eJournals Italienisch 41/82

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2019-0020
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2019
4182 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

«Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs?

121
2019
Hermann H. Wetzel
Dapprima il titolo Allegria (di naufragi) sembra ‘strano’ per un poema di guerra. Ma Ungaretti trasforma l’esperienza biografica individuale in un testo che fa esteticamente sentire al lettore la reazione (inattesa) all’esperienza di naufragi esistenziali (non soltanto alla Prima guerra mondiale) tramite la scelta delle immagini e la costruzione ritmica e sonora del suo poema. L’analisi delle varianti e delle differenti traduzioni in tedesco offrono preziose indicazioni per afferrare la specificità delle scelte poetiche.
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19 H E R M A N N H . W E T Z E L Deutsche Übersetzungen moderner italienischer Lyrik III: «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Zu Ungarettis L’Allegria 1 Wenn man je den Soldatenfriedhof für die an der Isonzo-Front Gefallenen in Friaul nordwestlich von Triest oder denjenigen bei Verdun oder auch einen beliebigen anderen besucht hat, erscheint einem der Titel L’Allegria für eine Sammlung von Gedichten Ungarettis, die überwiegend während des Ersten Weltkriegs geschrieben wurden, zumindest eigen-, wenn nicht abartig. Die Gebeine von mehreren Hunderttausend Gefallenen in Redipuglia oder im Beinhaus von Verdun lassen unser Blut in den Adern eher stocken als freudig erregt pulsieren. Auch die Tatsache, dass der Titel ursprünglich Allegria di Naufragi (Firenze: Vallecchi 1919) hieß, macht ihn nicht verständlicher. Denn was soll am Scheitern der Schiffbrüchigen heiter sein, wenn wir an das berühmte Floß der Medusa oder an die heutigen Seelenverkäufer vor Lampedusa denken? Ungaretti selbst räumt gleich zu Beginn seines Selbstkommentars zu L’Allegria in Vita d’un uomo (Ein Menschenleben) ein, dass der Begriff allegria für fremde Ohren («dicono») «befremdlich» («strano»; Ungaretti 1969, S. 517; Ungaretti 1993, S. 425) klingt. Er fügt als Erklärung jedoch unmittelbar hinzu: «Strano se tutto non fosse naufragio, se tutto non fosse travolto, soffocato, consumato dal tempo. Esultanza che l’attimo, avvenendo, dà perché fuggitivo, attimo che soltanto amore può strappare al tempo, l’amore più forte che non possa essere la morte». («Befremdlich, wenn nicht alles Schiffbruch wäre, wenn nicht alles mitgerissen, erstickt, von der Zeit aufgezehrt würde. Jubel, den der sich ereignende Augenblick auslöst, weil er flüchtig ist, ein Augenblick, den nur Liebe der Zeit entreißen kann, die Liebe, die allein stärker als der Tod sein kann.» 2 ) 1 Schriftliche Fassung eines Vortrags in der Deutsch-Italienischen Vereinigung e.V. in Frankfurt am Main am 8. November 2018. 2 Die Übersetzung «die stärkste Liebe, die der Tod nur sein kann» (Ungaretti 1993, S. 425) ergibt keinen Sinn. DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 020 Italienisch_82.indb 19 20.01.20 15: 36 20 «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Hermann H. Wetzel Für ihn ist die Erkenntnis der Vergänglichkeit keine religiös-theologische oder abstrakt philosophische, sie ist auch nicht ausschließlich an die Ereignisse des Ersten Weltkriegs gebunden, sondern eine ganz konkrete, ins Allgemeine gehobene Erfahrung. Dazu gehört für den 1888 Geborenen die Erfahrung, seit seinem zweiten Lebensjahr als Halbwaise aufzuwachsen, eine Kindheit und Jugend im Angesicht der Ruinen des Ägyptischen Reiches in Alexandria (eine Erfahrung, die sich für ihn im versunkenen antiken Hafen, Il porto sepolto, verdichtet) und die Selbsttötung eines Jugendfreundes. Dieses Grundgefühl des Scheiterns und der Vergänglichkeit wird in seinen Augen durch den Ersten Weltkrieg nur zusätzlich «genährt», «geschärft», «vertieft» und «gekrönt» (ebd.). Beim Eintritt Italiens in den Krieg 1915 ist er immerhin schon 27 Jahre alt, so dass er nicht als ‘unbeschriebenes Blatt’ an die Front geht. Zur einhundertjährigen Wiederkehr des Kriegsendes werden die folgenden Ausführungen jedoch nicht das gesamte Werk Ungarettis in den Blick nehmen, sondern sich auf das Thema des Krieges in einigen wenigen Gedichten konzentrieren. Zur Erklärung des eigenartigen Titels Allegria di naufragi wird in den Kommentaren immer wieder auf das Thema Schiffbruch bei anderen Dichtern hingewiesen. Das ist sinnvoll, wenn man die Differenzen deutet, sonst lenkt es nur ab von der besonderen und einmaligen Reaktion und ebenso einmaligen Gestaltung der Erfahrung des Scheiterns durch Ungaretti. Das gilt sogar, wenn er selbst den Hinweis auf mögliche Einflüsse gibt. In einem Rundfunkkommentar von 1963 (Ungaretti 1974, S. 823; Ungaretti 1993, S. 468 f.) verweist er auf den Schlussvers von Leopardis L’Infinito: «E il naufragar m’è dolce in questo mare.» Doch ist die Situation in den beiden Gedichten völlig verschieden: Dort, bei Leopardi, ein wohliges Untergehen in der vom Dichter imaginierten Unendlichkeit, hier, bei Ungaretti, das Scheitern als Todeserfahrung. Bei Mallarmé schließlich handelt es sich eher um eine philosophische Erkenntnis, wenn er den Protagonisten des Coup de dés, den «bitteren Prinzen der Klippe» («prince amer de l’écueil») 3 , an den Klippen des Absoluten scheitern lässt. Nicht nur das Thema Schiffbruch kann also ganz verschieden gestaltet werden, auch die Reaktionen auf die Kriegs-Erfahrung unterscheiden sich grundsätzlich: Man kann die Erlebnisse, wie es die meisten Kriegsteilnehmer taten, zur eigenen seelischen Entlastung verdrängen und nicht darüber sprechen. Interessanter jedoch sind für die Nachwelt diejenigen, die es schaffen, ihre Eindrücke künstlerisch zu gestalten: Sei es, dass sie den Krieg 3 Mallarmé 1945, S. 469. Italienisch_82.indb 20 20.01.20 15: 36 21 Hermann H. Wetzel «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? ziemlich kindisch 4 verherrlichen wie Marinetti (seine berüchtigte Formel vom «Krieg als einzige Hygiene der Welt» stammt allerdings aus der Vorkriegszeit), sei es dass sie wie Ernst Jünger 5 oder Guillaume Apollinaire dem Krieg ästhetische Seiten abgewinnen: Apollinaire zum Beispiel verfasst ein Gedicht mit dem Titel Merveille de la guerre 6 , wo es heißt: Que c’est beau ces fusées qui illuminent la nuit […] Comme c’est beau toutes ces fusées Mais ce serait bien plus beau s’il y en avait plus encore S’il y en avait des millions qui auraient un sens complet et relatif comme les lettres d’un livre Pourtant c’est aussi beau que si la vie même sortait des mourants (Wie schön diese Raketen, die die Nacht erleuchten […] Wie ist das schön alle diese Raketen Aber es wäre noch schöner wenn es noch mehr davon gäbe Wenn es Millionen davon gäbe, die einen Sinn ergäben, insgesamt und aufeinander bezogen wie die Buchstaben eines Buches Doch ist es ebenso schön, wie wenn das Leben selbst den Sterbenden entstiege Man könnte meinen, die Granaten dienten der (leider künstlerisch unvollkommenen) Inszenierung eines strahlenden Feuerwerks zur Ablenkung und zum Ergötzen der im Schlamm steckenden Landser. Immerhin blendet Apollinaire die weniger schönen Seiten des Krieges nicht völlig aus, wenn er ihn als 4 Marinetti 1968, S. 793-803: Wenn die ‘Helden’ mit Begeisterung in einen Flügel auf die Musik von Wagner, Bach und Beethoven pinkeln: «Via! Si piscia tutti nel pianoforte di coda. Si tutti pisciam pisciam pisciam sui vasti profondi funerarii idioti accordi di Wagner Bach Beethoven! Sssssssssssssssssssssssssss Italianissimi rubinetti gloriosi.» 5 Schon der Anfang von Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1921) ist in der Wahl der Metaphern verräterisch: «Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen in der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren Gewohnheit werden sollte. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel» Das «Walzwerk» als Metapher aus der Stahlproduktion hat etwas mechanisch, brutal Zermalmendes, das allerdings durch Begriffe aus dem Bildbereich der Musik (Takt, Melodie) gleichzeitig verharmlost und ästhetisiert wird (gehört etwa die Walze zu einer überdimensionalen Spieluhr? ). Auch der «weiße Ball» assoziiert Spielerisch-Äshetisches über das Zerfließen der Farben eines Aquarells. 6 Apollinaire 1965, S. 271/ 2. Italienisch_82.indb 21 20.01.20 15: 36 22 «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Hermann H. Wetzel ‘Schlachtfest’, allerdings als eines nicht von Generälen, sondern von der unverantwortlichen «Erde» veranstaltetes, charakterisiert: C’est un banquet que s’offre la terre Elle a faim et ouvre de longues bouches pâles La terre a faim et voici son festin de Balthasar [Buch Daniel, V] cannibale Qui aurait dit qu’on pût être à ce point anthropophage Es ist ein Bankett das sich die Erde gibt Sie hat Hunger und reißt ihre langen bleichen Münder auf Die Erde hat Hunger sieh ihr kannibalisches Belsazar-Festmahl Wer hätte vorhergesagt, dass man derart menschenfresserisch sein könnte Auch Ungaretti selbst reagiert nicht nur in einer Tonart auf seine Erlebnisse. Das Gedicht Soldati aus der Abteilung Girovago (Landstreicher) wird bei dem Vergleich mit den ihr Fallen erwartenden Herbstblättern eher von einem melancholisch-fatalistischen Ton bestimmt, der das (ohnehin unvermeidliche) Sterben in den Kreislauf des natürlichen Werdens und Vergehens einbettet und ihm das unzeitig Gewaltsame des Soldatentodes nimmt. Das erwartbare Wort cadono (sie fallen) wird sorgfältig vermieden und durch ein seltsam unpersönliches und (noch) Stabilität suggerierendes, beschwörendes «Si sta» ersetzt. Soldati Soldaten Bosco di Courton luglio 1918 Bois de Courton, Juli 1918 Si sta come Man ist wie d’autunno im Herbst sugli alberi an den Bäumen le foglie die Blätter Zwei weitere Beispiele für Ungarettis Gestaltung des Themas machen den Titel Allegria durch Kontraste und Parallelen vielleicht verständlicher. Italienisch_82.indb 22 20.01.20 15: 36 23 Hermann H. Wetzel «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Solitudine Einsamkeit Santa Maria La Longa Santa Maria La Longa, il 26 gennaio 1917 den 26. Januar 1917 Ma le mie urla Doch meine Schreie feriscono verwunden come fulmini wie Blitze la campana fioca die matte Glocke del cielo des Himmels Sprofondano Sie gehen unter Impaurite verängstigt Während er in Solitudine seine Aggression gegen den Himmel richtet und dann letztlich machtlos resigniert, ist es in Veglia (siehe unten) gerade die brutale Erfahrung des Todes, die ihn das Leben umso wertvoller schätzen und bejahen lässt. Er reagiert in seinen Gedichten auf den Krieg also ganz unterschiedlich, jedoch kaum depressiv 7 , sondern eher kämpferisch mit einem überraschend freudigen «Trotz alledem! » («Volontà di vivere nonostante tutto, stringendo i pugni, nonostante il tempo, nonostante la morte.» (Ungaretti 1993, S. 518; «Lebenswille trotz allem, die Fäuste ballen, trotz der Zeit, trotz dem Tod.») Hier ist es notwendig, ein paar Überlegungen zum Titelbegriff Allegria und zu seiner Übersetzung anzustellen. 8 Im Italienischen hätte auch das Wort allegrezza als Synonym zur Verfügung gestanden Es liegt nahe, die Wahl Ungarettis nicht mit einem Bedeutungsunterschied, sondern mit dem verschiedenen Klang der beiden Wörter allegrezza und allegria zu begründen. Das Suffix / -ezza/ klingt nämlich wegen der doppelten stimmlosen Affrikata / zz/ deutlich weniger jubelnd als das Suffix / -ía/ mit seinem hellen Vokal / i/ . Kann man nun, wie das Hans Hinterhäuser 9 und Marschall von Bieberstein 10 tun, das Gefühl beim sofortigen Wiederaufrappeln nach einer Katastrophe mit «Heiterkeit» übersetzen? Heiterkeit hat im Deutschen etwas Leichtes, Lachendes oder zumindest Lächelndes, eher Oberflächliches, was 7 In Agonia schließt er das Jammern ausdrücklich aus. 8 Mögliche Alternativen der Wortwahl, seien sie nun fiktiv oder als tatsächliche vom Autor erwogene Varianten überliefert, bieten ebenso wie alternative Übersetzungen in andere Sprachen ein wertvolles Hilfsmittel, das Charakteristische einer Formulierung präziser zu fassen, als es ohne eine solche (fiktive) Variante möglich wäre. 9 Hinterhäuser 1964, S. 26 pass. 10 Ungaretti 1988. Italienisch_82.indb 23 20.01.20 15: 36 24 «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Hermann H. Wetzel dem Ernst der existentiellen Situation weniger angemessen scheint als der Begriff Freude. Andererseits ist die Lautung des deutschen Worts Heiterkeit heller und der allegria näher als die Lautung von Freude. Wir stoßen hier auf das unvermeidliche Dilemma des Übersetzers, der in seiner Zielsprache ganz selten Wörter zu finden vermag, die sowohl die Wortbedeutung als auch den Wortkörper der Quellsprache adäquat wiedergeben. Der Übersetzer muss sich letztlich entscheiden, welche der beiden Komponenten des Zeichens er schwerer gewichtet. Im vorliegenden Fall läuft allerdings die Lautung des deutschen Wortes Freude seiner Bedeutung keinesfalls zuwider, so dass Ingeborg Bachmann 11 zurecht mit «Freude der Schiffbrüche» und Killisch-Horn mit «Freude von Schiffbrüchen» übersetzen können, ohne eine der beiden Seiten des Zeichens zu vernachlässigen. Man sieht an der Übersetzung von Killisch-Horn («Freude von Schiffbrüchen») außerdem, dass auch die Genitiv-Verbindung nicht ohne Übersetzungsklippen ist. Killisch-Horn verdeutlicht den genitivus obiectivus durch ein etwas schulmeisterliches «von», während Bachmann die Unbestimmtheit der Genitiv-Verbindung beibehält. Außerdem signalisiert der verallgemeinernde Plural der «Schiffbrüche», dass die Freude für Ungaretti angesichts der zahlreichen Katastrophen eine generelle, keine einmalige und außergewöhnliche Reaktion auf den Krieg allein ist. Dieser Tatbestand hat auch Auswirkungen auf die Übersetzung von «subito» 12 mit «gleich» oder «sofort» im Sinn von unmittelbar, ohne zu zögern, während das von Bachmann gewählte «Und plötzlich» eher eine unerwartete Reaktion auf ein einmaliges Ereignis suggeriert. Der ‘Umweg’ über die Übersetzungen hilft so auch den Originaltext besser zu verstehen. Das Eingangsgedicht der Abteilung Naufragi innerhalb der Gedichtsammlung L’Allegria lautet in seiner ganzen Länge oder besser in seiner Kürze folgendermaßen 13 : 11 Ungaretti 1961. 12 Zingarelli führt zuerst die Bedeutungen «Immediatamente, prontamente, senza indugiare», dann «in un tempo brevissimo, molto presto» auf und erst in dritter Linie «all’improvviso». 13 Übersetzung von H.H.W. in Anlehnung an die oben Genannten. Italienisch_82.indb 24 20.01.20 15: 36 25 Hermann H. Wetzel «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Allegria di naufragi Freude der Schiffbrüche Versa il 14 febbraio 1917 Versa, den 14. Februar 1917 E subito riprende Und gleich nimmt er il viaggio die Fahrt wieder auf come wie dopo il naufragio nach dem Schiffbruch un superstite ein überlebender lupo di mare Seebär Die Wahl zwischen den deutschen Übersetzungen für «viaggio», nämlich Reise (Killisch-Horn) oder Fahrt (Bachmann), kann nur im assoziativen und im lautlichen Bereich entschieden werden. Was verbindet man heute assoziativ mit Reise? Eher Vergnügen und Tourismus, auf dem Meer den gefahrlosen Massen-Cruiser, selbst wenn sich das Ganze Kreuzfahrt nennt. Fahrt allein dagegen ist zwar etwas altmodisch, assoziiert aber passend Gefahr und Erfahrung. Lautlich wird das / f/ von Fahrt vom Schiff(bruch) wieder aufgenommen und bildet so ein fernes Echo des Reims («viaggio» : «naufragio») im italienischen Original. (Zur Bedeutung dieses Reims, der den zwingenden Zusammenhang von Fahrt und Gefahr des Scheiterns schon in der Lautgestalt der Wörter anlegt und der daher auch in einer Übersetzung nicht ‘klanglos’ untergehen sollte, siehe weiter unten.) Biographie und Gedicht Bevor die sprachlich/ lautliche Gestaltung des Materials genauer analysiert wird, noch kurz ein paar Bemerkungen über das Verhältnis der persönlichen Erfahrung (des Dichters) zum Gedicht. Wenn Ungaretti behauptet «Der Charakter, der primäre Charakter meiner gesamten Aktivität ist autobiographisch» (Ungaretti 1993, S. 430), braucht man sich nicht zu wundern, wenn der Leser den Schlüssel zum Gedicht vornehmlich in der Biographie des Dichters sucht. Selbstverständlich schöpft der Dichter aus dem eigenen Erleben. Doch dieses Erleben ist nur ein erster Impuls, der ergänzt, fortgeführt, verarbeitet sein will. In diesem Sinne fährt Ungaretti selbst anschließend an das obige Zitat zum biographischen Hintergrund fort: «Natürlich hat die Phantasie jedes Recht, also hat sie das Recht, dieses Bekenntnis in Bereiche zu führen, die es gänzlich [! ] von jenem frei machen, der dieses Bekenntnis macht.» (Ungaretti 1993, S. 430) Um diesen Prozess der künstlerischen Verarbeitung des biographischen Materials zu verfolgen, bietet sich der Vergleich der Druckfassung mit zwei Italienisch_82.indb 25 20.01.20 15: 36 26 «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Hermann H. Wetzel früheren Varianten an, die den Entschluss zum Aufbruch einleitend einer Person zuordnen und schon im Titel explizit biographisch verankern (s. Ungaretti 1993, S. 470): La filosofia del poeta Die Philosophie des Dichters So Ich weiß di un italiano von einem Italiener che si dilania der sich zerreißt da tanti anni seit so vielen Jahren a liberare [um] zu befreien dal turbine aus dem Wirbel del suo cuore seines Herzens il succo den unsterblichen immortale Saft degli attimi der Augenblicke E subito riprende Und gleich nimmt er [s.o.] [s.o.] In einer weiteren Fassung schiebt er den lebensweltlichen Bezug seinem Dichterfreund Giovanni Papini zu. Giovanni Papini Giovanni Papini Conosco Ich kenne un amico einen Freund che libera dal turbine der befreit aus dem Wirbel del cuore des Herzens sfavillanti attimi funkelnde Augenblicke come di mattini wie vom frühlingshaften primaverili Morgen E subito riprende Und gleich nimmt er […] […] In der Druckfassung ist das Gedicht aber bezeichnenderweise um den biographisch-philosophischen Teil gekürzt. Ungaretti fand die Verankerung in einer Biographie (sei es nun verschleiernd ganz allgemein «eines Italieners», sei es derjenigen seines Freundes Papini) wie auch den Hinweis auf den philosophischen Gehalt offensichtlich überflüssig, ja für ein Gedicht störend Italienisch_82.indb 26 20.01.20 15: 36 27 Hermann H. Wetzel «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? und eliminierte beides in einem für ihn typischen Prozess der Verkürzung und Konzentration ersatzlos. Denn ein Gedicht kann zwar einen philosophischen Gehalt haben, aber es sollte nicht abstrakt philosophieren wie ein Traktat. Es sollte den Leser etwas sinnlich konkret erleben lassen. Welche Mittel hat nun die Poesie in der endgültigen Form von Allegria di naufragi, um dem Leser ein solches sinnliches Erlebnis zu erlauben? Da wäre erstens das sog. uneigentliche Reden in Bildern, sei es, dass das ganze Gedicht ‘nur’ ein Bild für etwas anderes ist oder seien es, einzelne Vergleiche, Metaphern oder Metonymien innerhalb eines im übrigen ‘unbildlichen’ Textes (s.o. die ersten Strophen der beiden ungedruckten Fassungen des Gedichts). (Bildlichkeit gibt es natürlich in jeder Rede, allerdings in unterschiedlichen Mengenverhältnissen.) Und zweitens gibt es da noch ein ‘Alleinstellungsmerkmal’ der Lyrik, nämlich die ungewöhnlich intensive Nutzung der sprachlichen Rhythmus- und Laut-Ebene in der Gestalt des Verses und der Lautmalerei. Beides sorgt dafür (zumindest eröffnen diese poetischen Verfahren die Möglichkeit), dass die Abstraktheit eines sprachlichen Textes (wir haben ja nur schwarze Striche auf weißem Papier vor Augen) sich vermittels unserer Ein-Bildungs-Kraft in sinnlich konkrete Bilder, Laute und Rhythmen verwandelt, die auf unsere Emotionalität wirken. Wie funktioniert das auf der Ebene der Bilder? Seit der Antike gilt die Reise als Sinnbild des Lebens. Für einen Anwohner des Mittelmeeres und Bewohner einer Hafenstadt liegt es nahe, speziell die Reise in der Form der Schifffahrt als den Topos des Lebens schlechthin zu wählen. Für den Leser ist es nun wichtig, sich dieses nicht umsonst Sinn-Bild genannte Bild auch in seiner ganzen konkret-sinnlichen Fülle zu vergegenwärtigen: Die Schifffahrt mit der Ausfahrt aus dem sicheren Hafen, der Weitung des Horizonts und Entdeckung des Fremden, ihren Gefahren und ihren Gewinnchancen, der glücklichen Heimkehr oder eben auch dem Scheitern bietet die vielfältigsten Vorstellungs- und Ausdeutungsmöglichkeiten, die von vielen Dichtern vor und in der Nachfolge der Odyssee entfaltet wurden. In Ungarettis Gedicht steht beispielhaft nur ein kleiner Teil dieses Topos im Zentrum, nämlich, wie der Titel schon ankündigt, die Reaktion auf den Schiffbruch oder besser auf ‘Schiffbrüche’ allgemein. Ungaretti spezifiziert zunächst in den ersten beiden Zeilen die Art der Reise nicht, erst in dem mit «come» einsetzenden und rhythmisch deutlich abgesetzten Vergleich wird das Bild mit «naufragio» und «lupo di mare» konkret auf das Meer bezogen. Ebenso wenig wird zunächst die agierende Person (man kann sie lediglich indirekt aus der dritten Person Singular des Italienisch_82.indb 27 20.01.20 15: 36 28 «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Hermann H. Wetzel «riprende» erschließen) als auch der Realitätsgrad der Reise innerhalb des Gedichts bestimmt. (Soll es überhaupt eine ‘wirkliche’ Reise sein oder steht «viaggio» von vorneherein als absolute 14 Metapher für das Leben? ) Wer ist diese Person? Ist es ein Mann, eine Frau? Ist es der Autor? (Bachmann lässt den Protagonisten zu sich selbst bzw. zum Leser sprechen und deswegen ein selbstbezügliches «du» verwenden: «Und plötzlich nimmst du/ die Fahrt wieder auf».) Durch den Vergleich mit dem Matrosen, der allerdings erst im letzten Vers erwähnt wird, tendieren wir zur Annahme eines männlichen Protagonisten. Das einzige, was wir über diese genannte Person erfahren, wird uns über einen Vergleich mitgeteilt, das heißt über ein sprachliches Bild, dessen detaillierte Ausgestaltung fast vollständig dem Leser überlassen bleibt: «Er» (wer immer das auch sein mag) ist auf einer Reise, wurde durch ein Unglück («naufragio») aufgehalten, ist knapp dem Tod entronnen («superstite»), bricht aber ohne Zögern und weiteres Überlegen sofort («subito») wieder auf, da er einem durch viele Gefahren gestählten, im wahrsten Sinne ‘erfahrenen’ Seemann («lupo di mare») gleicht. Der Vergleich ist ausformuliert («come») und nicht zur Metapher verkürzt, was die seinsmäßige Distanz zwischen dem Er des Gedichts und seiner Charakterisierung als Seebär unterstreicht. «Er» ist (in der ‘Wirklichkeit’ des Gedichts) kein Matrose, er verhält sich nur ‘wie’ ein Seebär. Die über das bloße Aufbrechen hinausgehenden Analogien muss der Leser selbst herstellen, und es ist wichtig, dass er das auch tut, denn nur so kann er etwas sinnlich konkret nacherleben: Ein Seebär ist in der Klischeevorstellung des Lesers immer eher alt als jung, er ist erfahren, furchtlos, zupackend, voller spannender Geschichten etc. Viele durchaus mögliche Assoziationen allerdings werden, weil sie in diesem Zusammenhang irrelevant oder unpassend scheinen, erst gar nicht aufgerufen, d.h. es werden nur die Eigenschaften des Seemanns aktualisiert und zum Vergleich herangezogen, die im vorliegenden Zusammenhang zum Protagonisten ‘passen’. Das biographische Substrat, das nur ganz entfernt in der künstlerischen Formung durchscheint, schnurrt letztlich auf die im Untertitel erwähnte Ortsangabe zusammen, das heißt, dass Ungaretti am 14. Februar 1917 in Versa in Friaul an der Front war und - aber vielleicht war es auch jemand anders - einen Entschluss zum Weitermachen gefasst hat. Das Bild des Gedichts muss vom Leser mit Hilfe der Imagination, d.h. der Ein-Bildungs- Kraft, vor seinem inneren Auge konstruiert werden. Diese geistige Tätigkeit 14 «Absolut» deswegen, weil der Tenor ‘Leben’ bzw. ‘Kriegserleben’ (wenn man mal von der Angabe des Ortes und des Datums im Untertitel absieht) gar nicht genannt wird und das Vehikel ‘Reise’ gleich noch durch einen abgeleiteten Bildspender (den Vergleich) Schiffbruch ergänzt wird. Italienisch_82.indb 28 20.01.20 15: 36 29 Hermann H. Wetzel «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? sorgt dafür, dass er sinnliche Wahrnehmungen und Emotionen aus seinem eigenen Vorrat, sei er nun selbst erlebt oder auch ‘nur’ angelesen, investiert. Bei den Begriffen ‘Schiffbruch’ und ‘Seebär’ etwa gehen sämtliche eigene Erfahrungen (im ‘Idealfall’ gar ein selbst erlebter Schiffbruch! ), alle mündlichen Berichte, Lektüren, Filme, Gemälde etc. in den Lektüreprozess mit ein. Nur wenn der Leser selbst den Text zum Sprechen bringt, kann ihn das Gedicht ‘bewegen’, ‘ergreifen’. Der Inhalt, die reine Sach-Information (ohne das Bild der Reise und ohne den Vergleich mit dem Matrosen! ) wäre zur Not, wenn auch wesentlich umständlicher und wortreicher, allerdings auch weniger eindrücklich ‘mit anderen Worten’ wiederzugeben, wie bereits oben anhand der Zitate aus Ungarettis Selbstkommentaren erwähnt wurde. Ungaretti legt nach dem Vorbild Mallarmés und im Gegensatz zu dem Wortreichtum eines D’Annunzio großen Wert auf die Verknappung und die ‘Form’. Diese Verknappung auf weniger als die Hälfte, nämlich von 16 auf 6 Zeilen, die sich anhand der verschiedenen auf einander folgenden Fassungen schön beobachtet lässt, diese äußerste Konzentration auf das Wesentliche, hat bei der zeitgenössischen Kritik zu dem Vorwurf der «Hermetik» (Flora) geführt. Die Gedichte galten als rätselhaft, unverständlich, wobei in den Zwanziger-, Dreißigerjahren ein nationalistischer Unterton mitschwingt, denn, so behauptet Flora, schuld daran sei der Einfluss der französischen Symbolisten, allen voran Mallarmés. Die lyrik-spezifische Ebene des Gedichts Auf der Ebene der Laute gehört zu den auffälligsten Äußerlichkeiten eines Gedichts (die jedoch, wie sich gleich zeigen wird, gar keine bloßen Äußerlichkeiten sind! ) traditionell der Reim, der im vorliegenden Text besonders hervorsticht, da das Gedicht eigentlich reimlos ist. Zwei Versenden (bei nur sechs Zeilen ist das ein hoher Prozentsatz! ) reimen, nämlich «viaggio» auf «naufragio». Bei einem ‘guten’ Dichter reimen nicht irgendwelche Wörter miteinander (schon gar nicht, wenn es sich um den einzigen Reim im ganzen Gedicht handelt! ), denn jede lautliche Äquivalenz 15 suggeriert eine semantische. ‘Leben’ reimt sich nicht nur lautlich auf ‘Streben’, sondern der Reim suggeriert ein notwendiges Zusammengehören der Bedeutungen. «Viaggio» und «naufragio» signalisieren durch ihre Stellung im Reim, dass Reise/ Leben und Scheitern nach Ungarettis Meinung notwendig zusammen gehören. «Viaggio» : «naufragio» ist im Gedicht kein Binnen-, sondern ein Endreim. Endreime gibt es nur in der Versform. Das Weiß am Ende der Zeile sorgt so 15 Äquivalenzprinzip nach R. Jakobson. Italienisch_82.indb 29 20.01.20 15: 36 30 «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Hermann H. Wetzel für die Rhythmisierung des Textes; beim lauten Vortrag, doch auch selbst wenn man das Gedicht nur still liest. Die Segmentierung in Verse führt dazu, dass durch die Pause am Ende der Zeile das letzte Wort über den üblichen Wortakzent im Italienischen hinaus besonders (oft eben auch noch mit Hilfe eines Reims) hervorgehoben wird. Daraus folgt: Je kürzer die Zeilen sind, je weniger Silben ein Vers hat, desto mehr durch das Zeilenende hervorgehobene Wörter gibt es. Im vorliegenden Fall führt das dazu, dass fast jedes Wort des Gedichts expressiv betont wird. (Der Unterschied wird deutlich, wenn man das Gedicht zuerst als Prosa und dann in Versform liest.) Der Schwung und die Spontaneität des Aufbruchs wird rhythmisch durch den aus der Musik in seiner Funktion bekannten Auftakt «E subito» sinnlich erfahrbar gemacht und nicht nur mit abstrakten Wörtern genannt. Der erste Vers fällt nicht mit der Tür ins Haus, sondern nimmt erst einmal einen Anlauf, der überraschend genug ist, da völlig unklar bleibt, woran sich denn das «und» anschließen soll. Die deutschen Übersetzer schwanken bei der Übersetzung von «subito» zwischen «gleich», «sofort» und «plötzlich» (Bachmann), wobei das Letztere nicht so richtig passen will, da es sich ja nicht um eine plötzliche und nicht zu erwartende Entscheidung in einem Einzelfall handelt, sondern um eine grundsätzliche Haltung des erfahrenen Seemanns Schiffbrüchen (Plural! ) gegenüber. Ungaretti setzt sich unablässig mit der ‘Form’ auseinander. Er hat seine Gedichte ständig überarbeitet, so dass oft viele verschiedene Fassungen vorliegen. Eine Situation, eine Erfahrung wird nicht eigentlich beschrieben, sondern evoziert. Das einzelne Ereignis wird aus der Vereinzelung und Einmaligkeit ins Allgemeine und in die Zeitüberlegenheit erhoben und regt so das Bild- und Gefühlsreservoir der Erinnerung des Lesers an. Daher auch die bei dem frühen Ungaretti besonders ausgeprägte Kürze, die viel Raum lässt für die Kopf-Arbeit des Lesers: «alcuni vocaboli deposti nel silenzio come un lampo nella notte, un gruppo fulmineo d’immagini, mi bastavano a evocare il paesaggio sorgente d’improvviso ad incontrarne tanti altri nella memoria.» (Ungaretti 1993, S. 517; einzelne Wörter in die Stille gesetzt wie ein Blitz in der Nacht, eine Gruppe aufblitzender Bilder genügten mir, eine unvorhergesehen auftauchende Landschaft aufzurufen und vielen anderen in der Erinnerung wieder zu begegnen). «Evozieren» statt beschreiben heißt, mit Hilfe von Worten und Wortfügungen im Vers die Imagination des Lesers anregen. Der Dichter gibt lediglich den Anstoß dazu - die sinnliche Qualität der Bilder ergibt sich letztlich aus der Einbildungs-Kraft des Lesers. Diese Bilder im Kopf des Lesers sind zwar nicht die Realität, aber sie sind der einmal erfahrenen bzw. wenigstens erfahrbaren Realität doch um vieles näher als die abstrakten und konventionellen schwarzen Strich-Zeichen der Buchstaben auf dem Papier. Damit berühren wir den Kern lyrischen Sprechens, der darin Italienisch_82.indb 30 20.01.20 15: 36 31 Hermann H. Wetzel «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? besteht, die Kluft zwischen der abstrakten Schrift bzw. der etwas weniger abstrakten, weil lebendig ausgesprochenen Sprache und dem vom Dichter Genannten, soweit es geht zu verringern. «C’è volontà d’espressione, necessità d’espressione, c’è esaltazione, nel Porto Sepolto, quell’esaltazione quasi selvaggia dello slancio vitale, dell’appetito di vivere, che è moltiplicato dalla prossimità e dalla quotidiana frequentazione della morte.» (Ungaretti 1993, S. 521; «Im Versunkenen Hafen herrscht der Ausdruckswille, die Notwendigkeit des Ausdrucks, die Begeisterung, jene fast wilde Begeisterung des Drangs zum Leben, des Lebenshungers, der vervielfacht wird durch die Nähe und die tägliche Begegnung mit dem Tod.») Dieser Ausdruckswille oder wie Ungaretti im eingangs zitierten Text sagte, die Liebe, die allein den Augenblick seiner Flüchtigkeit entreißen und den Jubel auslösen kann, ist offensichtlich an die Fähigkeit des Dichters gebunden, diesen Augenblick in Worte zu fassen, und zwar nicht in dürre, abstrakte Begriffe, sondern in Bilder und Laute, die den Leser sinnlich affizieren. Neben der Ebene des Rhythmus, die vor allem der Versifikation geschuldet ist, tritt wie schon erwähnt noch die Ebene der Laute. Beiden (Laut und Rhythmus) gemeinsam ist die Tatsache, dass sie zum Teil unabhängig von der Bedeutung der Wörter, unabhängig vom Denken in Begriffen, aber oft im Verein mit ihm, sozusagen als Unterstützung (Kookkurrenz), wie Musik auf die Sinne des Lesers emotional wirken. Beim Reim «viaggio» : «naufragio» jedoch hat die lautliche Ebene keine eigene oder kookkurrente Bedeutung (die weiche palatale Affrikate wirkt eher schmeichelnd), die lautliche Äquivalenz suggeriert lediglich eine semantische Ähnlichkeit und dient einer Verklammerung der Begriffe, die dadurch aufeinander abfärben. Lautmalereien wählen nun die Wörter und Wortformen danach aus und kombinieren sie dergestalt, dass ihre Lautform ihre Bedeutung unterstützt, d.h. wie Musik ohne begriffliche Fassung sinnlich, im eigentlichen Wortsinn ‘ästhetisch’ kommuniziert. Auch auf diesem Gebiet ist Ungaretti ein Meister seines Fachs. Im folgenden Gedicht untermalen brutal harte Konsonanten in ihrer penetrant insistierenden Wiederholung die Brutalität der geschilderten Szenerie, noch verstärkt durch einen abgehackten Rhythmus, der drei Mal die Partizipien des Perfekts als eigene Zeilen isoliert. Italienisch_82.indb 31 20.01.20 15: 36 32 «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Hermann H. Wetzel Veglia Wachen Cima quattro il 23 dicembre 1915 Cima quattro, den 23. Dezember 1915 Un’intera nottata Eine ganze Nacht buttato vicino hingeworfen neben a un compagno einen gemetzelten massacrato Kameraden con la sua bocca mit seinem Mund digrignata Zähne gefletscht volta al plenilunio dem Vollmond zugewandt con la congestione mit dem Blutandrang delle sue mani in seinen Händen penetrata eingedrungen nel mio silenzio in mein Schweigen ho scritto habe ich geschrieben lettere piene d’amore liebevolle Briefe Non sono mai stato Nie habe ich tanto so sehr attaccato alla vita am Leben gehangen Schon in der ersten Zeile («Un’intera nottata») wird mit dem vierfachen / t/ , davon ein / tt/ , der dominante harte, stimmlose Ton vorgegeben. Die italienische Wortbildung erlaubt bei der Bildung des Perfekt Passiv auf / to/ oder / ta/ eine Häufung solcher Laute. Deswegen wählt Ungaretti auch neben den Partizipien in prädikativer Funktion bei den finiten Verbformen nur zusammengesetzte Vergangenheitsformen: «ho scritto» und «Non sono mai stato tanto attaccato», so dass im gesamten Gedicht auf 16 Zeilen acht Partizipien des Perfekt Passiv kommen. Sie haben nicht nur den erwähnten auffallenden lautlichen Charakter, sie unterstreichen auch durch das Passiv die Passivität nicht nur des toten Kameraden, sondern auch diejenige des Protagonisten, die im Italienischen mit den zwei Partizipien «sono […] stato […] attaccato» noch deutlicher zum Ausdruck kommt als im Deutschen («habe […] gehangen»). Verstärkt wird die lautliche Gewalttätigkeit auch noch durch die häufigen stimmlosen Doppelkonsonanten im Inneren der Wörter in nottata, buttato, massacrato, bocca, scritto, lettere, attaccato, sowie durch die harten Konsonantenverbindungen / cr/ (in massacrato), / gr/ (in digrignata), / tr/ (in penetrata), / scr/ (in scritto). So hat die lautliche Ebene in diesem Gedicht einen ganz hervorstechenden Stellenwert, der teilweise über das ausdrücklich Gesagte hinausgeht und unterschwellig, musikalisch auf die Sinne des Wahrnehmenden wirkt. Denn Italienisch_82.indb 32 20.01.20 15: 36 3 3 Hermann H. Wetzel «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? selbst der dreizeilige Schluss, der Zuversicht und Lebenswillen ausstrahlt und insofern ein Indiz für die titelgebende «Allegria» darstellt, ist mit «scritto», «lettere», «attaccato alla vita» noch lautlich ‘infiziert’ von der Brutalität des Vorhergehenden. Diese Verschränkung der harten Laute mit dem inhaltlich positiven Ausblick ist besonders eindrucksvoll und in dieser sprachlichen Dichte nur in der Lyrik zu leisten: Der Grund für den geäußerten Lebenswillen, nämlich die Grausamkeit der Todeserfahrung im Krieg, ist lautlich eingegangen in die positive Botschaft. Es ist offensichtlich, dass eine solch raffinierte Verschränkung von bestimmten Wortbedeutungen mit widersprechender Wortlautung in einer fremden Sprache kaum widerzugeben ist und jeden Übersetzer scheitern lassen muss. Die obigen Ausführungen haben hoffentlich nicht nur ein paar logischdiskursive Argumente, sondern auch von Ungarettis Gedichten induzierte poetische Sinneseindrücke vermittelt, die es erlauben, eine Antwort auf die rhetorische Eingangsfrage zu finden. Doch selbst wenn man Ungarettis «Freude am Schiffbruch» (mit generalisierendem Singular! ) des Ersten Weltkriegs dank seiner Kunst nacherleben kann, sind wir Nachgeborenen dennoch glücklich, Freude am Leben auch ohne einen derartigen Anlass empfinden zu können. Abstract. Dapprima il titolo Allegria (di naufragi) sembra ‘strano’ per un poema di guerra. Ma Ungaretti trasforma l’esperienza biografica individuale in un testo che fa esteticamente sentire al lettore la reazione (inattesa) all’ esperienza di naufragi esistenziali (non soltanto alla Prima guerra mondiale) tramite la scelta delle immagini e la costruzione ritmica e sonora del suo poema. L’ analisi delle varianti e delle differenti traduzioni in tedesco offrono preziose indicazioni per afferrare la specificità delle scelte poetiche. Summary. At first, the title of Ungaretti’s poem Allegria (di naufragi) seems a ‘strange’ motto for a poem about war. But Ungaretti transforms the individual trauma into a text that enables the reader through its aesthetics, to unexpectedly partake in the experience of a life-threatening shipwreck (not only of the First World War). He does so through specifically chosen images and the precise rhythmic and phonetic construction of his poem. The analysis of the poem’s several versions and its translations into German offers valuable indications for the understanding of the author’s poetic decisions. Italienisch_82.indb 33 20.01.20 15: 36 3 4 «Freude» als Antwort auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs? Hermann H. Wetzel Bibliographie Apollinaire, Guillaume: Œuvres poétiques, Préface par André Billy. Texte établi et annoté par Marcel Adéma et Michel Décaudin, Bibl. de la Pléiade, Paris: Gallimard 1965. Hinterhäuser, Hans: Moderne italienische Lyrik, Göttingen: Vandenhoeck 1964. Mallarmé, Stéphane: Oeuvres complètes, éd. H. Mondor, Bibl. de la Pléiade, Paris: Gallimard 1945. Marinetti, Filippo Tommaso: 8 anime in una bomba [1919], in: Teoria e invenzione futurista, hrsg. von Luciano De Maria, Milano: Mondadori 1968, S. 791-918; 1° anima, S. 793-803. Ungaretti, Giuseppe: Vita d’un uomo, Tutte le poesie a cura di Leone Piccioni, I Meridiani, Milano: A. Mondadori 1969. Ungaretti, Giuseppe: Vita d’un uomo, Saggi e interventi (a cura di Mario Diacono e Luciano Rebay, I Meridiani, Milano: A. Mondadori 1974. Ungaretti, Giuseppe: Vita d’un uomo, Ein Menschenleben, Werke in 6 Bänden, Bd. 1: L’Allegria, Die Freude […] Gedichte 1914-1934. Italienisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Michael von Killisch-Horn unter Mitarbeit von Angelika Baader, München: P. Kirchheim 1993. Ungaretti, Giuseppe: Ich suche ein unschuldiges Land. Gesammelte Gedichte Italienisch/ Deutsch. Übertragung und Nachwort von Michael Marschall von Bieberstein, München: Piper 1988. Ungaretti, Giuseppe: Gedichte. Italienisch und deutsch. Übertragung und Nachwort von Ingeborg Bachmann, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt: Suhrkamp 1961. Italienisch_82.indb 34 20.01.20 15: 36