Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2019-0022
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2019
4182
Fesenmeier Föcking Krefeld OttSprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen
121
2019
Ursula Reutner
Il presente contributo va alla ricerca del ruolo del corpo umano nelle lingua italiana e analizza locuzioni basate sul corpo da una prospettiva medica. Una particolare attenzione è posta a locuzioni che rendono emozioni sulla base degli effetti sortiti nel corpo. Il corpo umano si dimostra come una fonte importante di immagini linguistiche che però non concordano sempre con fatti provati dalla medicina. Più interessanti sono le locuzioni che hanno una forza d’espressione psicopatologica piuttosto forte e lasciano dedurre un’alta sensibilita delle generazioni di prima per reazioni corporali, tutt’oggi documentabili.
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55 U R S U L A R E U T N E R Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Von pelle d’oca über acquolina in bocca bis zu cuore in gola 1. Einführung «Die Haare standen ihm zu Berge. Als er dann frei von der Leber weg sprach, machte sie große Augen. Sie hatte kein Herz aus Stein und bekam sofort eine Gänsehaut.» So oder so ähnlich könnte eine Erlebnisgeschichte anfangen. Für den Zuhörer machen die bildlichen Ausdrucksweisen das Erzählte spannender, doch stellt sich die Frage, ob mehr hinter ihnen steckt als die Erzeugung von Spannung. Warum werden die genannten Emotionen und Charaktereigenschaften gerade so und nicht anders versprachlicht? Wurden die Bilder willkürlich gewählt oder gehen damit tatsächlich wahrnehmbare physische Korrelate einher? Stehen unsere Haare wirklich manchmal zu Berge? Reden wir tatsächlich von der Leber aus? Können wir die Größe unserer Augen verändern? Sind die Herzen der Menschen aus unterschiedlichen Substanzen? Ähnelt unsere Haut manchmal der einer Gans? Schon ein erster Blick lässt zumindest einen Teil der aufgeworfenen Fragen klar in zwei Gruppen einteilen: die der eindeutig zu verneinenden und die der eindeutig zu bejahenden. Unzweifelhaft hat die Leber nichts mit der Sprache zu tun und sind die Herzen der Menschen rein physiologisch gleich beschaffen. Unsere Haut hingegen verändert sich bei kalten Temperaturen oder Erschrecken tatsächlich. Doch inwiefern stehen unsere Haare bei Aufregung nach oben? Und wie gelingt es uns wohl, bei Interesse unsere Augen zu vergrößern? Bereits diese Überlegungen zeigen, dass manche Wendungen einer physiologischen Grundlage entbehren, die bei anderen vorhanden ist und sich intuitiv erschließen lässt und bei wieder anderen genauere Recherchen erfordert. Letztere werden in diesem Beitrag angestellt, der körperbasierte Wendungen des Italienischen auf ihre medizinische Erklärbarkeit hin prüft. Das linguistische Erkenntnisziel ist dabei die Rolle des menschlichen Körpers in der Sprache, und dies insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie viel Kenntnis psychophysiologischer Art sprachlich tradiert wird. 2. Methodik Um das Ausmaß der diesbezüglich in der italienischen Sprache vorhandenen Informationen darstellen zu können, war zunächst ein Korpus allgemeiner körperbasierter Wendungen zu erstellen. Hierfür wurden die Nachschlage- DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 022 Italienisch_82.indb 55 20.01.20 15: 36 56 Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Ursula Reutner werke Zingarelli, GDLI, GRADIT, Pittàno (2009) und Duden in einem ersten Schritt auf Ausdrucksweisen durchgesehen, die mit dem menschlichen Körper in Zusammenhang stehen. Gesucht wurde zum einen nach Wendungen, die Bezeichnungen der Sinnesorgane und die mit ihnen verbundenen Reaktionsmöglichkeiten aus den Wortfeldern Haut (pelle mit arrossire und impallidire bzw. rosso, pallido), Augen und Ohren (occhio und orecchio mit vedere und sentire), Geruch (naso mit odore und puzzo) und Geschmack (bocca mit amaro und dolce) enthalten. Zum anderen wurden Wendungen mit Ausdrücken aus den Bereichen Herz-Kreislaufsystem, Leber und Niere (cuore mit sangue, pressione, stendersi, svenire; fegato mit bile; rene), Magen-Darm- und Harntrakt (stomaco, vescica mit digerire, cacare, pisciare), Transpirationssystem (sudore, sudare) sowie Atmung (respiro, respirare, fiato) ermittelt. In einem zweiten Schritt wurden hieraus diejenigen Ausdrücke ausgewählt, die mit Emotionen im weitesten Sinne verbunden sind. Die für das Erkenntnisinteresse relevanten Emotionen reichen von Angst, Ärger, Wut, Hass, Neid, Ekel und Trauer über Scham, Nervosität, Aufregung und Anspannung bis hin zu Entspannung, Überraschung, Verblüffung, Neugierde, Faszination, Freude und Glück. In einem dritten Schritt wurden die verbliebenen Ausdrücke daraufhin geprüft, ob die körperliche Reaktion tatsächlich sichtbar oder spürbar und zugleich physiologisch erklärbar ist. Damit lassen sich drei gleichermaßen relevante Bedingungen für die Aufnahme in das Analysekorpus festhalten: Beschreibung einer wahrnehmbaren körperlichen Reaktion, Ausdruck einer Emotion und nachweisbares Zusammenspiel zwischen der Emotion und der körperlichen Reaktion. Die zu ermittelnden und medizinisch zu erklärenden Ausdrücke sind damit definiert als Wendungen, die Emotionen ausgehend von ihren körperlichen Manifestationsformen versprachlichen. 3. Ausschlusskorpus und -gründe Bei einem Abgleich mit den aufgestellten Kriterien erweist sich die überwiegende Mehrheit der im ersten Schritt ermittelten körperbasierten Ausdrücke für das vorliegende Anliegen als irrelevant. Denn nur, wenn sich Emotionen deutlich in Form physischer Reaktionen zeigen, sind die Wendungen für unsere Fragestellung interessant. Um das Spektrum der unterschiedlichen Ausschlussgründe zu verdeutlichen, werden im Folgenden einige Beispiele der großen Anzahl körperbasierter Wendungen ohne psychophysiologische Relevanz genannt und Erklärungen für ihren Ausschluss aus dem Korpus angeführt. Die Gliederung der Beispiele ist an den betroffenen Organsystemen des Körpers orientiert. Italienisch_82.indb 56 20.01.20 15: 36 57 Ursula Reutner Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen 3.1 Haut Die Haut ist eine Art schützende Hülle, die den Menschen von der Außenwelt abgrenzt. Unter ihr befindet sich im metaphorischen Verständnis das, was den Menschen im Innersten ausmacht (dt. aus der Haut fahren, nicht aus seiner Haut können, nicht in jmds. Haut stecken mögen, jemandem unter die Haut gehen), was im Italienischen pelle gar zum Synonym von Leib und Leben macht (z.B. in amici per la pelle, ho cara la mia pelle, rischiare la pelle, salvare la pelle, vendere cara la pelle di qlcu., riportare la pelle a casa, imparare sulla propria pelle, non voler essere nella pelle di qlcu., giocare con la pelle di qlcu.). Die seelische Unempfindlichkeit einer Person, die ein ‘dickes Fell’ hat und somit viel ertragen kann, findet in avere la pelle dura ihren Ausdruck, was - anders als die zuvor genannten italienischen Ausdrücke - immerhin einen menschlichen Gemütszustand mithilfe körperbasierter Metaphorik beschreibt. Doch ist auch dieses Beispiel nicht Teil des Analysekorpus, schließlich handelt es sich eher um eine Charakterbeschreibung als um eine Emotion und vor allem um ein sprachliches Bild ohne tatsächliches physisches Korrelat, da sich die persönliche Empfindsamkeit eben nicht indirekt proportional zur menschlichen Hautstärke verhält. 3.2 Ohren Zu den auszuschließenden körperbasierten Wendungen zählt auch rizzare gli orecchi, denn ein tatsächliches Spitzen der Ohren erfolgt nur bei Tieren, die besonders wachsam sind, und wurde sprachlich lediglich von ihnen auf den Menschen übertragen, der seine Ohrmuschel in der Regel nicht bewusst zu steuern vermag. 3.3 Geruchssystem Der über die Nase aufgenommene Geruch erzeugt bestimmte Emotionen, die das Verhalten oft unbewusst, aber sinnvoll leiten können. Geruch kann positive oder negative Emotionen beim Gegenüber erzeugen, so dass der Gesamteindruck einer Person auch über den Geruch versprachlicht wird, wie es in der von Haus aus metaphorischen Wendung essere/ morire in odore di santità erfolgt. Aufgrund der Botschaften, die uns über Geruch vermittelt werden, erscheint zudem die Nase in vielen Wendungen als sensibles Organ des Erriechenwollens und damit des Erfahrenwollens sowie der Meinungs- und Entscheidungsfindung. Die entsprechenden Ausdrücke beziehen sich auf intuitive Handlungen (z.B. in a [lume di] naso; cf. dt. sich auf seine Nase verlassen), das Wittern von Angenehmem oder Unangenehmem (avere fiuto per qlco., fiutare qlco., sentire odore di quattrini, sentire odore/ puzzo di inganno; cf. dt. einen guten Riecher haben, ein Geschäft wittern, Betrug Italienisch_82.indb 57 20.01.20 15: 36 5 8 Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Ursula Reutner wittern) oder die Beschreibung von Sachverhalten (qui c’è odore di marcio; cf. dt. hier riecht es faul/ nach Gewitter) sowie speziell odore di morte ‘Todesahnung’. Da aber keine unmittelbaren körperlichen Reaktionen auftreten, sind auch die idiomatischen Wendungen, in denen der Geruchssinn zu einer Art sechstem Sinn wird, nicht psychophysiologisch relevant. 3.4 Geschmackssystem Ähnlich müssen auch beim Geschmackssinn diejenigen Beispiele herausgenommen werden, in denen der Geschmack zwar Emotionen auslöst, diese aber keine konkreten körperlichen Reaktionen hervorrufen. Infolge der Übertragung der oralen Sensibilität des konkreten Schmeckens auf die Ästhetik wird vieles auch zu einer reinen Geschmacksfrage, einer questione di gusti, über die nicht gestritten werden kann (sui gusti non si discute < lat. de gustibus non est disputandum), was dennoch nicht davon abhält, z.B. von gusti barbari zu sprechen, von einer Einrichtung di cattivo gusto, di (buon) gusto, senza alcun gusto oder einer Kleiderwahl con (buon) gusto, einer Person di (buon) gusto ‘chi sa apprezzare le cose belle’, oder ein generelles essere di gusto di qlcu. formulieren lässt, wobei absolut verwendetes gusto in der Regel positiv gewertet ist. Doch selbstverständlich handelt es sich bei all diesen Beispielen um metaphorische Verwendungsweisen ohne psychophysiologischen Bezug. 3.5 Herz-Kreislaufsystem Liebe und andere Gefühle, die im klassischen Wettstreit zwischen Ratio und Emotio häufig in Widerspruch zum Verstand stehen, symbolisiert von alters her das Herz, das daher in entsprechend vielen Ausdrücken metaphorische Verwendung findet. Eine gefühlskalte Person hat ein cuore duro/ di ferro/ di pietra/ di ghiaccio oder ist gar herzlos (senza cuore; «corpus sine pectore», Horaz, Epistulae 1,4,6), während eine mutige Person als cuore di leone, eine ängstliche als cuore di coniglio und eine gefühlvoll-empathische als buon cuore, cuore tenero oder cuore d’oro bezeichnet wird. Das Herz gilt als Sitz des inneren Antriebs (non avere il cuore di fare qlcu., aber auch avere qlco. a cuore, donare il cuore, stare a cuore, con tutto il cuore, di tutto cuore; contro cuore, a malincuore), der Ehrlichkeit (col cuore in mano, a cuore aperto, venire dal cuore, mettersi una mano sul cuore) und der innersten Gefühle (avere a cuore, prendersi a cuore qlco., toccare il cuore, portare in cuore, mi piange il cuore), was sich auch in zahlreichen Sprichwörtern niederschlägt (u.a. lontano dagli occhi, lontano dal cuore; occhio non vede, cuore non duole). Nun hat eine als Löwenherz beschriebene Person nicht wirklich das Herz eines Löwen, niemand hat tatsächlich Haare auf dem Italienisch_82.indb 58 20.01.20 15: 36 59 Ursula Reutner Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Herzen, ein Herz aus Eis oder läuft mit seinem Herzen in der Hand umher. Allein daher sind die genannten metaphorischen Ausdrücke, die zudem meist keine Emotionen bezeichnen, nicht Teil des Korpus, wohingegen Metaphern in denjenigen Fällen durchaus von Relevanz sein können, in denen sie eine tatsächlich wahrgenommene Emotion aufgreifen. In das Korpus übernommen werden so z.B. Metaphern wie avere una spina nel cuore oder spezzarsi il cuore, denen zwar kein tatsächlicher Stachel oder kein wirklicher Bruch zugrunde liegt, wohl aber ein ganz konkret wahrgenommener Schmerz im Brustkorb, der entsprechende Vorstellungen aufkommen lässt und metaphorisch versprachlicht wird. Dasselbe gilt unten für verschiedene metaphorische Ausdrücke im Bereich des Magens, der bei einigen Menschen in der Tat leicht auf psychische Belastungen reagiert und dann zum Seismographen für bestimmte Gemütszustände werden kann. 3.6 Körpersäfte und Leber Aus dem Korpus auszuschließen sind auch Ausdrücke, die auf überkommenen medizinischen Vorstellungen beruhen. In der galenischen Säftelehre wurden z.B. je nach dominierendem Körpersaft vier Temperamenttypen unterschieden: der leicht aufbrausende Choleriker (gr. χολή , lat. bilis ‘weiße Galle’), der trübsinnige Melancholiker (gr. μέλας ‘schwarze Galle’), der träge Phlegmatiker (gr. φλέγμα ‘Schleim’) und der reaktionsschnelle Sanguiniker (lat. sanguis ‘Blut’). Diese auf der Säftelehre begründeten Bezeichnungen leben in vielen Sprachen fort, auch wenn die entsprechenden Charaktere auf keine tatsächliche Dominanz des jeweiligen Körpersaftes zurückführbar sind. Eine besondere Rolle spielt dabei die Galle, die u.a. in avere un travaso di bile ‘ausrasten, wütend werden’ oder bilioso ‘cholerisch, leicht reizbar’ erscheint. Sie ist das Sekret der Leber, die früher als Sitz des Gemüts und der Empfindungen galt, was das Bild des sich die Leber zerfleischenden Menschen erklärt, der Wut oder Groll in sich trägt: rodersi il fegato (cf. zudem dt. jmdm. ist eine Laus über die Leber gelaufen; aber auch sich etwas von der Leber (häufig durch Seele ersetzt) reden, frisch/ frei von der Leber weg). Doch eigentlich verfügt die Leber über keine eigenen Schmerzrezeptoren, so dass eine körperliche Reaktion der Leber eventuell über die umliegenden Organe, nicht aber unmittelbar wahrnehmbar ist und somit nicht ausreicht, um den Ausdruck psychophysiologisch zu begründen. 3.7 Niere Außer in der Leber wurden Gemütsbewegungen auch in der Niere verortet, die in dieser Bedeutung u.a. in der Wendung jmdn. auf Herz und Nieren prüfen erscheint. Sie ist im Deutschen durch die Bibelübersetzung Martin Italienisch_82.indb 59 20.01.20 15: 36 6 0 Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Ursula Reutner Luthers so volkstümlich geworden, dass selbst Automodelle heute auf Herz und Nieren geprüft werden können. Im Italienischen hingegen ist sie nicht geläufig; die Nieren erscheinen zwar in älteren Bibelübersetzungen, nicht aber einheitlich in einer feststehenden Wendung, sondern in unterschiedlicher Position mit i cuori oder il cuore kombiniert: «l’Iddio giusto, che provi i cuori e le reni» (Psalm 7,9), «o signore […] che scruti le reni e il cuore» (Jeremias 11,20) oder «io sono colui che scruta le reni e i cuori» (Apokalypse 2,23). Neuere Übersetzungen verwenden anstelle von reni gleich mente oder affetti: «Dio giusto, tu che provi mente e cuore» (Psalm 7,9), «o signore […] che scruti gli affetti e i cuori» (Jeremias, 11,20), «io sono colui che scruta gli affetti e i pensieri degli uomini» (Apokalypse 2,23). Doch ganz unabhängig von ihrer geringen Gebräuchlichkeit im heutigen Italienisch erfüllen die Wendungen die Aufnahmekriterien in das Korpus nicht, denn selbst wenn z.B. die Entstehung von Nierensteinen neben einer genetischen Veranlagung und einem ungünstigen Lebens- und Ernährungsstil auch stressbedingte Komponenten haben mag, die die prinzipielle Empfindsamkeit der Niere für emotionale Störungen belegen, fehlt eine klar wahrnehmbare unmittelbare physische Reaktion auf die entsprechenden Emotionen, die heute zudem nicht mehr in der Niere verortet werden. 3.8 Atemsystem Auszuschließen sind auch Ausdrücke, die lediglich auf die Lebensnotwendigkeit von Atmung und Luft verweisen: invidiare a qlcu. anche l’aria che respira ‘jdm das Salz in der Suppe nicht gönnen’, während sich rendere l’ultimo respiro, avere ancora (tre giorni di) respiro auch auf den biblischen ‘Lebensatem’ des Menschen beziehen mag, den Gott ihm durch die Nase eingehaucht hat (Genesis 2,7). 4. Analysekorpus und psychophysiologische Hintergründe Das Ausschlusskorpus zeigt, dass der menschliche Körper eine große Rolle spielt, um davon abgeleitet die unterschiedlichsten Handlungen, Zustände, Eigenschaften und auch Emotionen zu bezeichnen. Dabei erklären sich die meisten körperbasierten Wendungen einfach als metaphorische Verwendungsweisen. Liegen tatsächliche Vorstellungen zum Funktionieren des menschlichen Körpers zugrunde, so sind diese bei genauerer Betrachtung häufig nicht haltbar. Dies wirft die Frage auf, in welchen Fällen nachweisbare körperliche Reaktionen auf die versprachlichten Emotionen vorliegen. Um dies einschätzen zu können, ist jeweils zunächst das Funktionieren des jeweiligen Organs zu umreißen und auf dieser Basis das Zusammenspiel von Italienisch_82.indb 60 20.01.20 15: 36 61 Ursula Reutner Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen körperlicher Reaktion und Emotion darzustellen, auf dem die Wendung basiert. Im Folgenden werden demnach die Ausdrücke vorgestellt, die die in Kapitel 2 dargelegten Kriterien erfüllen, und diese mit Hilfe einschlägiger Nachschlagewerke (u. a. Mills 2016, Pschyrembel et al. 2017) in ihrer psychophysiologischen Relevanz belegt. Viele der zur Illustration herangezogenen Wendungen sind zweifellos auch in weiteren Einzelsprachen zu finden, worauf stellenweise hingewiesen wird. Die Gliederung der Beispiele ist wie oben an den betroffenen Organsystemen des Körpers orientiert; innerhalb jedes Kapitels wird zunächst jeweils der medizinische Hintergrund dargelegt, der die Zuordnung der Beispiele ins Analysekorpus erlaubt. Zwei für verschiedene Bereiche relevante Systeme seien vorab vorgestellt: das vegetative Nervensystem und das limbische System. Das vegetative Nervensystem stammt aus der frühen Phase der menschlichen Evolution und dient dem Schutz des Individuums; es ist autonom und reagiert auf exogene Signale, ohne dass der Mensch erst lange nachdenken muss. Mit dem Sympathikus und dem Parasympathikus besteht es aus zwei Nervengeflechten. Der Sympathikus ist zuständig für Kampf und Flucht. Er steigert die Herzfrequenz und den Blutdruck, erweitert die Atemwege und lässt das Blut dorthin fließen, wo es gebraucht wird. Der Parasympathikus ist eher ein Erholungsnerv und zuständig für die Regeneration der Organe. Er ist für die Verdauung, die Stoffwechselabläufe und die muskuläre Entspannung verantwortlich. Auf viele Emotionen reagiert der Mensch also zunächst vegetativ, was in der Folge körperliche Reaktionen auslöst, deren Muster allerdings von Individuum zu Individuum variieren können. Das limbische System ist eine zentrale Schaltstelle für emotional ausgelöste Reaktionen und steuert insbesondere die vegetativ-nervösen Signale. Es nimmt die emotionale Bewertung eingetroffener Reize vor und speichert die Erfahrungen. An der Emotionsverarbeitung und dem daraus resultierenden Verhaltensmuster beteiligte Hirnregionen sind neben den Bereichen der Großhirnrinde, von denen Handlungen und Reaktionen ausgelöst werden, der Thalamus, der Informationen wie z.B. Sinneswahrnehmungen sammelt, filtert und an die Großhirnrinde weiterleitet, und der Hypothalamus, über den körperliche Reaktionen auf emotional belastende Situationen vermittelt werden. 4.1 Haut In physiologischer Hinsicht hat die Haut neben ihrer Schutzfunktion die Aufgabe der Wärmeregulierung und der Aufnahme von Sinnesreizen. Mit ihrer von der menschlichen Affektlage beeinflussten Vasomotorik signalisiert sie bisweilen auch die emotionale Situation des Betroffenen. Denn die vasomotorischen Nerven, die Gefäßnerven des vegetativen Nervensystems, führen Italienisch_82.indb 61 20.01.20 15: 36 62 Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Ursula Reutner zur Erweiterung (Vasodilatation) oder Verengung (Vasokonstriktion) der kleinen Arterien. Hautveränderungen wie Erröten, Erbleichen oder Muskelkontraktionen sind also häufig ein Spiegelbild des jeweiligen emotionalen Zustandes. Gefäßreaktionen kommen durch ein komplexes Regulationssystem zustande, an dem erneut das vegetative Nervensystem beteiligt ist: Während nur wenige Gefäße über das parasympathische Geflecht arbeiten, wird die glatte Muskulatur von Sympathikusästen kontrolliert. Das Erröten tritt u.a. bei Emotionen wie Scham, Zorn oder euphorischer Begeisterung auf und erklärt sich mit einer Erweiterung der sehr feinen Haargefäße bzw. Kapillaren an der Hautoberfläche. Damit erfüllt z.B. arrossire die oben aufgestellten Aufnahmekriterien. Blässe hingegen ergibt sich aus einem Zusammenziehen der Gefäße und der dadurch reduzierten Durchblutung, die ebenfalls durch Einwirkung des Sympathikus erfolgt: Schock, Schreck oder Aggressivität erzeugen solche sympathikonen vasokonstriktorische Reaktionen. Eine allgemeine Gefäßverengung, die von einer Kontraktion der glatten Muskulatur begleitet wird, erzeugt eine kalte, leichenblasse, zusammengezogene Haut (wie sie indessen auch durch Kälteeinfluss entstehen kann), was sprachlich in pelle d’oca zum Ausdruck kommt (dt. Gänsehaut; bereits lat. cutis anserina und daher u.a. auch in fr. peau d’oie, sp. piel de gallina, engl. goose flesh). Dabei lässt die Kontraktion der glatten Muskelzellen zwischen Hautoberfläche und Haarbalg (Haarwurzelscheide) unter psychischem Einfluss tatsächlich auch schon einmal ̒ die Haare zu Berge stehen ̕ , so dass auch far rizzare i capelli eine psychophysiologische Alltagserfahrung zum Ausdruck bringt. 4.2 Augen und Ohren L’occhio è lo specchio dell’anima sagt man, und die Augen sind tatsächlich insofern ein Spiegel der Seele, als sich viele Gemütszustände z.B. in der Stellung und Größe der Pupille zeigen: Diese reguliert bekanntlich die Menge des Lichts, das in das Auge gelangt; sie vergrößert sich bei geringer Lichteinstrahlung und verkleinert sich bei starker Lichteinstrahlung. Darüber hinaus reagiert sie auch auf Emotionen: Sie verkleinert sich bei Überforderung und vergrößert sich bei besonderer Aktivität im limbischen System. Doch offenbaren uns die Augen eines Menschen noch vieles mehr. Tatsächlich reißen wir die Augen auf, wenn uns etwas überrascht oder besonders beeindruckt, denn der Sympathikusreiz sorgt mit drei Signalen an den Augenmuskeln dafür, dass die Pupillen groß werden, das Lid sich zurückzieht und ein Augenmuskel das Auge etwas heraustreten lässt. Die Wendung fare tanto d’occhi (cf. dt. große Augen machen, fr. faire les yeux grands) ist damit Zeugnis einer psychophysiologischen Alltagserfahrung. Dies gilt auch für Italienisch_82.indb 62 20.01.20 15: 36 6 3 Ursula Reutner Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen strizzare gli occhi und avere gli occhi fuori dalla testa bzw. stralunare gli occhi, denn tatsächlich kneifen wir die Augen zusammen, wenn uns etwas besonders interessiert und wir es genau ins Visier nehmen möchten, und verdrehen die Augen, wenn uns etwas nicht zusagt. Gefällt uns eine Person dagegen ganz besonders, so lässt die Anziehungskraft dieser Person unsere Pupillen vergrößern, wovon fare gli occhi dolci a qlcu. zeugt (cf. auch dt. jmd. schöne Augen machen). Bereitet uns wiederum etwas Kummer, so fallen wir nur schwer in den Schlaf und schließen daher wirklich manchmal kein Auge, wie es in non chiudere occhio festgehalten ist. Manche Dinge sehen wir nicht nur besonders gern, sondern hören sie auch mit besonderem Interesse. Aus Urerfahrungen übernommen ist dabei die Assoziation von hellem Klang mit Positivem, das uns entspannen lässt, und dunklem Grollen mit Negativem oder Gefahr, das uns auf Fluchtmodus programmiert. Wir konzentrieren uns dann speziell auf unser Gehör, sperren unsere Ohren auf und sind bildlich gesprochen ganz Ohr, was in aprire le orecchie, essere tutto orecchi zum Ausdruck kommt. Manche Dinge wollen wir aber auch nicht wirklich hören oder können sie nicht mehr hören. Wir versuchen dann, sie zu überhören, und verschließen in manch emotional belastender Situation tatsächlich die Ohren, was sich zwar nicht in einer Verengung der Gehörgänge zeigt, die bestenfalls bei Tauchern oder Druckarbeitern erfolgt, wohl aber in einem stressbedingten Hörsturz, in Ohrensausen, einem vorübergehenden Zufallen der Ohren oder zumindest einem intuitiven Reflex, die Hände vor die Ohren zu halten, so dass ein reflexartig vorgenommenes turarsi/ tapparsi le orecchie in das Korpus aufgenommen werden kann. 4.3 Geruchssystem Bei den Sinnesorganen des Sehens, Hörens, Riechens oder Schmeckens liegt unter der Perspektive einer psychophysiologischen Fragestellung häufig ein ganz konkreter äußerer Reiz in Form eines Bildes, Klangs, Dufts oder Geschmacks vor, der bestimmte Empfindungen und körperliche Reaktionen hervorruft. Viele Gerüche etwa besitzen eine angenehme oder unangenehme Affektkomponente und haben daher Einfluss auf unser emotionales Empfinden. Künstlich genutzt wird dies z.B. durch unterschiedliche Duftnoten in Wellnessoasen, die Gefühle des Wohlbefindens, der Entspannung und Beruhigung herbeiführen sollen, während weniger angenehme Gerüche unbewusst Reaktionen wie Ekel freisetzen und dadurch zum intuitiven Vermeiden oder Verlassen der Quelle solcher Reize führt. Durch den Geruch, der sich auch als individueller Körpergeruch durch die großen Duftdrüsen an behaarten Stellen zusammen mit dem Schweiß bildet, können Zuneigungs- und Abneigungsgefühle entstehen (cf. dt. jmdn. nicht riechen können, während im Italienischen mit non poter vedere/ sopportare qlcu. eher eine visuelle Italienisch_82.indb 63 20.01.20 15: 36 6 4 Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Ursula Reutner Metapher mit eingeschränkter psychophysiologischer Relevanz entstanden ist). Die Riechhärchen der Nasenschleimhaut reagieren auf die Geruchsstoffe und leiten sie mit Hilfe elektrischer Impulse über den Riechnerv zur Bewertung an das Gehirn weiter. In Verbindung mit dem limbischen System werden Emotionen ausgelöst, die dann zu körperlichen Reaktionen führen können. Negative Reaktionen auf etwas oder jemanden beziehen sich sprachlich auch auf den Gesichtsausdruck, der z.B. in arricciare/ storcere il naso (cf. dt. die Nase rümpfen) ursprünglich zweifelsohne olfaktorisch begründet ist, auch wenn der Ausdruck inzwischen weit darüber hinaus figürlich Verwendung findet. Noch stärker gilt dies für avere la puzza sotto il naso für eine hochmütige Person, die ihre Nase zwar nicht wegen eines konkreten Gestanks hoch trägt, wohl aber aufgrund ihres Selbstverständnisses, das sich auf ihre stolze Haltung auswirkt und sie veranlasst, ihr Haupt besonders aufrecht zu halten. Dabei gibt die Haltung grundsätzlich einiges über das emotionale Befinden preis. Ob eine Person erhobenen Hauptes, a testa alta, zufrieden-stolz daherschreitet oder in gebückter Haltung, a testa china, eingeschüchtert, verzweifelt oder ängstlich-deprimiert davonschleicht, unterscheidet nicht nur bildlich gesprochen den Sieger vom Verlierer. 4.4 Geschmackssystem Der Geschmackssinn dient entwicklungsgeschichtlich der Auswahl von Nahrungsstoffen und ist eng an den Geruchssinn gekoppelt. Die Grundqualitäten beim Schmecken sind ‘süß’, ‘sauer’, ‘salzig’ und ‘bitter’ sowie das erst jüngst in den Fokus gerückte ‘umami’. Die Geschmacksknospen auf der Zunge sowie im Mund- und Rachenraum bilden durch die gelösten Substanzen Signale zur Umwandlung in elektrische Potenziale. Diese werden als Erregungen über Geschmacksnerven zum Geschmackszentrum in der Großhirnrinde geleitet und dort verarbeitet. Bestimmte Geschmacksrichtungen lösen Emotionen aus, die wiederum auch körperlich sichtbar werden können. Süßer Geschmack deutete in der menschlichen Geschichte meist auf Verzehrbarkeit hin und erzeugt seit jeher entspannte Gesichtszüge und positive Gefühle. Entsprechende Ausdrücke werden daher tendenziell positiv gewertet und z.B. auch für die Freundin oder ‘bessere Hälfte’ verwendet, die schon einmal dolcezza oder la dolce metà genannt werden. Bitterer Geschmack könnte Giftiges anzeigen und lässt daher leicht die Gesichtszüge verziehen, so dass amaro im übertragenen Sinn auch für bittere Erfahrungen, Abscheu und Antipathie steht. Vor diesem allgemeinen Hintergrund lassen sich einige Ausdrücke finden, die Teil des Korpus sind wie z.B. far venire l’acquolina in bocca a qlcu. Denn schon beim Anblick oder Duft verlockender Speisen entsteht im limbischen System unter Aktivierung des Parasympathikus der Reflex, das Wasser Italienisch_82.indb 64 20.01.20 15: 36 6 5 Ursula Reutner Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen im Munde zusammenlaufen zu lassen, um den Verdauungsvorgang durch das Einspeicheln der Nahrung zu erleichtern. Demgegenüber überwiegt bei besonderer Erregung, Stress und Angst der Einfluss des Sympathikus. Die Speicheldrüsen sind dann blockiert und die Spucke bleibt weg. Wenn jemand leer ausgeht bzw. das Nachsehen hat, wird dies daher auch durch rimanere/ restare a bocca asciutta ausgedrückt, da sich z.B. beim tierischen Jäger, der nichts erlegt hat, eben erst einmal kein Speichelfluss einstellt und ebenso wenig beim Menschen, der ein angestrebtes größeres Ziel nicht erreicht. Zudem stoßen negative Emotionen (auch im übertragenen Sinne) bitter auf oder hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack, was lasciare l’amaro in bocca in nicht-metaphorischer Verwendungsweise zu einem Beispiel des Analysekorpus macht. Die Geschmacksqualität ‘bitter’ lässt einen das Gesicht verziehen, löst also eine mimische Reaktion aus, und entsprechend schaut dann auch jemand, der eine ‘bittere Pille’, un boccone amaro, zu schlucken oder die ‘bittere Wahrheit’, l’amara verità, erfahren hat. 4.5 Herz-Kreislaufsystem Herz und Kreislauf können neben ihrer somatischen, eventuell schon anfälligen Konstitution zweifellos auch sehr unterschiedlich auf alle möglichen Erregungen des vegetativ-nervösen Regulationssystems reagieren. Dazu gehört vor allem der Herzinfarkt, der nicht nur rein körperlich als Verschluss von Kranzarterien ausgelöst wird, sondern auch durch psychische Reaktionen, die vergleichbare Symptome verursachen können. Emotionale Verletzungen zeigen sich bei jedem Menschen in unterschiedlichen körperlichen Symptomen, bei manchen durch nicht organisch begründete diffuse Schmerzen im Brustkorb. Dem einen scheint ein Stachel im Herzen zu sitzen, dem anderen sich das Herz zu zerfleischen oder in Stücke zu reißen, was avere una spina nel cuore, rodersi/ spezzarsi il cuore oder struggere/ stringere/ trafiggere il cuore in das Analysekorpus aufnehmen lässt. Das Bild vom ‘gebrochenen Herzen’ wird auch medizinisch im Ausdruck Broken-Heart-Syndrom für eine Stress-Kardiomyopathie aufgegriffen, einer Funktionsstörung des Herzmuskels infolge einer außerordentlichen seelischen Belastung. Umgekehrt deuten ein cuore in pace oder Handlungen, die wir a cuor leggero angehen, tatsächlich auf ein gutes Gefühl bei entsprechenden Angelegenheiten hin, das das Herz in ruhigem, gleichmäßigem Takt weiter schlagen lässt. Das Herz ist für den Blutkreislauf verantwortlich, der vor allem im Falle des Bluthochdrucks klinisch relevant wird. Bildlich gesprochen wird hier jemand ‘unter Druck gesetzt’ und so ein emotionaler Erregungszustand erzeugt, der sich außer in der erhöhten Atemfrequenz auch in einer Blutdrucksteigerung manifestieren kann, wie es die Ausdrücke gli monta il Italienisch_82.indb 65 20.01.20 15: 36 66 Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Ursula Reutner sangue alla testa oder far ribollire il sangue aufgreifen. Der erhöhte Blutdruck und die emotionale Anspannung lassen letztendlich auch den Herzschlag stärker wahrnehmen, wie es in far battere il cuore a qlcu. (per l’eccitazione) oder avere il cuore in tempesta zum Ausdruck kommt. Manchmal geht dies soweit, dass der Eindruck entsteht, das Herz schlage einem bis zum Hals: col cuore in gola, le balzò il cuore in gola. Ebenso wie Schwitzen oder Herzrasen gehört auch die Ohnmacht (Synkope) zu den Reaktionen, die mal medizinische Ursachen haben können, mal psychogener Natur sein können. Aufgrund von plötzlichem Schreck, Angst oder Hysterie kann es zu einem Blutdruckabfall einschließlich einer Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff kommen. Die Folge ist eine meist kurz andauernde Bewusstlosigkeit, so dass es einen sprichwörtlich ‘umhaut’ (mi ha steso, bair. da legst di nieda). Der Parasympathikus aus dem vegetativen Nervensystem reagiert auf das entstandene Ungleichgewicht mit Ruhigstellung, was dann auch zu figürlichen Verwendungen führt wie dt. jmdm./ etwas ohnmächtig gegenüberstehen. 4.6 Magen-Darm- und Harntrakt Die Sensibilität des Magen-Darm-Traktes für psychische Befindlichkeiten ist vielgestaltig und kann sich u.a. in Form von Reizzuständen, Verstopfung, Durchfall oder Übelkeit und Erbrechen äußern. In Redewendungen wird daher besonders häufig der Magen zur Illustration von Reaktionen psychosomatischer Provenienz herangezogen. Das Kontinuum reicht hier von allgemeiner psychischer Empfindlichkeit (essere delicato di stomaco) bis hin zur Unempfindlichkeit (avere uno stomaco di ferro/ struzzo, avere il pelo sullo stomaco), die es letztendlich erlaubt, auch Unangenehmes in Angriff zu nehmen (volerci un bello stomaco per…, uno che ha stomaco). Dies schließt die unterschiedlichsten Reaktionen auf negative Einzelerfahrungen mit nur schwer Verdaulichem ein, das einem sprichwörtlich auf dem Magen liegt (avere sullo stomaco qlcu./ qlco., rimanere/ stare sullo stomaco a qlcu., togliersi un peso dallo stomaco), einem den Magen verschließt (chiudere lo stomaco ‘procurare uno stato di forte malessere’) oder gar den Magen umdreht und so bis zur Aversion oder Rebellion des Magens reichen kann wie in a qlcu. si rivolta lo stomaco, fare qlco. contro stomaco, non digerire qlcu., voltastomaco, stomacare, stomachevole ‘widerlich’. Beim Darm sind nervöse Reaktionen mit extremer Passagebeschleunigung bekannt. Das Versagen des Schließmuskels kommt als psychische Stuhlinkontinenz vor, die z.B. als Reaktion auf panikartige Ängste erfolgt, wie es in cacarsi/ cagarsi sotto, avere/ far venire la cacarella oder cacarsi qlcu. sprachlich verfestigt ist (cf. dt. sich vor Angst in die Hosen machen). Italienisch_82.indb 66 20.01.20 15: 36 67 Ursula Reutner Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Auch eine nervöse Harninkontinenz kann sich aufgrund seelischer Belastungen einstellen. Sowohl freudige Erregung als auch Spannung führen manchmal zu einer überschießenden Reaktion des Parasympathikus und bewirken das Einnässen, was Ausdrücke wie pisciarsi sotto/ adosso, pisciarsi sotto dal ridere erklärt. 4.7 Transpirationssystem Neben klimatischer Beanspruchung (questo caldo mi fa sudare) oder Fieber (ha sudore freddo della febbre) reagiert der Körper auch auf physische Anstrengung mit thermischem Schwitzen, dem Auftreten von kühlendem Schweiß. Schwitzen und Schweiß sind daher zum Synonym für harte körperliche Arbeit geworden, so dass Gott Adam nach dem Sündenfall prophezeite, sich im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdienen zu müssen («Con il sudore del tuo volto mangerai il pane», Genesis 3,19). Im weiteren Sinne steht das Transpirieren heute für Anstrengungen, die neben körperlicher auch geistiger Natur sein können (sudare sette camicie, sudarsi il pane, denaro guadagnato col proprio sudore, lo studente suda sui libri). Schweißausbrüche oder erhöhte Schweißsekretion v.a. an den Händen, Füßen und im Gesicht sind häufig emotionalen Ursprungs (cf. dt. Angstschweiß) und ein Zeichen von psychischer Anspannung oder Stress (gli sudano le mani). Ähnliches gilt für den kalten Schweiß (mi vengono i sudori freddi, molti uomini hanno sudore freddo di questo momento, sudore della morte), der auf einer übermäßigen Adrenalinausschüttung durch eine Schreckenserfahrung beruhen kann. 4.8 Atemsystem und Stimme Dem aufmerksamen Zuhörer entgehen kaum die stimmlichen Veränderungen, die ein veränderter Gemütszustand beim Menschen auslöst. Dies hat u.a. mit der Einwirkung der Psyche auf die menschliche Atmung zu tun, so dass psychosomatische Erfahrungen im Atemsystem sowie in der Stimme des ungeübten Sprechers besonders gut greifbar werden. Eine ausgeglichene Psyche zeigt sich dagegen u.a. in einem gleichmäßigen Atemrhythmus, während sich psychische Anspannung oft in einer gesteigerten Atemfrequenz oder sogar einem vorübergehenden Ausbleiben der Atmung offenbart. Ein lavorare senza respiro fördert den Stress und wird im Idealfall von entspannenden Pausen zum bewussten Atmen unterbrochen (fare una pausa respiratoria, avere un momento di respiro). Fällt eine große Last von einem Menschen ab, so kommt es häufig zum erleichterten Aufatmen (tirare un respiro di sollievo) oder tiefen Durchatmen (respirare a pieni pulmoni, fare un bel respiro profondo). Italienisch_82.indb 67 20.01.20 15: 36 6 8 Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Ursula Reutner Bei Schockreaktionen oder Überraschungen kann jemandem auch schon einmal sinnbildlich die Luft wegbleiben (lasciare/ restare senza fiato/ senza parole, una cosa da togliere il respiro, mozzare il respiro a qlcu., mozzafiato). Vielleicht verschlägt es der Person aber auch die Sprache (a qlcu. manca la parola) oder sie gerät ins Stottern (cominciare a balbettare). 5. Fazit und Ausblick Der Körper, seine Organe und Organfunktionen spielen in sprachlichen Ausdrücken eine beachtliche Rolle. Vielen körperbasierten Wendungen liegen überkommene medizinische, traditionell-religiöse oder einfach laienhafte Vorstellungen zugrunde. Viele andere thematisieren körperliche Auffälligkeiten und Eigenschaften oder Emotionen ohne wechselseitig nachweisbaren Bezug und nutzen den menschlichen Körper als Lieferant von Bildern, die jeglicher medizinischen Substanz entbehren. Einige wenige Wendungen innerhalb des Gesamtkorpus halten den Analysekriterien stand, verbinden physische Reaktionen und Emotionen und erweisen sich damit für sich genommen als überraschend viele Zeugnisse psychophysiologischer Alltagserfahrungen, die in sprachlicher Form ‘geronnen’ sind. Auf eine quantitative Auszählung der das Gesamtkorpus ausmachenden Mikrostruktur zu den eingangs genannten Lemmata verschiedener Nachschlagewerke musste dabei verzichtet werden, da eine solche selbst bei genauer Festsetzung von Kriterien größere Herausforderungen aufwirft, wenn sie nicht in die Beliebigkeit abgleiten soll. Bereits bei dem kleineren, hier vollständig aufgeführten Analysekorpus stellt sich z.B. die Frage, wie mit ähnlichen Bildern, die mit unterschiedlichen Verben oder Formen versprachlicht werden, umzugehen ist. Hinzu kommt beim Gesamtkorpus u.a. das Problem möglicher ‘Wörterbuchleichen’, das eher Frequenzuntersuchungen in der Alltagssprache nahelegt. Doch auch ohne an dieser Stelle genaue Prozentangaben nennen zu können, lässt sich dreierlei zweifelsohne festhalten: - - Der menschliche Körper spielt eine große Rolle als Lieferant sprachlicher Bilder. - Viele körperbasierte Wendungen halten den Erkenntnissen der modernen Medizin nicht stand. - Ein kleiner Teil der körperbasierten Wendungen weist auf eine beachtliche Sensibilität vergangener Generationen für heute nachweiswie erklärbare Körperreaktionen auf bestimmte Emotionen hin.- In den Ausdrucksweisen des Analysekorpus spiegeln sich Beobachtungen physiologischer Reaktionen, die mit bestimmten psychischen Zuständen Italienisch_82.indb 68 20.01.20 15: 36 69 Ursula Reutner Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen einhergehen, darunter das relativ leicht erkennbare Erblassen als Zeichen von Angst, Rotwerden als Zeichen von Scham oder In-Ohnmacht-Fallen als Zeichen von Schock. Sprachlich wurden aus der Summe physiologischer Reaktionen besonders auffällige zur Beschreibung der psychischen Korrelate herausgegriffen. So stehen uns eben tatsächlich manchmal die Haare zu Berge, wir bekommen eine Gänsehaut oder machen große Augen - was jeweils eine mögliche, teils unübersehbare, teils eher hyperbolisch dargestellte Reaktion des Körpers auf mehr oder weniger starke Gefühle ist und damit stellvertretend für diese versprachlicht wird. Die Herkunft der Wendungen erklärt sich demnach mit der frühen Beobachtung körperlicher Reaktionen, die primär unwillkürlich durch die Erregung des vegetativen Nervensystems ausgelöst werden. Denn Körper und Seele gehören bekanntlich zusammen, so dass sich der Gemütszustand eines Menschen tatsächlich in physiologischen Reaktionen niederschlägt. Die Analyse der entsprechenden Wendungen verdeutlicht zum einen, dass Menschen diese Beziehungen wahrnahmen und ihre Erfahrungen sogar sprachlich zum Ausdruck brachten, lange bevor das moderne Feld der Psychosomatik aufkam. Zum anderen hilft sie, bestimmte körperliche Reaktionen des Menschen bewusster wahrzunehmen und einzuordnen.- Der vorliegende Beitrag destilliert aus der Vielzahl der körperbasierten Wendungen zunächst diejenigen mit psychophysiologischer Relevanz heraus und zeigt darauf aufbauend die psychophysiologischen Aussagekraft des Italienischen erstmals systematisch auf, indem er die relevanten Wendungen mit ihren medizinischen Hintergründen darstellt. Darüber hinaus möchte er zur weiteren Reflexion über die folgenden drei Fragestellungen einladen: ‒ Welche emotionsbedingten Körperreaktionen werden sprachlich besonders häufig herangezogen? ‒ Wie kommt es, dass unterschiedliche Einzelsprachen aus der Vielzahl an Strategien zur Versprachlichung von körperlichen Reaktionen häufig auf identische zurückgreifen? ‒ Wie lassen sich diese Ausdrucksweisen medizingeschichtlich einordnen? Um diese Fragen solide zu beantworten, bedarf es zunächst einer systematischen Ergänzung der vorgestellten Beispiele aus dem Italienischen und der Ermittlung ihrer Frequenz, um so einzelne dominante Bereiche in Abgrenzung zu sprachlich weniger auffälligen Feldern herauszuarbeiten. Im Anschluss sind die Ausdrucksweisen möglichst verschiedener Einzelsprachen zusammenzustellen und mit historischen Daten zu ergänzen. Dies erlaubt, die Formen daraufhin zu analysieren, ob bei der Wahrnehmung Italienisch_82.indb 69 20.01.20 15: 36 70 Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen Ursula Reutner der mit bestimmten Emotionen einhergehenden Körperreaktionen in einzelnen Kulturen jeweils unterschiedliche besonders auffielen und dann zur Versprachlichung ausgewählt wurden, und falls ja, weshalb. Ist dies nicht der Fall, so stellt sich die Frage, ob die anscheinend überall gleichermaßen hervorstechende Körperreaktion verschiedenartig versprachlicht wurde (z.B. dt. Haare zu Berge vs. it. far rizzare i capelli) oder identisch (z.B. dt. Gänsehaut, it. pelle d’oca) und ob sich im Falle der Identität Gründe für eventuelle Ähnlichkeiten ermitteln lassen. Leicht zu deuten sind solche Entsprechungen bei Ausdrücken, die auf eine gemeinsame lateinische Basis zurückführbar sind. Ebenso ist bei Wendungen, denen übernational rezipierte Werke oder Aussagen zugrunde liegen, zumindest der Entlehnungsweg vergleichsweise leicht nachvollziehbar. Bei anderen aber stellt sich die Frage, ob die Bilder ebenso wie im vorangehenden Fall in einer bestimmten Einzelsprache entstanden und von dort in weitere Sprachen übernommen wurden oder ob die weitgehend kulturunspezifischen menschlichen Erfahrungen in unterschiedlichen Einzelsprachen in einer Art Polygenese unabhängig voneinander, aber im Ergebnis letztendlich durch das gleiche Bild versprachlicht wurden. Nicht zuletzt wäre es interessant, die Ausdrucksweisen in Zusammenarbeit mit einem sprachlich interessierten Neurologen etymologisch und zugleich unter Einbezug der Medizingeschichte im Hinblick auf die ursprüngliche psychophysiologische Sinngebung zu untersuchen. Abstract. Il presente contributo va alla ricerca del ruolo del corpo umano nella lingua italiana e analizza locuzioni basate sul corpo da una prospettiva medica. Una particolare attenzione è posta a locuzioni che rendono emozioni sulla base degli effetti sortiti nel corpo. Il corpo umano si dimostra come una fonte importante di immagini linguistiche che però non concordano sempre con fatti provati dalla medicina. Più interessanti sono le locuzioni che hanno una forza d’espressione psicopatologica piuttosto forte e lasciano dedurre un’alta sensibilità delle generazioni di prima per reazioni corporali, tutt’oggi documentabili. Summary. The article examines the role of the human body in the Italian language and analyses body-based expressions with regard to their medical background. Its main focus lies on idioms that describe emotions on the basis of their physical form of manifestation. The respective expressions are first extracted from the large number of body-based idioms and then analysed in greater detail. As a result, the human body appears as an important source for linguistic images, which, however, mostly do not correlate Italienisch_82.indb 70 20.01.20 15: 36 71 Ursula Reutner Sprache als Zeugnis psychophysiologischer Reaktionen with medically verifiable facts. All the more interesting are those body-based idioms which serve as a linguistic testimony to everyday experiences, thus conveying a high psychophysiological validity to language and attesting to past generations’ considerable sensitivity to physical reactions which today can be verified and explained. Bibliographie Duden = Wolfgang Worsch/ Werner Scholze-Stubenrecht (Hrsg.) (2012): Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, Mannheim: Duden. GDLI = Salvatore Battaglia (1961-2004): Grande dizionario della lingua italiana, 21 vol. (+ supplemento, a cura di Edoardo Sanguineti; indice, a cura di Giovanni Ronca), Torino: Utet. GRADIT = Tullio de Mauro (1999): Grande dizionario italiano dell’uso, 6 vol., Torino: Utet (appendice Nuove parole italiane dell’uso, 2003). Mills, Kerry R. (Hrsg.) (2016): Oxford Textbook of Clinical Neurophysiology, Oxford: Oxford University Press. Pittàno, Giuseppe (2009), Frase fatta capo ha. Dizionario dei modi di dire, proverbi e locuzioni, Bologna: Zanichelli. Pschyrembel, Willibald et al. (Hrsg.) (2017): Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, Berlin/ New York: De Gruyter. Zingarelli = Nicola Zingarelli et al. (2017): Lo Zingarelli 2018. Vocabolario della lingua italiana, a cura di Mario Cannella e Beata Lazzarini, Bologna: Zanichelli. Italienisch_82.indb 71 20.01.20 15: 36