Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2019-0006
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2019
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttTorquato Tasso, Dal vostro sen qual fuggitivo audace (Rime amorose, Sonett 142)
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2019
Philip Stockbrugger
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82 Biblioteca poetica Torquato Tasso: Dal vostro sen qual fuggitivo audace (Rime amorose, Sonett 142) Dal vostro sen, qual fuggitivo audace, Corso al varco odorato era il mio core, Quando fra dolci spirti e dolce humore, Un bacio attrasse il prigioner fugace Parte n’attrasse sol: perchè tenace Parte in voi ne ritenne antico amore, Fra ’l mel natio de l’uno e l’altro fiore, Ond’ei suo visco inestricabil face Pur novo bacio poi, la tronca parte Ritroncando, libò la più gradita; L’altra languendo in voi misera stassi Deh, fia mai ch’io ’l raccolga, e con [quest’arte, E poi con l’alma in un sol loco i’ lassi, Come spira ne’ morsi ape la vita? Aus eurer Brust, wie ein kühner Flüchtling war mein Herz zum duftenden Ausgang gelaufen, als unter süßen spiriti und süßem Saft ein Kuss den fliehenden Gefangenen anzog Einen Teil nur zog er an, weil hartnäckig die alte Liebe einen Teil in Euch behielt zwischen dem Honig der einen und der anderen Blume mit dem sie seinen unwiderstehlichen Leim produziert Ein weiterer Kuss gar teilte dann noch einmal den schon abgetrennten Teil; kostete er den ihm gefälligeren Teil; der andere schmachtet unglücklich in Euch Ach, könnt’ ich es doch wiederbekommen, und zwar auch mit [dieser Kunst, und mit meiner Seele an einem einzigen Ort lassen, wie die Biene im Stechen das Leben lässt? Das Sonett «Dal vostro sen, qual fuggitivo audace» ist zweifellos eines der komplexesten Gedichte der Rime amorose Torquato Tassos Die 1591 in Mantua erschienene Osanna-Ausgabe dieser Rime ist mit einem von Tasso selbst verfassten Kommentar versehen, und gerade im Falle dieses Sonetts scheint ein Kommentar unentbehrlich zu sein Tassos Kommentar erhellt jedoch leider keineswegs die Deutungszweifel des Sonetts, das weiterhin nur mit Mühe interpretierbar scheint, nicht zuletzt aufgrund der dem geliebten Vergil entnommenen Allegorie, worauf sich der ganze Duktus des Gedichts stützt Die erste Quartine zeigt schon eine ‘anatomische Verbindung’ zwischen dem vostro - gemeint ist damit die Geliebte - und dem core des lyrischen Ichs Gemäß einem üblichen Topos gehört das Herz des Dichters der gehuldigten Dame, sie trägt es in ihrer Brust (sen), doch schon die ersten Verse zeigen eine Flucht (fuggitivo) des Herzens nach außen, zum Munde der Geliebten (varco odorato) Ein Kuss (bacio) zieht dann das Herz an, dargestellt diesmal nicht als ein tapferer Flüchtling (audace), sondern eher als ein fluchtliebender Gefangener Tasso notiert in seinem Kommentar «l’amore non parea volontario» («die Liebe schien unfreiwillig»), und diese Tatsache DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 0 6 Italienisch_81.indb 82 02.07.19 14: 05 8 3 Philip Stockbrugger Torquato Tasso: Dal vostro sen qual fuggitivo audace zeigt deutlich, dass es sich um eine sinnliche Liebe handelt, da nur diese keine Übereinstimmung mit der erhabeneren Vernunft genießen kann, aus der ausschließlich die wahre Freiwilligkeit stammt Die zweite Quartine stellt die Zweiteilung der Liebe dar Ein Teil (parte) des Herzens wird vom bacio angezogen, doch ein anderer Teil bleibt zurück, immer noch gefesselt von der alten, hartnäckigen (tenace) Liebe (antico amore), scheinbar unwiderruflich (inestricabil) verstrickt im Honig (mel) zweier Blumen (l’uno e l’altro fiore) Die folgende Terzine erzählt von einem neuen (novo) Kuss, der das schon gespaltene (tronca) Herz abermals aufteilt (ritroncando), den besseren Teil (la più gradita) schmeckt, und den unglücklichen (languendo ... misera) Rest in der Brust der Geliebten zurücklässt Die zweite Terzine äußert den etwas pathetischen Wunsch des Ichs (deh, fia mai), erstens, mittels eines Kusses (e con quest’arte), auch den letzten Teil des eigenen core wiederzugewinnen, und zweitens, das wiedergewonnene (wieder zusammengestückelte) Herz zusammen mit der eigenen Seele an einem einzigen Ort zu lassen (un sol loco), so wie die Biene im Stechen (d .h mittels der Auslassung des Stachels) auch ihr Leben verliert Dieses letzte Bild entlehnt Tasso aus Vergil (Georg IV, 238), wie auch im Selbstkommentar deutlich gemacht wird Die Nähe dieses Sonetts zu einer Gruppe von Gedichten der Rime amorose, in der eine zweifache Liebe thematisiert wird, hat manche Interpreten zu der Behauptung geführt, Tasso habe hier einen Kuss zwischen zwei Damen inszeniert (wie zum Beispiel Gerhard Regn, Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur ‘parte prima’ der ‘Rime’, Tübingen 1987) Die erste Geliebte des Ichs werde zweimal von der neuen Geliebten des Dichters geküsst Ein letzter - nur gewünschter - Kuss, diesmal zwischen dem Ich und der alten Geliebten, würde eine komplette Befreiung des Herzens bedeuten, das nun, zusammen mit der Seele, sich der neuen Liebe hingeben kann Das Bündnis Herz-Seele, zusammen mit der scheinbaren Freiwilligkeit der Flucht (und der Unfreiwilligkeit des antico amore), könnte implizit bedeuten, dass die zweite Liebe nicht nur bevorzugt, sondern vom Dichter vielleicht sogar als moralisch erhabener betrachtet wird Ein anderes Sonett, das nicht in die definitive Ausgabe der Rime aufgenommen wurde - wahrscheinlich, weil etwas zu gewagt -, inszeniert eindeutig einen Damenkuss («Di nettare amoroso ebro la mente»): Tasso hatte ein solches Bild also schon thematisiert, wir würden uns nicht vor einem unicum befinden Doch wie gesagt, ist diese Deutung hauptsächlich veranlasst durch die Position des vorliegenden Textes innerhalb der Rime, die eine späte (Re) Organisation der lyrischen Produktion des Dichters darstellt Das Sonett war Italienisch_81.indb 83 02.07.19 14: 05 8 4 Torquato Tasso: Dal vostro sen qual fuggitivo audace Philip Stockbrugger schon einige Jahre vorher konzipiert und verfasst worden, war vor 1591 dementsprechend nicht in diesem Kontext les- und deutbar Wenn man sich also nur dem Text widmet, muss man zugeben, dass nicht direkt von due amori die Rede ist, sondern von zwei fiori (Blumen), zwischen denen das Herz des Dichters, die ape (Biene), verstrickt bleibt Die ‘absolute’ Interpretation des Textes, die also, die vom Canzoniere-Kontext gelöst ist, wirkt viel einfacher und deutlicher Der neue (novo) Kuss ist kein Damenkuss, sondern ein neuer Kuss, zwischen der neuen Blume und dem Ich selbst Das Herz ist zwischen drei Personen zerstückelt, und nichts Lieberes will das Ich, als sich selbst im novo fiore zu verlieren Es handelt sich also nicht um eine perfekte trianguläre Inszenierung wie im schon erwähnten, extravaganten Sonett «Di nettare amoroso ebro la mente» - in dem das Dreieck mit den beiden küssenden Damen geschlossen wird -, sondern eher um ein unvollkommenes triangolo, das sich nur mittels des zweimal geküssten Ichs realisiert, und nicht im höfischen ‘Kurzschluss’ des bacio zwischen zwei Damen Diese zweite Interpretation hat den großen Vorteil, für alle Elemente des Sonetts eine passende Rolle in der Allegorie zu finden, doch kann man trotzdem nicht von einer abschließend befriedigenden Deutung reden Warum hätte Tasso die zwei Blumen erwähnen sollen, noch bevor der neue Kuss - also die zweite Liebe - seinen ersten Auftritt hat? Die Position, an der die zwei fiori erwähnt werden, könnte sogar zu der Annahme führen, dass diese lediglich Attribute der donna seien Wäre das aber wiederum der Fall, so würde die Struktur der Allegorie nicht mehr den gesamten Text umfassen, denn das Herz - die Biene - wäre nicht zwischen zwei Lieben geteilt, sondern wünscht nur mittels eines dritten Kusses die Seele zu verlassen (zu sterben): eindeutig eine lectio facilior - von triangulärer Beziehung wäre somit keine Rede mehr, Ich und Dame wären die einzigen personaggi -, doch auf Kosten der Deutbarkeit der Verse 7 und 8 Grundsätzlicher noch befänden wir uns in diesem Falle in der paradoxen Situation, dass das Ich sich nur mittels dreier Küsse von einer nicht (mehr) gewünschten Liebe befreien könnte Keine der erwähnten Deutungen dieses Sonetts ist völlig kohärent Die Rubrik der Osanna-Ausgabe lautet ancora sul soggetto de’ baci, doch die Gedichte davor erwähnen nur die doppelte Leidenschaft des Ichs, und Küsse werden keineswegs thematisiert Der Kommentar zum Gedicht gibt uns einen vagen Hinweis zum Thema (racconta la divisione del cuore, prima in due parti, e poi due altre con un nuovo bacio, in guisa, che l’ultima, e la minore ritenuta da l’antico amore restò ne la usata prigione), doch abermals steht nur der antico amore fest, von einem novo amore ist nirgends explizit die Rede Italienisch_81.indb 84 02.07.19 14: 05 85 Philip Stockbrugger Torquato Tasso: Dal vostro sen qual fuggitivo audace Man mag im petrarkistischen Rahmen der Dichtung Tassos über die Kuss-Thematik erstaunt sein, doch vergäße man dabei, dass es sich in diesem Falle, wie gesagt, um eine sinnliche Liebe handelt: Tasso widmet einzelne Gedichte seiner Rime amorose nicht nur seiner eigenen Laura, sondern auch anderen Damen, eine Vielfalt der Leidenschaften ist also durchaus möglich (Dante mit seinen Rime könnte als illustres Beispiel dienen) Antico kann natürlich auch eine doppelte Deutung zulassen: Man könnte es als ‘alt’, im Sinne einer schon verwelkten Liebe gegenüber einer neuen verstehen, aber auch ein neutraleres ‘schon lange wirkende’ wäre durchaus vertretbar Der dritte - erhoffte - Kuss ist ein gewünschter Abschied - in dem das Ich sein eigenes Herz wiedererobert und mit der Seele endlich wieder in Verbindung bringt (in un sol loco), natürlich mit der Wehmut einer schwindenden, wenn auch ethisch inakzeptablen Leidenschaft, was auch das letzte vergilianische Bild äußerst pathetisch ausdrückt Übersetzung und Kommentar: Philip Stockbrugger Bibliographischer Hinweis: Torquato Tasso: Rime Prima Parte - Tomo II: Rime d’amore con l’esposizione dello stesso Autore (secondo la stampa di Mantova, Osanna, 1591), Ed critica a cura di Vania de Maldé, Edizione Nazionale delle Opere di Torquato Tasso IV, I, 2, Alessandria: Edizioni dell’Orso 2016 vertrieb@onde.de Onde e.V. - Italien erleben onde_ev www.onde.de Jetzt bestellen onde Das italienische Kulturmagazin Italien ohne Klischees Italienisch_81.indb 85 02.07.19 14: 05
