eJournals Forum Modernes Theater 32/1

Forum Modernes Theater
fmth
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2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0013
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2021
321 Balme

Judith Kemp, „Ein winzig Bild vom großen Leben“. Zur Kulturgeschichte von Münchens erstem Kabarett Die Elf Scharfrichter (1901–1904). Bavaria. Münchner Schriften zur Buch- und Literaturgeschichte 4. München: Allitera Verlag 2017, 381 Seiten.

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2021
Marion Linhardt
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Judith Kemp, „ Ein winzig Bild vom großen Leben “ . Zur Kulturgeschichte von Münchens erstem Kabarett Die Elf Scharfrichter (1901 - 1904). Bavaria. Münchner Schriften zur Buch- und Literaturgeschichte 4. München: Allitera Verlag 2017, 381 Seiten. „ Ein winzig Bild vom großen Leben “ - diese Formulierung Willy Raths, eines der Gründungsmitglieder der Elf Scharfrichter, die Judith Kemp als Haupttitel ihrer Monographie gewählt hat, hat programmatischen Charakter nicht nur im Hinblick auf dieses frühe deutsche Kabarett, sondern auch im Hinblick auf das Anliegen des hier anzuzeigenden Buches: Kemp möchte anschaulich machen, wie „ sehr die Elf Scharfrichter [. . .] geradezu als ein Spiegel der wilhelminischen Gesellschaft und Kultur um 1900 zu betrachten sind “ (S. 12). Die formale Konzeption von Kemps 2015 am Institut für Musikwissenschaft der LMU München angenommener Dissertation entspricht dem Ziel der Autorin, „ erstmalig [. . .] eine systematische und umfassende Untersuchung der Elf Scharfrichter “ vorzulegen und so „ Münchens erstes Kabarett in seiner Gänze zu dokumentieren und zugleich auch zu analysieren “ (S. 11). Der Hauptteil der Publikation (Kap. IV) vollzieht die Geschichte dieser relativ kurzlebigen Institution anhand einer überwältigenden Materialfülle nach und geht dabei u. a. auf die Bedingungen der Gründung der Elf Scharfrichter, auf den Verlauf der vier „ Spielzeiten “ ihres Bestehens, auf organisatorische und betriebliche Abläufe, auf die bauliche Anlage, auf Aspekte der szenischen Präsentation, auf die Zusammensetzung des Publikums und auf Zensurpraktiken ein. Nur wenige Aspekte seien eigens angesprochen: die Lex Heinze (1900) als kulturpolitisch relevanter Sachverhalt der Wilhelminischen Ära in ihrer Bedeutung für die Atmosphäre, in der es zur Gründung der Elf Scharfrichter kam; der sich verändernde Status des Unternehmens (zunächst künstlerischer Verein, dann Geschäftstheater unter den Bedingungen des Gewerberechts) mit seinen Konsequenzen für Repertoire und Aufführungsmodalitäten (Zensur, Publikumsrücksichten, betriebliche Notwendigkeiten); die Relevanz von Angeboten über den regulären Spielbetrieb hinaus, etwa in Gestalt ausgedehnter Gastspielreisen oder in Form thematisch gebundener Kostümfeste; die Funktion der bildenden Kunst für die Erscheinung der Elf Scharfrichter; die teils gewollte, teils durch die beengten räumlichen Verhältnisse erzwungene enge Verbindung zwischen Bühnengeschehen und Publikum. Die Schwerpunkte von Kemps Studie liegen in der Vorstellung des Ensembles der Elf Scharfrichter (Kap. IV.5), im Bereich des Repertoires (IV.8) sowie bei den „ Themen “ (IV.9). In den biographischen Ausführungen findet sich eine Fülle von Daten unter anderem zu den „ Gründungsvätern “ des Unternehmens, zu den auch und vor allem jenseits der Elf Scharfrichter einflussreichen Vortragskünstler*innen Marc Henry, Marya Delvard und Frank Wedekind und zu den musikalischen Mitarbeitern. Als eine Art „ Buch im Buch “ erscheint hier der Abschnitt zu Hans Richard Weinhöppel (Scharfrichter-Name: Hannes Ruch), dem Hauskomponisten und Kapellmeister der Elf Scharfrichter, der für das Gros der musikalischen Beiträge verantwortlich zeichnete und der nach Kemp „ die eigentliche Keimzelle dieser Arbeit war “ (S. 14). In formalen und stilistischen Analysen von Weinhöppels Scharfrichter-Kompositionen zeigt Kemp die Eigenarten und die Grenzen seines kompositorischen Vermögens auf, das den spezifischen Anforderungen einer Kleinkunstbühne wohl in idealer Weise entsprochen hat. Die verästelten Darlegungen zu Weinhöppels Lebenslauf und Lebensweise (vgl. etwa die Abschnitte „ Der Bohemien “ und „ Der Libertin “ ), die diesen Analysen vorangehen, können paradigmatisch für die Problematik des von Kemp für ihre Arbeit gewählten Präsentationsmodus stehen: Es war der Autorin offenbar ein Anliegen, sämtliche in unterschiedlichsten Quellen aufgefundenen Informationen zu verarbeiten, und dies führt - in den Teilkapiteln unterschiedlich stark ausgeprägt - zu einer Textgestalt, die immer wieder einen gewissen Eindruck von Wahllosigkeit hinterlässt. Ein Mangel an Stringenz und ein überbordender Informationsfluss - interessant etwa die Erläuterungen zu Weinhöppel (alias Ruch) als Komponist von Grete Wiesenthals Pantomime Das fremde Mädchen - sind hier zwei Seiten einer Medaille. Kemps Ausführungen zum Repertoire der Elf Scharfrichter stellen sich als eine Art akribisch durchgearbeiteter Katalog dar, der die einzelnen Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 131 - 132. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0013 131 Rezension Programmteile nach Sparten/ Genres, Herkunft und Besetzungen aufschlüsselt und soweit irgend möglich - zu vielen der Nummern sind keine primären Quellen überliefert - hinsichtlich Thematik/ Sujet, Stilistik und Aufführungsmodalitäten charakterisiert. Als vorherrschende Nummerntypen identifiziert Kemp dramatische Szenen sowie Darbietungen mit musikalischer Begleitung und hier, wenig überraschend, Lieder bzw. Chansons. Thematisch standen die parodierende Auseinandersetzung mit aktuellen Tendenzen in Literatur und anderen Künsten und die, so ließe sich formulieren, Miniatur sozialer Milieus (inklusive des breiten Bereiches von Liebes- und erotischen Konstellationen) im Vordergrund. Im Durchgang durch das Repertoire wird immer wieder der Einfluss des Publikumsgeschmacks einerseits und der Zensur andererseits greifbar. Während sich Kemp für die Kategorisierung der Sologesänge an den Arbeiten von Walter Rösler und Wolfgang Victor Ruttkowski orientiert, entwickelt sie zur Erfassung der Programme der Elf Scharfrichter eine eigene Typologie, die „ einen möglichen Interpretationsansatz der verschiedenen Themen aufzeigen “ möchte (S. 299). Als „ über die Botschaft des jeweiligen Stücks hinausweisende Grundhaltung und damit so etwas wie eine programmatische Einstellung der Kabarettisten “ (ebd.) macht sie „ 1. gesellschaftskonforme, 2. kritische und 3. visionäre Darstellungen “ (ebd.) aus. Diese Kategorisierung erlaubt eine Orientierung innerhalb des so breiten und disparaten Scharfrichter-Repertoires. Es fragt sich allerdings, ob es im Hinblick auf die grundsätzliche ästhetisch-programmatische Ausrichtung der Elf Scharfrichter weiterführend ist, die parodierende Auseinandersetzung mit aktuellen „ Literatur- und Musikströmungen “ (ab S. 316) und die Obrigkeitsbzw. Kirchenkritik in gleicher Weise unter „ Kritik “ zu subsumieren. Der Kontextualisierung des Unternehmens der Elf Scharfrichter dienen zwei dem Hauptteil vorgeschaltete Kapitel, in denen - im Wesentlichen unter Heranziehung einschlägiger Forschungsarbeiten - das heterogene Feld von literarischen, theatralen, künstlerischen, theater-, kunst- und kulturreformerischen Institutionen, Initiativen und Genres skizziert wird, das um die Jahrhundertwende München in besonderer Weise prägte. Kemp zeigt, wie vielfältig die personellen, programmatischen und ästhetischen Verbindungen der Elf Scharfrichter zu diesem Feld waren. Wichtige Impulsgeber für das Münchner Kabarett findet Kemp auch in internationalen Trends der Bühnenkunst und des Unterhaltungsgeschäfts, wie in den verschiedenen Ausprägungen gemischter Programme, die sich im 19. Jahrhundert in Paris etabliert hatten, sowie in dem um 1900 zumal im deutschsprachigen Raum unter wechselnden ästhetischen wie ideologischen Prämissen viel diskutierten Varieté. Judith Kemp hat ein Buch vorgelegt, das zugleich opulent ausgestatteter Prachtband und akribisch recherchierte Quellenstudie ist und aufgrund der gut nachvollziehbaren Gliederung darüber hinaus Handbuchcharakter hat. Bayreuth M ARION L INHARDT Sruti Bala, The Gestures of Participatory Art. Manchester: Manchester University Press 2018, 156 Seiten. Wie wirkt „ participatory art “ ? Diese Frage scheint ausreichend diskutiert, Sruti Bala (Universiteit van Amsterdam) zeigt jedoch, dass dies mitnichten der Fall ist. Schon ihr Hinweis auf die Etymologie von „ participation “ (4) als kommerzielle Beteiligung und/ oder Teilhabe an der Kommunion wirft ein neues Licht auf die Fragestellung, denn Teilhabe ist innerhalb bestimmter ideologischer, institutioneller Formationen (des Handels und der Kirche) angesiedelt: „ If the terms of participation are already set by such authoritative forces, then doesn´t participation in the arts require the greatest vigilance? “ (5) So eröffnet die Autorin eloquent und präzise ihr Interessensfeld, denn sie untersucht Kunst und Teilhabe in ihren sozialen, politischen und institutionellen Kontexten. Sruti Bala stellt die Geste als Scharnier zwischen Kunst und Teilhabe, entsprechend ordnet sie das Material anhand von „ unsolicited “ (unaufgefordert), „ vicarious “ (nachempfunden) und „ delicate “ Gesten von Teilhabe. Zuvor jedoch Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 132 - 134. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0014 132 Rezension