Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2019-0005
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2019
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Fesenmeier Föcking Krefeld Ott"La nostra casa la portiamo con noi": zum Widerstreit von Diaspora und Heterotopie in "Madre piccola" von Cristina Ali Farah und "La mia casa è dove sono" von Igiaba Scego
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2019
Barbara Kuhn
Benché da alcui anni il concetto di diaspora si sia rivelato uno strumento utile e irrinunciabile per descrivere la realtà – ad esempio dei tanti somali che vivono fuori della loro patria, dispersi in tanti Paesi del mondo intero – sembra tuttavia non essere adeguato per descrivere e intendere pienamente il carattere complesso di questa realtà. Partendo da una lettura dettagliata dei due testi, in parte autobiografici, di Ali Farah e Scego menzionati nel titolo, il presente contributo si propone di sfaccettare il concetto combinandolo con quello di eterotopia, sebbene a prima vista questi sembrino escludersi a vicenda. Seguendo le tracce dei testi, anche in questa sede si fa ricorso alle metafore e metonimie della carta e della casa, ambedue presenti in svariati modi nei testi delle due autrici. In un mondo che sempre di nuovo bisogna "rimappare", la "casa" può trovarsi dappertutto, e questa "casa" non ha "pareti rigide" (cioè non funziona come immagine per descrivere le cosiddette 'società parallele', isolate all'interno di una società e chiuse in se stesse). In conseguenza – è questa la tesi del contributo – è piuttosto un modello per pensare un'Europa che non solo crea o ammette delle comunità diasporiche e le loro eterotopie, ma che conosce e apprezza le "bewegten Zugehörigkeiten", le 'appartenenze in movimento' dei suoi abitanti.
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51 B A R B A R A K U H N «La nostra casa la portiamo con noi»: zum Widerstreit von Diaspora und Heterotopie in Madre piccola von Cristina Ali Farah und La mia casa è dove sono von Igiaba Scego Die Frage, wie Italien Europa denkt, macht sich in den letzten Jahren und in zahlreichen Gesprächen immer wieder an der komplementären Frage fest, wie sich das restliche Europa Italien gegenüber verhält - insbesondere im Blick auf das sogenannte Dublin-Abkommen und seit in den europäischen Ländern und vor allem, aufgrund seiner Lage am Mittelmeer, in Italien vermehrt Menschen aus anderen Kontinenten ankommen Bei nicht wenigen Europäerinnen und Europäern lösen solche Migrationsbewegungen geradezu Identitätskrisen aus, in denen oft unreflektiert wirkende, gelegentlich gar an Zeiten des Kolonialismus erinnernde Vorstellungen eines vermeintlich einheitlich christlichen Abendlands evoziert werden, das es zu bewahren gelte Gleichzeitig werden eben jene Zeiten des Kolonialismus, in denen sowohl europäischer Reichtum als auch europäische Verantwortung für viel Armut andernorts wurzeln, gern aus den Beschwörungen des abgeschlossen zu erhaltenden Europa ausgeblendet: Das gilt in Teilen ähnlich für das Denken Europas in Deutschland wie in Italien Auch Italien besitzt bekanntlich eine zwar relativ spät beginnende, aber dennoch einschneidende und bis in die Gegenwart wirkende kolonialistische Vergangenheit, die gern vergessen oder gar beschönigt wird, wie Scego in dem gemeinsam mit Rino Bianchi veröffentlichten Band Roma negata berichtet, 1 so dass die Frage, ‘wie Italien Europa denkt’, auch in dieser Hin- 1 Bis in die Gegenwart werde sie mit dem Schweigen einerseits, mit dem Mythos der «Italiani brava gente» andererseits konfrontiert, selbst beim Warten an einer Bushaltestelle, als eine «signora marchigiana» ihr ihre Version der Kolonial- und Postkolonialgeschichte Somalias und Italiens darlegt, gemäß der die Italiener ebenso als Heilsbringer präsentiert werden wie die Somalier als unfähig, all das von diesen empfangene Gute zu bewahren: vgl Bianchi/ Scego: Roma negata 2014, u .a S 19 f Der Text des Buches ist von Scego verfasst, die Photographien stammen von Bianchi Vgl in diesem Kontext auch in Scegos Text La mia casa è dove sono das Eingeständnis der Ich-Erzählerin, die sich vor anderen Diaspora-Somaliern dafür rechtfertigen muss, ausgerechnet in Italien zu leben: «Però su un cosa avevano ragione: l’Italia si era dimenticata del suo passato coloniale Aveva dimenticato di aver fatto subire l’inferno a somali, eritrei, libici ed etiopi Aveva cancellato quella storia con un facile colpo di spugna Questo non significa che gli italiani siano stati peggio di altri popoli colonizzatori Ma erano come gli altri […] Hanno fatto come gli inglesi, i francesi, i belgi, i tedeschi, gli americani, gli spagnoli, i portoghesi Ma in molti di questi paesi dopo la fine della Seconda guerra mondiale c’è stata una discussione, ci si è accapigliati, gli scambi di vedute sono stati DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 0 5 Italienisch_81.indb 51 02.07.19 14: 05 52 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn sicht differenziert werden muss: «Come l’Italia pensa l’Europa» hängt durchaus auch von der jeweiligen persönlichen Situation und der individuellen wie kollektiven Geschichte der Italienerinnen und Italiener ab Entsprechend soll im vorliegenden Beitrag der Versuch unternommen werden, den Blicken derjenigen zu folgen, die von anderswo nach Europa und speziell nach Italien gekommen sind: von Somalia im konkreten Fall - eben als einer ehemaligen italienischen Kolonie Dabei ist die eine der beiden Autorinnen, um deren Texte es im Folgenden gehen soll, Igiaba Scego, bereits in Italien aufgewachsen und hat immer dort gelebt, da bereits die Eltern nach Italien geflohen waren, während die andere, Cristina Ali Farah, zwar ebenfalls in Italien geboren wurde, aber von ihrem 3 bis zu ihrem 18 .- Lebensjahr in Mogadischu lebte, bevor sie sich nach einigen Jahren diasporischen Lebens in Rom niederließ, wo sie, ebenso wie Scego, heute lebt Beide Texte zeigen die andere Perspektive dieser Italienerinnen zum einen auf eine ‘Festung Europa’, wie es in Madre piccola heißt, zu der sie selbst und ihre Geschichten nie ganz gehören, auch wenn sie hier geboren sind, und zum anderen auf ein Italien als Beispiel für Europa, in dem so viele Somalierinnen und Somalier in der Diaspora leben, mit anderen Worten, als ein Beispiel für eine einstige Kolonialmacht, die diese Geschichte Europas bis in die Gegenwart oft verleugnet oder zumindest banalisiert und marginalisiert, wie gerade Somalia eindringlich vor Augen stellt Bis heute leidet das Land unter Bürgerkrieg und islamistischer Bedrohung, und die dortigen Lebensumstände bewirken, dass mehr Somalierinnen und Somalier in der Diaspora als in ihrem eigenen Land leben und dass sie trotz all der Gefahren, die die Flucht mit sich bringt, und trotz des Wissens um die Gewaltverbrechen, denen insbesondere Frauen auf der Flucht ausgesetzt sind, diese dem Leben im eigenen Land mit seinen noch größeren Gefährdungen für Leib und Seele vorziehen Die Geschichte der einstigen (unter anderem) italienischen Kolonie hat Konsequenzen nicht zuletzt für die italienische Gegenwart, die damit zugleich paradigmatisch für die Gegenwart in vielen Ländern Europas steht, denn in einem gemeinsam bewohnten ‘diasporischen Raum’ steht nicht nur die Identität jener, die migrieren, auf dem Spiel, wie es im Klappentext eines der im Folgenden näher betrachteten Romane heißt: «L’identità in gioco non è solo quella di chi migra» . 2 Vielmehr werfen gerade Metropolen wie Rom, in denen Menaspri e impetuosi […] In Italia invece silenzio Come se nulla fosse stato .» Scego: La mia casa 2012, S 20 Die Seitenzahlen werden in der Folge mit der Sigle Lmc unmittelbar nach den Zitaten angegeben und beziehen sich auf diese zweite, mit umfangreichem Zusatzmaterial ausgestattete Ausgabe (vgl die «Intrecci di lettura Materiali e suggerimenti», Lmc 165-252) 2 Ali Farah: Madre piccola 2007, Nota editoria Die Seitenzahlen werden in der Folge Italienisch_81.indb 52 02.07.19 14: 05 53 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» schen unterschiedlichster Herkunft zusammentreffen, die Frage auf, wie «Europa» in dieser Situation gedacht werden kann oder gedacht wird: Exemplarisch macht dies schon der Titel eines 2006 erschienenen Romans des italienisch schreibenden Algeriers Amara Lakhous 3 deutlich, der - zehn Jahre nach Samuel Huntingtons Buch und seiner berühmt gewordenen Formel - ironisch auf den «clash of civilizations» in einem Mehrfamilienhaus an der römischen Piazza Vittorio anspielt: Scontro di civiltà per un ascensore a Piazza Vittorio, und in der Tat firmiert die englische Übersetzung des Buches, das zahlreiche Varianten eines solchen ‘Zusammenpralls’ erzählt, unter dem Titel: Clash of Civilizations Over an Elevator in Piazza Vittorio Im Folgenden stehen hingegen Texte zweier Autorinnen im Fokus, die beide in Italien geboren wurden, jedoch ein oder zwei somalische Elternteile haben: Cristina Ali Farah, die eine italienische Mutter und einen somalischen Vater hat, wurde 1973 in Verona geboren, aber von 1976 bis 1991 war Mogadischu ihre Heimat, bis sie das Land des Bürgerkriegs wegen verlassen musste Inzwischen lebt sie in Rom, ebenso wie die 1974 geborene Igiaba Scego, deren Eltern beide Somalier sind Sie waren bereits vor der Geburt der Tochter wegen der - nach der am 1 .-Juli 1960 erklärten Unabhängigkeit Somalias entstandenen - Diktatur aus ihrem Land nach Italien geflohen: in der Hoffnung und der Annahme, nach dem Ende der Diktatur zurückkehren zu können Beide Autorinnen zählen mithin zu jener somalischen Diaspora, mit der Sigle Mp unmittelbar nach den Zitaten angegeben Zum Konzept des «diaspora space» im Unterschied zur Diaspora selbst vgl Brah: Cartographies 1996, S 208 f .: «Diaspora space is the point at which boundaries of inclusion and exclusion, of belonging and otherness, of ‘us’ and ‘them’, are contested My argument is that diaspora space as a conceptual category is ‘inhabited’, not only by those who have migrated and their descendants, but equally by those who are constructed and represented as indigenous In other words, the concept of diaspora space (as opposed to that of diaspora) includes the entanglement, the intertwining of the genealogies of dispersion with those of ‘staying put’» Brah: Cartographies 1996, S 208 f Komplementär zu dieser Unterscheidung von «diaspora» und «diaspora space» vgl ferner die gleichermaßen konstitutive von «home» und «homeland» bzw Migration und Diaspora, die mit der weiter unten analysierten Kategorie der «casa» in ihren unterschiedlichen Bedeutungen korreliert: «what constitutes a diaspora, in opposition to any other community marked by dispersion, such as for example transnational or migrant communities, is the shift operated by distinguishing the homeland from the home In second, or most generally third generation migrants, the process of diasporization occurs when the transnational communities of migrants are no longer bound to the homeland primarily by a firsthand account experience of displacement, but rather by a generational distance to it […]; durable diasporas correspond to the moment when ‘home [becomes] the country of residence while the land of origin is only recognized as the land of ancestors’ [Khachig Tölölyan]» Chatta: Mutations 2015, S 53 f Zur wechselseitigen Veränderung beider Identitäten bzw Kulturen vgl Lavagno: Kreolisierung 2015, S 230-232 3 Lakhous: Scontro di civiltà 2006 Italienisch_81.indb 53 02.07.19 14: 05 5 4 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn die über die ganze Welt verstreut lebt 4 und die sie mit ihren jeweiligen Figuren und deren fiktiven Leben auch in ihren Texten anschaulich werden lassen Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen der 2007 erschienene erste Roman von Ali Farah, Madre piccola, der 2008 mit dem Premio Elio Vittorini ausgezeichnet wurde, und der ebenfalls preisgekrönte 5 Text La mia casa è dove sono von Scego aus dem Jahr 2010, der als der vierte Roman der Autorin bezeichnet wird, aber auch stark autobiographische Züge trägt, zumal die Figur in dem in erster Person erzählten Text von sich selbst als Igiaba Scego und als Schriftstellerin spricht . 6 Das Konzept der Diaspora hat sich in den vergangenen Jahren als überaus hilfreich, aber zugleich als ungenügend erwiesen, um die komplexen Realitäten zu fassen und zu erfassen, die aus den unterschiedlichen Migrationsbewegungen und aus der Begegnung disparater Kulturen entstehen Auch in den genannten Texten prägt zwar das ‘diasporische Leben’ den Alltag der Figuren entscheidend, aber zugleich sind diverse Phänomene einer ‘Heterotopisierung’ zu beobachten, so dass sich Zerstreuung und Abschließung 7 in einem Widerstreit zu befinden scheinen Die hier mit Hilfe dieser literarischen Texte eingegangene Wette besteht folglich darin, das allzuoft pauschal eingesetzte Konzept, wie im Titel des Beitrags angekündigt, zu nuancieren, indem es mit dem Begriff der Heterotopie kombiniert wird, der dem Diaspora-Gedanken auf den ersten Blick sogar entgegengesetzt zu sein scheint Gemeinsam ist beiden Konzepten hingegen der Umstand, dass sie teilweise geradezu inflationär verwendet werden Das Ziel besteht daher nicht darin, gleich zwei gerade en vogue scheinenden Begriffen einmal mehr zu längst nicht mehr erforderlichen Ehren zu verhelfen oder gar sie irgendwelchen Texten überzustülpen; das Ziel liegt vielmehr darin, in diesem Experiment einer zunächst paradox anmutenden Kombination den Spuren der Texte zu folgen, mithin gerade umgekehrt von den Texten selbst auszugehen, 4 Vgl aus der inzwischen sehr umfangreich gewordenen Literatur zum Thema insbesondere die Monographie von Laura Lori, die italienisch- und englischsprachige Texte berücksichtigt: Lori: Inchiostro d’Africa 2013 5 Der Text wurde 2011 mit dem Premio Mondello ausgezeichnet 6 Auf diese Weise wird folglich mit dem Lesepublikum ein autobiographischer Pakt im Sinne Lejeunes geschlossen, so dass auch die Forschungsliteratur den Titel gemäß beider lois du genre betrachtet; zudem wäre die Variante der Autofiktion im Sinne Doubrovskys in Erwägung zu ziehen Wichtiger jedoch als die Rubrizierung scheint die Wahrnehmung des ‘amphibischen’ Charakters und mehr noch, auch wenn das Buch in Italien publiziert wurde, der Verzicht auf die (vermeintlichen) Gattungsgrenzen westeuropäischer Literatur 7 Foucault spricht von einem «système d’ouverture et de fermeture» in allen Heterotopien, «qui, à la fois, les isole et les rend pénétrables» Foucault: Des espaces autres 2001, S 1579 Italienisch_81.indb 54 02.07.19 14: 05 55 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» um im Idealfall auf der einen Seite die Begriffe nicht nur zu wiederholen, sondern zu spezifizieren, und auf der anderen Seite das Spiel der Texte samt den von ihnen aufgeworfenen und über sie hinausweisenden Fragen besser zu verstehen und zu beschreiben als ohne diese Begrifflichkeiten: nicht zuletzt die Frage, wie Europa in Italien auch gedacht, imaginiert, modelliert werden kann In diesem Sinn konstituiert sich der Leitfaden der hier vorgeschlagenen Lektüre aus drei in den Texten präsenten Konzepten oder auch Metaphern - sie haben an beidem Anteil -, die alle mit der Modellierung des Raums und mehr noch mit der Relation von Raum und Subjekt aufs engste verknüpft sind: Ausgangspunkt ist (erstens) das Konzept der Diaspora, das sich (zweitens) in den Texten in spezifischer Weise verbindet mit dem der Karte (im Sinn von Landkarte oder Stadtplan, aber auch im Sinn einer - hier nicht nur auf den Raum bezogenen - kognitiven Karte, einer mental map 8 ) Auf dieser doppelten Basis soll (drittens) das metaphorisch-metonymische Bild der «casa», des Hauses, in seinen vielfältigen Facetten ausgelotet werden, das - von Scegos Buchtitel La mia casa è dovo sono an - in beiden Texten, vor allem aber in Ali Farahs Roman in der Rede aller drei Figuren immer wiederkehrt und, wie die Texte zeigen, mit der Diaspora-Erfahrung in Korrelation gesehen werden muss . 9 I Ali Farahs Roman Madre piccola, der sich in neun, von drei unterschiedlichen Figuren in je unterschiedlichen schriftlichen und mündlichen Situationen erzählte Kapitel gliedert, setzt ein mit einem der Hauptfigur, Domenica Axad, zugewiesenen «Preludio», das mit einem im Glossar am Ende des Buches übersetzten Zitat in somalischer Sprache 10 und mit folgenden Worten beginnt: 8 Zu diesem Konzept, das auf individueller wie auf kollektiver Ebene Anwendung findet, und zu seiner Verknüpfung sowohl mit der Erinnerung als auch mit der Zukunft vgl Damir-Geilsdorf/ Hendrich: Orientierungsleistungen 2005, S 25-48, vor allem S 38-42 9 In Anbetracht der Tatsache, dass nicht nur zu Heterotopie und Diaspora, sondern ebenso zu den Konzepten der Kartographie, der «map» und des «mapping» etc wie auch zur Frage des «home», «being at home», «homing» etc eine Fülle von Forschungsliteratur aus unterschiedlichsten Disziplinen vorliegt, sollen die Anmerkungen des Beitrags nicht mit einer möglichst erschöpfenden Bibliographie überlastet werden; es werden nur sehr selektiv die konkret verwendeten Titel angegeben, die ihrerseits in aller Regel zu ihrem je spezifischen Gegenstand weitere Literatur nennen 10 Zur Funktion eines solchen, im Rahmen von «Writing Back» und «Kanonkritik» verorteten «Einblenden[s] unübersetzter Wörter in Texte, die bereits durch ihr Themenfeld von Exil und Diaspora aus dem herkömmlichen europäischen Motivspektrum ausbrechen», cf Bachmann-Medick: Cultural Turns 2010, S 193 f In allen Texten der Italienisch_81.indb 55 02.07.19 14: 05 56 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn «Soomaali baan ahay, come la mia metà che è intera Sono il filo sottile, così sottile che si infila e si tende, prolungandosi Così sottile che non si spezza E il groviglio dei fili si allarga e mostra, chiari e ben stretti, i nodi, pur distanti l’uno dall’altro, che non si sciolgono Sono una traccia in quel groviglio e il mio principio appartiene a quello multiplo .» (Mp 1) Die nach dem Gedichtzitat eingeführte Isotopie des Knäuels, der Knoten und der Fäden kehrt mehrfach im Roman wieder: etwa im Erzählfaden (Mp 20, 54, 223) oder im dichten Gewebe aus Gründen, die zu einer Entscheidung führen (Mp 35), in den Knotenpunkten, an denen viele sich treffen (Mp 112), den zu lösenden Knoten im undurchdringlichen Gewirr der traumatischen Lebensgeschichte (Mp 263) und den zu knüpfenden Knoten, die dem Leben oder den Beziehungen Festigkeit geben (Mp 261), im Knäuel als Metapher für verwickelte Beziehungen (Mp 255) oder für das unentrinnbare beiden Autorinnen, aber insbesondere in Madre piccola, tauchen somalische Wörter oder, wie hier, ganze Zitate auf Das Spektrum der Funktionen ist dabei noch ungleich größer als das von Bachmann-Medick angesprochene, wie nicht nur das Wechselspiel mit den aus dem Italienischen ins Somalische übernommenen Wörtern zeigt - etwa Draddorio (trattoria), Fasoleeti (fazzoletto), Kabushini (cappuccino) und andere Wörter des alltäglichen Lebens, aber auch Bariimo luuliyoo (primo luglio) für den Tag der Unabhängigkeit Somalias -, zu denen Ali Farah im Gespräch mit Daniele Comberiati anmerkt: «ho utilizzato varianti somale di parole italiane, tentando di capovolgere i rapporti interni al binomio lingua-potere» (in: Comberiati: Nodi 2011, S 61) Besonders aussagekräftig in diesem Kontext sind die Zitate, die im «Preludio» aus einem Gedicht von 1977 stammen, im «Interludio» aus der somalischen Nationalhymne und im «Epilogo» aus einem Theaterstück von 1998, mithin in allen drei Fällen aus für die Geschichte Somalias und damit der Figuren des Romans entscheidenden Phasen (vgl das «Glossario», Mp 269-272) Ali Farah macht im erwähnten Gespräch selbst auf diesen Aspekt aufmerksam: «La narrazione […] ruota intorno a tre momenti chiave della storia contemporanea somala: la degenerazione della dittatura di Siad Barre, la guerra civile e la successiva diaspora. […] In tre capitoli del libro […] ho utilizzato testi di canzoni somale famose legati a momenti storici precisi» (ebd ., S 60 f .) Vgl hierzu ferner die «Introduction» von Alessandra Di Maio zur amerikanischen Ausgabe des Romans, in: Ali Farah: Little Mother 2011, S 20 Zur Vielfalt der Formen und Funktionen von Mehrsprachigkeit vgl die sehr umfassende Darstellung von Helmich: Ästhetik der Mehrsprachigkeit 2016, vor allem, auch wenn die hier besprochenen Beispiele nicht in allen Punkten vergleichbar scheinen, die interessante Parallelen bietenden Analysen auf den Seiten 135-151 und 168-178 Nicht zufällig trägt ein Roman Scegos (der nicht nur neben Somalia und Italien andere Weltregionen und deren politisch-gesellschaftliche Situationen ins Spiel bringt, sondern auch andere Sprachen hinzufügt) den Titel Oltre Babilonia (Roma: Donzelli 2008) Doch auch für Madre piccola wäre der Aspekt des Sprachendialogs in einer eigenen Abhandlung zu untersuchen Italienisch_81.indb 56 02.07.19 14: 05 57 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Gedankengewirr (Mp 263) . 11 Hier als Incipit des Romans lässt der «groviglio» sich lesen als Bild für die unüberschaubare Situation des Ich mit seiner gleichsam diasporischen Identität, eines Ich, das sich selbst als Teil eines Fadengewirrs beschreibt, als halb und ganz zugleich, so wie der - hier noch nicht genannte - doppelte Name auf eine doppelte Identität deutet, halb italienisch und halb somalisch, ohne dass eine der Hälften unvollständig wäre Kaum wahrnehmbar ist der einzelne Faden, teils zum Zerreißen gespannt, doch er reißt nicht, weil er Teil des Fadengewirrs mit seinen unauflöslichen Knoten ist, die halten, auch wenn in diesem Gewirr keine Orientierung möglich scheint Beispiele für die in dieser Weise erlebte Diaspora wird der Text in der Folge entfalten, wenn die Figuren von ihrem Dasein an vielerlei Orten, in Amerika, in England, in Italien und anderswo, erzählen, ohne je diese Orte zu erzählen: «Quello che non riesco a fare è descrivere i luoghi» (Mp 112) . 12 In solch sprechendem Schweigen deuten sie bereits auf zentrale Aspekte des diasporischen Daseins, wie sie in den beiden folgenden Teilen mit dem Blick auf «mappa» und «casa» ausgefaltet werden Dank der Vielzahl von Figuren, Stimmen und Episoden einerseits, der fehlenden ‘Verortung’-andererseits wirkt auch für die Leser und Leserinnen des Romans diese somalische Diaspora im Text wie ein unentwirrbares Knäuel aus vielerlei Fäden, Figuren, Orten und Geschichten, in dem sich erst nach und nach, manchmal über große Distanzen hinweg, Knoten und Verbindungslinien zwischen ihnen zu erkennen geben Dann aber wird auch die Realität des Textes, statt nur als jene Vielzahl zusammenhangloser Fragmente, als die sie zunächst erscheint, als - wenngleich schwer zu durchdringender - «groviglio di relazioni» 13 wahrnehmbar Weit weniger bildhaft, vielmehr nahezu explizit entwirft demgegenüber Scegos zwischen Roman und Autobiographie oszillierender Text ebenfalls gleich in seinem ersten Kapitel unter der Überschrift «Il disegno ovvero la terra che non c’è» die Situation einer Familie, die in ihren einzelnen Mit- 11 Für den Hinweis auf die Bedeutung des «groviglio» bei Carlo Emilio Gadda danke ich Gerhard Regn; vgl hierzu insbesondere das Kapitel «Die Realität als unentwirrbarer ‘groviglio di relazioni’», in: List: Pensiero, azione, parola 2017, S 152-155 Mit den vielerlei Erzählfäden spielt freilich bereits der raffinierte Erzähler des Orlando furioso - «varie fila a varie tele | uopo mi son» (II-xx, 5 f .) -, und er inszeniert die Verknotung der Fäden zusätzlich ironisch im Bild des sich am Ende des zehnten Gesangs im Zaumzeug seines geflügelten Pferdes verheddernden Ruggiero (X- cxiv, 1-cxv, 4), der, von seinem Trieb getrieben, sobald ihm gelingt, einen Riemen zu lösen, zwei neue verknotet, wie es im vierten Vers der letzten Strophe heißt: «[…] s’un laccio sciogliea, dui n’annodava» (vgl Ariosto: Orlando furioso 1992, S 35 und 258 f .) 12 Zu diesem Zitat in seinem Kontext vgl den folgenden zweiten Teil, in dem die «mappa» und das «rimappare» im Zentrum stehen 13 Vgl Anm .- 11 Italienisch_81.indb 57 02.07.19 14: 05 5 8 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn gliedern das diasporische Leben geradezu inkarniert, und auch hier wird die Außenwelt allein durch die Nennung des Ortsnamens eingeblendet, nicht durch descriptio oder narratio: Das Ich des Textes, Igiaba, befindet sich mit einem Cousin, ihrem Bruder und dessen kleinem Sohn nach dem von der Schwägerin zubereiteten Abendessen in einer Küche in Manchester, wo diese «esiliati dalla propria madre terra» fern von Somalia einander Geschichten erzählen, ‘Erinnerungen an das einstige, das nunmehr ferne, nunmehr verlorene Land’: 14 «Eravamo riuniti intorno a un tavolo di legno Davanti a noi una tazza fumante di tè speziato Intorno a noi i fili di nostri viaggi e delle nostre nuove appartenenze Facevamo parte della stessa famiglia, ma nessuno aveva avuto un percorso comune all’altro In tasca ognuno di noi aveva una diversa cittadinanza occidentale Nel cuore invece avevamo il dolore della stessa perdita Piangevamo la Somalia persa per una guerra che stentavamo a capire Una guerra cominciata nel 1991 e di cui nessuno intravedeva la fine Eravamo un po’ come quelle vecchie barzellette Ci sono un inglese, un italiano, un finlandese e…» (Lmc 16) Wichtig erscheint demnach nicht das konkrete Außen; wichtig sind die «fili di nostri viaggi» und die «percors[i]», die alten Familienbande und die neuen Zugehörigkeiten Alle drei haben ihre Wege und ihre Erfahrungen gemacht, sind in verschiedenen Ländern untergekommen oder wollen sie wieder verlassen, doch, wie im Folgenden ausgeführt wird, nur die Italienerin aus dem (scheinbaren) Witz, die «italiana della barzelletta» (Lmc 19), muss sich für ihre Entscheidung rechtfertigen, wird von anderen Somaliern angegriffen, weil sie im Land der einstigen Kolonisatoren lebe, in jenem Italien, das dennoch, wie sie für sich fortfährt, trotz all seiner Mängel ihr Land ist, so wie auch und zugleich Somalia mit seinen zahlreichen Mängeln ihr Land ist (vgl Lmc 19 f .) In dieser Ausgangskonstellation sind in knapper Form bereits zahlreiche Aspekte der Diaspora-Erfahrung angesprochen: nicht nur das Leben im Exil und die daraus resultierende Gespaltenheit zwischen mindestens zwei unterschiedlichen Welten, sondern auch die Vereinzelung einerseits, die Ver- 14 «Ed è dopo quel pollo che le storie si sono incontrate e abbracciate Con le pancie piene ci lasciammo andare ai ricordi della nostra vecchia terra, ormai lontana, ormai smarrita […] Ed è in questa saudade di esiliati dalla propria madre terra che ha uno dei suoi inizi questa storia» (Lmc 15) Italienisch_81.indb 58 02.07.19 14: 05 59 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» netzung 15 und das Wissen um die Gemeinschaft auch über große Entfernungen hinweg andererseits; die Mythisierung des in Geschichten und Erinnerungen vergegenwärtigten, aber gleichwohl der Vergangenheit angehörenden Herkunftsortes, die Trauer um den Verlust, die Ungewissheit einer Rückkehr und die Notwendigkeit, sich anderswo Zugehörigkeiten zu schaffen oder zu erfinden, um in der ‘neuen Welt’, am neuen Ort zu überleben, wie auch die Hauptfigur in Ali Farahs Roman formuliert: «la verità, sebbene triste, è che tutti nei momenti difficili ci inventiamo appartenenze» (Mp 111) Damit entspricht die dargestellte Konstellation jener Minimaldefinition von Diaspora, wie sie beispielsweise Ruth Mayer in ihrer ‘kritischen Begriffsbestimmung’ der dann folgenden ausführlichen, nach Raum und Zeit differenzierenden Darstellung zugrundelegt: Diaspora wird hier verstanden als «eine Gemeinschaft, die sich - durch Vertreibung oder Emigration - von einem ursprünglichen (oder imaginären ursprünglichen) Zentrum an mindestens zwei periphere Orte verteilte Daneben spielt die mythisierende Komponente […] eine wichtige Rolle […] Auch wo keine Utopie einer letztlichen Rückkehr gegeben ist […], zeichnen sich diasporische Gemeinschaften durch die Vorstellung eines gemeinsamen Ursprungs oder eines gemeinsamen Ziels aus .» 16 Wenngleich Igiaba im Unterschied zu Bruder und Cousin, die noch in Mogadischu geboren wurden, erst das Licht der Welt erblickt, als ihre Eltern bereits im italienischen Exil leben, prägt doch auch sie die gemeinsame somalische Herkunft und damit das Leben in Italien als ein Leben in der Diaspora Mehr noch erlebt die italo-somalische Figur Domenica Axad in 15 Vgl Bachmann-Medick: Cultural Turns 2010, S 295 f ., die sich insbesondere auf Arjun Appadurai und dessen Konzept der global ethnoscapes bezieht: vgl Appadurai: Global Ethnoscapes 2000, S 48-65 16 Mayer: Diaspora 2005, S 13 Kläger und Stierstorfer resümieren die aktuelle Debatte und die derzeit gängigen Diaspora-Konzepte in der Einleitung zu ihrem bereits oben genannten Band, in der sie vor allem ein statisch geprägtes Konzept - «a model of victimization that regards members of diaspora groups as uprooted individuals bereft of their identities and ‘oppressed by an alien ruling class’» - einem dynamischen gegenüberstellen, das «no longer focuses on the idea of a return to a concrete geographical place called home […] Engaged in an ongoing process of negotiation, diasporic identities are no longer constituted as subjects of nation states but as powerful agents in various cultural exchanges Thus, the diasporic experience […] is not defined by essence or purity, but by the recognition of a necessary heterogeneity and diversity; by a conception of ‘identity’ which lives with and through, not despite, difference; by hybridity» Kläger/ Stierstorfer: Introduction 2015, S 2 Italienisch_81.indb 59 02.07.19 14: 05 6 0 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn Madre piccola diese Situation, weil sie nicht nur teilweise in Italien und teilweise in Somalia lebte, sondern nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs, bevor sie wieder nach Rom zurückkehrt, selbst in zahlreichen Ländern Zuflucht sucht, immer provisorisch und ohne je in einem Fuß zu fassen: weder in den Niederlanden noch in Finnland, weder in den USA noch in Deutschland noch in Großbritannien, wohl wissend, dass sie mit ihrem italienischen Pass in einer privilegierten Situation ist, weil für sie mit ihrem «lasciapassare» oder Passierschein die Festung Europa, die «roccaforte» (Mp 133), offen steht, während andere - nicht zuletzt der Vater ihres Kindes, den sie in Amerika kennenlernt - keine Möglichkeit oder zumindest keine Gewähr haben, dorthin zu kommen Dennoch lebt auch sie im Modus des Provisorischen und zugleich im Wissen, dass dieser Modus längst zu lange währt, um noch als provisorisch bezeichnet werden zu können: «Quanta gente ho incontrato negli anni provvisoria in un paese da molto, troppo tempo per dire provvisoriamente» (Mp 113) In diesem Sinne ist der Begriff der Diaspora keineswegs ausschließlich als räumlicher zu verstehen, sondern als Chronotopos, weil sich mit der Zerstreuung in viele Länder zugleich eine bestimmte Zeitperspektive verknüpft, die den Blick zurück, den Blick in die Zukunft, aber eben auch entscheidend die Gegenwart bestimmt, die Art, in der aus dem auf der Karte verzeichneten Ort ein ‘praktizierter’, ein gelebter Raum wird, um in de Certeaus Kategorien zu sprechen . 17 Gerade aus Somalia, das unter mehreren Kolonialherren gelitten hatte und in dem auf die Unabhängigkeit die Diktatur und auf die Diktatur ein nicht enden wollender Bürgerkrieg der mit aller nur denkbaren Gewalt um die Herrschaft ringenden Clans folgte, flohen und fliehen die Menschen, und die Auswirkungen der traumatischen Erfahrungen prägen noch das Zusammenleben derer, die überall auf der Welt ihre ‘Zugehörigkeiten’ suchen und zu finden hoffen, wie etwa Domenicas Cousine Barni erzählt: Sie wurde, weil der eine Clan dem anderen zu viel angetan habe, sogar noch in Rom von ihrem somalischen Mann angeblich auf Druck von dessen Familie verlassen; ebenfalls in Rom lernt sie eine ihrerseits aus Mogadischu geflüchtete Frau kennen und kann allein aus der Tatsache, dass sie erst zwei Jahre später als sie selbst die Stadt verlassen musste, schließen, dass diese Frau wiederum jenem Clan angehörte, der seinerzeit sie und ihre Angehörigen überfallen und ins Exil getrieben hatte (vgl Mp 166-171) . 18 17 Certeau: L’invention du quotidien 1990, S 172-175 18 In diesem Kontext steht auch die Frage nach den mehrfach im Text evozierten «genealogie», deren so groß gewordene Bedeutung Barni esplizit beklagt und, wie die geschilderten, am eigenen Leib erfahrenen Episoden zeigen, implizit verkörpert: «Gli anziani conoscono a memoria il loro albero genealogico fino alle origini, almeno così dicono Ma […] è una ragione di conflitto radicata nella gente […] A mio parere sono Italienisch_81.indb 60 02.07.19 14: 05 61 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Die Ankunft am neuen Ort bedeutet mithin nicht einfach Befreiung aus der bedrohlichen Situation; die erlebte Geschichte reist mit und prägt die Figuren, selbst wenn ihnen die Flucht gelungen ist und die unmittelbare Kriegs- und Todesgefahr gebannt scheint - anders als bei jenen dreizehn Somaliern, die bei ihrer Überfahrt nach Lampedusa umgekommen waren und auf deren offizielle Trauerfeier im Oktober 2003 beide Texte ebenso eingehen wie auf die Reaktionen auf dieses tragische Ende, das erstmals den Blick vieler Italiener italienischer Herkunft auf die Situation in Somalia lenkte Auch verwandelt sich der auf der Karte verzeichnete Ort nicht unmittelbar und wie von selbst, allein durch die Ankunft und die Anwesenheit, in den praktizierten Raum Vielmehr wird auch hier eine Nuancierung erforderlich, wie wiederum in unterschiedlicher Weise beide Texte exemplarisch vorführen, indem sie mit der Metapher der Karte 19 jonglieren, die es ihrerseits näher zu betrachten gilt . II Wiederum führt Scegos Erzähl-Ich die Karte explizit als ihren Text fundierendes Element ein, insofern in der beschriebenen Situation der Diaspora- Somalier in der Küche in Manchester, aus den erzählten Geschichten und den widersprüchlichen Erinnerungen das Bedürfnis entsteht, gemeinsam eine Karte von Mogadischu zu zeichnen, um die völlig zerstörte Stadt, die tote Stadt zumindest im Gedächtnis und auf dem Papier zu bewahren: «Avevamo bisogno di quel disegno, di quella città di carta per sopravvivere» (Lmc 24) Die Vervollständigung der Karte wird zu einer Art Gesellschaftsspiel von Bruder, Schwester und Cousin; es werden Listen der Namen von Straßen, Kinos, Restaurants, Krankenhäusern und vielem mehr angelegt, die alle ihren Ort und ihre Farben finden, so dass eine «mappa […] bellissima» entsteht, die den kleinen Jungen fragen lässt: «Esiste questa città, mamma? » (Lmc 31) Die Erwachsenen schweigen betreten, weil sie um die vom Krieg zurückgelassenen Trümmer wissen, haben nicht den Mut, dem Kind zu sagen, dass nichts von alledem mehr existiere, bis sich die Mutter der Ich-Erzählerin tutte congetture, le genealogie, gli alberi, le radici» (Mp 14); «sono tutti ossessionati dalle genealogie» (Mp 265) Vgl Mp 121 f .; 163; 166 19 Zu den vielfältigen Bedeutungen und Funktionen der Karte vgl vor allem Mitchell: Cartographic Strategies of Postmodernity 2008 sowie Guglielmi/ Iacoli: Piani sul mondo 2012 In etwas anderer Bedeutung, aber dennoch mit vielfältigen Bezügen zu den hier verhandelten Themen vgl auch: Brah: Cartographies of Diaspora 1996, insbesondere die beiden Kapitel «Re-framing Europe: gendered racisms, ethnicities and nationalisms in contemporary Western Europe» und «Diaspora, border and transnational identities», S 152-210 Italienisch_81.indb 61 02.07.19 14: 05 62 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn einmischt und einfach sagt: «Esiste […] Si chiama Mogadiscio» (Lmc 31) Auf die Frage, ob es die Stadt der Tante Igiaba sei, antwortet die Mutter jedoch, die Karte genüge so; in gewisser Weise sei es Igiabas Stadt, in anderer aber sei sie es auch nicht: «Devi completare la mappa Manchi tu lì dentro» (Lmc 33) Erst Monate später versteht die Tochter, die die zunächst unverständlich bleibenden Worte der Mutter in Identitätszweifel gestürzt hatten, und sie nimmt die Karte wieder vor Auf ihr findet sie die Erinnerungen und Geschichten der anderen wieder, sie nimmt die Gerüche der Stadt wahr, auch stellenweise sich selbst - aber eben nur zum Teil Mit Hilfe von bunten Post-it-Zettelchen, auf die sie die Namen römischer Viertel, Plätze, Denkmäler, Gebäude schreibt und die sie rund um ihr papiernes Mogadischu klebt, sowie mit gezeichneten Linien und Figuren, mit Zeitungsausschnitten und Schildern vervollständigt sie die Karte einer imaginären Stadt, die nun wirklich zu ihrer eigenen geworden ist (vgl Lmc 37), insofern sie als eine Art aus Rom und Mogadischu zusammengesetztes Hybrid geradezu die «kulturelle […] Mehrfachzugehörigkeit» 20 der Figur und Erzählerin sinnfällig werden lässt Eben jenen Prozess einer imaginären Ausgestaltung der Karte, einer identitätskonkretisierenden und identitätsstabilisierenden Anverwandlung der Stadt entfaltet der Text erzählenderweise nach diesem einleitenden Teil: Alle weiteren Kapitel sind mit den zuvor genannten Namen wie «Teatro Sistina», «Stazione Termini», «Trastevere» etc überschrieben, und jedes Kapitel beginnt mit einer beinahe an Reiseführer erinnernden Beschreibung der Lokalität in Kursivdruck, die mit dem Element endet, das jeweils auf die Karte gezeichnet wird und das überleitet zur mit dem jeweiligen Ort verbun- 20 Bachmann-Medick: Cultural Turns 2010, S 200 Die Autorin erläutert anhand dieser Vorstellung einer produktiv gemachten mehrfachen Zugehörigkeit, durch die ein traditionell dichotomisches Denken aufgebrochen wird, nicht nur Homi K Bhabhas Konzept der Hybridität, sondern auch die Kritik an dessen Theoriegebäude Auch wenn diese Kritik (vgl ebd ., S 200 f .), die sich in diesem Fall an Bhabha selbst richtet, aber im Grunde implizit zugleich gegenüber den literarischen Texten und deren Autorinnen und Autoren ausgesprochen wird, in mancher Hinsicht plausibel ist, unterschlägt sie doch, dass Autorinnen wie Ali Farah und Scego (und selbstredend Bhabha analog), trotz all des auch ihnen durch die späten Folgen der Kolonialisierung widerfahrenen Leids, (auch) in der italienischen Sprache gleichsam beheimatet sind und es kein ‘Mangel an Authentizität’ o .ä ist, wenn sie zusätzlich zu ihren leidvollen Erfahrungen Theoriebildungen, Denkrichtungen und Begriffe kennen und für ihre Texte und deren Bildlichkeit ebenso fruchtbar machen wie für das Verstehen solcher Texte Vielmehr scheint eben der Vorwurf selbst dann doch wieder im binären Denken zu verharren, indem bestimmten Autorinnen und Autoren die Teilhabe an und Reflexion von aktuellen Debatten verwehrt bleiben soll (zumindest sollen diese keine Auswirkung auf ihre literarischen oder anderen künstlerischen Werke haben) und ihnen allenfalls die Rolle sogenannter ‘Zeitzeugen’ zugestanden wird Vgl auch Anm .- 22 Italienisch_81.indb 62 02.07.19 14: 05 6 3 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» denen Erinnerung: zunächst eine Episode aus dem Leben des Vaters, dann der Mutter, einiger Verwandter und schließlich auch manche eigenen Erlebnisse, die sich mit den ausgewählten Orten verknüpft, so dass kaleidoskopartig eine viele Zeiten und Orte einschließende Geschichte der schreibenden und erzählenden Igiaba und ihrer Familie entsteht Die Karte, um die es in diesem Text geht und die dank der Klebezettel «qualcosa di provvisorio e scomponibile» (Lmc 36) bleibt, provisorisch und wieder zerlegbar, ist demnach ein ebensolches Kompositum, wie das erzählende Ich sich selbst wahrnimmt, das ebenfalls nicht in einer eindeutigen Zuschreibung aufgeht, sondern alle von außen zukommenden Beschreibungen mit Fragezeichen versieht: «afroitaliana? Italoafricana? Seconda generazione? Incerta generazione? Meel kale? Un fastidio? Negra saracena? Sporca negra? » (Lmc 33) Sie sieht sich als Kreuzung, als Brücke, als Seiltänzerin und als all das nicht: «Alla fine sono solo la mia storia», schreibt sie am Anfang (Lmc 34), und am Ende, als sie auf die erzählten Fetzen ihrer Geschichte zurückblickt, die dem zerbrochenen Spiegel, der das Gedächtnis ist, entsprechen: «la mia mappa è lo specchio di questi anni di cambiamenti Non è una mappa coerente È centro, ma anche periferia È Roma, ma anche Mogadiscio È Igiaba, ma siete anche voi» (Lmc 161) Die Karte ist das Ich, aber die erzählte Karte ist auch der Text; der Text, die Erzählung ist selbst die Karte, so wie das Ich sich selbst mit der Karte wie mit seiner Geschichte identifiziert: fragmentarisch, bunt, nicht eindeutig zuzuordnen und zu klassifizieren, offen für anderes und andere, für Erinnerungen und Zukünfte Mit de Certeau und gegen de Certeau könnte man also sagen, das erzählte Anfertigen der Karte zu Beginn sowie das Erzählen selbst als das metaphorische Anfertigen einer Karte macht aus den beiden Orten Rom und Mogadischu Räume; diese Karte ist gerade nicht bloße Definition von Punkten, Kolonisierung des Raums, totalisierende Planierung oder gar Festschreibung, sondern sie ist selbst eine ‘Kunst des Handelns’ . 21 Aber die provisorische und fragmentarische Karte versammelt nicht nur das ganze bisherige Leben; sie verwandelt ihre zahllosen Details aus den unterschiedlichen Welten nicht nur in ein erzähltes Bild dieses Lebens; vielmehr ist die Karte auf einer anderen Ebene zugleich Bild für den Blick auf 21 De Certeau setzt das Erzählen von Geschichten - als einer Form der Organisation des Raums - der Karte als einem «système de lieux géographiques», aus dem im Laufe der Geschichte der «parcours» und damit der Mensch verschwunden ist, entgegen: Die moderne Karte ist «une mise à plat totalisant des observations»; eine solche Karte «colonise l’espace; elle élimine peu à peu les figurations picturales des pratiques qui la produisent» und wird zu einem «ensemble formel de lieux abstraits» Vgl Certeau: L’invention du quotidien 1990, S 176-179 Unter dem Titel Kunst des Handelns (Berlin: Merve 1988) erschien die deutsche Übersetzung Italienisch_81.indb 63 02.07.19 14: 05 6 4 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn das Leben: auf ein Leben, dessen Karte allererst gezeichnet werden muss, weil die Koordinaten verloren gegangen sind, ein Leben, das sich selbst mühsam ‘verorten’ muss, weil es nicht einfach ‘seinen Ort’ hat, sondern sich seinen eigenen Raum allererst schaffen muss Auf diese Bedeutung des Lebensentwurfs und der notwendigen ‘Orientierung’ weist nicht nur die Aufforderung der Mutter, die Karte zu vervollständigen, hin; mehr noch ist dieser Aspekt der metaphorischen Karte in dem Kapitel präsent, in dem die Ich-Erzählerin von ihrer Mutter erzählt, die als Nomadin aufgewachsen war und lebte, bis sie diesem Leben entrissen und zur Sesshaftigkeit gezwungen wurde, dann aber auch aus Somalia weggerissen wurde und wiederum ein neues Leben führen, sich neu erfinden, ihre Karte nicht nur vervollständigen, sondern neu entwerfen musste: «Prima di essere strappata dalla Somalia, qualcuno l’aveva strappata dalla boscaglia Da nomade è stata costretta a diventare sedentaria E ogni volta si è dovuta reinventare, ha dovuto ridisegnare la sua mappa» (Lmc 60) Dreimal, fährt sie wenig später fort und wiederholt dabei ihrerseits dreimal die gewählte Metapher, dreimal musste die Mutter «rimappare la sua vita Sì, rimappare Non ricostruire, non rinnovare, ma rimappare Tracciare una sua nuova personale geografia Doveva tracciare nuove linee, nuovi margini, nuove parabole» (Lmc 62 f .) Wie die insistierenden Epanalepsen, Polyptota, die Enumerationes und elliptischen Sätze emphatisch und empathisch unterstreichen, handelt es sich um einen mühsamen Prozess Jedes Mal musste die Mutter, der ihr vertrautes Lebensumfeld genommen wurde, neue Linien, neue Ränder, neue Kurven einzeichnen, das eigene Leben vollständig ‘umkartieren’: So ließe sich das «rimappare», das hier eher als an de Certeaus Opposition von parcours und carte an den Begriff des Re-mapping aus der Theoriebildung der postkolonialen Studien anschließt, vielleicht wenigstens annähernd übersetzen Dennoch verweist es - schon durch die Verbform und durch den Bezug auf das einzelne Subjekt, auf «la sua vita» statt auf eine abstrakte und für alle gleichermaßen gültige, eine gleich-gültige Karte - seinerseits auf den implizierten Aspekt der Praktik und damit wiederum auf eine ‘Kunst des Handelns’ Karte in diesem Sinn also ist nicht nur Materialisierung der - kollektiven wie individuellen - Erinnerung, wie es zu Beginn des Textes scheinen könnte, und auch nicht nur Visualisierung kultureller Mehrfachzugehörigkeit in der Heterogenität und Inkongruenz der einzelnen Elemente, die auf der «mappa» der Erzählerin dominieren Das Anfertigen oder ‘Neu-Anlegen’ einer Karte meint einmal mehr die Verwandlung von Ort in gelebten Raum und damit die Verknüpfung des Raums mit der Zeit . 22 22 Auch für den Begriff der Karte, ebenso wie für lieu und espace oder home und belonging, gilt, dass Autorinnen und Autoren - zumal wenn sie in Europa oder Nord- Italienisch_81.indb 64 02.07.19 14: 05 6 5 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Wie sehr diese Auffassung von Karte mit dem diasporischen Leben verknüpft ist, wieviel beide miteinander zu tun haben, wird insbesondere in Madre piccola thematisch, wenn auch hier das Bildfeld der «mappa» von den Erzählstimmen in teils metonymischer, teils metaphorischer Bedeutung eingeführt wird Schon die frühe Kindheitserfahrung, nachdem die Mutter beschlossen hatte, mit ihrem neunjährigen Kind Somalia, den Vater und die Verwandten zu verlassen und nach Italien zurückzukehren, wird als Verlust der Landkarte beschrieben, als eine Art Vergessen, um zu überleben: «Ho cancellato il somalo, rapidamente Rimuovere, la nostra mente fa questo, chiude dentro gli armadi Vicina a mia madre, lontana da mio padre Dovevo disambienamerika leben, vielleicht sogar aufgewachsen sind, und an europäischen oder nordamerikanischen Universitäten studiert haben, vor allem aber, wenn sie diese ihre Situation nicht einfach als gegeben hinnehmen, sondern reflektieren - mit solcher Begrifflichkeit selbstredend vertraut sein können und dass durch solche potentiellen Kenntnisse weder die Texte selbst noch deren Lektüren in Frage gestellt werden Keineswegs handelt es sich, wie gern suggeriert wird, um einen bloßen Zirkel, der zu eben jenem Schluss gelangen müsse, der schon der Ausgangspunkt gewesen war, da Resultat und Prämissen identisch seien Sowohl das Beispiel des Re-mapping als auch die mögliche Kenntnis der Arbeiten de Certeaus und anderer seitens der Autorinnen unterstreicht vielmehr die bekannte Tatsache, dass in literarische Texte alles Denkbare, alles Gelesene und anderweitig Erfahrene eingehen kann und dass daraus im Lesen und Schreiben (und ggf Wiederlesen) anderes wird Es versteht sich von selbst, dass das Wissen und die Erfahrungen von Autorinnen und Autoren auch in literarischen Texten zum Tragen kommen - und ebenso, dass diese dadurch weder entwertet noch vorhersehbar werden, so dass sich jede literatur- und kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung damit erübrige Nur am Rande sei erwähnt, dass - wiederum selbstverständlich - auch weitere intertextuelle Bezüge, die hier nicht erschöpfend darzulegen sind, teils explizit, teils implizit wichtige Rollen spielen: Genannt sei exemplarisch nur der bekannteste somalische Autor, Nuruddin Farah, der in englischer Sprache publiziert und aus dessen Text Rifugiati (bzw im Original: Yesterday, Tomorrow. Voices from the Somali Diaspora, 2000) beiden hier im Zentrum stehenden Texten ein Motto vorangestellt ist Nuruddin Farahs Roman Maps (it Mappa, 2003) erschien bereits 1986, der Roman Knots (it Nodi, 2008) 2007, also im selben Jahr wie Ali Farahs Madre piccola und drei Jahre vor Scegos La mia casa è dove sono Ob das Bild der Landkarte sich primär Nuruddin Farahs Roman oder postkolonialer oder anderer Theoriebildung oder aber unmittelbarer Evidenz, spontaner Eingebung etc oder all diesen und noch weiteren ‘Quellen’ verdankt, ist letztlich (mindestens) zweitrangig gegenüber dem, was die Texte in ihrem intra- und intertextuellen Spiel daraus entstehen lassen Eher als von einer Invalidierung der Texte und ihrer Lektüren zeugen die Bilder - unter anderem - von besagter ‘Mehrfachzugehörigkeit’ ihrer Autorinnen, die in unterschiedlicher Weise eine somalische Herkunft haben, die Diaspora und die global ethnoscapes aus unmittelbarer Erfahrung kennen, die in Italien leben, studieren, arbeiten, schreiben und gleichzeitig innerhalb der somalischen Gemeinschaft dort oder auch weltweit eine Art von Zuhause haben (vgl Teil III) Italienisch_81.indb 65 02.07.19 14: 05 66 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn tarmi 23 rapidamente Cancellare un territorio della memoria e costruirmene uno nuovo Coordinate che mi mancavano .» (Mp 98) Wenn dieser Versuch eines «rimappare» aufgrund der erfolgreichen Verdrängung zunächst zu glücken scheint, wiederholt sich doch die Erfahrung gleich mehrfach nach dem traumatischen Erlebnis des Flugs nach Mogadischu, wo gerade der Bürgerkrieg ausgebrochen war, und der Rückkehr nach Rom nur drei Tage später mit dem letzten Linienflug wie ein ungeöffnet an den Absender zurückgeschicktes Paket: «Mi sentivo come un pacco idiota che non viene neppure aperto, ma rispedito al mittente solo un po’ più sporco e pieghettato» (Mp 250) Auf diese Rückkehr, nach der sie die Mutter nicht mehr wiedersehen möchte, folgt die «Vita di diaspora», folgen «peregrinazioni senza destino» (Mp 98), zehn Jahre als «profuga di guerra» (Mp 251), ohne Pläne und ohne Ziele zwischen Europa und Amerika umherirrend (vgl Mp 251f .), zehn Jahre, in denen sie nur noch Axad ist, nicht mehr Domenica, und in denen ihr nun der von der Mutter gewählte Name manchmal ebenso fehlt (vgl Mp 128) wie wiederum die Koordinaten auf den jeweiligen Karten Denn selbst das Rom, in das sie wie im Delirium zurückkehrt, ist eine völlig neue Stadt, eine «città tutta nuova», die nichts mehr mit jener Sicherheit vermittelnden Provinz gemein zu haben scheint, in der sie zuvor gelebt hatte, vor jener Zäsur, jenem blind machenden Blitz der Kriegstage in Mogadischu, 24 der alles, die gesamte Wahrnehmung, das ganze Sein grundlegend verändert und die Fortsetzung des bisherigen Lebens unmöglich gemacht hatte, ohne eine andere Möglichkeit an dessen Stelle zu setzen: «è in questo delirio che mi dipanavo a Roma, città tutta nuova dove ora sono tornata Tanto diversa dalla provincia che avevo vissuto Provincia di tante certezze Questa città invece mi lasciava perdere Senza orari, senza luoghi Vagavo, e i nomi delle vie non significavano nulla […] Cosa ne era della mia vita, del suo significato, ora? » (Mp 99) Es ist eine Stadt, in der sie sich fehl am Platz fühlt, «fuori posto», eine Stadt, in der sie sich verliert, eine Stadt ohne Zeiten, ohne Orte, in der sich mit den 23 Auch hier handelt es sich, wie bei «rimappare», um ein nicht lexikalisiertes, eigens gebildetes Verb, das vom Adjektiv «disambientato», unvertraut, fremd, abgeleitet ist und ungleich mehr Konnotationen enthält als das im Deutschen durchaus gängige ‘entwöhnen’ oder ‘entfremden’ 24 «Lampo che ti acceca, cesura: per me, Domenica, vivere un giorno di guerra a Mogadiscio significava nascere di nuovo Cambiare pelle, reincarnarmi Potevo tornare a vivere come prima? Vivere nella città di provincia, con il mio fidanzato e i pranzi domenicali? Sposarmi, fare figli, nella pace della monotonia? » (Mp 99) Italienisch_81.indb 66 02.07.19 14: 05 67 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Namen der Straßen keine Bedeutung für dieses desorientierte Ich verknüpft, weil durch die traumatische Erfahrung erneut alles zuvor ins Gedächtnis Eingeschriebene wie gelöscht scheint Und ebenso erlebt sie New York, noch nach über einem halben Jahr, als ‘leere Karte’, die kein Gefühl weckt, wie ihr dort gefundener Mann und Vater ihres Kindes seiner ersten Frau am Telefon berichtet: «Questa città, per lei, è come una mappa vuota, senza sentimento» (Mp 79) Das Leben im Provisorium, in dem sie ihr ‘Somalisch und die atavistische Gewohnheit des Nomadimus exhumiert’, ist ein Leben, in dem alle Fäden erst wieder neu aufgenommen und verknüpft werden müssen (vgl Mp 252), ein Leben, in dem die - wiederum gleich-gültigen - Orte kein Gesicht haben und in dem die Karte immer wieder neu konstruiert werden muss, damit das Ich wie in einer Luftblase zu überleben vermag: «Quello che non riesco a fare è descrivere i luoghi Era tutto un movimento interno da una casa all’altra Essere, potevi ovunque Per me, per noi tutti, era indifferente Ti dovevi solo abituare alle insegne diverse, i prezzi diversi, e ricostruire la mappa: mappa dei legami con gli altri e i luoghi-snodi dove incontrarsi, dove telefonare, dove comprare, come perennemente trasportati nella bolla d’aria e dentro la bolla il nostro suono, il nostro odore Suoni e odori così pungenti da coprire tutti gli altri Alienandoci, vivevamo .» (Mp 112) Trotz der wieder zusammengefügten Fäden und trotz der Handlungen an den verschiedenen «luoghi-snodi» lassen die Orte auf dieser je neu entstehenden Karte keinen Raum für das Ich entstehen, nur eine Luftblase, die von Ort zu Ort weiterschwebt, ohne die Orte zu mehr als Durchgangsstationen werden zu lassen Denn selbst wo zeitweise solche ‘Knotenpunkte, an denen man sich treffen, telefonieren, einkaufen konnte’, entstehen, bleiben sie prekär, wandeln sie sich, wie selbst der in vielen Texten als zentraler Ort der somalischen Gemeinde in Rom thematisierte Bahnhof, die Stazione Termini, belegt, die nach der Rückkehr für Domenica zu einem «coagulo di dolore», einer «anticamera dell’oblio» (Mp 100) geworden ist Sie vermögen allenfalls zeitweise zur Orientierung in der je neuen Welt zu verhelfen, bleiben aber stets frag-würdige Orte, wie sogar in Scegos Darstellung, ungeachtet der weitestgehend positiven Schilderung des Bahnhofs und der mit ihm verknüpften Emotionen und Erinnerungen, das zögernde ‘Vielleicht’ unterstreicht: «Allora forse la mia casa era la stazione Termini» (Lmc 106): 25 25 Vgl die Analyse von Kleinhans, die unter anderem die zentrale Rolle des Bahnhofs und seine Verwandlung, so ihre These, in einen anthropologischen Ort diskutiert: Kleinhans: Endstation Rom 2013, S 178 f In diesem Punkt unterscheidet sich die interes- Italienisch_81.indb 67 02.07.19 14: 05 6 8 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn Eher als eine nicht in Zweifel gezogene «casa» signalisiert der Bahnhof samt seinen vielfältigen Funktionen für die Diaspora-Gemeinschaften 26 so gerade das Fehlen, den Verlust einer ‘Heimat’- in ihrer Selbstverständlichkeit ohne jedes ‘Vielleicht’ Konstitutiv hingegen, und komplementär zu den beiden Konzepten der Diaspora und der nie fertigen, geschweige denn vorgefertigten, vielmehr stets neu anzufertigenden Karte, ist eben das dritte, hier bereits erwähnte Bild und Konzept, das sich dank seiner Rekurrenz seinerseits mit so vielen anderen Stellen des Textes verbindet, dass es detaillierterer Betrachtung bedarf: die «casa» . III Die Bewegung von Haus zu Haus, ohne die Außenwelt mehr als nötig wahrzunehmen, wie die Erzählerin im vorigen Zitat ihrer Cousine die «[v]ita di diaspora» (Mp 98) schildert, ein Leben wie in einer Luftblase, in dem Klänge und Gerüche dieselben bleiben, unabhängig davon, wo sich die Luftblase gerade befindet: All dies sind nicht nur unmittelbare Konsequenzen eines Lebens in der Diaspora, in dem, wie die Texte formulieren, stets neue Karten sante und detailreiche Analyse von der hier vorgeschlagenen Lektüre, auch wenn der These durchaus zuzustimmen ist, dass, wie Augé in Artikeln und auch im Nachwort zur deutschen Neuausgabe der Non-Lieux darlegt, es «keine ‘Nicht-Orte’ im absoluten Sinne gibt», vielmehr aus einem Nicht-Ort für einige ein anthropologischer Ort werden kann, auch wenn andere darin «weiterhin nur einen Nicht-Ort erblicken» (Augé: Nachwort zur Neuausgabe 2012, S 124) Sprechend in diesem Sinn sind nicht nur Barnis Worte in Madre piccola (vgl Mp 27-29), sondern insbesondere das «Stazione Termini» überschriebene Kapitel in Scegos Text (vgl Lmc 96-112), in dem der Bahnhof als «[l]’unico luogo che a Roma potevamo chiamare davvero casa» (Lmc 102) bezeichnet wird, als der Ort, an dem, wie in einer mexikanischen Legende, die Nabelschnur der Erzählerin begraben liegt (vgl Lmc 106), den sie aber zugleich als «ghetto» (Lmc 104) wahrnimmt, so wie auch Barni den Wandel von der vibrierenden Atmosphäre vor neun Jahren, als alle noch an eine glückliche Rückkehr binnen kurzem glaubten, zu jener «[stazione] Termini […] piena di dolore» (Mp 29) konstatiert, in der sich auch sonst vieles verändert hat: «Ora molte cose sono cambiate: la galleria centrale restaurata con sgargianti negozi, Benetton, Nike, Intimissimi, Levi’s, Sisley, fast food, call center, bagni pubblici con monetina, biglietterie automatiche, scale mobili, megaschermi pubblicitari, tabelloni aggiornati Veramente una stazione moderna» (Mp 28 f .) Auch wenn der Bahnhof immer noch jener Pol ist, um den «[i] nostri luoghi, vecchi e nuovi» kreisen, treffen sich dort nur mehr wenige, vor allem jene, die «nessun luogo dove andare» (Mp 29) haben In diesem Sinn scheint die Funktion des Bahnhofs sich doch von der jener «casa» zu unterscheiden, die im folgenden dritten Teil erläutert werden soll 26 «Molte diaspore, quella somala in testa, hanno fatto di questa zona di Roma il loro campo base» (Lmc 107) Auch die Metaphorik des Basis- oder Versorgungslagers erinnert eher an Hochgebirgsexpeditionen denn an einen anthropologischen Ort, trotz «l’essenza di casa che questa zona emanava» (Lmc 108) Italienisch_81.indb 68 02.07.19 14: 05 69 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» angelegt werden müssen, um sich orientieren zu können; es sind zugleich Charakteristika dessen, was häufig mit dem eher negativ konnotierten Begriff der «Parallelgesellschaft» oder auch als «Indigenisierung» bezeichnet wird, verstanden als «die Orientierung am Eigenen und die Ablehnung des Anderen als entschieden verschieden»; eine Haltung, die sich «sowohl unter zugewanderten Gruppen als auch unter der lokalen Bevölkerung» findet . 27 In der Tat erscheint auch das Bild der «casa» in den Texten der beiden Autorinnen in unterschiedlicher Bedeutung und wird so, wie bereits die Verbindung mit der Stazione Termini zeigt, zu einer ambivalenten Vorstellung . 28 Besonders deutlich wird dies in der Novelle mit dem sprechenden Titel Dismatria von Igiaba Scego, 29 in der «casa» geradezu zu einem Tabu-Wort wird: Die Familie lebt nur aus Koffern, in der ständigen Erwartung der Rückkehr nach Somalia - und im gleichzeitigen Wissen, dass das vertraute Somalia «morta, defunta, finita» (D 12) ist und das heutige Somalia nur mehr aus einem «ammasso informe di warlords, corruzione, fame» besteht Dennoch bedeuten Worte wie Haus, Kleiderschrank und andere (vgl D 10) für die Mutter den Verzicht auf diesen Traum der Rückkehr, sie bedeuten den Alptraum einer «dismatria», das Durchtrennen der Nabelschnur, die sie noch mit dem Mutterland verbindet (vgl D 11) - zum Leidwesen der Tochter, die als Ich-Erzählerin fungiert und die sich nach einem wenn auch kleinen Haus und Kleiderschrank, einem wenn auch kurzen Leben sehnt, nach einer «ridicola realtà» (D 12), nach Sicherheit und Stabilität - ebenfalls Tabu-Worte für die Mutter und die Familie, während für die Tochter jene die Vorläufigkeit des Lebens signalisierenden Koffer nur die Angst verbergen, die Furcht vor dem Eingeständnis, dass es kein «dopo», kein ‘Nachher’ mehr geben könne und die Rückkehr nie mehr erfolgen werde . 30 27 Strasser: Bewegte Zugehörigkeiten 2012, S 133 f Vgl ausführlicher auch die gleichnamige Monographie der Autorin, die 2009 bei Turia und Kant in Wien erschienen ist Die Sozialanthropologin Strasser, die als Fallbeispiel für ihren Beitrag die «sozialen Spannungen in Österreich» wählt und sich dabei «speziell für Personen interessiert, die selbst aus der Türkei zugewandert sind» (ebd ., S 135 f .), beruft sich für die oben zitierte Definition der Indigenisierung auf Jonathan Friedman 28 Die Ambivalenz des «being-at-home» entfaltet insbesondere Ahmed in dem Kapitel Home and away 2000, S 77-94 29 Scego: Dismatria 2015, S 5-21 (die Seitenzahlen werden in der Folge mit der Sigle D unmittelbar nach den Zitaten angegeben) Die Wortschöpfung «dismatria» wird im Text selbst erläutert und dem vermeintlich korrekten «espatriare» entgegengesetzt (vgl D 11) 30 Die Pointe am Ende des Textes, als die Tochter darauf insistiert, sich ein Haus zu kaufen, besteht darin, dass der fünfte Koffer der Mutter, dessen Inhalt sie nie verraten hatte und den sie nun von der Tochter öffnen lässt, mit lauter Erinnerungsstücken an Rom gefüllt war, das sie umgekehrt, hätte sie zurückkehren können, ebenfalls nicht mehr vergessen wollte, mit anderen Worten: Sie hatten es nicht gewusst, aber sie hatten Italienisch_81.indb 69 02.07.19 14: 05 70 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn Ähnlich äußert in Madre piccola auch Taageere seinen «desiderio di casa» (Mp 95), seine Sehnsucht danach, ein Haus zu haben, während jenes ‘Haus’ im vorigen Zitat gerade nicht das eine, Stabilität gewährende Haus an einem Ort meint, auch nicht die in Somalia zurückgelassene und verlorene Heimat; die «case somale», die somalischen Häuser, von denen Axad erzählt, sind gerade die «global ethnoscapes» im Sinne Appadurais, 31 die überall auf der Welt verstreuten Behausungen der diasporisch lebenden Somalierinnen und Somalier, die zwar miteinander über alle Grenzen hinweg vernetzt sind, in denen sie aber unter sich bleiben, nur das Nötigste lernen und das Außen nicht wahrnehmen, nicht die Umgebung und nicht einmal die Lufttemperatur: «alla fine, in tanta parte del mondo vissuto è sempre così Dentro le nostre case somale, in tutto e per tutto Potevi anche non vederlo il contorno Ignorare la temperatura dell’aria, non ascoltare le altre voci, vivere solo tra di noi, imparare lo stretto necessario .» (Mp 97) Wie eine Seifenblase vom Wind, «bolla di sapone trasportata dal vento» (Mp 97), habe sie anfangs versucht, sich vom Zufall treiben zu lassen und so ihren Weg zu finden Wenn es keine Heimat mehr gibt, ist das Heim jeweils dort, wo, wie etwa in London, die «volti di casa» (Mp 115) wiedergefunden werden, die vertrauten oder ‘heimischen Gesichter’, die ‘Gesichter von Zuhause’, ließe sich vielleicht übersetzen Dieses Verständnis des Wortes, diese ‘Praktik’ des Hauses, scheint in der Tat dem erwähnten Begriff der Indigenisierung oder der Parallelgesellschaft zu entsprechen (ohne freilich die Indigenisierung der anderen Seite, der lokalen Bevölkerung, zu thematisieren, da gänzlich aus der diasporischen Perspektive erzählt wird) . 32 Doch ist dies, das Leben in nahezu völliger längst auch eine andere matria, lebten längst ihre ‘mehrfachen Zugehörigkeiten’: «Sorriso globale» (D 21), heißt es am Ende in schöner Mehrdeutigkeit 31 Vgl Anm .- 15 32 Die andere Seite, die Ausschließung durch die ‘indigene’ Bevölkerung, und mehr noch das Ausgeschlossensein selbst, erzählt am ehesten Scego in La mia casa è dove sono, wo sie von ihrem Bruder spricht, der erst mit 16- Jahren von Somalia nach Rom kommt und sich dort eine neue Existenz erfinden muss, «reinventarsi un’esistenza […], inserirsi in una realtà nuova» (Lmc 109), dies zwar, abgesehen von seinem Desinteresse an der Schule, gut meistert, aber «non aveva fatto i conti con il servizio militare […] Immaginate di essere l’unico nero in una caserma Pensate al primo giorno, alle cattiverie dei nonni» Doch während sie beide dank ihres italienischen Passes privilegiert sind, sieht dies, wie die Erzählerin ausführt, für die nicht in Italien Geborenen, selbst wenn sie als Säugling ankamen, anders aus; sie bleiben möglicherweise auf Dauer Ausgeschlossene: «Vivi come un estraneo nel paese che hai sempre considerato tuo […], Italienisch_81.indb 70 02.07.19 14: 05 71 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Abschottung, nur die eine Seite der «casa», wenngleich für diese «pellegrinaggi del pianeta» eine zumindest in manchen Phasen unermesslich wichtige Ungleich wichtiger aber als das Reisen wie in einer Blase, als die paradoxe, den Häusern quasi inhärent bleibende Bewegung von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent, die kein Außen kennt, sind andere Aspekte der «casa», wie sie nicht nur Scegos Buchtitel, La mia casa è dove sono, suggeriert, sondern mehr noch die Beschreibung der «case somale» durch die beiden Cousinen Domenica und Barni in Madre piccola Das provisorische, umherirrende oder verirrte Leben «dalla casa di un parente a quella di un altro», mit immer nur halb ausgepackter Tasche, ist kein ‘vivere’, sondern ein ‘vivacchiare’ (vgl Mp 252), kein Leben, sondern allenfalls ein mühsames Sein-Leben-Fristen, auch wenn die wie unter Nomaden gepflegte Gastfreundschaft, von der Barni spricht, ein kostbares Gut ist: «In tutti i paesi che ho visitato sono stata accolta come nella stessa mia casa» (Mp 262), und ebenso öffnet sie ihr eigenes Haus für alle, die kommen und wieder gegangen sind - nach London, nach Ohio oder nach Australien -, und für Feste, bei denen sich alle versammeln und sich wohlfühlen können (vgl Mp 27) . 33 Das Haus hingegen, das Barni am Ende skizziert und das sie gemeinsam mit Domenica und deren neugeborenem Sohn bewohnen will, ist weder das über den Globus verstreute, ‘entortete’ oder ‘enträumlichte’ 34 Haus der magari non hai mai messo piede nel paese d’origine» Viele der «cosiddetta seconda generazione vivono da stranieri nella loro nazione Hanno vite bloccate», weil ihnen die Staatsbürgerschaft fehlt, und dies «nel paese che è tuo da tutta una vita» (Lmc 110 f ) 33 Zugleich jedoch beschreibt sie ihre Wohnung in Rom nicht nur als einen Ort, an dem es nicht viel braucht, nur einige wenige Dinge, die sich mit anderen teilen und leicht ersetzen lassen, sondern auch mit der ambivalenten Metapher des ‘Taubenschlags’: «La mia casa è un porto di mare» (Mp 26), ein Bild, das im Nuovo Zingarelli paraphrasiert wird als: «luogo chiassoso e disordinato, pieno di gente d’ogni tipo che va e viene» (Zingarelli: Vocabolario 1994, S 1385) 34 Bhabha spricht - vor allem in Verbindung mit der Frage nach der Identität - mehrfach von «Entortung», beispielsweise vom «zerklüftete[n] Charakter der kolonialen Entortung, ihre[r] De-plazierung von Zeit und Person, ihre[r] Schändung von Kultur und Territorium» (Bhabha: Die Verortung der Kultur 2000, S 60) Appadurai verwendet demgegenüber den - bei ihm weiter gefassten - Terminus «Enträumlichung», den er jedoch u .a auch auf diasporische Situationen bezieht: «Die Enträumlichung […] verändert nicht nur die traditionellen Loyalitäten innerhalb der Gruppen (vor allem im Kontext komplexer Diasporaformen), sondern auch durch transnationale Interaktionen die Wechselkurse, führt zu anderen Formen des Reichtums und Investitionsmustern, er beeinflusst die Strategien von Staaten Diese Lockerung der bisher festen Verbindung zwischen Völkern, Reichtum und Territorien verwandelt radikal die Basis kultureller Identität Enträumlichung ist daher eine der zentralen Kräfte der Moderne» (Appadurai: Globale ethnische Räume 1998, S 13) Während die Begriffe im Deutschen sehr ähnlich klingen, zugleich aber an die Relation von Ort und Raum zu erinnern scheinen, unterscheiden sie sich in ihren englischen Originalen erheblich: In dem oben zitierten, Italienisch_81.indb 71 02.07.19 14: 05 72 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn Luftblase ohne Verbindung mit dem konkreten Außen noch das Haus derer, die sich vor allem Fremden abschotten, gleich welcher Gruppe sie angehören Vielmehr gilt es für diese «casa» als lebbare Alternative, als der vielzitierte ‘Dritte Raum’, im Sinne Homi K Bhabhas, 35 jene Knoten im diasporischen Fadengewirr zu knüpfen, die nicht einengen, nicht einschnüren oder gar erwürgen, sondern stützen: «stringere nodi che sostengono senza strozzare» (Mp 261), aber zugleich die immobilisierende Maske abzulegen, sich von jener Hülle zu befreien, innerhalb derer alles so vertraut scheint, jenen Film zu zerreißen, der von den anderen Menschen, unter denen sie doch leben, isoliert, wie Barnis Epilog in einer raschen Folge von Bildern postuliert Es gilt, statt ‘indigenisiert’ in einer vermeintlich Sicherheit vermittelnden nicht völlig identisch ins Deutsche übersetzten Aufsatz aus seinem Buch verwendet Appadurai den Begriff «deterritorialization» (ebd ., S 49); das englische Wort bei Bhabha lautet «dislocation» (vgl Bhabha: The Location of Culture 1994, S 41) Da jedoch beide Autoren ihr jeweiliges Konzept zumindest auch im Zusammenhang mit der Frage nach individueller und kollektiver Identität einsetzen, ist, ungeachtet der unterschiedlichen Kontexte und ihrer Implikationen, der Unterschied zwischen beiden im vorliegenden Fall wenig relevant und sollte er insbesondere nicht vorschnell mit der space and place-Debatte in Verbindung gebracht werden Avtar Brah verweist ferner darauf, dass der Begriff Deterritorialisierung zuerst von Deleuze und Guattari verwendet wurde, die damit die der kanonisierten Literatur gegenübergestellte «littérature mineure» charakterisierten (vgl Deleuze/ Guattari: Kafka 1975, S 29-50): «The concept of deterritorialisation is understood as describing the displacement and dislocation of identities, persons and meanings, with the moment of alienation and exile located in language and literature» Zugleich warnt sie jedoch vor einer Verallgemeinerung und breiten Anwendung des Begriffs: «The concept of ‘territory’ as well as its signifieds and significations is a contested site in diaspora and border positionalities, where the issue of territorialisation, deterritorialisation or reterritorialisation is a matter of political struggle .» Brah: Cartographies of Diaspora 1996, S 203 f Zur - bislang zu wenig beachteten und, nicht zuletzt aufgrund von Übersetzungsproblemen, teilweise zu reduktiv rezipierten - Schlüsselposition des Begriffs «dislocation» in Bhabhas Theoriebildung sowie zur Doppelbedeutung des englischen Verbs to dislocate als to put out of position und to put out of order vgl auch Lavagno: Kreolisierung 2015, S 233-235 35 D .h jener «Zwischenraum», in dem «zu wohnen [auch] heißt, […] an einer re-visionären Zeit teilzuhaben, an einer Rückkehr zur Gegenwart, um unsere kulturelle Gleichzeitigkeit neu zu beschreiben; um unsere menschliche, geschichtliche Gemeinsamkeit neu einzuschreiben; die Zukunft auf der uns zugewandten Seite zu berühren In diesem Sinne wird also der Zwischenraum zu einem Raum der Erfindung und Intervention» Und auch die Vergangenheit erscheint hier «neu als angrenzende[r] ‘Zwischen’- Raum […], der die konkrete Realisierung der Gegenwart innoviert und unterbricht» und in dem die «Relation ‘Vergangenheit-Gegenwart‘ […] zu einem notwendigen, keinem nostalgischen Teil des Lebens» wird (Bhabha: Die Verortung der Kultur 2000, S 10 f .) Vgl ferner auch hier Bachmann-Medick: Cultural Turns 2010, die Bhabhas Konzept ebenfalls (und u .a .) neben Foucaults Begriff der Heterotopie stellt: insbesondere die Abschnitte «Dritter Raum», S 203-206, und «Thirdspace» (nach Edward Soja), S 297-299; hier auch zu den «global ethnoscapes» von Appadurai Italienisch_81.indb 72 02.07.19 14: 05 73 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Luftblase oder ‘Parallelgesellschaft’ zu leben, gerade die eigenen Sicherheiten ins Wanken geraten zu lassen, nicht immer sich selbst gleich zu sein und dabei unheilbar getrennt von allem Umgebenden zu bleiben; 36 mit anderen Worten: Es gilt, diesen Zwischenraum der «casa» fruchtbar zu machen für die «konkrete[…] Realisierung von Identität», für eine «Neuschaffung des Selbst» . 37 Dieses Haus, das sicher auf den eigenen Fundamenten errichtet ist, um seinen Bewohnern im alltäglichen Kampf Trost und Schutz zu bieten, ohne sie zu isolieren (vgl Mp 263), mag wie eine Utopie erscheinen; vor allem aber ist es, so wie Barni es definiert und die Figuren beginnen, es zu leben, eine positiv konnotierte Heterotopie und in eins ein neues Modell von Sozialität: 38 «La nostra casa la portiamo con noi, la nostra casa può viaggiare Non sono le pareti rigide che fanno del luogo in cui viviamo una casa» (Mp 263) Ebenso wie im Buchtitel La mia casa è dove sono ist folglich auch hier die «casa», entgegen einer spontanen Assoziation oder einer traditionellen, möglicherweise ‘alteuropäischen’ Vorstellung, als etwas Nicht-Statisches imaginiert, kann doch aus jedem «luogo», sofern darin gelebt wird, eine «casa» werden, und dies auch ohne die Errichtung fester Mauern Die «casa» in diesem Sinn charakterisiert sich durch Beweglichkeit und Prozesshaftigkeit; sie entsteht durch die Verbindungen zwischen dem Ich oder Wir und der dieses umgebenden Lebenswirklichkeit, so dass auch hier, wie bei der stets erforderlichen Neukartierung des eigenen Lebens, eine ‘Kunst des Handelns’ verlangt ist: Denn trotz der mit der «casa» verknüpften affektiven Bindung, die sie vom bloßen «luogo» unterscheidet, reduziert sich ein solches Verständnis weder auf die passive Nostalgie, die mit «casa» lediglich den Blick zurück, das unwiederbringlich Verlorene einer Vergangenheit und eines Anderswo assoziiert, noch auf die gleichermaßen passive Assimilation an die 36 «Se smetteremo questa maschera immobilizzante, se ci libereremo dall’involucro in cui tutto è familiare, se strapperemo la pellicola che ci isola dalla gente tra cui viviamo; se ci lasceremo scalfire, qualcosa si rinvigorirà dentro Siamo stanchi di combattere la nostra guerra personale, stanchi di essere sempre uguali a noi stessi, irremediabilmente separati dal contesto» (Mp 261 f .) 37 Bhabha: Die Verortung der Kultur 2000, S 13 38 Diesen Aspekt des Foucault’schen Konzepts stellt Hetherington ins Zentrum: «Heterotopia, like the Palais Royal during the French Revolution, were not only sites of resistance and transgression but also sites that provided the model of alternative modes of social ordering They produced new modes of social interaction and discourse, or more broadly, a new sociality We could say that the model had utopian intentions even though it did not conceive of the Palais Royal as a utopia itself The concept of heterotopia […] can be seen as an important concept in understanding how space, within modernity, has been used as a means of attempting to create new modes of social ordering that are utopian in intent .» Hetherington: The Badlands of Modernity 1997, S 53 Italienisch_81.indb 73 02.07.19 14: 05 74 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn ‘indigenen’ Vorstellungen am neuen Ort, auf jene Mimikry, wie sie die Mutter in Dismatria fürchtet und wie Domenica Axad in Madre piccola sie zeitweise lebt: «Ho vissuto mimetizzandomi» (Mp 98) Das hier - freilich nur als Projekt und Imagination - entfaltete Konzept von «casa» impliziert vielmehr Offenheit, Mobilität und Aktivität, ohne auf Affektivität und Erinnerung, auf individuelles und kollektives Gedächtnis zu verzichten, 39 wie zum einen das Zusammenleben in - wenn auch unkonventionellen 40 - Familienstrukturen unterstreicht, zum anderen die Geschichte des neugeborenen Sohnes von Domenica Axad: Seine Geburt stellt auf der einen Seite einen Neubeginn dar, der, wie Barni hofft, helfen kann, das zu Beginn evozierte Knäuel der Gedanken und der oft schmerzhaften Erinnerungen zu entwirren: «Se penso a tutti i pensieri ingarbugliati di Domenica Axad Per fortuna con la nascita del bambino è migliorata 39 Zum Aspekt der Affektivität und Prozessualität ebenso wie zur unerlässlichen Verbindung der in der Gegenwart neu erbauten «casa» mit Vergangenheit und Zukunft, aber auch zur Infragestellung der vermeintlich «universal definitions of home defined in terms of the white middle-class patriarchal family», der «terms of home which delimit it as an accomplished site of belonging and governance», vgl ferner: «Homes are always made and remade as grounds and conditions (of work, of family, of political climate, etc .) change ‘Homing’ entails processes of home-building […], whether ‘at home’ or in migration Making home is about the (re)creation of […] ’soils of significance’ […], in which the affective qualities of home, and the work of memory in their making cannot be divorced from the more concrete materialities of rooms, objects, rituals, borders and forms of transport that are bound up in so many processes of uprooting and regrounding Homing, then, depends on the reclaiming and reprocessing of habits, objects, names and histories that have been uprooted - in migration, displacement or colonization Inherent to the project of home-building here and now, is the gathering of ‘intimations’ of home, ‘fragments which are imagined to be traces of an equally imagined homely whole, the imagined past ‘home’ of another time and another space’ […] In this respect, being at home and the work of home-building is intimately bound up with the idea of home: the idea of a place (or places) in the past, and of this place in the future Making home is about creating both pasts and futures through inhabiting the grounds of the present» So die Herausgeberinnen in ihrer gleichnamigen Einleitung zu dem Band: Ahmed: Uprootings/ Regroundings 2003, S 9 (dort auch die Nachweise für die Zitate im Zitat) 40 Unkonventionell, gemessen am auch in Europa zunehmend in seiner universellen Gültigkeit in Frage gestellten Familienbild; unkonventionell aber auch, weil das postkoloniale und diasporische Leben andere Modalitäten nicht nur hervorbringt, sondern geradezu erfordert, wie Barni in ihrem Epilog formuliert: «Dentro la nostra casa io, Domenica Axad e il piccolo Taariikh troviamo conforto e riparo, piantiamo le nostre fondamenta per avere la forza di combattere quotidianamente Rimanere isolati non è più possibile, cerchiamo di adattarci e di ricostruire il nostro percorso Convivendo, gran parte del dolore si compatisce Una madre sola non basta ai propri figli, chi lo può sapere meglio di me e di Domenica Axad? Le nostre madri erano malate di troppe solitudini Insieme ne verremo a capo, i figli si crescono in comunione Solo così le molte assenze saranno irrilevanti» (Mp 263 f .) Italienisch_81.indb 74 02.07.19 14: 05 75 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» Rischiava di farlo andare in corto circuito altrimenti, il suo povero cervello […] Alla fine, se ci penso, abbiamo tutti il cervello congestionato» (Mp 263) Zugleich jedoch inkarniert das Kind, das den Namen seines Großvaters trägt, auf der anderen Seite in seiner unhintergehbaren Präsenz den Blick in die - lange tabuisierte - Vergangenheit, auf den Verlust des im Guerillakrieg verschollenen Vaters, und in eins den Blick in die Zukunft, weil mit dem Kind nicht nur der Name weiterlebt, sondern die abgeschnitten geglaubte Geschichte, das Leben selbst, weitergeht: «Taariikh si perse nella guerriglia Ho sognato per molti anni il suo ritorno, ho persino sperato nella voce di qualcuno che ne avesse sepolto il corpo, ma ciò non è mai accaduto Mio padre è rimasto a lungo un tabù Aleggiava su di noi, ma ne io né Libeen riuscivamo a pronunciarne il nome Mi è rimasto dentro come un tarlo, non me ne sono mai liberata […] Non volevo che la morte di Taariikh fosse dichiarata […] Ora che è nato mio figlio ho finalmente riempito il vuoto Il bambino si chiama Taariikh, come mio padre, perché la storia si rinnovi Sarà di buon auspicio .» (Mp 256 f .) In diesem Sinn erweist sich das Haus, das - «risalendo» (Mp 262) und «ridescendendo» (Mp 267) mit den Figuren - reisen kann, das Haus, das sie durch unterschiedliche Zeiten und Räume hindurch mit sich tragen, als jener Raum, von dem aus der Blick zurück nicht mehr gescheut werden muss und der Blick nach vorn gelingen kann, der Versuch des «ricostruire il nostro percorso» (Mp 263), den parcours im Certeau’schen Sinn, die eigene Wegstrecke Denn dieses mit sich getragene Haus, wie es der Text entwirft, soll kein Schneckenhaus sein; es dient gerade nicht der Abschottung und fungiert somit weder als Illusionsheterotopie, die ihren Bewohnern in Italien oder anderswo vorgaukelt, im Grunde immer noch in Somalia zu leben, und sie in einer Art säkularisierter Naherwartung zwar nicht der Wiederkunft, aber doch der imminenten Rückkehr verharren lässt, noch als Krisen- oder gar Abweichungsheterotopie, die die somalische oder auch jede andere Diaspora ghettoisiert Es ist aber auch kein Haus, wie es die Mutter in der Novelle Dismatria gerade fürchtet: ein Haus, das gemäß manchen Vorstellungen von ‘europäischer Identität’, im Namen sogenannter Integration, die Preisgabe aller eigenen Identität, die Preisgabe der eigenen Fundamente erforderte, mit anderen Worten, das kein ‘risalire’- und ‘ridiscendere’ im Fluss der eigenen Geschichte erlaubte Italienisch_81.indb 75 02.07.19 14: 05 76 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn Das Haus, in dem es, wie nach Domenicas Rückkehr nach Italien, gelingt, alle Teile ihrer Geschichte und ihres Ich wieder zusammenzusetzen, «[di] rimettere insieme tutti i pezzi» (Mp 252), ist ein ‘anderer Ort’ oder «espace autre» in dem Sinn, dass er «un lieu sans lieu» ist, ohne ein Nicht- Ort zu sein; ein Ort, der sich nicht an einer Stelle fixieren lässt, wie ein Schiff, jene «hétérotopie par excellence», «la plus grande réserve d’imagination», 41 von der Foucault am Ende seines berühmt gewordenen Aufsatzes «Des espaces autres» spricht Ein solches Haus begnügt sich nicht mit bisherigen Dichotomien; es rückt gerade nicht «die Abgrenzung ins Zentrum», wie dies etwa durch das Wort «Parallelgesellschaft» geschieht, das «verkennt, dass es immer auch - egal wie abgeschottet eine Gemeinschaft leben mag - eine Interaktion mit der umgebenden Lebensrealität gibt» . 42 Die vieldeutige «casa» in den betrachteten Texten vermag somit, unterschiedliche Konzeptualisierungen des ‘Lebensmodells Diaspora’, das für viele Bewohner des Planeten zur unhintergehbaren Realität geworden ist, zu beleuchten Eine Variante ist, wie die Mutter zu Beginn der Novelle Dismatria die «casa» abzulehnen, weil die Einrichtung einer «casa» im fremden Land das Eingeständnis des zerbrochenen Traums einer Rückkehr wäre Eine andere ‹Lösung›, die die Texte gleichfalls vorführen ohne sie zu propagieren, bestünde darin, die «casa» als Isolationsraum zu leben, der die diasporische Gemeinschaft so weit wie möglich von jedem Kontakt mit der umgebenden Welt fernhält und versucht, in der Fremde die Tradition möglichst lückenlos zu bewahren Dem setzen die Figuren in den Texten andere Häuser entgegen, die interessante Antworten auf die von Konzepten wie Migration und Integration aufgeworfenen Fragen geben, die «zwar Bewegungen [erfassen], […] aber völlig einseitig [bleiben]»: 43 Als eine Antwort auf solche Einseitigkeit konzipieren die Texte auf der Ebene der Figuren und der Handlung eine solche, den unterschiedlichen Seiten Rechnung tragende «casa» als einen heterotopischen ‘Ort ohne Ort’, der weder bloßes Provisorium noch starre Mauer ist, sondern, wie das Schiff, ein Raum, der die «bewegten Zugehörig- 41 Foucault: Des espaces autres 2001, S 1581 42 Charim: Einleitung 2012, S 11 43 Charim: Einleitung 2012, ebd Vgl auch Kokots knappe Darstellung zu «Diaspora und Lokalität», die aus ethnologischer Perspektive neben der Mobilität auch Lokalität und Sesshaftigkeit innerhalb von Diaspora-Gemeinschaften konstatiert und empfiehlt, zwischen beiden Seiten, dem «Modell […] einer permanent gefährdeten Identität fern der Heimat» und den Aussagen von Individuen, die «die Gemeinsamkeiten und das alltägliche Zusammenleben mit ihrer Residenzgesellschaft» hervorheben, als «zwei sich gegenseitig bedingende […] und beeinflussende […] Prozesse […] von Ortsbezogenheit zu unterscheiden» Kokot: Diaspora 2002, S 105 Italienisch_81.indb 76 02.07.19 14: 05 77 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» keiten» zu leben gestattet, 44 ein Raum, der es erlaubt, Habitus und Improvisation im Sinne Appadurais 45 in einem Gleichgewicht zu halten, statt der einen oder der anderen Seite ausschließliches Bleiberecht oder zumindest die eindeutige Dominanz zuzugestehen . 46 Zugleich sind die Texte, wie Scegos Titel deutlich macht, selbst «casa», insofern das Erzählen der Geschichte, das Sich-Selbst-Verorten innerhalb der großen Weltkarte der Diaspora ebenso wie auf der aus den übereinandergelegten ‘Heimatstädten’ Rom und Mogadischu entstandenen kleinen selbstgefertigten Karte, zwar, wie die Erzählstruktur der Texte deutlich macht, ebenso fragmentarisch bleibt wie die Geschichten selbst, aber dennoch als ein zu bewohnendes Haus mit Fundamenten und ohne starre Mauern begriffen werden kann: 47 «Alla fine sono solo la mia storia» In diesem Sinne wäre 44 Die Frage der «bewegten Zugehörigkeiten» wird insbesondere bei der Erziehung des Kindes virulent bzw im Text manifest: zum einen im Blick auf die Rolle der Sprache - Domenica Axad beschließt, mit ihrem Kind zunächst ausschließlich italienisch zu sprechen, «perché non ve n’è nessuna [lingua] che parlo con altrettanta disinvoltura» (Mp 259), und ihm, gemeinsam mit Barni, erst etwas später auch somalisch beizubringen -, zum anderen hinsichtlich der unterschiedlichen Traditionen, Riten etc .: So fällt sie die Entscheidung, den Jungen - gegen den Rat des italienischen Kinderarztes - beschneiden zu lassen, «per non impedire a mio figlio di appartenere» (Mp 258), denn «in Somalia la circoncisione […] è una cerimonia collettiva con una funzione sociale, un rito che dichiara l’appartenenza di un individuo a un gruppo» (Mp 257 f .) 45 Appadurai bezieht sich damit selbstverständlich auf die Bourdieu’schen Begriffe von Habitus und Improvisation, merkt dazu aber an: «Improvisation findet nicht mehr länger innerhalb einer relativ festgelegten Menge von denkbaren Haltungen statt, sondern ist allgegenwärtig und allesdurchdringend, angetrieben von den in massenmedialen Meistererzählungen verbreiteten imaginierten Bildern Eine allgemeine Veränderung hat sich in den globalen Bedingungen der Lebenswelten vollzogen: vereinfacht gesagt, während die Improvisation früher von dem erstarrten Habitus befreit werden mußte, muß jetzt der Habitus sorgfältigst gestärkt werden angesichts von Lebenswelten, die oft genug im Fluß sind .» Appadurai: Globale ethnische Räume 1998, S 25 46 Völlig vom Habitus des Lebens einer ‘typischen somalischen Frau’ bestimmt, lebt Domenica Axad die ersten Jahre nach ihrer Flucht aus Mogadischu und der Trennung von ihrer italienischen Mutter, als sie sich gänzlich in die Abhängigkeit ihres Cousins Libeen begibt, mit dem sie in den Niederlanden zusammenlebt: So lange sie bei ihm lebe, müsse sie nicht arbeiten, erklärt er; er bestimmt ihre Kleidung und ihren Lebensstil und stempelt sie, wo sie seinem traditionsbestimmten Bild der Frau nicht entspricht, sofort als gaal, als Nicht-Muslima und Weiße, ab (vgl Mp 102-108) Demgegenüber verfällt sie, nachdem er sie verstoßen hat, ins andere Extrem, indem sie sich, wie oben zitiert, wie eine Seifenblase nun von einem anderen Wind treiben lässt: «Come profuga seguii il fluire di una diaspora che mi riguardava solo marginalmente, interiorizzandone le modalità, l’assenza di progettualità, la mancanza di mete» (Mp 251) - kurz, die Improvisation wird zum Lebensprinzip 47 In vergleichbarer Weise, aber aus anthropologischer Perspektive, sprechen auch Nigel Rapport und Andrew Dawson von den «‘moving homes’ of various kinds, behavioural and ideational, that individuals construct and enact Here are routine practices Italienisch_81.indb 77 02.07.19 14: 05 78 «La nostra casa la portiamo con noi» Barbara Kuhn möglicherweise der Widerstreit von Diaspora, verstanden als vereinzelnde Zerstreuung, und Heterotopie, verstanden als bloße Abschottung, fruchtbar zu machen, wenn es gelingt, das Miteinander von Diaspora und Heterotopie im Sinne der «bewegten Zugehörigkeiten» zu denken, wie sie nicht zuletzt in diesen italophonen Texten samt den somalischen Einsprengseln nicht nur vielfach thematisiert werden, sondern schon durch ihre Sprache zum Ausdruck kommen und so sinnfällig werden Und ebenfalls möglicherweise wäre in diese Richtung auch die Frage nach der Denkbarkeit Europas weiter zu verfolgen, die Frage nach dem ‘Haus Europa’, das von solchen Häusern mit Fundamenten und ohne starre Mauern, wie es diese Texte sind, manches zu lernen haben könnte Abstract. Benché da alcuni anni il concetto di diaspora si sia rivelato uno strumento utile e irrinunciabile per descrivere la realtà - ad esempio dei tanti somali che vivono fuori della loro patria, dispersi in tanti Paesi del mondo intero - sembra tuttavia non essere adeguato per descrivere e intendere pienamente il carattere complesso di questa realtà Partendo da una lettura dettagliata dei due testi, in parte autobiografici, di Ali Farah e Scego menzionati nel titolo, il presente contributo si propone di sfaccettare il concetto combinandolo con quello di eterotopia, sebbene a prima vista questi sembrino escludersi a vicenda Seguendo le tracce dei testi, anche in questa sede si fa ricorso alle metafore e metonimie della carta e della casa, ambedue presenti in svariati modi nei testi delle due autrici In un mondo che sempre di nuovo bisogna «rimappare», la «casa» può trovarsi dappertutto, e questa «casa» non ha «pareti rigide» (cioè non funziona come immagine per descrivere le cosiddette ‘società parallele’, isolate all’interno di una società e chiuse and narrations that do not merely tell of home, but represent it: serve, perhaps, as cognitive homes in themselves» Ihr Movens, in dem Band die Brauchbarkeit des Konzepts ‘home’ als analytisches Konstrukt zu diskutieren, ist die Erkenntnis der «expressive deficiencies of traditional classifications of identity, such as locality, ethnicity, religiosity and nationality First, none of these terms conveys the universally affective power of home […] Secondly, and as importantly, in a situation where traditional classifications of identity often fail to provide adequate understandings of proximate behaviours - adequate appreciations of individual actors’ world-views and their drives to new (often multiple and paradoxical) sites and levels of association, of incorporation and exclusion - ‘home’ may be of use […] ‘Home’ brings together memory and longing, the ideational, the affective and the physical, the spatial and the temporal, the local and the global, the positively evaluated and the negatively As Simmel sums it up, ‘home’ involves a ‘unique synthesis’: ‘an aspect of life and at the same time a special way of forming, reflecting and interrelating the totality of life’» Rapport/ Dawson: The Topic and the Book 1998, S 8 Italienisch_81.indb 78 02.07.19 14: 05 79 Barbara Kuhn «La nostra casa la portiamo con noi» in se stesse) In conseguenza - è questa la tesi del contributo - è piuttosto un modello per pensare un’Europa che non solo crea o ammette delle comunità diasporiche e le loro eterotopie, ma che conosce e apprezza le «bewegten Zugehörigkeiten», le ‘appartenenze in movimento’ dei suoi abitanti Summary. Although, lately, the concept of diaspora has proven to be a helpful and indispensable instrument for describing reality - for example of the many Somalians that live outside of their home country, scattered across many different countries around the world - it still does not succeed to describe adequately or grasp completely the complex character of said reality The article intends to shed light on this concept by combining it with that of heterotopia Even though at first sight the two concepts seem mutually exclusive, combining them is made possible by a detailed reading of two texts, partly autobiographical, by Cristina Ali Farah and Igiaba Scego Both texts make use of metaphors and metonymies of maps and houses, presented in different ways In a world constantly redefined, «home» may be found everywhere, when this ‘home’ has no ‘firm walls’ (i e it doesn‘t function as an image of the so-called ‘parallel societies’, isolated inside a society and closed in themselves), it may rather serve as a model - thus the thesis of this essay - for a concept of Europe as something which does not only create or allow diasporic communities and their heterotopia, but also knows and appreciates its habitants and their ‘flexible senses of belonging’ Bibliographie Ahmed, Sara: «Home and away Narratives of migration and estrangement», in: dies .: Strange encounters. 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