eJournals Italienisch 41/82

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2019-0017
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2019
4182 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Venezia 2019. Seriell, katastrophal oder medial?

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2019
Marita Liebermann
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1 Venezia 2019. Seriell, katastrophal oder medial? Bis zu den Waden im Wasser steht die gummibestiefelte Frau vor dem Haus auf dem überfluteten Platz - und poliert eines der Namensschilder neben der Eingangstür, bis es metallisch-golden in der Sonne glänzt. Die Szene, vor Kurzem auf dem Campiello San Tomà unweit des Deutschen Studienzentrums in Venedig zu beobachten, kann als emblematisch für die letzten Wochen gelten. Nicht nur mit der mehr oder weniger ‘normalen’ Acqua alta, die derzeit Stände zwischen 1,10-1,40 m erreicht, gehen die Bewohner/ innen der Stadt gefasst um. Selbst nach der verheerenden Nacht zum 13. November, in der das Hochwasser auf den Pegel von 1,87 m angestiegen war, machten sich die Menschen, kaum war es abgezogen, ruhig an die Aufräumarbeiten. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Jener Dienstag war entsetzlich. Der immer höher anschwellende Ton der Alarmsirene. Das Hochwasser, das teils wie ein reißender Fluss durch die Straßen brach, sich durch Pflastersteine, Böden und Mauern drückte und dabei Höfe, Gassen nicht anders als die Erdgeschosse der Häuser und Palazzi oder die niedrig gelegenen Kirchenräume wie Wannen volllaufen ließ. Die Wucht der Flut hat Fenster zum Bersten gebracht, einige der wenigen städtischen Bäume entwurzelt, Kaimauern eingerissen, Bootsanlegestellen versenkt, Vaporetti ineinander geschoben und an Land geschleudert. Allenfalls schwach tröstet, dass Artefakte offenbar relativ wenig Schaden genommen haben, sind die Zerstörung der Bausubstanz wie die Verluste im Privatbereich doch schlimm genug. Wie die versprochenen Mittel des italienischen Staates zum Einsatz kommen, bleibt abzuwarten. Vor allem aber war und ist der (inter)nationale politische und mediale Diskurs, der umstandslos die ‚Katastrophe‘ und die ‚Apokalypse‘ herbeizitiert (hat), entschieden keine Hilfe. Auf (teils schlecht unterrichteter) Storyjagd die einen, im (allenthalben auf Dauer gestellten) Wahlkampfmodus die anderen, scheinen die öffentlich zu vernehmenden Stimmen eher auf eine zusätzliche Emotionalisierung der Aufgeregten zu zielen als auf eine adäquate Analyse der Lage. Denn würde etwas von der Energie, die für die Apokalypsen-Rhetorik aufgewendet wird, in eine Erhebung des Sachstands umgeleitet, müsste man wohl eher in Begriffen der wenig sensationellen, dafür aber umso ernsteren seriellen Wiederholung denken, als affektiv wirksam eine eventhafte ‘Katastrophe’ zu mediatisieren. Gerade der immer wieder angestellte Vergleich mit dem Jahr 1966, in dem bei einem Höchststand von 1,94 m die Stadt verwüstet wurde, müsste die Frage nach der Sprachverwendung aufwerfen. Im allgemeinen Bewusstsein ist das Unglück von 1966 als Naturkatastrophe abgelegt, und dem Wort ‘Katastrophe’ entsprechend, glaubte man, so etwas würde sich nie wiederholen. Dass diese Vorstellung herrschte (erkennbar schon daran, dass die Alarmsirene keinen höheren Stand als ‘über 1,40 m’ signalisieren kann), hat dazu beigetragen, dass 2019 möglich wurde. Denn die Umstände der damaligen Flut bestanden fort, wurden durch menschlichen Eingriff noch prekärer. Zu den meteorologischen Faktoren, die bei solchen Hochwasserständen zusammenkommen - der gezeitenabhängigen Flut, dem Scirocco, Vollmond und Tiefdruck - addieren sich der allgemein fortgesetzte Anstieg der Meeresspiegel und die Aushebung von tiefen Kanälen für Industrie- und Kreuzfahrtschiffverkehr, durch die bei ungünstiger Wetterlage so große Wassermengen in die Lagune gepresst werden können wie nie zuvor. Eine Katastrophe, in dem Sinn, dass danach nichts war wie vorher, stellte mithin auch die Überflutung von 1966 nicht dar. Im Gegenteil ging die Anpassung der Lagune an das Profitstreben weiter. Dieses Verhältnis muss für die Rettung Venedigs umgekehrt werden. Dafür braucht die alte Adriastadt wissenschaftlichen Sachverstand, politischen Willen und mediale Aufmerksamkeit. Aber sicher keine Politik und keine Medien mehr, die noch ihre Not für die jeweils eigenen Zwecke ausbeuten. Marita Liebermann DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 017 Italienisch_82.indb 1 20.01.20 15: 36