Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2019-0008
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2019
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttKatharina List: Pensiero, azione, parola. Ethik und Ästhetik bei Carlo Emilio Gadda. Frankfurt/M: Klostermann 2017 (= Dissertation Bonn 2016), 245 Seiten, € 69,00
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2019
Martha Kleinhans
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9 8 Buchbesprechung Katharina List: Pensiero, azione, parola. Ethik und Ästhetik bei Carlo Emilio Gadda. Frankfurt/ M.: Klostermann 2017 (= Dissertation Bonn 2016), 245 Seiten, € 69,00 Eine Notiz aus Carlo Emilio Gaddas Cahiers d’Etudes (SVP, S 547) mag Katharina List zur Wahl ihrer dreigliedrigen Titelfigur bewogen haben: «Per atti e per parole è la vita degli uomini Quanto ai pensieri che essi combinano, il più delle volte sono soltanto parole .» (S 43, Hervorhebungen M Kl .) In ihrer anspruchsvollen und scharfsinnigen Dissertation wendet sich Katharina List weniger dem Erzähler und Stilisten Carlo Emilio Gadda zu als vielmehr dessen Vorstellungen über die Zusammenhänge zwischen Ethik und Ästhetik . 1 Diese Beziehungen lassen sich, so List, besonders gut an seinen Äußerungen über Denken, Handeln und Sprechen bzw Sprache festmachen Als Untersuchungskorpus dienen Reflexionen des Autors in philosophischen und poetologischen Essays, in Stoffsammlungen und Erzählungen, im Kriegstagebuch, in der Meditazione Milanese und in den Romanen La Cognizione del Dolore und Quer pasticciaccio brutto de via Merulana (S 184-217) Katharina List rechnet mit einem Leserkreis, der bereits mit Leben und Werk des Mailänder scrittore-ingegnere Carlo Emilio Gadda (1893-1973) vertraut ist, wie ihr Verzicht auf einführende Bemerkungen zu Autor und Werk nahelegt Auch die einschlägige Forschung, etwa Gian Carlo Roscionis wegweisende frühe Gadda-Studie, setzt sie als bekannt voraus . 2 Nicht immer ist völlig klar, was List im Einzelnen der Gaddaforschung verdankt Ein Personenregister, ein Siglenverzeichnis und ein ausführliches Literaturverzeichnis ergänzen den Band Die Vf .in will keine erschöpfende Interpretation einzelner Werke bieten, sondern - recht ambitioniert - «eine von den Motiven und Themen getragene Argumentation, für die Gaddas Gesamtwerk berücksichtigt wird» (S 14) Erfreulicherweise schenkt List ihre Aufmerksamkeit auch den poetologischen Reflexionen der Meditazione milanese oder dem Racconto italiano di ignoto del novecento, einer Mischung aus Überlegungen und Struktur- 1 Gadda verwendet, so scheint es, die Begriffe ‘Poetik’ und ‘Ästhetik’ meist synonym (vgl List 115, Anm 266) 2 Vgl Gian Carlo Roscioni: La disarmonia prestabilita, Torino: Einaudi 1975 Roscioni wird 15x in Fußnoten genannt, allerdings bezieht sich die Vf .in besonders auf Roscionis Ausgabe der Meditazione milanese, die sie eingehend studiert hat DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 0 0 8 Italienisch_81.indb 98 02.07.19 14: 05 99 Buchbesprechung skizzen für einen Mailandroman und wenigen ausgearbeiteten narrativen Passagen Allerdings steuern beide Hauptkapitel auf die beiden großen Gadda-Romane zu: Teil 1 («Pensiero, azione: Entwicklungen einer Handlungstheorie») auf La cognizione del dolore (S 77-101), Teil 2 («Parola: eine ‘empirische Ästhetik’ als Teil der Ethik») auf Quer Pasticciaccio brutto de via Merulana In ihrer Gliederung bricht List die Dreierfigur des Dissertationstitels auf, wenn sie sich im Teil 1 auf pensiero und azione konzentriert und im Teil 2 dann parola in den Mittelpunkt stellt . Sie subsumiert darunter ein Mehrfaches: Gaddas Reflexionen zur Sprache, seine Poetik und seine Ästhetik der Aufrichtigkeit, seine Kritik falschen, demagogischen Sprachgebrauchs und schließlich auch einzelne schriftstellerische Realisierungen seiner Überzeugungen . 3 Gaddas Idealvorstellungen von einem Menschen, bei dem Denken und Handeln übereinstimmen, werden mit Abweichungen von diesem Ideal sowie internen Widersprüchen verglichen Die Dissertation wertet Gaddas diesbezügliche, über sein ganzes Werk verstreute Äußerungen mit großem Feingefühl für seine komplizierten Formulierungen und Sprachbilder aus . 4 Lists Vorgehen, lediglich «signifikante Ausschnitte» (S 14) zu analysieren, überfordert möglicherweise manche Leser Ihr beständiges Springen zwischen den Figuren und Texten verhindert eine angemessene Wertschätzung des Textganzen Dadurch wird aber auch evident, wie wiederum Gadda erstaunliche Bezüge zwischen den disparatesten Texten im Hinblick auf seine eigenen Projekte herstellt . 5 Von zentraler Bedeutung für List ist meiner Meinung nach Gaddas Beschäftigung mit Shakespeares Hamlet-Figur, wie aus 3 List interessiert sich kaum für literaturgeschichtliche Traditionslinien Ein Hinweis auf Umberto Sabas sincerità-Credo unterbleibt 4 Sehr textnah erklärt List etwa den Ausdruck raccogliere i trefoli (S 186) Ein Verweis auf Terzolis genaue Kommentierung der Passage (vgl Maria Antonietta Terzoli: Commento a «Quer Pasticciaccio brutto de Via Merulana di Carlo Emilio Gadda», con la collaborazione di Vincenzo Vitale, Roma: Carocci 2015, S 548-551) wäre hier angebracht gewesen Möglicherweise war die Dissertation bei Erscheinen des Kommentars allerdings weitgehend abgeschlossen, denn erstaunlicherweise bezieht sich List nur selten bei ihrer Behandlung von Quer Pasticcaccio darauf, etwa bezüglich der Traumsequenz oder ikonographischer Exempla Emilio Manzottis kommentierte Ausgabe der Cognizione (Edizione critica commentata con un’appendice di frammenti inediti Hrsg v E Manzotti, Torino: Einaudi 1987 [1970]) wird häufiger in den Anmerkungen genannt Die Dissertation von Julius Goldmann, Gaddas Mailand. Ein Beitrag zur Großstadtliteratur, Heidelberg: Winter 2018, erschien erst nach Fertigstellung und konnte deshalb noch keine Erwähnung finden 5 Dies deckt sich mit den Ergebnissen meiner methodisch anders vorgehenden Analysen Vgl Martha Kleinhans: Satura und Pasticcio. Formen und Funktionen der Bildlichkeit im Werk Carlo Emilio Gaddas, Tübingen: Niemeyer 2005, Kap 3: «Metasprachliche Bilder: Über das eigene Schreiben und das Schreiben der Anderen», S 76 ff Italienisch_81.indb 99 02.07.19 14: 05 10 0 Buchbesprechung seinen Arbeitsheften aus den Jahren 1924/ 5, der Meditazione milanese, seinem Kriegstagebuch und einer Rezension einer Shakespeareinszenierung des Jahres 1952 hervorgeht (vgl List, S 17-25 und 90-94 und die dort in den Anmerkungen genannten Literaturangaben) Für Gadda steht Hamlet - Paradigma des Menschen allgemein - vor der Aufgabe, nach genauer Reflexion die Theorie entschieden in die Praxis umzusetzen Die Vf .in zeigt überzeugend, wie Gadda in der Meditazione milanese diesen Gedanken systematisch ausfeilt: «Der Mensch als ein ins Weltnetz eingebundenes ‘System’ […] ist dazu verpflichtet, aktiv zu werden» (S 21) Sehr schön erklärt sie Gaddas den Leser leicht in die Irre führenden Necessitas-Begriff oder sein rekurrentes Syntagma des «mettere in ordine il mondo» (S . 23) . Die Praxis des Handelns bindet Gadda stets rück an die gnoseologische Reflexion und die Ethik Von der Hamlet-Figur zieht List eine Linie zu Gaddas Leopardi-Rezeption: Bei ihm stimmen für den Mailänder Theorie und Praxis überein Nach List leitet Gadda daraus die «Existenz eines moralischen Bewusstseins bei der Menschheit insgesamt» ab (S 24) Im Bild des Fadens (filo dell’atto, degli atti), der vom Spinnrocken des pensiero hinabgleitet, zeichnet Gadda überraschend positiv die projektorientierte Arbeit des Ingenieurs In der Faden-Spinnrocken-Metapher verbildlicht Gadda nach List seine dynamische Konzeption von Glück Felicità besteht für ihn in der Harmonisierung von atti und pensieri, sie sei allerdings nie ganz zu erreichen Glück ist für ihn mit «Selbstvergessenheit» und vollständiger Identifikation mit der eigenen Aufgabe verbunden (S 29), dannunzianische Helden werden verurteilt Immer wieder konstatiert er im Krieg bei den Befehlshabern Defizite in Denken und Handeln Die Dichotomie von volitivi und abulici prägt eine Vielzahl von Texten Gaddas Erfreulicherweise bindet die Vf .in den bislang kaum beachteten Racconto italiano di ignoto del novecento in ihre Argumentation ein (Kap 1 .4) Für einen Romanwettbewerb des Verlags Mondadori hatte Gadda 1924 den waghalsigen Plan gefasst, innerhalb von vier Monaten einen Gegenwartsroman über die italienische Gesellschaft zu schreiben, in dem er persönliche Erlebnisse verarbeiten wollte Den zeitlichen Schwerpunkt sollte vor allem die Zeit kurz nach dem 1 Weltkrieg bilden List sieht die aufgrund der persönlichen Kriegstraumata problematisch gewordene Verhältnisbestimmung von Denken und Handeln, von Worten und Taten in diesem Romanprojekt gespiegelt Als Grund für die hohen Verluste an Menschenleben und die Niederlagen der italienischen Truppen entlarvt Gadda die Sprache der Befehlshaber und offiziellen Kriegsbulletins, kurz die Rhetorik als überaus gefährlich List verschweigt nicht Inkohärenzen und Brüche in der Modellierung der eher schematischen und antagonistisch angelegten Figuren, etwa des ipervolitivo Grifonetto Lampugnani und des abulico Gerolamo Lehrer Italienisch_81.indb 100 02.07.19 14: 05 101 Buchbesprechung Im Rückgriff auf Guido Lucchini 6 konstatiert sie einen Primat der azione vor dem pensiero für Gaddas Aufenthalt in Argentinien (S 46) Gadda glaubte zu diesem Zeitpunkt noch an die vermeintliche Handlungskraft Mussolinis In den Erzählskizzen variieren jedoch die politischen Positionen der einzelnen Figuren und stimmen nicht unbedingt mit der damaligen Einstellung des Autors überein So wird in einer Passage der Faschismus negativ dargestellt, ohne dass der Erzähler relativierend eingreifen würde, oder Gadda belässt es bei der erlebten Rede des Sozialisten Carletto, obgleich er sich selbst einmal als antisocialista ereditario bezeichnet hatte Präzis differenziert List zwischen Gadda als Person, als Briefschreiber usw und dem, was er seine Figuren denken und sprechen lässt Der Leser, der Gaddas Racconto italiano nicht kennt, muss sich allerdings mühsam aus verstreuten Bemerkungen den Handlungsverlauf des Romanprojekts rekonstruieren . 7 Exemplarisch analysiert List in den Kapiteln 1 .4 und 1 .5 Willensstarke und Willensschwache, handelnde und passive Figuren in Gaddas Erzählwerk, wie zum Beispiel in seinen Disegni milanesi, wobei sie die ausgewählten Passagen immer wieder zu seinen Aussagen in der Meditazione milanese in Bezug setzt Die hier fokussierte Dichotomie hat auch für später analysierte Figuren Geltung In den Disegni milanesi sieht List keinerlei Sympathie mehr für die ipervolitivi und volitivi (S 57) Bei den Willensgelähmten bzw Willensschwachen jedoch, so ihr Befund, ist eher eine Entwicklung gegeben Deren Willenslähmung ist oft als nachvollziehbare Reaktion auf traumatische Erlebnisse zu erkennen Lists Einschätzung (S 76), Gaddas Aufzeichnungen der Meditazione milanese seien diesbezüglich optimistischer, zwanzig Jahre später würde Gadda die eigenen Handlungsoptionen resignativ einschätzen, müssten, so meine ich, noch genauer unter Heranziehung der komplizierten Entstehungs- und Publikationsgeschichte überprüft werden . 8 Kapitel 1 .5 konzentriert sich auf die Hauptfigur des Gonzalo, da er für List den «vielschichtigsten Ausdruck» von Gaddas «Modellierungsgefüg[e] zwischen Denken und Handeln, Wollen und Können» (S 77) darstellt Überraschenderweise spart List in ihrer Analyse die Figur des Pedro Mahagones- Palumbo als Gegenfigur zum abulischen Gonzalo völlig aus Nicht ohne Grund wird die Geschichte dieses Betrügers zu Beginn des Romans erzählt, lange bevor überhaupt von Gonzalo die Rede ist Widersprüche und Unstim- 6 Vgl Guido Lucchini: «Appunti sul ‘Quaderno di Buenos Aires’: tra le pagine di cronaca e di ideologia», in Quaderni dell’Ingegnere 2, n .s ., 2011 S 174 7 Hier ist Cristina Savettieris Beitrag, «Ventennio di Gadda» sehr viel konziser und informativer Vgl Cristina Savettieri «Il Ventennio di Gadda», in: Romano Luperini/ Pietro Cataldi (Hrsg .), Scrittori tra fascismo e antifascismo, Pisa: Pacini 2009, S 1 - 33 8 Eine Neubewertung setzt meiner Meinung nach bereits mit dem Trauma von Caporetto und dem Tod des Bruders ein Italienisch_81.indb 101 02.07.19 14: 05 102 Buchbesprechung migkeiten im Gonzalo-Porträt, dessen Bild langsam aus verschiedenen Perspektiven für den Leser ersteht, so konstatiert List zu Recht, sind vom Autor bewusst eingesetzte Strategien Gonzalos Problem besteht in der «Unfähigkeit, seinen Willen wirksam mit der Realität in Verbindung zu setzen» (S 80) Wenn Gadda explizit Gonzalos inettitudine hervorhebt (S 81), hätte man einen Verweis auf die italienische Tradition der inetto-Figur seit Svevo erwartet List konzentriert sich ganz auf den Kriegsheimkehrer Gonzalo, den «reduce senza endecasillabi» (RR I, S . 682), dem hohles Pathos verhasst ist Erklärungsversuche für Gonzalos male oscuro bleiben unbefriedigend und widersprüchlich, wie die Kapitelüberschrift zu Kap 1 .5 .1, «Illusionäre Aitiologien», bereits andeutet . Der autistisch anmutende Gonzalo liest lieber Platon oder Kant als aktiv zu handeln . In einem hamletischen Dilemma begriffen, scheitert seine Realitätsflucht Mit seiner Rebellion gegen die von ihm verurteilte Realität folgt Gonzalo kompromisslos seinen strengen Moralvorstellungen (S 99) bis zur Selbstnegierung Indem er sich zur «Kenntnis des Schmerzes» bekennt, wird «alles von ihm aufgezehrt, auch er selbst» (S 101) Teil 2 von Katharina Lists Dissertation (S 102 ff .), «Parola: eine ‘empirische Ästhetik’ als Teil der Ethik», konzentriert sich auf Gaddas Überlegungen zum Status von Worten Die Kapitelüberschrift bezieht sich auf eine Formulierung in Gaddas Essay Meditazione breve circa il dire e il fare aus dem Jahre 1936 Dieser recht kraus anmutende Essay hätte meiner Ansicht nach eine detaillierte Gesamtanalyse verdient Hier äußert Gadda zu Beginn seinen Plan, eine Poetik niederzuschreiben: «il grumo centrale di una Estetica empirica, da praticone, e frettolosamente scritta» (SGF I, S . 444) . 9 Der von der demagogischen Macht der Sprache überzeugte Schriftsteller verurteilt den Gebrauch von Sprache, wenn diese etwa den Tod von Soldaten aufgrund «bourgeoiser» Plaudereien zur Folge hat (S 112) Trotz des Scheiterns, seine poetologischen Vorstellungen zu systematisieren, prägen moralische Grundsätze Gaddas Essays Letztlich ist Gadda kein Theoretiker, sondern eher ein praxisorientierter Techniker Auch seine Poetik bzw Ethik soll von der Realität ausgehen und an sie rückgebunden sein (List nennt dies «horizontale Dimension», S 116) Sie kalkuliert auch Entwicklungen und Veränderungen mit ein (Lists «vertikale Dimension») Der genannten horizontalen und vertikalen Dimension geht List dann weiter nach Gadda möchte «Zementierungen von Ausdrucks- und Denkweisen aufbrechen» (S . 119), Sprache soll aus der Zerstörung Neues 9 List lässt hier offen, ob sich Gadda hiermit auf einen konkreten Text, etwa die aristotelische Nikomachische Ethik oder etwa Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, bezieht Italienisch_81.indb 102 02.07.19 14: 05 103 Buchbesprechung konstruieren . Nur ein in ästhetischer Hinsicht ehrlicher Schriftsteller kann für Gadda auch in moralischer Hinsicht ehrlich sein Sachkundig erläutert List in ihrer Übersicht sprachlich-stilistische Besonderheiten, die für den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken besonders bedeutsam erscheinen, und greift dabei auf die einschlägige Forschungsliteratur zurück: spastischer Gebrauch der Sprache, ironische Deformierung der modi di dire, Gaddas Vorliebe für Anführungszeichen, Doppelpunkte, Auslassungszeichen, metasprachliche Einschübe oder Episoden, Grammatikfehler, Auslassungen, seine Strategie der Andeutungen, seine systematische Verzerrung von Namen, das Verheddern von Figuren in Grammatik und Buchstaben, Distanznahme durch groteske, ironische Passagen, Polemik, Stilmischung und Pastiche, ‘Dynamisierte Beschreibungen’ (ein von Federico Bertoni übernommener Begriff 10 ), überbordende Erklärungen und Aufzählungen (von Sabine Mainberger bereits untersucht und hier referiert 11 ), methodisch eingesetzter Polyperspektivismus, im Bereich der Lexik Einsatz des gesamten zur Verfügung stehenden Sprachmaterials, verschiedenster Register, besonders der diatopischen Varietäten Alle diese Strategien dienen, so List Gadda referierend, dem Rückbezug auf die Wirklichkeit, bringen «Bewegung in das ‘System fixer Ideen’» (S 130) Die «negative Stoßrichtung» dieser Strategien werde von Gadda als «ethisch und erkenntnisfördernd deklariert» (S 134) Stärken und Schwächen von Lists Verfahren, auf Werkanalysen zu verzichten und lediglich eine Vielzahl von Einzelpassagen im Hinblick auf ihre Fragestellung zu interpretieren, offenbaren sich besonders in den Kapiteln, in denen sie untersucht, wie Gadda Autoren und literarische Textsorten bewertet, die auf die Realität referieren, beispielsweise Utopien, Biographien, Geschichtswerke oder propagandistische Texte Untersuchungsobjekt sind hier weniger bekannte Schriften Gaddas, wie zum Beispiel seine Rezension einer D’Annunzio-Biographie, in der er den Biographen gegenüber Kritikern in Schutz nimmt und für die Wahrheit der Biographie eintritt . 12 Kritische Berücksichtigung finden ferner 10 Vgl Federico Bertoni: La verità sospetta. Gadda e l’invenzione della realtà, Torino: Einaudi 2001, S 165 11 Vgl Sabine Mainberger: «Befestigte Instabilität Zu Gaddas ‘Barock’», in: E Goebel/ E Lämmert (Hrsg .), Für viele stehen, indem man für sich steht. Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne, Berlin: Akademie Verlag 2004, S 160-181, hier S 156 12 List verschweigt hier den Namen des kritisierten Biographen Tom Antongini Vgl Dante Isellas Erläuterungen zu Grandezza e biografia in SGF I, S 1347 Italienisch_81.indb 103 02.07.19 14: 05 10 4 Buchbesprechung die Essays Tendo al mio fine und Come lavoro, 13 Rezensionen zu Leopardis La battaglia dei topi e delle rane, zu Giuseppe Bertos Roman Il male oscuro, die Entgegnung auf Moravias Verriss von Manzonis Promessi sposi, die sog Apologia manzoniana, oder Gaddas Pseudodialog zwischen Autor und Herausgeber über das Thema der baroccaggine, 14 neben Verweisen auf die Meditazione milanese, aber auch auf Gaddas Narrativik, wie San Giorgio in casa Brocchi Die Art und Weise, wie Gadda seine Figuren bewertet, lässt sich nach List auch auf sein Verhältnis zur Realität übertragen Er grenze sich zu verschiedenen Autoren, Strömungen oder Textsorten ab, weil sie seinen Vorstellungen nicht entsprechen Aus dieser Abgrenzung könne man dann auf seine Forderung nach «Hinwendung zur Realität in ihrer ganzen Komplexität» (S 152) schließen Gadda ist von der entscheidenden Prägung des Schriftstellers durch das Milieu überzeugt Deshalb befürwortet er die Aufnahme von Dialekten und Fachsprachen in die Belletristik, sieht Sprache «als Spiegel des Seins und des Denkens» (S 160) an Ästhetische Aufrichtigkeit ist für ihn Basis für moralische Aufrichtigkeit (S 166) In Kap 2 .5 («Eine ‘empirische Ästhetik’: die vertikale Dimension») liest List bereits zuvor angesprochene Essays nun unter der Perspektive der Zeitgebundenheit und der Interdependenz von Sprachentwicklung und Urteilsproblematik . 15 Im Adalgisa-Band beispielsweise betont Gadda in Anmerkungen mit Hilfe präziser Zeitangaben die enge Verbindung zwischen Worten und geschichtlichem Moment Im Kapitel 2 .6 zu Quer pasticciaccio de via Merulana (S 184-217) ordnet List ihre Ausführungen der Leitfrage nach der Beziehung zwischen Sprechen und Handeln unter In seiner Figurenmodellierung und Mytheninszenierung demonstriere der Autor, wie die lügnerische Propaganda und Legendenbildung im faschistischen Regime funktioniert Kommissar Ingravallo - als Sprachrohr von Gaddas Weltanschauung - wird im Rückgriff auf zuvor erbrachte Ergebnisse analysiert Gern entnimmt Gadda die für Don Ciccios Charakterisierung relevanten Bilder der Fauna, hebt auf dessen tierhaften Instinkt ab (S 193-4) Ingravallo ist keineswegs nur ein von der Ratio 13 Vgl zu den Essays Tendo al mio fine und Come lavoro das unterschiedliche Vorgehen von List, S 137-139 und von Kleinhans, S 85-96 und S 113-129 Im Gegensatz zu Lists punktuellen Textbelegen zur Untermauerung ihrer These von der Interdependenz von pensiero, azione und parola untersuchte ich, mittels welcher Verfahren Gadda Bildlichkeit erzeugt, indem ich den jeweils ausgewählten Essay als organisches Ganzes vorstellte und analysierte 14 Vgl dazu Kleinhans, S 178 - 193 und S 129 - 132 15 List übernimmt ihr Titelsyntagma zu 2 .5 .3, «Die Literatur als Epitome der Erkenntnis», aus zwei Gadda-Texten Epitome mit ‘Essenz’ wiederzugeben (S 180) erscheint mir wenig passend, mag aber von Gadda selbst herrühren, der sich bisweilen in seiner Vorliebe für Fremdwörter vergreift Italienisch_81.indb 104 02.07.19 14: 05 105 Buchbesprechung gelenkter erfolgreicher Denker, sondern schwankt häufig zwischen Vernunft und Emotionen An ihm zeige Gadda die Schwierigkeiten auf, überhaupt zu Erkenntnis zu gelangen Die insgesamt positive Figur distanziere sich in ihrem Schweigen von der offiziellen faschistischen Rhetorik (S 202) Ingravallos Theorie von der Polykausalität nimmt die Überlegungen des philosophierenden Elektroingenieurs auf, wie er sie in der Meditazione milanese viele Jahre zuvor skizziert hatte Der Zufall unterminiert das Kausalprinzip Das Phänomen der Zeit wird im Kontext des Malum und der Hauptschauplätze Urbs und campagna erörtert Außergewöhnlich viele Zeitmarker finden sich, so Lists Befund, bei der Darstellung des faschistischen Roms, obgleich Gadda den Faschismus eher als übergeschichtliches Phänomen betrachtet Gadda geht es vor allem um eine Analyse des Ursprungs des Malum, das für ihn in der narzisstischen Natur des Menschen begründet liegt Im Schlussresümee führt List nochmals die beiden Zentralfiguren Gonzalo und Ingravallo im Umgang mit Wahrheit und Totalität zusammen und kehrt zu Gaddas eingangs beleuchtetem Hamlet-Ideal zurück Im Gegensatz zu Ingravallo bleibe bei Gonzalo Vieles unbewältigt, liege von Seiten des Autors eine «intentionale Widersprüchlichkeit» (S 224) vor Nach List erfahren Probleme in Gaddas Texten keine Lösung, sondern werden dargestellt, indem Sprache und Stil destabilisierend agieren Katharina Lists Urteil über Gadda fällt letztlich positiv aus: Die Widersprüche, die sich bei seinen Figuren und seinem sperrigen Stil auftun, erweisen sich als fruchtbar . Gadda strebt nach Idealen, obgleich er weiß, dass sie unerreichbar sind «Ästhetische Ehrlichkeit» bedeutet für ihn, die Diskrepanzen zwischen ethischem Ideal und der Realität nicht zu glätten, sondern sie «gerade als außerordentlich produktiven Motor des Schreibens beizubehalten» (S 226) Katharina List schöpft aus einer überreichen Forschungsliteratur, ihr Verdienst ist es, die Einzelbefunde konsequent zu einer schlüssigen Argumentation zusammengeführt und sie jeweils an treffsicher ausgewählten und präzis interpretierten Textstellen belegt zu haben Eine kluge Studie, die sich dezidiert vom Autor-Ich und dem Erzählen von Inhalten abwendet, um Gaddas philosophische Überzeugungen aus seinen Texten heraus neu ans Licht zu bringen Martha Kleinhans RR I = Romanzi e Racconti I. Ed R Rodondi, G Lucchini, E Manzotti Milano: Garzanti 2007 SVP = Scritti vari e postumi Ed A Silvestri, et al Milano: Garzanti 2009 SGF 1 = Saggi giornali favole e altri scritti I Ed L Orlando, C Martignoni, D Isella Milano: Garzanti 2008 Italienisch_81.indb 105 02.07.19 14: 05
