 Vgl. Rost, „ Genderlose, asexuelle Stimme? “ , S. 4. 59 Halberstam, „ Queer Voices “ , S. 192. 60 Vgl. Tilo Hähnel, „ Was ist populärer Gesang? Zur Terminologie vokaler Gestaltungmittel in populärer Musik “ , in: Pfleiderer, Hähnel und Horn (Hg.): Stimme, Kultur, Identität, S. 53 - 74, hier S. 64. 61 Zur Erotik der Rauheit der Stimme siehe Roland Barthes ‘ einschlägigen Aufsatz, „ Zur Rauheit der Stimme “ , in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a. M. 1990, S. 269 - 278. 62 Vgl. Maria-Alina Asavei, „ Beauty and critical art: is beauty at odds with critical - political engagement? ” , in: Journal of Aesthetics & Culture 1 (2015), https: / / doi.org/ 10.3402/ jac.v7.27720, [Zugriff am 18. 2. 2019]. 63 Vgl. Christoph Bartmann, „ Zur Politik des Schönen, heute. Überlegungen zur aktuellen Ästhetik im Anschluss an Gadamer “ , in: 112 Julia Ostwald Leonhard Emmerling und Ines Kleesattel (Hg.), Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken, Bielefeld 2016, S. 143 - 156, hier S. 148 - 149. 64 Vgl. Asavei, „ Beauty and critical art ” . 65 Iris Därmann, „ Schönheitspflichten: Von der ästhetischen Reflexion zur kulturellen Praxis “ , in: Sigrid Walther, Gisela Staupe und Thomas Macho (Hg.), Was ist schön? , Göttingen 2010, S. 40 - 47, hier S. 47. 66 Siehe auch Trajal Harrell zu feministischer Kritik von Mode und Schönheit: „ I make the kind of dances I want to dance, and I want to see. [. . .] And a lot of it has to do with a certain level of feminist reasoning. The particular materials that I choose to work with I think come out of a kind of feminist critique. Like I specifically work with clothing, and I work with certain attributes that may not have been seen as primarily materials for art. And a lot of those materials and the way that we move, and the run way movement have been attributed towards a kind of femininity or a kind of female world and I kind of bring those into a kind of primary position in the work. And this is purposeful. ” Harrell im Interview mit J. O. 67 Fred Moten, „ Taste Dissonance Flavour Escape. Preface for a solo by Miles Davis ” , in: Women & Performance: a journal of feminist theory 2 (2007), S. 217 - 246, hier S. 225. 68 Siehe hierzu auch Maria-Alina Asaveis Bestimmung von „ critical beauty ” , die sie aus Kants Unterscheidung von unabhängiger und abhängiger Schönheit heraus entwickelt. Im Gegensatz zu unabhängiger Schönheit ist die abhängige Schönheit nach Kant in einem jeweiligen Kontext, einer Historie und bestimmten Funktion situiert. In Asaveis Argumentation von abhängiger Schönheit als Form politisch engagierter Kunst wirkt diese vorrangig über den Intellekt: „ To appreciate this (sic) art pieces as ‚ beautiful ‘ , we need to understand the concepts and ideas the artist has employed, the context (the cultural tradition, art history, the artist belonging to a specific culture), and so on. ” (Asavei, „ Beauty and critical art ” ). Wenn Antigone Sr. zwar auch über diesen referentiellen Kontext verfügt, transformiert Harrell diesen in eine vornehmlich sinnlich wirksame Ästhetik. 69 Vgl. Sonja Galler und Clemens Risi, „ Singstimme/ Gesangstheorien “ , in: Erika Fischer- Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstatt (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 302 - 305, hier S. 303. 70 Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Berlin/ Wien 1982, S. 21. 71 Zu queerer Zeitlichkeit im Gegensatz zu ‚ straight time ‘ siehe Judith Halberstam, In a Queer Time and Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York/ London 2005. 72 Vgl. José Esteban Muñoz, Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York/ London 2009, S. 7. 73 Ebd. S. 1. 74 Harrell im Interview mit J. O. 75 Blanchot, Der Gesang der Sirenen, S. 12. 76 Peraino, Listening to the Sirens, S. 440. 113 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen