Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
10.2357/FMTh-2021-0029
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BalmeHenning Fülle. Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960–2010). Theater der Zeit Recherchen 125. Berlin: Theater der Zeit 2016, 500 Seiten
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Anna Volkland
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dichtung einerseits und der detailreichen Darstellung andererseits die zugrundeliegenden Prozesse in ihrem Ablauf (wenn auch nicht immer leicht) erkennbar bleiben. Auch die hochkomplexen Vernetzungsleistungen, Systematisierungen sowie die Diskussion der Ergebnisse sind hervorzuheben. Zugleich kann die Autorin überzeugend nachweisen, dass Artistic Research im Tanz notwendig weder als sprachlos zu konzeptionieren noch jenseits gewohnter Handlungsabläufe zu situieren ist. Wenn es gelänge, diesen Befund zurück ins Feld zu spielen und produktiv zu machen, dann könnten davon einerseits die fachliche Auseinandersetzung und andererseits die Ausgestaltung konkreter Probenprozesse und deren Metareflexion profitieren, die, wie Kleinschmidt herausarbeitet, oft automatisiert und implizit ablaufe. Was dieser reichen Arbeit noch fehlt, das ist meines Erachtens die Rückbindung ihrer Ergebnisse an künstlerische und kulturelle Kontexte. Zwar bringt Katarina Kleinschmidt punktuell Bezüge zu künstlerischen Manövern, z. B. dem ‚ neutral doer ‘ und der Bewältigung von Aufgaben im Umfeld der Judson Dance Theater-Bewegung, und zu kulturellen Praktiken wie der westlich zentrierten Vogelperspektive, mit der auf räumliche Relationen gesehen wird, doch fehlen grundsätzliche Überlegungen zur kulturellen Prägung und Valenz gängiger Routinen. Woher rührt beispielsweise die konstatierte Vorliebe für das Führen von Listen, das als weniger hierarchisch als andere Organisationsprinzipien gilt, und warum gilt es als das? Auf welche künstlerischen Praktiken außerhalb des choreographischen Feldes gehen die verwendeten Formate zurück? Gab es Verschiebungen bei der Übernahme auf und in der Übersetzung in den zeitgenössischen Tanz? Und wenn ja, welche? Wie etablierte sich der ‚ Sitzkreis ‘ als Diskussions- und Reflexionskonvention? Indem Kleinschmidt zu solchen Fragen anregt, ergibt sich ein weiteres Desiderat im Bereich von Konfektionierung und Bestimmung der Probe im zeitgenössischen Tanz. Zu letzterer leistet Kleinschmidts Buch einen substantiellen Beitrag. Frankfurt am Main K ATJA S CHNEIDER Henning Fülle. Freies Theater. Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 - 2010). Theater der Zeit Recherchen 125. Berlin: Theater der Zeit 2016, 500 Seiten. Henning Fülles Monographie zur Entwicklungsgeschichte des Freien Theaters in (West-) Deutschland ab 1960 wurde 2015 als Dissertation am Hildesheimer Institut für Kulturpolitik bei Prof. Dr. Wolfgang Schneider verteidigt. Diese sieht sich der Darstellung eines „ Innovationspotenzials “ Freien Theaters verpflichtet, „ das auch im deutschen Theater die Überwindung der Traditionspflege bürgerlicher Hochkultur ermöglicht “ , so der Buchrückentext. Der Autor spricht bewusst vom „ Freien Theater “ im Singular und er setzt sich damit explizit kritisch ab von theaterwissenschaftlichen Ansätzen, wie sie etwa Annemarie Matzke (vgl. S. 19 - 22) oder Nikolaus Müller-Schöll (S. 26) hinsichtlich einer Begriffsdifferenzierung vorgeschlagen hatten, um der Vielfalt der Erscheinungs- und Produktionsformen ‚ freien ‘ Theaters gerecht zu werden. Fülle argumentiert hingegen kulturpolitisch: Um die zu lange übersehene Bedeutung eben jener Formen des Theaterschaffens aufzeigen zu können, welche seit Jahrzehnten ganz besonders unter der Theaterfinanzierungskrise litten, brauche es einen festen Begriff (S. 21). Für die Einordnung der Publikation ist es wichtig, die in der 30seitigen Einleitung deutlich formulierte Absicht zur Kenntnis zu nehmen, in erster Linie bisherige Kulturförderdebatten neu perspektivieren zu wollen. Das Freie Theater möchte Fülle nicht in Bezug auf dessen Ästhetik analysieren; ihn interessieren vielmehr die spezifischen „ Konzeptionen, Strukturen und Institutionen des Freien Theaters “ , die er auf Grundlage von „ konzeptionelle[n] Selbstbeschreibungen und programmatische[n] Texte[n] und ähnliche[n] Materialien “ (S. 36) vorstellen und würdigen möchte. Hierfür spannt der Autor einen Bogen von den frühen 1960er Jahren in der BRD bis in die gesamtdeutsche Gegenwart, etwa im Jahr 2010, um in sieben chronologisch angeordneten Kapiteln seinen Gegenstand als in verschiedene historische Phasen zu unterscheidendes und stets - Forum Modernes Theater, 32/ 2 (2021), 306 - 308. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0029 306 Rezensionen so die Grundidee Fülles - vom Stadttheaterschaffen abgetrenntes Phänomen (u. a. S. 13) zu konstruieren. Im Hauptteil unterscheidet er drei separat zu betrachtende „ historische Strukturformen “ (S. 36 f ): die „ Bewegung der Freien Gruppen “ (1970 - 1975) als „ Politisches Volkstheater “ , das „ Theater der Freien Szene “ (1976 - 1986) als „ Alternativbewegung und Gegenkultur “ , und das „ System des Freien Theaters “ (1986 - 2010) als Phase der „ Strukturbildung und Institutionalisierung “ . Vorangestellt wird noch vor einem Kapitel zu „ Proto-theatralen Praktiken “ ( „ Straßentheater, Agitprop, Animation “ ) 1969 und 1970 ein „ Prolog: Das Jahrzehnt der Unruhe “ . Hierin werden ‚ Reformdiskurse ‘ von 1960 bis 1968 aus dem Fachmagazin Theater heute referiert - wobei die Betrachtung ausgerechnet mit dem Jahr endet, in dem die wichtigen systemwie selbstkritischen Veränderungsbestrebungen innerhalb der Stadttheater (denn um eben deren Reformbedarf geht es hier) - getragen vor allem von einer jungen Generation Theaterschaffender - in das Stadium der praktischen Versuche innerhalb der Institutionen selbst übergingen. Problematisch ist diese Blickverengung deshalb, weil Fülle die These verfolgt, dass nur das Freie Theater die „ unvollkommene Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft “ (S. 13) vorantreiben könne. Im „ Epilog: Theater in der Krise. Die Agenda der Kulturpolitik “ wie schon im vorletzten Kapitel „ Theater für die Postmoderne “ wird eben dieser Zusammenhang „ Freies Theater und die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft “ (so der Kapiteluntertitel) final darzulegen versucht. Es folgt ein unkommentierter Anhang: „ Dokumente zur Geschichte des Freien Theaters “ . Von den acht sehr lesenswerten Texten stammen vier aus Theater heute (1968 - 1974) und sie sind tatsächlich ebenso zu den wichtigen Dokumenten einer noch kaum erzählten Geschichte der ‚ Institutionskritik ‘ im deutschen Stadttheater zu zählen - so etwa der von Fülle zitierte Essay der beiden jungen Ensembleschauspieler*innen Barbara Sichtermann und Jens Johler „ Über den autoritären Geist des deutschen Theaters “ von 1968, dessen Forderungen (u. a. nach Kollektivregie und Mitbestimmung) an verschiedenen Stadttheatern der BRD während der 1970er Jahre durchaus umgesetzt wurden. Die übrigen Texte (1979, 1980, 1997) hat Fülle in Publikationskontexten ohne Theaterbezug gefunden - was die wichtige, rechercheintensive Aufgabe aufzeigt, noch nicht kanonisierte (jüngere) Theatergeschichte darzustellen. Fülles materialreichem Buch kommt das Verdienst zu, nahezulegen, wie wichtig programmatische Texte und auch die Beschreibung der zeitspezifischen gesellschaftspolitischen Intentionen der jeweiligen Akteur*innen für eine Geschichtsschreibung des Freien Theaters sind, das heißt eines Theaterschaffens, das sich nicht lediglich als Phänomen einer nur ästhetischen Innovationslust begreifen lässt. Während der Publikationstitel aber zunächst an ein fraglos nötiges Überblickswerk zur jüngeren Theatergeschichte erinnert und hoffen lässt, dass nun Publikationen wie Barbara Büschers bereits 1987 erschienene Studie Wirklichkeitstheater, Straßentheater, Freies Theater. Entstehung und Entwicklung freier Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1968 - 76 um weitere Jahrzehnte ergänzt würden, ist das Buch vor allem als Inspiration für weitere, nachprüfende theaterhistoriographische Forschung zu begreifen. In seiner Einleitung erklärt der Autor, darauf verzichtet zu haben, die „ große[n], ungeordnete[n] Sammlungen von Akten, Papieren, Druckschriften, Ton-, Bild- und Datenträgern etc. “ , die in verschiedenen Institutionen und bei Privatpersonen anzufinden seien, erstmals für eine wissenschaftliche Recherche zu erschließen (in der Tat wäre dies durch eine Einzelperson nicht zu leisten); auch die Befragung von Zeitzeug*innen habe er bewusst unterlassen (S. 35). Es handele sich daher bei seiner Dissertationsschrift nicht um die „ Darstellung einer umfassenden und abgeschlossenen Erforschung der Geschichte oder Begriffsgeschichte des Freien Theaters in Deutschland “ und es handele sich zudem „ weder um eine (empirisch orientierte) Diskursanalyse noch um eine sozial- oder kulturhistorische oder begriffsgeschichtliche Studie “ , „ und schon gar nicht [. . .] um Theaterwissenschaft “ (S. 35). Stattdessen bezieht sich Fülle auf die „ spekulativhermeneutische Methodik “ Fritz Hermanns, die keine „ Wahrheit “ produzieren möchte (S. 35 f) - und so wolle er seine Arbeit als „ Vorschlag [. . .] 307 Rezensionen der weiteren Debatte zum Thema “ verstanden wissen (S. 36). Dennoch wäre es notwendig gewesen, dass Fülle die eigenen Auswahlkriterien für sein Quellenmaterial transparent macht und auf die notwendigen Ausklammerungen verweist; stattdessen fehlt eine Reflexion der eigenen theaterhistoriographischen Methoden. So blendet Fülle alle jene Dokumente und Publikationen aus, die eine andere Erzählung als die der von ihm immer wieder aufgerufenen „ Teilung der Theaterlandschaft “ (S. 11, 13 etc.) aufzeigen könnten: etwa die einer engen, unter anderem durch geteilte politische Forderungen und kritische Theorien motivierten Wechselwirkung zwischen den theatralen Protest- und Kunstformen außerhalb der professionellen Theaterinstitutionen und denjenigen innerhalb derselben in den 1960er und 1970er Jahren. Dass Fülle die Geschichte der äußerst experimentier- und selbstkritikfreudigen Jahre um und ab 1968 somit lediglich knapp als gescheiterte erzählt - „ Impulse zu seiner Umwälzung münden rasch in heil- und fruchtlose Debatten um (gewerkschaftliche) Mitbestimmung an den Theatern “ (S. 268) - , führt ihn zur Diagnose „ der künstlerischen ‚ Rückständigkeit ‘ des westdeutschen Theaterwesens “ (S. 268). Er stellt ohne weitere Ausführungen lediglich fest: „ die Impulse struktureller und ästhetischer Modernisierung werden zunächst kaum umgesetzt “ (S. 268). Zunächst kaum? Und so schreibt Fülle die neuen, auf gemeinsamen Entscheidungen basierenden Arbeitsweisen und Dramaturgien, die Einbeziehung neuer Publikumsgruppen (wie „ kulturferne Schichten “ , Kinder- und Jugendliche, S. 270) oder die damalige „ oppositionelle Sehnsucht nach ‚ anders leben, anders arbeiten ‘“ (S. 271), die im Theaterbereich zu einer Reflexion der eigenen Produktionsweisen führte, ausschließlich dem Freien Theater zu. Die alleinige Fokussierung auf eine Geschichte Freien Theaters, das sich ab Mitte der 1970er in verschiedenen Stadien neu und alternativ konstituierte (S. 271), wäre nicht zu kritisieren - die gleichzeitige Ableitung weitgehender Schlussfolgerungen aus dem Nichtbeachten jener anderen, ebenfalls wechselhaften Stadttheatergeschichte(n) aber ist es schon. Berlin A NNA V OLKLAND Lore Knapp. Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke — Christoph Schlingensief. Paderborn: Wilhelm Fink, 2015. 379 Seiten. Mit ihrer Monographie Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke - Christoph Schlingensief (2015) leistet Lore Knapp einen wertvollen literatur- und theaterwissenschaftlichen Beitrag zur Frage des Kunstreligiösen. Nicht die Kunstreligion - wie in Bayreuth um Wagner - interessiert Knapp, sondern das Kunstreligiöse oder, wie sie präzisiert, die „ affektive Transzendenzerfahrungen “ , die sich „ in der Form von Texten oder der Struktur von Kunstereignissen “ manifestieren (S. 19). In der „ Überschreitungsmetaphorik “ (S. 333) weist Knapp dabei ästhetischen und theologischen Konzepten des Transzendenten eine Strukturanalogie nach. Diese finde sich gegenüber Objekten (Aura, Präsens) sowie im Erleben von Subjekten (Schwellenerfahrung mit potentieller Transformation). Ob eine Transzendenzerfahrung nun ästhetisch oder religiös ist, sei letztlich eine subjektive Zuschreibung, drei Kriterien seien dabei aber ausschlaggebend: ein nachweisbarer Bezug zu einer bestehenden Religion, eine nachweisliche Anlehnung der ästhetischen Form an eben diese und eine selbstreflexive Tendenz, so dass das Religiöse nicht für sich steht, sondern der ästhetischen Wirkung zuträgt. Da diese Phänomene ebenso in anderen Kontexten sowie transnational und -kulturell zu beobachten sind, wünscht man Knapps Studie ehrgeizige Anschlussforschung, so z. B. in einer Erweiterung der Ritualforschung Turners oder van Genneps oder zu vermeintlich totalsäkularisierten Kulturphänomenen wie der Popkultur. Das Kunstreligiöse dürfte sich auch hier als ein kritisches Zugriffsinstrument auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse einer säkularisierten Moderne erweisen. Knapps Studie ist in drei umfassende Kapitel geteilt. Sie zeigt in den ersten beiden Teilen anhand der Schreib-, Inszenierungs- und Kompositionsstrategien von Handke und Schlingensief sowie im dritten Teil über ausgewählte ästhetische Theorien die Bandbreite kunstreligiöser Erscheinungsformen auf. Damit sind zwei Künstler gewählt, die bei allen Unterschieden doch die einschlägige katholische Prägung gemeinsam Forum Modernes Theater, 32/ 2 (2021), 308 - 310. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0030 308 Rezensionen