eJournals Italienisch 41/81

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2019-0002
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2019
4181 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia

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2019
Gerhard Regn
ita41810002
2 Zur Überlagerung heterogener Subjektentwürfe und literarischer Codes A sentence is but a cheveril glove to a good wit: how quickly the wrong side may be turned outward! Twelfth Night) G E R H A R D R E G N Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia 1 Es ist nicht ohne Ironie, dass Petrarca als Vater des europäischen Lateinhumanismus in die Geschichte eingegangen ist, obschon sein Programm der renovatio litterarum nicht nur keine europäische Orientierung aufweist, sondern einer solchen regelrecht widerspricht Denn die Wiedergeburt der literarischen Kultur aus dem Geist der Rückbesinnung auf eine ‘wahre’ und damit postmittelalterliche romanitas fungiert bei Petrarca als Impetus für die Ausbildung eines frühneuzeitlichen Nationalismus, in dem Italien weniger Partner, denn Gegner seiner europäischen Nachbarn ist . 2 Dies tritt besonders deutlich dort in den Blick, wo Petrarcas literarisches Programm der Rom- Renaissance in die politische Wirklichkeit Italiens hineingespielt wird Ein prägnantes Beispiel dafür ist die große Italienkanzone, die der Poet in seinen Canzoniere integriert und so über den Status einer bloß situationsgebundenen Gelegenheitsdichtung hinausgehoben hat I. Konkreter Gegenstand von Italia mia ist der Konflikt um Parma, der Mitte der vierziger Jahre, genauer im Winter 1344/ 45, im Zentrum der lombardischen Auseinandersetzungen stand und dessen direkter Zeuge Petrarca war, denn er hielt sich damals im Einzugsbereich der umkämpften Stadt auf 3 - die Kanzone indiziert die Anwesenheit des Dichters am Schauplatz des Geschehens in Vers 6, wobei die Sprechsituation mit ihrer hic et nunc-Deixis den Eindruck erweckt, dass der emotional affizierte Poet unmittelbar aus der exi- 1 Der nachfolgende Beitrag ist die Weiterentwicklung von Überlegungen, die ich in dem Artikel Rome, Italy and the End of the History of Salvation 2017 skizziert habe Im Zentrum steht die Ausleuchtung der verdeckten Bezüge zwischen Italia mia und Petrarcas Haltung zu den Kaisern des Sacrum Romanum Imperium Ziel der Analyse ist ein vertieftes Verständnis jenes frühneuzeitlichen Nationalismus, dem Petrarca in seiner Italienkanzone erstmals Kontur verleiht 2 Vgl den knappen diesbezüglichen Hinweis bei Dotti: Vita 1987, S 278, mit Blick auf die antifranzösische Polemik Petrarcas: «Nasceva così una prima forma di nazionalismo intellettuale e culturale che si radicò energicamente nella cultura dell’umanesimo .» 3 Petrarca war im Dezember 1343 aus Neapel nach Parma gekommen, wo er ein Haus erwarb, in dem er sich bis zu seiner kriegsbedingten Flucht am 23 Februar 1345 aufhielt - in Parma setzte er vor allem die Arbeit an der Africa fort DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 02 Italienisch_81.indb 2 02.07.19 14: 05 3 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia stentiell bedrohlichen Konfliktsituation spricht . 4 Es ist offenkundig, dass die affektisch aufgeladene Sprechsituation die Rhetorik des movere zu bestmöglicher Entfaltung bringen will Beim Streit um die signoria der Stadt (dessen Ursprung ein Vertragsbruch und eine ordentliche Summe Geld war) standen sich auf der einen Seite Guido da Correggio, Luchino Visconti und die Gonzaga, auf der anderen Azzo da Correggio, Òbizzo d’Este, Mastino della Scala und Taddeo Pepoli gegenüber . 5 Geführt wurde der Krieg unter Einsatz von Söldnerheeren, unter denen deutsche Truppen die zentrale Rolle spielten Petrarca belegt diese wahlweise mit den Epitheta barbarisch, deutsch oder bayerisch 6 - das letztgenannte Epitheton wird uns noch beschäftigen Der Autor von Italia mia nimmt zu diesem Konflikt in dichterischer Form Stellung, denn seine allseits anerkannte Autorität ist die des poeta laureatus; 7 und er tut es, indem er sich demonstrativ über die Parteien stellt Die Italienkanzone ist ein flammender Aufruf zum Frieden - sie endet mit dem pathetischen Lakonismus des triadischen «Pace, pace, pace» (128,122); gleichzeitig verbindet sie diesen Appell mit der Ermahnung zur Abgrenzung nach außen Denn der Gipfel des Verwerflichen sei, dass die Italiener aus kleinlichen Partikularinteressen selber die fremdländischen Söldner in ihr Land holten, wo sie so großes Unheil anrichteten 4 Vgl bes 129, 6: «[…] e ’l Po, dove doglioso et grave or seggio»: Wie man sieht, wird die Sprechsituation durch das Ineinandergreifen von Präsens («seggio»), deiktischem Adverb («or») und der beiden Adjektive mit ihrer emotiven Semantik («doglioso»/ «grave») aufgebaut Die Kanzone und alle anderen Gedichte des Canzoniere werden zitiert in der Ausgabe von Santagata: Petrarca: Canzoniere 1996, jeweils unter Angabe von Gedichtnummer und Verszahl(en) Der Kommentar von Santagata wird zitiert als ‘Santagata’ unter Hinzufügung von Gedichtnummer, Seitenzahl, sowie, wo angezeigt, Verszahl(en) 5 Zu den Details vgl Petronio: Storicità della lirica 1961, S 247-61, sowie Dotti: Vita 1987, S 130: «Alla morte di Simone [da Correggio] infatti, Azzo [da Correggio], che non intendeva cedere la signoria della città a Luchino Visconti secondo certi patti intercorsi tra loro nel 1341, la vendette ad Òbizzo d’Este per circa 60 .000 fiorini d’oro (24 Novembre 1344) Guido [da Correggio], che avrebbe preferito rimanere in accordo con i Visconti, si oppose e venne cacciato mentre al volere si sottomise Giovanni [da Correggio], il più giovane dei fratelli La città si trovò così al centro delle lotte in Lombardia […] Nel dicembre 1344 a Parma ebbe inizio un vero e proprio assedio .» 6 «barbarico sangue», 128,22; «tedesca rabbia», 128,35; «bavarico inganno», 128,66 7 Petrarca war 1341, also nur ein paar Jahre zuvor, auf dem römischen Kapitol zum Dichter gekrönt worden Die Ehrung brachte ihm nicht nur dichterischen Ruhm ein, sie war auch ein immenser Autoritätsgewinn für seine Rolle als public intellectual Dass die Ehrenbezeichnung des poeta laureatus von Petrarca auch für die Promotion seiner volkssprachlichen Dichtung in Dienst genommen wurde, bezeugt u .a der titulus, den Petrarca seinem Canzoniere gibt: «Francisci Petrarche laureati poete Rerum vulgarium fragmenta», vgl Vatasso: L’originale del Canzoniere 1905, S 8 Zur Dichterkrönung vgl Wilkins: The Making 1951, S 9-69 Italienisch_81.indb 3 02.07.19 14: 05 4 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn Wenn Petrarca dabei gleich zu Beginn und vermittels einer impliziten Referenz auf Ovid, Her. 7,3-6, die Vergeblichkeit seiner Rede thematisiert («Italia mia, benché ’l parlar sia indarno», 128,1), so erfüllt dieses Eingeständnis eine gänzlich andere Funktion als im politischen Diskurs über das Sacrum Romanum Imperium, in dessen Rahmen der Petrarca der fünfziger und sechziger Jahre darlegen wird, was vom Kaiser des römischen Reiches zu erwarten ist In diesem später datierten Zusammenhang betont Petrarca, wie zuvor schon in der Italienkanzone, dass die Forderungen, die er erhebt, ohne Wirkung bleiben Dies geschieht in Fam. XXIII,1,1, und zwar eben unter Bezugnahme auf dieselbe Ovid-Stelle, die diesmal aber anders als in der Kanzone nicht bloß allusiv evoziert, sondern sogar direkt zitiert wird: 8 Im ersten Brief des 23 Buches der Epistolae familiares geht es um die gleiche Situation wie in Italia mia, nämlich die Verwüstung des Landes durch die fremden Söldnerheere . 9 In der Epistel ist die Klage darüber deshalb vergeblich, weil sie keinen handlungswilligen Adressaten findet, der dem schlimmen Treiben ein Ende setzen könnte, obschon unmissverständlich signalisiert wird, dass es jemanden gäbe, der dies eigentlich tun müsste, nämlich der aus dem Geschlecht der Luxemburger stammende Kaiser des römischen Imperiums . 10 An diesen, also Karl IV ., der zugleich König von Böhmen war und in Prag residierte, werden im weiteren Verlauf des 23 Buches dann acht namentlich adressierte Briefe gerichtet Von diesen besteht die Mehrzahl aus ungehört bleibenden Aufforderungen an den Herrscher, seines Amtes als 8 Das Motiv der Vergeblichkeit der eigenen Rede erhält in Fam. XXIII,1 nicht zuletzt dadurch scharfes Profil, dass es prominent am Beginn der Epistel platziert ist Der Brief beginnt folgendermaßen: «Loquor quia cogor; urget enim pietas ardentesque stimulos anxio figit in pectore, qui me tacere non sinunt; et scio me nequicquam loqui, neque ovidiano relevor solatio, quod scilicet ‘perdere verba leve est’ […] .» Die zitierte Ovid- Stelle findet sich in der Epistel Didos an Aeneas, wo sie direkt an Didos Eingeständnis anschließt, dass sie nicht glaube, mit ihrer Rede bei ihrem Adressaten etwas bewirken zu können Die Epistolae familiares werden zitiert in der Ausgabe von Rossi/ Bosco: Le Familiari 1997 9 Ohne ein ausgeprägtes Gespür für philologische Subtilitäten ist der Zusammenhang zwischen Italia mia und den Klagebriefen an Karl IV sicherlich nicht zu erfassen Petrarca freilich setzt idealiter einen Leser voraus, der über exakt eine solche Gabe verfügt 10 Dies macht nicht erst die genau kalkulierte Komposition des 23 und damit vorletzten Buches der Briefsammlung deutlich, sondern schon die als Schmähung konzipierte Überschrift von dessen erstem Brief: «Indignatio et querela contra illum, quisquis sit, qui deberet proterere has que dicuntur sotietates predonum, nunc Italiam pervagantes .» Dass der Adressat der Schmähung sine nomine bleibt, hängt mit der Beachtung des Dekorums zusammen und ist, wie eben schon vermerkt, kein Hindernis für die Referenzzuweisung: ille quisquis sit ist natürlich ein Verweis auf den Kaiser Italienisch_81.indb 4 02.07.19 14: 05 5 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Römischer Kaiser zu walten, 11 so dass die perpetuierte Erfolglosigkeit des Redners schlussendlich in dessen resignierte Ermattung umschlägt Warum seine Aufrufe nichts bewirken, gibt Petrarca ohne Wenn und Aber zu verstehen: Dem transalpinen Karl mangelt es an der nötigen Dosis römischer virtus . 12 In Italia mia ist die Situation dagegen eine andere Hier schwächt der Hinweis auf die Grenzen der eigenen Möglichkeiten die Position des Redners nicht, sondern spornt ihn im Gegenteil an, für das geschundene Land umso engagierter Partei zu ergreifen Dies ist so, weil für Petrarca die Adressaten, an die er sich wendet, von anderem Kaliber sind als der Luxemburger Sie sind Italiener und damit Abkömmlinge der Römer, und als solche sind sie potentiell Träger authentischer virtus - im Kontext der romanitas, den Petrarca an dieser Stelle explizit herstellt, hat virtus eine doppelte Bedeutung, nämlich sittliche Vorbildlichkeit und entschlossene Tatkraft im politischen wie militärischen Handeln Deshalb macht es für den Sprecher der Kanzone bei aller gebotenen Skepsis angesichts des bisherigen enttäuschenden Verhaltens der italienischen signori 13 sehr wohl Sinn, diese an ihre Verpflichtung zu erinnern Sie sollen die Interessen des Ganzen, also Italiens, über den kleinlichen Eigennutz miteinander rivalisierender Parteien stellen Die wichtigste Voraussetzung dafür wäre, so das Argument des Redners, dem Söldnerunwesen ein Ende zu bereiten Dass der Verzicht auf die aus der Fremde kommenden Söldnertruppen keine zureichende Bedingung für die Befriedung der konfliktreichen italienischen Staatenwelt ist, liegt auf der Hand, doch diesen politisch eigentlich entscheidenden Punkt übergeht Petrarca mit Stillschweigen Stattdessen fokussiert er die Söldnerproblematik, weil sie ein überaus dienliches rhetorisches Argument ist um seinem Friedensaufruf die größtmögliche Zustimmung zu sichern - die Söldnerplage steht in Italien allen vor Augen, und wenn man ihre Beseitigung fordert, darf man sich des Applauses aller Wohlmeinenden sicher sein . 14 Die Effizienz des Appells an die signori soll der Rekurs auf Topik des petrarkischen Romdiskurses gewährleisten, der seine markanteste Ausprägung in der Africa und in den Römerviten von De viris illustribus findet Deshalb werden den Machthabern Italiens in Italia mia die Exempel großer Römer 11 Von Belang sind insbes Fam XXIII,2; XXIII,3; XXIII,8; XXIII,9; XXIII,15 sowie XXIII,21 12 Zu Karl als Antityp des tugendhaften vir vere romanus vgl auch unten, S 12 13 Die formal korrekte Anrede an die Herrscher, also signori, platziert Petrarca effektvoll gegen Schluss in der letzten (regulären) Strophe vor dem commiato: «Signor», 128,97 14 Dass es für die Forderung nach Beseitigung der Söldnertruppen auch triftige Sachgründe gibt, liegt freilich ebenfalls auf der Hand: Die compagnie di ventura wirkten ohne Frage als Konfliktbeschleuniger Italienisch_81.indb 5 02.07.19 14: 05 6 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn vor Augen gestellt, genauer die Taten von Gaius Marius (128, 44- 48) und Julius Caesar (129, 49-51) Worin liegt deren Vorbildlichkeit? Darin, dass sie die Germanen erfolgreich - will sagen mit Waffengewalt - in die Schranken gewiesen haben Gaius Marius hatte die Bedrohung durch die einfallenden Germanenstämme beseitigt und sich so den Ehrentitel eines pater patriae erworben - Petrarca greift aus den Feldzügen des Marius die Schlacht gegen die Teutonen bei Aquae Sextiae heraus, deren Beschreibung in der Römischen Geschichte von Florus ihm das archaische Motiv vom durststillenden Blut der Feinde liefert . 15 Entsprechendes gilt für Caesar, der den Einfall der Germanen ins römische Herrschaftsgebiet mit dem Schwert abwehrte - auch hier dient, wie schon zuvor, das vergossene Feindesblut der Illustration römischer virtus Der Blick in die Geschichte soll also lehren, was in der Gegenwart zu tun ist: Die Deutschen sind laut Petrarca eine Bedrohung für das gegenwärtige Italien, ganz so, wie dies einst die Germanen für das Rom der Antike gewesen waren Die Römer hatten damals das Richtige getan, als sie die Gefahr mit Tatkraft abwehrten Erst wenn die Italiener sich an ihnen ein Beispiel nehmen, statt fortzufahren, ihr Unheil auch noch durch eigenes Zutun, also durch den freiwilligen Import deutscher Söldnerhorden, aktiv zu befördern, 16 gibt es Hoffnung auf eine Befriedung der Heimat Überzeugungskraft schreibt der Sprecher der Kanzone seinem Rückgriff auf die großen exempla römischer Tugend nicht zuletzt deshalb zu, weil für ihn die zeitgenössischen Italiener Abkömmlinge der alten Römer sind: Beide sind eines Blutes, und dieses Blut ist von besonderer Qualität, wie die Wendung 15 Den Hinweis auf Florus I, 38, 9 gibt (wie vor ihm schon Carducci/ Ferrari in Le Rime, S 196) Santagata: Commento 128,45-48 S 619-0 Die Florus-Stelle lautet: «tanto ardore pugnatus est, ea caedes hostium fuit ut victor Romanus cruento flumine non plus aquae biberit quam sanguinis barbarorum .» Das Zitat zeigt sehr schön, dass die militärische Entschlossenheit, die der römische virtus-Begriff meint, eine Härte inkludiert, die vorzüglich durch Bilder archaischer Grausamkeit zum Ausdruck gebracht wird Den Gegensatz zu dieser «vertù» bildet der «furore» als bloße Raserei ohne Ethos, vgl 128,73 16 Das aktuelle Verhalten der signori ist also das glatte Gegenteil dessen, was einst die Römer getan hatten Dies ist Anlass für eine schroffe vituperatio, die mit sarkastischer Ironie fragt, ob die Herren Italiens die fremden Söldner deshalb ins Land gerufen hätten, damit die Heimaterde mit Barbarenblut getränkt werde: «[…] che fan qui tante pellegrine spade? / perché ’l verde terreno/ del barbarico sangue si depinga? », 128,20-1 Dies - so der Sinngehalt der Ironie - hatten einst die Römer mit ihrer Vernichtung der einfallenden Barbaren getan, während die signori im Unterschied dazu den Anlass geben, dass das Blut der Italiener den grünen italischen Boden rot einfärbt, dass also italienisches Leben (dafür steht die grüne Farbe) sich in Tod (symbolisiert durch das vergossene Italiener-Blut) verkehrt Die Schroffheit, mit der Petrarca die Mächtigen seiner Zeit tadelt, ist Ausdruck einer Furchtlosigkeit, die den Dichter selbst zum Träger wahrer römischer virtus macht Italienisch_81.indb 6 02.07.19 14: 05 7 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia von «Latin sangue gentile» (128,74) zum Ausdruck bringt Deshalb kann nach Petrarcas Ansicht trotz der beklagenswerten Auswirkungen des ‘Dunklen Zeitalters’ 17 auch in den Italienern der Gegenwart der «antiquo valore» (128,95) - also die römische Tugend in ihrer doppelten Bedeutung von sittlicher Stärke und militärischer Tatkraft - noch nicht vollständig erloschen sein Wenn Petrarca solcherart zwei Viten großer Römer in die Argumentationskette seiner Italienkanzone einbaut, dann gibt er damit zugleich eine Anleitung, wie die Römer-Biographien von De viris illustribus gelesen werden sollen, die ja in ihrer letzten Fassung 18 nicht nur das Leben von Gaius Marius, sondern auch dasjenige Caesars enthalten Die Römer-Viten sind exempla, die unter Reflexion auf die spezifischen Umstände einer gegenüber der Antike veränderten Gegenwart für deren positive Gestaltung fruchtbar gemacht werden sollen . 19 Die Italiener sind mithin vom Stamm der Römer, und das Italien des Trecento selbst kann auf diese Weise als legitime Erbin des alten Rom erscheinen Im Umkehrschluss bedeutet dies freilich, dass Rom nicht mehr als das existiert, was es einmal war, sondern dass an seine Stelle Italien als ein politisches (und nicht mehr bloß geographisches) Gebilde getreten ist, das sich nicht mehr über seine Dependenz von Rom definiert und das, ungeachtet der Vielfältigkeit seiner Staatenwelt, auch mehr ist als eine bloß geographisch determinierte Größe: eben eine Nation Diese Verschiebung weg von Rom hin zu Italien gibt die Kanzone auf Schritt und Tritt zu erkennen Die das Gedicht eröffnende Apostrophe richtet sich an das personifizierte Italien Danach wird das Land über seine bekanntesten Flüsse evoziert («’l Tevero, 17 Mit dem Bild der tenebrae meint Petrarca die eigene Zeit, deren Dunkel zuvörderst durch die fehlende Besinnung auf die Werte authentischer romanitas bedingt ist Zum petrarkischen Konzept des dunklen Zeitalters (und dem daraus abgeleiteten Begriff des Mittelalters) vgl Mommsen: Petrarch’s Conception 1942, S 226-242 18 Die letzte Fassung entstand in Padua auf Wunsch von Francesco da Carrara, der auch die Dedikation des Werkes erbat Sie kehrt zum ursprünglichen Projektplan zurück, indem sie die zwischenzeitlich integrierten Biographien von zwölf biblischen und mythologischen Gestalten herausnimmt und sich wieder ganz auf die romanitas konzentriert Der ursprüngliche Projektplan mit der Vita Scipionis als Zentrum bildete zusammen mit dem Africa-Projekt die Grundlage für die Dichterkrönung Wie bekannt wurde Petrarca zu Ostern 1341 auf dem römischen Kapitol wegen seiner Romliteratur, die Zeichen der renovatio litterarum sein wollte, zum «poeta et historicus» gekrönt Vgl dazu Petrarcas Privilegium laureationis, 75 Kritische Ausgabe mit historischen Erläuterungen zur Dichterkrönung in: Mertens: Petrarcas ‘Privilegium laureationis’ 1988, S 225-247 19 Die exempla sind also nicht als Vorgaben für eine schlicht zu bewerkstelligende Nachahmung gedacht, sondern ihre wirkungsvolle Applikation setzt eine vorgängige hermeneutische Anstrengung voraus Vgl dazu grundsätzlich Keßler: Petrarca und die Geschichte 2004 Italienisch_81.indb 7 02.07.19 14: 05 8 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn et l’Arno/ e’l Po», 128,5-6); die Abfolge der Namen scheint auf den ersten Blick hin geographisch motiviert, denn Petrarca schlägt einen Bogen vom Süden nach Norden Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es dem Dichter um etwas anderes geht Er möchte den Fokus aus der Perspektive des Ich-Sprechers prozessual auf den aktuellen Schauplatz des Geschehens hinlenken, also auf Parma Denn auf diese Weise kann Petrarca einen diskreten Hinweis auf das Kriterium geben, welches die Selektion der Wasserläufe - Tiber, Arno, Po - steuert: Es ist die Biographie des Redners, die, so suggeriert es unser Gedicht, über die wichtigsten Orte von Petrarcas Lebens aufgerufen wird Arezzo, durch dessen Umland der Arno fließt, ist die Geburtsstadt des Dichters, Rom am Ufer des Tiber ist der Ort von Petrarcas größtem Erfolg, der in der Dichterkrönung besteht, 20 und Parma, wo sich das Drama italienischer Politik aktuell abspielt und wo Petrarca sich erst kurz zuvor ein Haus gekauft hatte, ist die nicht weit vom Po entfernt gelegene Stadt, die stellvertretend für die ersehnte (und wenig später, und zwar Ende 1347, endgültig vollzogene) 21 Heimkehr in die «patria» (128, 84) steht Dass Avignon, das ja zum Zeitpunkt der lombardischen Wirren noch immer der faktische Lebensmittelpunkt Petrarcas war, in dieser Aufzählung der biographischen Stationen außen vor bleibt, versteht sich von selbst Der südfranzösische Sitz der Kurie ist ein negativ besetzter Gegenpol zur Welt jenes Italien, das Petrarca in den dreißiger Jahren aus der Ferne, vom Gipfel des Mont Ventoux, an einem imaginären Horizont sehnsuchtsvoll als die heißgeliebte Heimat hatte aufscheinen sehen: «Suspiravi, fateor, ad italicum aerem animo potius quam oculis apparentem, atque inextimabilis me ardor invasit et amicum et patriam revidendi […] .» (Fam. IV,1,18) . 22 Die Markierung der biographischen Dimension ist deshalb wichtig, weil sie die Grundlage für die emotionale Aufladung der Rede bildet Dass 20 Wie wichtig Petrarca seine Krönung zum poeta et historicus zeitlebens nahm, belegt exemplarisch der Titel, unter dem er am Ende seines Lebens den Canzoniere in die Welt seiner künftigen Leser entließ: «Francisci petrarche laureati poete Rerum vulgarium fragmenta .» 21 1347 verlässt Petrarca (unter anderem wegen seiner offenen Parteinahme für Cola di Rienzo, der in Rom den Stadtadel und hier insbesondere die Colonna an die Wand gespielt hatte) die famiglia des Kardinals Giovanni Colonna und bricht im November nach Italien auf, wo er sich dann ab März 1348 zunächst in Parma häuslich einrichtet 22 Petrarca datiert den Aufstieg zum Mont Ventoux auf den 26 April 1336 Seit Billanovich besteht weithin Konsens, dass die Abfassung des Briefes sehr viel später zu datieren ist, wahrscheinlich auf die Zeit zwischen 1352-53 Die in der Epistel artikulierte Italiensehnsucht des jungen Mannes, den es in die Fremde verschlagen hat, ist somit zu allererst eine Rückprojektion des bereits in die patria zurückgekehrten Petrarca Vgl dazu Lokaj: Introduction 2006, S 29 u 155, unter bes Berücksichtigung des Konnexes von amicus und patria Italienisch_81.indb 8 02.07.19 14: 05 9 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Petrarca sich so vehement für Italien ins Zeug legt, will Ausdruck einer Liebe zum Heimatland 23 sein, die einem natürlichen Empfinden entspringt: «Italia mia» (128,1) . 24 Dieser Gedichtauftakt mit seinem Ineinandergreifen von affektischer Apostrophe, Personifikation und Possessivpronomen erste Person Singular setzt von Anfang die Tonlage, die im Folgenden moduliert wird: Italien ist die «patria», die Geborgenheit gibt (128,84), sie ist eine «madre benigna e pia» (128,85) ebenso wie der «nido/ ove nudrito fui sì dolcemente» (128,82-83) Die biologistische Bildlichkeit konnotiert, dass die emotionale Bindung an die Heimat der Natur des Menschen gemäß ist Konzeptionell wichtig ist dabei, dass Petrarca bei seiner affektiven Positivierung den kommunalen Partikularismus hinter sich lässt Wenn der Redner vom «terren ch’i’ toccai pria» (128,81) spricht, dann ist dies fraglos ein Verweis auf den Geburtsort des Dichters Doch die Deixis («non è questo il terren […]? », 128,81) 25 macht unmissverständlich klar, dass Arezzo nur pars pro toto des ganzen Landes ist - die wahre Heimat ist mithin nicht die toskanische Kommune, in der Petrarca das Licht der Welt erblickt hat, sondern Italien Über die Aufzählung der Flüsse, die der metonymischen Evokation von Italien als patria des Dichters dient, kommt auch Rom ins Spiel, aber eben nur mehr noch als eine Örtlichkeit unter anderen Als Zentrum Italiens wird es nicht profiliert, und von einer Rolle der urbs als «mundi […] caput» (Afr 8,856) 26 ist schon gar nicht die Rede Haupt der Welt war Rom in einer fernen Vergangenheit, die für Petrarca im Verlauf seines Lebens mehr und mehr zum nostalgischen Gegenstand einer literarischen Erinnerungskultur wird, welche nicht umhinkommt, die Vergänglichkeit der historischen Größe des antiken Rom melancholisch in Rechnung zu stellen . 27 Die Hoffnung auf 23 Ich vermeide an dieser Stelle den eigentlich nahe liegenden deutschen Begriff ‘Vaterlandsliebe’, weil dieser die Konnotationen, die Petrarca abrufen will, nicht nur tilgt, sondern sogar ins glatte Gegenteil verkehrt: Das italienische Äquivalent für das deutsche ‘Vaterland’ ist bekanntlich patria und damit weiblich Petrarca nutzt das grammatische Geschlecht, um die Aspekte des Mütterlichen, des Nährenden und des Umsorgenden herauszustreichen 24 Hervorhebung von mir 25 Durch seine doppelte Wiederholung in den darauf folgenden Versen («Non è questo il mio nido», 128,82, und «Non è questa la patria», 128,84) gewinnt das Verfahren, das mittels der hic-Deixis auf die Einrückung des Kommunalen in die Perspektive der Nation zielt, scharfe Kontur 26 Die Africa wird zitiert in der Ausgabe von Huss und Regn: Francesco Petrarca: Africa 2007 27 Dies bezeugt wider Erwarten insbesondere die Africa, und zwar in doppelter Weise Zum einen macht das Epos die Vergänglichkeit historischer Größe zum Fluchtpunkt der erzählten Geschichte, die zwar im Kern vom Aufstieg Roms zur Weltmacht handelt, aber ungeachtet dessen als faktischen Endpunkt der Narration den Niedergang des römischen Reiches setzt, vgl dazu Regn und Huss: History of the Africa 2009, hier Italienisch_81.indb 9 02.07.19 14: 05 10 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn eine politische Erneuerung Roms, die auch eine zumindest symbolische Wiedergewinnung alter Größe hätte sein sollen, und die sich vor allem in der anfänglichen Sympathie für Cola di Rienzos politische Bemühung um die Restitution alter romanitas Bahn gebrochen hatte, 28 verlosch in dem Maße, in dem Petrarca sich aus unmittelbarer Nähe mit den politischen Realitäten Italiens konfrontiert sah Einen ersten entscheidenden Anstoß für diese Entwicklung gab die direkte Verwicklung des Dichters in die Wirren des Krieges um Parma In der Italien-Kanzone kann Rom mithin nicht mehr Dreh- und Angelpunkt einer Ideologie sein, deren prägnantester Ausdruck der Reichsgedanke ist Bei den alten Römern, die Petrarca als historische exempla ins Feld führt, stand der Krieg mit den germanischen (und anderen) Völkern im Dienst der Ausformung eines Weltreiches, dessen Grenzen sich weit über Italien hinaus erstreckten Insbesondere die Gestalt Caesars spricht hier Bände In der Italien-Kanzone liegen die Dinge dagegen genau umgekehrt Dort geht es um die Abwehr der Deutschen Statt Grenzerweiterung ist also Grenzziehung die Devise, und die damit verbundene Botschaft ist klar: Die geographisch vorgegebenen Grenzen, im gegebenen Fall die Alpen, sind ein Schutzschild gegen die Bedrohung von Außen, den es zu nutzen gilt Geschieht dies, ist der Boden bereitet für eine «vita serena» (128,105), in der die destruktiven kriegerischen Energien ins Produktive gekehrt werden können, «in qualche acto più degno/ o di mano o d’ingegno,/ […] in qualche honesto studio» (128,106- 110) Nicht zuletzt die Erwähnung der honesta studia macht dabei deutlich, dass die so ermöglichte kulturelle Blüte mehr meint als die Entfaltung der Künste in ihrer traditionellen Duplizität von artes mechanicae und artes S 99 Zum anderen präsentiert Petrarca in der großen Rom-Beschreibung anlässlich des Besuchs der karthagischen Verhandlungsdelegation in Afr 8,855-950 den Lesern des Epos das grandiose ‘Haupt der Welt’ unter dem unverkennbaren Signum der Musealisierung - das antike Rom wird auf diese Weise zum Ausstellungsstück einer protohumanistischen Erinnerungskultur Vgl dazu im Einzelnen Regn: Rome, Italy and the End of the History of Salvation, hier S 143-145 28 Zu Petrarca und Cola vgl u .a Dotti: Vita 1987, S 108-110 u S 176-190, sowie Miglio: Storie di Roma 2006, S 26-42; Ferraù: Petrarca, la politica, la storia 2006, S 16-52 Cola war für Petrarca nicht nur der ‘wahre Römer’ antiken Zuschnitts, der mittels der Neutralisierung des stadtrömischen Adels der urbs ihre angestammte libertas zurückgeben wollte, sondern der als vir vere romanus und unter Rekurs auf die von ihm wiederentdeckte Lex de Imperio Vespasiani vor allem auch die Befriedung und gleichzeitige Erneuerung Italiens anstrebte Bereits hier zeigt sich, dass Petrarca die Akzente anders setzt als der Tribun Die universalistisch-imperiale Dimension von Colas Handeln (vgl dazu Collins: Greater than Emperor 2002) war für ihn weit weniger wichtig als für diesen selbst Für Petrarca zählte stattdessen vor allem, dass die renovatio Romae aus republikanischem Geist zugleich als Instrument zur Befriedung Italiens konzipiert war Italienisch_81.indb 10 02.07.19 14: 05 11 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia liberales Vielmehr wird auf diese Weise auch und vor allem das Konzept der renovatio studiorum ins Spiel gebracht, das im Zentrum von Petrarcas Renaissance-Diskurs steht . 29 Doch zurück zur Geographie Wenn Petrarca die natürliche Grenze auch als Kulturgrenze ins Spiel bringt, dann tut er dies mit Blick auf die semantische Opposition von Kultur und Barbarei: «Ben provide Natura al nostro stato,/ quando de l’Alpi schermo/ pose fra noi et la tedesca rabbia» (128, 33-35) Auch in der Antike scheint das Motiv der Alpen als geographisch vorgegebene Zivilisationsgrenze auf, etwa bei Plinius oder Juvenal, 30 aber konstitutiv für den imperial ausgerichteten Romdiskurs ist es dort gerade nicht Im Gegenteil, die Expansion römischer Herrschaft war ja gerade an den Export römischer Kultur gekoppelt Dies wiederum bedeutet, dass nicht etwa die Welt jenseits der Grenzen Italiens für barbarisch gehalten wurde, sondern allein diejenige, die außerhalb der Grenzen des römischen Reiches lag Wie man sieht, nutzt Petrarca ein antik sanktioniertes Motiv, um gegen die tradierte Vorstellung vom römischen Reich als Kulturraum einer über Italien hinaus expandierten romanitas seinen ‘modernen’ Italiendiskurs in Stellung zu bringen Dieser begrenzt die aus der romanitas geborene Kultur demonstrativ auf Italien, weil sie allein dort als einheitsstiftender Faktor der Nation wirken kann - Nation deshalb, weil Petrarca Italien als ein Land sieht, dessen Eliten über ihre gemeinsame Abstammung vom «Latin sangue gentile» (128,74) miteinander verbunden sind . In der Italien-Kanzone bezieht Petrarca Stellung gegen den imperialen Rom-Gedanken Dass er dabei nicht nur dessen antike Variante im Auge hat, sondern auch die mittelalterliche Transformation, macht ein Blick auf die Geschichte des Motivs der «tedesca rabbia» (128,35) deutlich Die Rede von der teutonica rabies ist zwar antiken Ursprungs, doch seit dem 12 Jahrhundert gerinnt sie zu einem zentralen Topos der antikaiserlichen Propaganda der Guelfen . 31 Indem er sich dieses topisch gewordenen Motivs bedient, evoziert Petrarca zugleich den Horizont der italienischen Debatten um den mittelalterlichen Reichsgedanken Damit sind wir beim Dante-Bezug der Italienkanzone Denn wie ausgiebig Petrarca in Italia mia auch immer aus dem Repertoire der antiken Literatur schöpfen mag, so ist doch unübersehbar, dass die Kanzone vor allem die Auseinandersetzung mit dem Autor 29 Zu Petrarcas honesta studia vgl Stierle: Francesco Petrarca 2003, S 93-155 30 Die einschlägigen Quellenangaben finden sich in Le Rime, S 195 31 Vgl dazu den Kommentar von Santagata, 128,33-35, S 618, mit Verweis auf Monteverdi: Tedesca rabbia 1925, S 196-199: «le espressioni ‘germanica/ teutonica rabies’ o ‘teutonicus furor’, di origine classica […], ma diffuse nella letteratura mediolatina, divennero ‘nel secolo XII e nei secoli seguenti in tutta Europa espressioni proverbiali’ (Monteverdi), per evidente influsso della propaganda guelfa antiimperiale .» Italienisch_81.indb 11 02.07.19 14: 05 12 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn der Commedia sucht, genauer mit der Italien-Invektive des Sordello-Gesangs aus dem Purgatorio . 32 Und wie immer, wenn bei Petrarca Dante ins Spiel kommt, geht es um Distanzierung, um Überwindung, um Neuausrichtung . 33 Dies signalisiert bereits der Auftakt der Kanzone Während Dante am Anfang seiner Italien-Apostrophe das personifizierte Land schmäht und auf affektische Dissoziierung setzt («Ahi serva Italia», Purg 6,76), beginnt Petrarca seine Anrede an die ebenfalls personifizierte patria mit einer Geste emotionaler Identifikation: «Italia mia» (128,1) . 34 II. Dantes Italien-Invektive, deren Thema die Klage über die inneritalienischen Kriege ist, ist konstitutiver Teil des Zusammenhangs, den die sechsten Gesänge der drei cantiche bilden . 35 Während der 6 Gesang des Inferno den unheilvollen Parteienstreit im kommunalen Florenz zum Gegenstand hat und der 6 Gesang des Paradiso die Geschichte des Imperiums zur Darstellung bringt, ist der Sordello-Gesang des Purgatorio, in dem es um Italien geht, das verbindende Zwischenstück, so dass sich eine Trias von Stadt, Land und Reich konstituiert Grundlage der Verfugung dieser drei politischen Einheiten ist das Konzept einer Heilsgeschichte, die in Rom ihren Dreh- und Angelpunkt hat Denn Dante richtet in der Nachfolge Vergils die Geschichte Roms auf die pax augusta zu, die den Rahmen für das Kommen des Erlösers bildet Doch nicht nur dies, auch die Sicherung des Heilswerkes Christi für die Welt bleibt auf Rom angewiesen, das nicht nur als Sitz des Nachfolgers Petri bestimmt ist, sondern das darüber hinaus ideelles Zentrum der politischen Ordnung bleibt Die weltliche Macht, für die der Kaiser steht, soll irdische Gerechtigkeit als Vorgriff auf und Vorbedingung für die Erlangung des himmlischen Friedens gewährleisten Das irdische Rom wird so zur anagogischen Figur des Gottesreiches, das Dante in signifikanter Umgestaltung des Topos vom Himmlischen Jerusalem als «quella Roma» benennt, «onde Cristo è romano» (Purg. 32,102) Rom wird auf diese Weise zum ideellen Mittelpunkt einer heilsgeschichtlich konzipierten Universalmonarchie . 36 Sinnfälliger Ausdruck dieser Idealität ist die Tatsache, dass Rom nicht nur 32 Purg 6, 76-151 Die Commedia wird zitiert in der Ausgabe von Chiavacci Leonardi: Dante Alighieri 1991-1997 33 Zum Verhältnis Petrarcas zu Dante vgl bes Baranski: Petrarch & Dante 2009 34 Hervorhebung von mir 35 Zum Zusammenhang der sechsten Gesänge vgl Noyer-Weidner: Symmetrie 1961 36 Rom wurde in christlicher Auslegung von Daniel 2,21 als das letzte der vier Weltreiche betrachtet Italienisch_81.indb 12 02.07.19 14: 05 13 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Sitz des Stellvertreters Christi ist, sondern zugleich Ort der Kaiserkrönung . 37 Dass das nachantike Rom nur ideeller und nicht zugleich auch realpolitischer Mittelpunkt des Imperiums ist, ergibt sich aus der translatio imperii, deren Resultat das Sacrum Romanum Imperium 38 mit seinen zunächst fränkischen, dann deutschen Kaisern ist Dass Dante genau wie das Gros seiner Zeitgenossen die translatio römisch-kaiserlicher Macht nach Norden nicht infrage stellte, bezeugt der 6 Gesang des Paradiso Dort erzählt Kaiser Justinian, nicht zuletzt in seiner Eigenschaft als prominenter Repräsentant römischen Rechtsdenkens, die Geschichte des Imperiums und akzentuiert dabei eine doppelte translatio Er beginnt seine Rede mit dem Hinweis, dass Konstantin den Sitz des Imperiums von Rom gen Osten, und zwar nach Byzanz, verlegt habe, wobei die Wahl der Worte, die Dante ihm in den Mund legt, suggeriert, dass dies eine fatale Entscheidung war: «contr’ al corso del ciel» (Par 6,2) habe sich Konstantin bewegt, im Gegensatz zu Aeneas, der als von Gott erwählter Urvater des Imperiums 39 dem Sonnenlauf gefolgt sei, als er von Troja kommend einen Weg einschlug, der in die Gründung Roms einmünden sollte Negativ konnotiert ist die von Konstantin bewirkte translatio vor allem deshalb, weil sie direkt mit der Donatio Constantini, 40 also der Übertragung weltlicher Macht an die Papstkirche, verknüpft wird Der erste römische Kaiser, den Justinian in seiner Reichserzählung nennt, ist wie gerade vermerkt Konstantin, der letzte dagegen ist Karl der Große, der über sein Handeln - er erweist sich als Schutzherr der «Santa Chiesa» (Par. 6,95) 41 - als gottgefälliger Herrscher präsentiert wird, und zwar direkt nach Titus, den Dante ebenfalls als einen Agenten der Heilsgeschichte auftreten lässt . 42 Indem Dante solcherart den in Aachen residierenden Karolinger, der 37 Die Kaiserkrönung vollzog im Mittelalter in der Regel der Papst oder sein Stellvertreter Für Dante hieß dies freilich nicht, dass das Papsttum auch als Autorisierungsinstanz anzusehen wäre, im Gegenteil: In der Monarchia begründet er, warum die kaiserliche Macht als gottunmittelbar und damit als unabhängig von Papst und Kirche gedacht werden müsse 38 Die Bezeichnung ist seit 1254 erstmals urkundlich belegt 39 «[…] ch’e’ [d .i Aeneas] fu de l’alma Roma e di suo impero/ ne l’empireo ciel per padre eletto», Inf 2, 20-21 40 Die Urkunde, in der den Päpsten durch Konstantin die Oberherrschaft über Rom, Italien und den Westen des Reichs übertragen wurde, wurde wahrscheinlich um das Jahr 800 herum in Umlauf gebracht, ihr Inhalt selbst war seit dem 11 Jahrhundert Teil des Kirchenrechtes, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass bereits relativ früh Zweifel an der Echtheit des Dokuments zirkulierten 41 «E quando il dente langobardo morse/ la Santa Chiesa, sotto le sue ali/ Carlo Magno, vincendo, la soccorse .», Par 6,94-96 42 Agent der Heilsgeschichte ist Titus, weil er im Jahre 70 Jerusalem zerstörte, vgl Par 6,92-93, sowie den dazugehörigen Kommentar von Chiavacci Leonardi (Dante: Paradiso 1997, S 174): «Che la distruzione di Gerusalemme fosse stata una punizione divina per Italienisch_81.indb 13 02.07.19 14: 05 14 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn im Jahr 800 in der urbs zum Kaiser des Römischen Reiches gekrönt wurde, bruchlos auf den Flavier folgen lässt, signalisiert er, dass die mittelalterliche translatio imperii nicht bloß rechtens ist, sondern auch und vor allem Teil von Gottes heilsgeschichtlichem Plan Das römische Reich wird bei Dante zur Chiffre einer christlichen Universalmonarchie, die ihren Sitz in Europa hat Im Rahmen dieser vom imperialen Rom-Gedanken bestimmten politischen Ordnung ist für Italien der Sonderstatus einer «donna di provincie» (Purg. 6,78) vorgesehen Italien steht damit hierarchisch über allen anderen Provinzen des Reiches Dass die von Dante gewählte Formulierung, also donna di provincie, direkt auf das justinianische Corpus Iuris Civilis zurückgeht, sei nur am Rande erwähnt . 43 Die sündhafte Störung der heilsgeschichtlichen Ordnung, die Dantes Commedia mit ihrer politischen Botschaft korrigieren will, besteht darin, dass die politisch Handelnden aus Partei-Interesse Italien um seine ihm zugedachte Rolle bringen und es in Unrecht, Streit und Krieg versinken lassen . 44 Denn als donna di provincie müsste Italien eigentlich der schöne Garten des Reichs sein . 45 Der «giardin de lo ’mperio», so Dante in Purg 6,105, ist jedoch la crocefissione di Cristo voluta dagli Ebrei era idea corrente in tutta la tradizione cristiana .» 43 Die einschlägige Formel des Corpus Iuris Civilis, also «Non provincia, sed domina provinciarum», ist eine Modifikation von Lam 1,1 («Quomodo sedit sola civitas plena populo/ facta est quasi vidua domina gentium,/ princeps provinciarum facta est sub tributo») und war im Mittelalter gängige Münze, vgl ., mit Verweis auf den prominenten Historiographen und Rhetoriklehrer Boncompagno da Signa, Tateo: Boncompagno da Signa 1970 44 Dante greift in Purg 6,106-111 zum einen die heftigen militärischen Konflikte von Guelfen und Ghibellinen in Nord- und Mittelitalien heraus und betont zum anderen (in Bezug auf die Vasallen des kaiserlichen Lehensherrn) die Rechtsverletzungen, die sich im Zug der Kriegswirren einstellten 45 In Monarchia wird Italien als edelste Gegend Europas bezeichnet - eine Bezeichnung, die weithin funktionsäquivalent zum Bild des schönen Reichsgartens ist: Schönheit und nobilitas gehören zusammen Im zweiten Buch der Monarchia begründet Dante den rechtmäßigen Anspruch des Volks von Rom auf das Imperium und damit die Universalmonarchie (in Beantwortung der Frage «utrum romanus populus de iure sibi asciverit Imperii dignitatem», Mon 2,2,1) Als zentrales Argument dient ihm dabei die nobilitas des Vaters des römischen Volkes, also von Aeneas («regem Eneam patrem romani populi», Mon 2,3,6), die sich darin manifestiere, dass infolge des Wirkens der göttlichen Providenz Aeneas das edelste Blut aus allen Teilen der Welt (Asien, Afrika und Europa) in seiner Person vereinigt habe («Aut quem in illo […] concursu sanguinis a qualibet mundi parte in unum virum predestinatio divina latebit? », Mon 2,3,17 .) Den letzten (und in Dantes Augen) wesentlichen Beitrag habe Aeneas’ dritte und letzte Frau Lavinia (nach Creusa, die für Asien, und Dido, die für Afrika steht) geleistet, die als «regis Latini filia» und spätere «Romanorum […] mater» (Mon 2,3,16) aus Italien und damit aus der edelsten Gegend Europas stamme: «Que ultima uxor de Ytalia fuit, Europe regione nobilissima .» (Mon 2,3,17) - die nobilitas von Aeneas wird, wie man Italienisch_81.indb 14 02.07.19 14: 05 15 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia aufgrund des Versagens der Verantwortlichen verwüstet und verwaist Dante lässt nun keinen Zweifel, wen er für den Hauptschuldigen hält: den deutschen König Albrecht I von Habsburg (gewählt 1298), der Italien sich selbst überlässt, indem er die römische Kaiserkrönung ausschlägt, deshalb auch nie über die Alpen nach Süden zieht und damit in keiner Weise seiner Rolle als Herrscher des ganzen römischen Reichs einschließlich der Kernregion, also Italien, gerecht wird: «Oh Alberto tedesco ch’abbandoni/ costei [d .i Italien] ch’è fatta indomita e selvaggia» (Purg 6,97 f .) Die drängendvorwurfsvolle Ermahnung des Habsburgers, seine Handlungsabstinenz zu korrigieren (dies geschieht mittels einer vierfachen «vieni»-Anapher, Purg. 6,106; 109; 112; 115), ist denn auch das kompositorische Zentrum von Dantes Italien-Invektive . III. Erst wenn man Petrarcas Italienkanzone vor dem Hintergrund des Italien- Gesangs des Purgatorio liest, wird deutlich, wie sehr in Italia mia gerade diejenigen Aspekte ausgeblendet werden, die das Verhältnis von Italien zum Reich und dessen nomineller Kapitale, also Rom, betreffen Oder anders formuliert: Der Diskurs über Italien hat sich, anders als bei Dante, zur Gänze vom imperialen Rom-Diskurs gelöst, der kein positiver Referenzwert mehr ist Wenn Petrarca am Beginn seiner Kanzone Gott bittet, dieser möge sich seinem ins Unglück verstrickten «dilecto almo paese» (128,9) zuwenden, dann ist dies offensichtlich eine Variation von Dantes Frage an den Allmächtigen, ob dieser denn seine Augen von Italien ganz abgewendet habe . 46 Die Inszenierung des Nahverhältnisses zu Dante dient aber vor allem der Markierung dessen, was anders ist Gewiss, die von Petrarca gewählte Periphrase perspektiviert Italien als ein Gott gefälliges Land; der für den heilsgeschichtlichen Romdiskurs so zentrale Begriff des Imperiums, den Dante benutzt, fehlt jedoch Wir erinnern uns: Im Sordello-Gesang war Italien der «giardin de lo ’mperio», bei Petrarca ist es, ohne den Verweis auf den Reichsgedanken, ganz generisch «del mondo la più bella parte» (128,56) Doch nicht nur dies Für beide Texte, denjenigen Dantes wie denjenigen Petrarcas, ist der Rekurs auf die Apostrophe konstitutiv, sowohl bei Dante wie bei Petrarca finden wir Anrufungen Gottes, des personifizierten Landes, der Herrscher sieht, vornehmlich metonymisch über seine Familienbande und die damit verbundenen Herkunftsregionen begründet Die Monarchia wird zitiert in der Ausgabe von Sanguineti, Dante Alighieri: Monarchia 2011 46 «[…] o sommo Giove/ che fosti in terra per noi crucifisso,/ son li giusti occhi tuoi rivolti altrove? », Purg 6,118-120 Italienisch_81.indb 15 02.07.19 14: 05 16 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn Während Dante im Einklang mit seiner heilsgeschichtlichen Orientierung den deutschen Herrscher anruft um ihn an seine Verpflichtung gegenüber Italien zu erinnern, richtet Petrarca seine Ermahnung an die signori Italiens Als eine Instanz, die es mit dem rhetorischen Pathos der Kanzone zum Positiven zu bewegen gälte, ist bei Petrarca der Kaiser absent Stattdessen scheint er im Hintergrund als eine Macht auf, die nur Negatives bewirken kann und die deshalb von Italien fernzuhalten ist Dies bringt uns zurück zum «bavarico inganno» (128,66), der eingangs ja schon kurz erwähnt wurde Mit besagter Wendung umschreibt Petrarca das unselige Wirken der süddeutschen Söldnertruppen, die vornehmlich aus Relikten der berüchtigten Grande compagnia des schwäbischen Herzogs Werner von Urslingen bestanden Die Männer des Urslingers waren nicht nur für ihre Grausamkeit bekannt, sondern zugleich für die Ruchlosigkeit, mit der sie entweder die Seiten wechselten oder aber anderweitig zum eigenen Vorteil handelten und dabei ihre Auftraggeber regelrecht austricksten 47 - darauf bezieht sich der petrarkische Vorwurf des «bavarico inganno/ ch’alzando il dito colla morte scherza» (128,67) . 48 Es steht außer Frage, dass dies Petrarcas primäre Referenz ist Die älteren Kommentatoren, insbesondere diejenigen der Renaissance, liegen somit sicherlich nicht richtig, wenn sie den bavarico inganno umstandslos und exklusiv auf den deutschen Kaiser beziehen, 49 der zur Zeit des Kampfes um Parma in Italien die Macht in Händen hielt, also auf Ludwig 47 Die Grande compagnia wurde 1342 gegründet, doch als Söldnerführer war der Urslinger schon in den dreißiger Jahren mit der Compagnia di San Giorgio in Italien zu Gange Zur Grande compagnia und Werner von Urslingen vgl Bronner: Abenteuerliche Geschichte 1828, sowie Vaglienti: Werner von Urslingen 1997 48 Damit ist gemeint, dass die Söldner oft einfach den direkten Kampf mit dem Gegner dann, wenn es zu riskant für sie wurde, abbrachen, indem sie flugs die Waffen streckten und so ihren Auftraggeber betrogen Vgl den Kommentar in Petrarca, Rime, S 198, «[…] a noi pare […] probabile ch’alzando il dito […] sia il tollere digitum che i latini dicevano per confessarsi vinto, per rendersi: tratto dai gladiatori, i quali vinti, con l’alzare il dito, domandavano grazia al popolo […] .» 49 Vgl etwa den Kommentar Daniellos: «SEGUITA in riprendere i Signori italiani, dicendo: Che per tante PROVE: per tante esperientie di tanto male di quanto era stato loro cagione Ludovico il Bavaro, venuto in Italia con titolo d’Imperio, da lui indebitamente usurpato; il quale sotto la fede fece miseramente morire non pur Galeazzo, Stephano e Marco fratelli Visconti, ma molti altri anchora con alzare il dito, dando loro la fede, e non l’osservando poi […]», Sonetti, Canzoni e Triomphi di Messer Francesco Petrarca con la spositione di Bernardino Daniello da Lucca, Venezia: Nicolini da Sabio 1541, f 30r Ähnlich zuvor bereits Gesualdo: «Dimostra egli [d .i Petrarca] qui anchora, che inescusabile errore è condurre gente Barbara venale, e senza fede, e nemico dello nome Italiano a guastare Italia, e non accorgersene per tante prove, e massimamente per lo ’nganno di Ludovico Bavaro Imperatore, quando con molto essercito vi discese a prender corona […]», Il Petrarcha colla spositione di Misser Giovanni Andrea Gesualdo, Venezia: Nicolini da Sabio 1533, f Zii r Italienisch_81.indb 16 02.07.19 14: 05 17 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia den Bayern . 50 Gleichwohl greifen auch die modernen Kommentatoren zu kurz, wenn sie an dieser Stelle und damit für die Kanzone als Ganzes den deutschen Kaiser aus dem Hause Wittelsbach einfach außen vor lassen Denn auch, wenn der bavarico inganno gewiss nicht direkt auf Ludwig IV zu beziehen ist, so heißt das keineswegs, dass der Bayer in Italia mia keine Rolle spielen würde Im Gegenteil, er ist dort eine Macht, die, ohne selbst im Vordergrund präsent zu sein, ihren bedrohlichen Schatten auf das Geschehen wirft, welches Gegenstand der Kanzone ist Dies schon allein deshalb, weil das von Petrarca gegeißelte Söldnerunwesen damals aufs Engste mit der Person des Wittelsbachers in Verbindung gebracht wurde Denn es war ja gerade der Italienzug Ludwigs gewesen, in dessen Folge die deutschen compagnie di ventura jenen ungeahnten Aufschwung nehmen konnten, der dann in den frühen vierziger Jahren in der Gründung der Grande compagnia seinen Höhepunkt fand Die Klage über die deutschen Söldner des Urslingers ist deshalb immer auch eine Klage über den Kaiser, denn der Urslinger und der Bayer standen aus italienischer Sicht für das gleiche Übel: Der schwäbische condottiere konnte das, was er tat, nur deshalb tun, weil der deutsche Kaiser bayerischer Abstammung dafür die Voraussetzungen geschaffen hatte . 51 Doch Italia mia konnotiert den Kaiser nicht erst über den in der Kanzone repräsentierten Sachverhalt, sondern bereits über den Wortlaut der Repräsentation Denn wo während der Regentschaft Ludwigs IV im Kontext politischer Rede ‘bayerisch’ als Schmähwort fiel, war die Assoziation mit dem Kaiser fast unvermeidlich: Ludovicus bavarus war nämlich der Schimpfname, den der Papst in Umlauf gebracht hatte, um seinen kaiserlichen Widersacher ebenso gezielt wie effektvoll herabzusetzen Für den beklagenswerten Zustand Italiens war also in hohem Maße der Kaiser verantwortlich Der unausgesprochene Tadel, den Petrarca zwischen den Zeilen an Ludwig IV übt, bezieht sich primär auf dessen Rolle als Ursache für das starke Aufflammen des Söldnerunwesens während seiner Regentschaft Zu einer solchen Kritik konnte sich Petrarca nicht zuletzt deshalb ermuntert sehen, weil er die Person des Wittelsbachers, zu der er 50 Der Italienzug von Ludwig IV (gen der Bayer) erstreckte sich von 1327 bis 1330, die Kaiserkrönung wurde am 17 Januar 1328 in Rom von drei Bischöfen und unter der Akklamation des Volkes von Rom gegen den Willen des Papstes Johannes XXII (der den Bayern 1324 exkommuniziert und kurz vor der Krönung 1327 zudem noch als Häretiker verurteilt hatte) vorgenommen 51 Vgl Santagata: Commento zu 128, S 614: «Scopo principale della canzone è il deplorare l’uso da parte dei signori italiani di milizie mercenarie: iniziato con la spedizione di Ludovico il Bavaro, esso si incrementò dopo che, nel 1342, Guarnieri di Urslingen aveva fondato la cosidetta ‘Grande compagnia’ (i cui resti parteciparono alla guerra di Parma) .» Italienisch_81.indb 17 02.07.19 14: 05 18 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn sich, soweit ich sehe, nie explizit äußert, wohl insgesamt höchst negativ eingeschätzt haben dürfte: Ludwigs Wahl zum deutschen König war rechtlich von zweifelhafter Legitimität; 52 er wurde vom Papst erst exkommuniziert 53 und in der Folge auch noch als Ketzer gebrandmarkt; 54 gegen Ludwig nahm kurz nach dessen Kaiserkrönung in Rom der mit Petrarca eng befreundete Giacomo Colonna in einer spektakulären Rede öffentlich Stellung, worauf unser Dichter im Sonett Gloriosa columna in cui s’appoggia allusiv Bezug nimmt; 55 und er besaß aus Petrarcas Sicht einen dubiosen kulturellen Leumund, wirkte er doch als potenter Beschützer und Förderer von Gelehrten, die der zutiefst verachteten Scholastik zuzuschlagen waren . 56 Ludwig der Bayer starb im Oktober 1347 und machte durch sein Ableben den Weg für die Krönung Karls IV zum deutschen König frei, 57 auf die, im Einvernehmen mit dem Papst, der Italienzug folgte, dessen Höhepunkt 52 Bei der Wahl zum deutschen König standen sich 1314 Ludwig und Friedrich der Schöne gegenüber, die jeweils von ihren Parteien gewählt wurden Erst in der Schlacht von Mühldorf 1322 konnte Ludwig seinen Habsburger Konkurrenten besiegen, doch Papst Johannes XXII verweigerte Ludwig die Anerkennung als rechtmäßiger König, was auch die Möglichkeit einer römischen Kaiserkrönung durch den Papst (oder einen durch ihn legitimierten Vertreter) ausschloss 53 Die Exkommunikation erfolgte 1324 und war die Antwort des Papstes auf Ludwigs reichspolitisches Agieren in Oberitalien, bei dem er den - aus päpstlicher Sicht widerrechtlich in Anspruch genommenen - Titel des Römischen Königs führte 54 Die Verurteilung als Ketzer erfolgte 1327 im Verlauf des Italienzuges, dessen Höhepunkt die Kaiserkrönung in Rom im Januar 1328 war Der Grund für diese Verurteilung war, dass Ludwig dem Papst förmlich das Recht abgesprochen hatte, über die Gültigkeit der deutschen Königswahl (und damit über den Anspruch auf die Kaiserkrone) zu befinden 55 Canz 10, 1-4: «Gloriosa columna […] ch’ ancor non torse del vero camino/ l’ira di Giove per ventosa pioggia .» Vgl dazu den Kommentar von Santagata, 10,3-4, S 49 «CH’ANCOR…CAMINO: allude alla clamorosa presa di posizione di Giacomo Colonna contro Lodovico il Bavaro del 22 aprile 1328, quando il giovane Colonna, incurante delle minacce imperiali, pronunciò nella piazza di San Marcello in Roma una famosa orazione contro l’imperatore destituito e scomunicato da Giovanni XXII .» 56 Neben Wilhelm von Ockham verdient in diesem Zusammenhang vornehmlich Marsilius von Padua Erwähnung, der als Autor des Defensor pacis (fertiggestellt 1324) zum antipapistischen Propagandisten des Kaisers aufstieg, zu dessen Gefolge er seit 1326 zählte und den er in hochoffizieller Mission auch auf dem Italienzug begleitete: 1327 wurde seitens der päpstlichen Kurie eine Reihe von Thesen des Defensor pacis als häretisch gebrandmarkt und das Buch auf den Index gesetzt Zu Ludwig und Marsilius vgl im Detail Godthardt: Marsilius 2011 Petrarcas negative Einschätzung des Bayern dürfte zudem durch dessen überaus gespanntes Verhältnis zum ‘protohumanistischen’ König Robert von Neapel befördert worden sein, den Petrarca in den vierziger Jahren als «decus atque evi gloria nostri» (Afr. 1,20) pries 57 Karl IV wurde bereits 1346 auf Betreiben des Papstes als Gegenkönig Ludwigs in Bonn gekrönt; nach dessen Ableben 1347 wurde die Krönung, nunmehr am richtigen Ort, also in Frankfurt am Main, im Jahre 1349 wiederholt Italienisch_81.indb 18 02.07.19 14: 05 19 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia 1355 in Rom die Krönung zum Kaiser des Reiches war Mit dem neuen Herrscher trat Petrarca schon kurz nach dessen Wahl in einen brieflichen Kontakt, 58 der sich rasch intensivierte und auf den 1354 in Mantua die erste persönliche Begegnung mit dem Monarchen folgte 1356 schließlich weilte Petrarca im Auftrag der Visconti einen Monat lang in diplomatischer Mission am Hof des Kaisers in Prag, wo ihm bekanntlich der Rang eines Pfalzgrafen verliehen wurde 59 Exakt in jenem Jahr 1356 war Petrarca damit zugange, seine Italienkanzone in die geplante Sammlung seiner volkssprachlichen Lyrik zu integrieren: Italia mia zirkulierte ab diesem Zeitpunkt als Teil der Azzo da Correggio gewidmeten Correggio-Fassung des Canzoniere . 60 Selbst wenn man sich am Prager Hof für Petrarcas volkssprachliche Lyrik interessiert haben sollte und, was eher unwahrscheinlich ist, bereits zu diesem Zeitpunkt von der Italienkanzone Kenntnis bekommen hätte, so wäre dies für Petrarca sicherlich unproblematisch gewesen Denn die unterschwellige anti-imperiale Stoßrichtung des Gedichtes war ja personalisiert: Sie war ganz auf Ludwig den Bayern bezogen und damit auf den erbitterten Kontrahenten des neuen Herrschers Diese Entschärfung des der Kanzone innewohnenden Konfliktpotentials wurde zudem noch dadurch befördert, dass Petrarca in seiner Kommunikation mit Karl IV die politische Position, die er in Italia mia vertritt, und die am Prager Hof möglicherweise für Missfallen hätte sorgen können, auf den ersten Blick hin ins glatte Gegenteil zu verkehren scheint Die Briefe an den Luxemburger 61 sind in ihrer Mehrheit nämlich Aufforderungen an den Herrscher, nach Italien zu kommen, um von dort aus - und damit ist zuvörderst Rom gemeint - sein Imperium zu regieren, 62 natür- 58 Der erste Brief an den Kaiser ist Fam X,1 und ist auf das Jahr 1351 datiert 59 Zu den biographischen Details vgl Dotti: Vita 1987, S 227-229; 247-248; 301- 304; 313-317 60 Zur Genese des Canzoniere vgl neben dem ‘Klassiker’ von Wilkins: The Making 1951, bes Santagata: I frammenti 1992, S .143-190, die Ausführungen zur forma Correggio, die Santagata als erste Fassung des uns in Vat lat 3195 überlieferten Lyrikbuches einstuft: «Il primo Canzoniere» vgl ebd S 143 Näheres zur Verbreitung der Correggio-Fassung wissen wir nicht Vermerkt sei noch, dass die Italienkanzone auch in allen späteren Fassungen des Canzoniere enthalten sein wird Petrarca hat die Kanzone also sehr bewusst mit Blick auf ihre Rezeption durch ein breiteres Publikum in Umlauf gebracht, weil sie in seinen Augen nicht bloß einen lokal umgrenzten militärischen Konflikt zum Gegenstand hatte, sondern Symptom eines Problems war, das die politische Lage in Italien über Jahrzehnte hinweg bestimmte 61 Beginnend mit dem ersten Brief, also Fam X,1 62 So bereits im ersten Brief, also Fam X,1,7: «Non te transalpinarum solicitudo rerum, non te natalis soli dulcedo detineat; quotiens Germaniam respexeris, Italiam cogita Illic natus, hic nutritus; illic regnum, hic et regnum habes et imperium, et quod nationum ac terrarum omnium pace dixerim, cum ubique membra, hic ipsum caput invenies monarchie .» Im weiteren Verlauf des Briefs bringt die personifizierte Roma die Italienisch_81.indb 19 02.07.19 14: 05 20 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn lich in der Erwartung, dass auf diese Weise auch Italien befriedet werde Wie eben schon vermerkt, steht diese Haltung in krassem Gegensatz zu der Position, die sich Petrarca in der Italienkanzone zu eigen gemacht hatte: Dort ging es darum, die Deutschen von Italien fernzuhalten und mit ihnen auch ihren Kaiser; hier jedoch wird der Kaiser als eine Ordnungsmacht herbeigebeten, die die Befriedung des Landes und damit auch die Ausmerzung des deutschen Söldnerunwesens bewerkstelligen soll . 63 Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich rasch, dass der Gegensatz nur ein solcher an der Oberfläche ist und die Briefe an Karl IV ., so man sie nach Maßgabe ihrer zeitlichen Abfolge interpretiert, nichts anderes sind als eine seitenverkehrte Bekräftigung der Einschätzung, die der Dichter in Italia mia vertritt Denn je länger sich die Korrespondenz erstreckt, desto deutlicher wird, dass der Kaiser nicht tut, was er nach Petrarcas Ansicht tun müsste Und er tut es deshalb nicht, weil ihm die Eigenschaften eines vir vere romanus abgehen In anderen Worten, für die gute Ausfüllung seines Amtes als Herrscher des römischen Reichs gebricht es ihm, der sich Petrarca als großer Zauderer zeigt, schlicht an jener virtus, die die ruhmreichen Römer der Antike ausgezeichnet hatte Diesen Aspekt arbeitet Petrarca, freilich unter sorgfältiger Beachtung des Dekorums, vor allem im planvoll komponierten 23 Buch der Familiares heraus, das schwerpunktmäßig dem Gedankenaustausch mit dem Kaiser und seinem Prager Hof gewidmet ist, 64 und das mit einer letzten, gleichermaßen ermahnenden wie resignierten Aufforderung an Karl IV ausklingt, Rom und Italien die Rolle zu restituieren, die ihnen gebührt . 65 Das Geschichte des Imperiums zur Darstellung, unter erneuter Bekräftigung ihres Anspruchs auf die Rolle als caput mundi 63 Zur Ausmerzung des Söldnerunwesens, die der Kaiser zu leisten hätte, vgl bes Fam XXIII,1 64 Von den 23 Briefen richten sich 6 direkt und einer indirekt an den Kaiser, 5 dagegen an Johannes von Neumarkt, den Kanzler Karls IV Insgesamt ist also mit 12 Episteln die Mehrheit der Briefe des letzten ‘echten’ Briefbuches der Epistolae familiares an den Prager Hof adressiert 65 Fam XXIII,21: «Ad Cesarem, exhortatio ultima» Fam XXIII,1 eröffnet das Buch, indem es von Anfang an die Vergeblichkeit der eigenen Mahnrede akzentuiert und so den Tenor für die nachfolgenden Schreiben an den Kaiser vorgibt: In dieser ersten Epistel empört sich Petrarca in scharfem Ton über einen ungenannt bleibenden Adressaten, der Italien eigentlich von der Söldnerplage befreien müsste, dies aber unterlässt und deshalb aufs Schmerzlichste spürbar macht, wie sehr die großen Römer der Antike fehlen Wenn Petrarca in diesem Kontext einerseits die Formulierung von der transalpina rabies («transalpinam rabiem», Fam XXIII,1,2) gebraucht, um auf die deutschen compagnie di ventura zu verweisen, und andererseits unter den Vorbildern römischer virtus, denen gegenüber der ungenannt bleibende Adressat so krass abfällt, u .a Julius Caesar (Fam XXIII,1,6: «o Iuli Cesar») und Gaius Marius (Fam XXIII,1,3-4 «O Mari, ut compatriota tuus ait Cicero, rusticane vir sed vere vir, qui barbaros in Italiam irrumpentes […] superasti») erwähnt, dann ist dies ein nicht zu überlesender Rückverweis Italienisch_81.indb 20 02.07.19 14: 05 21 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia 23 Buch der Familiares ist bekanntlich das letzte ‘echte’ Briefbuch der Sammlung Das abschließende 24 Buch besteht, abgesehen von den Rahmungsepisteln am Beginn und am Schluss, 66 aus fiktiven Briefen an die «antiquis illustrioribus» (Fam. XXIV,2,6) Mit dieser kompositorischen Gestaltung gibt Petrarca zu verstehen, dass nach den vielen wirkungslos gebliebenen Mahnungen samt der ungehört verhallenden exhortatio ultima sein Gesprächsbedarf mit den Lebenden erschöpft ist Deutlicher können die Enttäuschung des Mahners und seine Einsicht in die Vergeblichkeit der auf den Kaiser gerichteten Erwartungen nicht zum Ausdruck gebracht werden Vergeblich blieben Petrarcas Forderungen freilich vor allem deshalb, weil er sie unter ostentativer Missachtung der politischen Realitäten erhoben hatte Im Grunde erwartete Petrarca ja, dass das Reich nicht bloß nominell, sondern auch faktisch von Rom (und Italien) aus regiert würde, so dass die urbs wieder ihre angestammte Funktion als caput mundi restituiert erhalten hätte . 67 Petrarcas Ansinnen lief damit auf eine zumindest partielle Rückgängigmachung der translatio imperii hinaus, was gleichbedeutend war mit der Infragestellung der ‘Geschäftsgrundlage’, auf der das Heilige Römische Reich basierte Es ist bezeichnend, dass in der Korrespondenz zwischen Dichter und Kaiser letzterer seinen Briefpartner just auf diesen heiklen Punkt aufmerksam macht, wohingegen Petrarca das gewichtige kaiserliche Argument einfach dadurch aus der Welt schafft, dass er es in einem folgenreichen misreading zum Verschwinden bringt . 68 Während der Dante der Commedia auf die Italienkanzone Der «vir ingens, quem nominare non audeo» (Fam XIII,1,14) ist natürlich, wie schon oben, Anm 10, vermerkt, Karl IV Ungenannt bleibt der Luxemburger aus Gründen des Dekorums - dies ist eine weitere Analogie zur Italienkanzone, in der der Bayer ja ebenfalls nicht direkt genannt wird 66 Diese haben eine kompositorische Funktion Fam XXIV,1 und 2 sind an Philippe de Cabassole und Pulice aus Vicenza adressiert, Fam. XXIV,13 an den Freund Ludovicus Sanctus, an den übrigens auch der allererste Brief der Sammlung (Fam I,1) gerichtet ist, wodurch der Wille zur kompositorischen Rahmung zusätzlich akzentuiert wird 67 Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Fam XIX,12 (Juni 1355), wo Petrarca den Kaiser harsch dafür kritisiert, dass er, wie es ja der Vereinbarung mit dem Papst entsprach, kurz nach seiner Krönung Rom und Italien wieder verließ, um in seine «barbarica […] regna» (Fam XIX,12,2) jenseits der Alpen zurückzukehren Für Petrarca war dies ein deutliches Zeichen, dass sich an der von ihm kritisch gesehenen Verfassung des Reiches nichts ändern und sich seine Hoffnung auf eine Erneuerung des Imperiums aus dem Geist antiker romanitas (samt der damit verknüpften Erwartung auf eine Befriedung der italienischen Verhältnisse) nicht substantiieren würde 68 Fam XVIII,1 (vom Juni 1353) ist Petrarcas Antwort auf den Brief, den Karl IV 1351 an den Dichter (als Antwort auf dessen ersten Brief vom Februar 1351) gerichtet hatte und der diesen erst mit großer Verzögerung erreichte In seiner Epistel Laureata tua gratanter führt der Kaiser Gründe an, warum es für ihn schwierig sei, die Erwartungen Petrarcas zu erfüllen Dies hänge unter anderem mit dem Tatbestand der successio zusammen Was der Kaiser damit meint, ist klar: Er verweist mit dem Begriff der Italienisch_81.indb 21 02.07.19 14: 05 22 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn die translatio imperii noch ganz explizit als Richtschnur für die Neujustierung des Verhältnisses von Italien zum Reich akzeptiert, 69 erhebt Petrarca gegenüber Karl IV Forderungen, die in ihrer Unerfüllbarkeit letztlich auf jene Abkoppelung Italiens vom Sacrum Imperium zulaufen mussten, die der Dichter ja bereits in seiner Italienkanzone in den Raum gestellt hatte Denn auch wenn, anders als im Fall des Bayern, der Luxemburger nicht Urheber der Missstände war, unter denen Italien zu leiden hatte, so gilt doch auch für ihn, dass er sie weder beseitigen wollte noch konnte So bleibt als unausgesprochenes Fazit, was schon im Krieg um Parma während der Herrschaft des Bayern gegolten hatte, nämlich dass die modernen Italiener als Abkömmlinge der alten Römer ihr Geschick in die eigene Hand nehmen müssen . 70 successio auf die Zwänge, welche sich im Sacrum Romanum Imperium aus der translatio imperii ergäben, und die die Antike, die Petrarca ihm als Modell vor Augen stelle, in dieser Form ja noch nicht gekannt habe Dies ist in der Tat ein kapitales Argument, das schwer zu entkräften ist Doch Petrarca gelingt dies, indem er es in ein leicht zu widerlegendes verwandelt, und zwar durch eine Fehllektüre, von der letztlich offenbleiben muss, ob sie absichtsvoll ist oder ein bloßes Versehen Wo im kaiserlichen Brief von successio die Rede ist, liest Petrarca nämlich secessio («Addis autem - stupor auditu! - nesciam tunc secessionis Italiam .», Fam XVIII,1,37) Dadurch entsteht ein gänzlich anderer Argumentationszusammenhang Petrarca geht nun davon aus, dass der Kaiser behaupte, von seinem Italienzug wegen der dortigen politischen Konfliktsituation (die das Phänomen der secessio paradigmatisch repräsentiert) Abstand zu nehmen, und dass eine derartige Lage in der für vorbildlich erachteten Antike noch gar nicht existiert habe Petrarca weist die Stichhaltigkeit dieses vermeintlichen kaiserlichen Arguments zurück, indem er Karl belehrt, dass die politische Sezession in der Antike durchaus existent, ja sogar allgegenwärtig gewesen sei, und dass die alten Römer gerade aufgrund ihrer virtus damit fertig geworden seien - wenn der Kaiser sich ein Beispiel an den Römern nähme, dann dürften Tatbestände wie die secessio seinem Italienzug also gerade nicht im Wege stehen Vgl dazu auch Ferraù: Petrarca 2006, S 48 und ebd ., Anm 1, wo das misreading Petrarcas beiläufig erwähnt wird Der Brief Karls IV ist abgedruckt in Piur: Petrarcas 1933, S 12-16 69 Deutliches Indiz ist die positive Bewertung, die Karl der Große bei Dante erfährt Petrarca dagegen wird in Fam I,4 Karl dem Großen seinen Ehrentitel bestreiten, ihn moralisch herabsetzen und seine Residenz Aachen als übelriechendes Sumpfland schmähen, um auf diese Weise suggestiv die durch den Karolinger bewerkstelligte translatio imperii als illegitimen geschichtlichen Irrtum zu denunzieren Vgl dazu auch Stierle: Petrarca 2003, S 273 70 Symptomatisch für diese Erkenntnis dürfte auch der Misserfolg von Petrarcas diplomatischer Mission in Prag gewesen sein Dort musste Petrarca die Erfahrung machen, dass der Kaiser in Hinblick auf die Beilegung der oberitalienischen Konflikte nichts ausrichten konnte Vgl dazu Dotti: Vita 1987, S 317, mit Bezug auf die Prager Mission und die oberitalienischen Auseinandersetzungen: «Tali vicende mostrano la scarsa influenza che l’imperatore poteva esercitare dalla lontana Boemia […] e convincono che il risultato della missione praghese di Petrarca fu essenzialmente quello di un successo in senso strettamente personale» - der Kaiser erhob den in der Sache erfolglosen Diplomaten bekanntlich in den Rang eines Pfalzgrafen Italienisch_81.indb 22 02.07.19 14: 05 23 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia IV. Sowohl die Italienkanzone des Canzoniere wie der Italiengesang der Commedia operieren mit der Apostrophe Gottes, auf dass dieser sein Augenmerk dem gequälten Land zuwende Dante beginnt mit einer Klage, aber er tut dies dergestalt, dass diese sich sofort auf den Horizont der Heilsgewissheit öffnet Fundament dieser Gewissheit ist der Glaube an eine Weltordnung, die heilsgeschichtlich bestimmt und damit letztendlich auf ein gutes Ende zugerichtet ist Wie desolat die aktuelle Situation Italiens auch sein mag, in Gottes Ratschluss («consiglio», Purg. 6,122) kann sie nur «preparazion […] per alcun bene» (Purg. 6,121 f .) sein Wenn Dante seine Apostrophe Gottes im Duktus prophetischer Rede beginnt, dann ist damit schon vorgegeben, wohin der Ratschluss Gottes zielt: auf nichts weniger als auf die Erwählung des Dichters der Commedia zum Propheten, der als Agent der Heilsgeschichte seine Zeitgenossen auf den rechten Weg zurückbringen soll Nichts dergleichen finden wir bei Petrarca Es gibt keine Spur von providentieller Heilsgewissheit hinsichtlich des Laufs der Welt, stattdessen regiert die schiere Kontingenz Der weltliche Regent, den Dante im Italiengesang der Commedia adressiert, ist der Kaiser, und dieser ist eine Instanz, die ihre Investitur direkt von Gott hat Die weltlichen Herrscher, an die sich Petrarca wendet, sind dagegen die signori der italienischen Staatenwelt, die ihre Macht nicht Gott, sondern Fortuna verdanken Was ist Fortuna bei Petrarca? Nichts anderes als eine Allegorie der Kontingenz In vielen seiner Schriften, insbesondere in De Remediis utriusque fortunae, ist zur Kontingenzbewältigung die Tugend das Mittel der Wahl . 71 Deshalb führt Petrarca, wie zu sehen war, in der Italienkanzone den signori Italiens Beispiele römischer virtus vor Augen um sie zum rechten Handeln zu bewegen Doch die Art und Weise, wie er dies tut, zeugt nicht von einem ungebrochenen Tugendoptimismus Die Kanzone beginnt ja mit einer Reflexion auf die Vergeblichkeit der eigenen Rede, und sie endet, indem das Schicksal der Kanzone unter das Signum des Glücks - mit anderen Worten: der Fortuna - gestellt wird: «Proverai tua ventura» (128,119) Doch nicht nur dies In der Italienkanzone macht Petrarca zudem unmissverständlich klar, dass sein Aufruf zum tugendhaften Handeln nur dann von Erfolg gekrönt sein werde, wenn Gott in seiner Gnade dies wolle Deshalb ist der Ermahnung der signori das Gebet vorgeschaltet Dort, im Gebet, bittet der Sprecher darum, dass Gott die Herzen der italienischen Herrscher öffnen und erweichen möge und dass er so mittels der Rede des Dichters seiner, also Gottes, Wahrheit Gehör verschaffen 71 Zum Verhältnis von Tugend und Fortuna vgl die noch immer wegweisende Arbeit von Heitmann: Fortuna und Virtus 1958 Italienisch_81.indb 23 02.07.19 14: 05 24 Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia Gerhard Regn wolle Petrarca stellt damit das göttliche Gnadenwirken zentral, dessen Korrelat seitens der Menschen die demütige Innigkeit des Gottesbezugs ist Petrarca bringt dies sehr schön zum Ausdruck, indem er die ternäre Gottesapostrophe mit einem förmlichen «Rettor del cielo» (128,7) beginnt und über ein stilistisch abgesenktes «Segnor cortese» (128,10) zum affektivinnigen «Padre» (128,14) hinlenkt, um abschließend noch die eigene Demut zu thematisieren: «qual io mi sia» (128,16) Etwas plakativ könnte man sagen, dass der Gott der Italienkanzone ein augustinischer ist, der für die civitas terrena keine Heilsgewissheit offeriert Was dem Menschen bleibt ist dies: in demütiger Gottergebenheit sein Bestes zu versuchen . 72 Zu diesem Besten gehört für Petrarca die Besinnung auf die römische virtus Doch inwiefern die Wiederaneignung römischer Tugend auch zum Erfolg führt, steht in den Sternen Aber selbst ihre letztendliche Vergeblichkeit kann den Wert der Bemühung aus menschlicher Sicht nicht mindern Und so verliert trotz allem die aus dem Geist römischer Exemplarik geborene Bemühung um ein besseres Italien nichts von ihrem Belang, und zwar auch - oder vielleicht besser: gerade - dann nicht, wenn dieses Italien aus dem Zusammenhang der heilsgeschichtlichen Ordnung des Sacrum Romanum Imperium entlassen ist Italien ist nicht mehr der Garten des römischen Reichs und auch nicht mehr die domina provinciarum, es gewinnt vielmehr Kontur als eine frühneuzeitliche Nation, die sich vom römischen Reich deutscher Nation ebenso abgrenzt wie von Frankreich . 73 Identitätsbildend für dieses Italien ist freilich weniger eine einheitliche Staatlichkeit als vielmehr eine gemeinsame Kultur, in der das Erbe des untergegangenen Rom fortlebt: Italien wird für Petrarca zum Träger einer kulturellen romanitas, deren vornehmster Ausdruck die fortdauernde Prägekraft römischer virtus ist Abstract. Italia mia è la più politica fra tutte le poesie del Canzoniere, dove il padre dell’umanesimo europeo promuove un nazionalismo prettamente premoderno la cui base è la convinzione che l’auspicata rinascita possa trovare il suo terreno idoneo solo nell’Italia erede dei veri valori dell’antichità romana Il tema concreto della canzone è l’assedio di Parma insieme con la polemica contro l’uso delle compagnie di ventura da parte dei Signori 72 Zu Petrarcas Augustinismus, der die Verpflichtung des erbsündigen Menschen auf das rechte Wollen als integralen Bestandteil der Gnadenlehre des Bischofs von Hippo begreift, vgl u .a Huss/ Regn: Pluralisierung 2013, S 499 und S 512-523 73 Das Dokument dieser Abgrenzung von Frankreich ist die an Jean de Hesdin gerichtete Invective contra eum qui maledixit Italie Italienisch_81.indb 24 02.07.19 14: 05 25 Gerhard Regn Frühneuzeitlicher Nationalismus und romanitas: Petrarcas Italia mia italiani in lotta fra di loro causando così la rovina del Paese e ostacolando la fioritura culturale altrimenti possibile Ma dietro la scena particolare si apre un panorama politico molto più vasto: i mercenari ‘bavaresi’ simboleggiano l’imperatore che, pur rimanendo dietro le quinte, evoca il grande conflitto fra l’Italia e gli imperatori ‘tedeschi’ la cui soluzione dovrebbe consistere, per il Petrarca, nella la correzione del grande errore storico che è per lui la translatio imperii, simbolo di un mondo medievale ormai passato Bibliographie Baranski, Zygmunt/ Cachey, Theodore J .: Petrarch & Dante. 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