eJournals Italienisch 41/82

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
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2019
4182 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca

121
2019
Marc Föcking
ita41820072
72 Biblioteca poetica Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca Il ramarro, se scocca Sotto la grande fersa Dalle stoppie - La vela, quando fiotta 5 e s’inabissa al salto Della rocca Il cannone di mezzodì Più fioco del tuo cuore E il cronometro se 10 Scatta senza rumore .................................................... e poi? Luce di lampo invano può mutarvi in alcunché di ricco e strano. Altro era il tuo stampo. Die Smaragdeidechse, wenn sie aufschnellt Unter der großen Peitsche Vom Stoppelfeld - Das Segel, wenn es wogt Und hinabtaucht am Windumschwung Des Felsens - Die Mittagskanone Schwächer als dein Herz Der Chronometer, wenn er ohne Laut anspringt ................................................................... und dann? Lichtblitz kann euch vergebens in etwas Reiches und Seltenes verwandeln. Anders war deine Form. (Montale 1996, S. 95-97) Vier, fünf Bewegungen und Geräusche, eine Frage, eine lapidare Feststellung, und schon ist dieses kurze Gedicht aus Eugenio Montales Le occasioni (1939) - es ist das neunte der Abteilung «Mottetti» - zu Ende: Eine Eidechse schnellt aus einem Stoppelfeld empor, ein Segel verschwindet in einem Wellental, ein Kanonenschuss, das Ticken eines Chronometers, ein Blitz (den der Absatz nach «luce di lampo» noch der ersten Gedichthälfte zuzuschlagen scheint, doch dazu später): 1 Die ersten elf Verse jagen atemlos von einer Plötzlichkeit zur nächsten, in schneller Aufzählung von vier Aposiopesen, also Satzabbrüchen, als ob die Geschwindigkeit der Bildfolge keine Zeit für 1 So in Montale 1996, S. 95-97. Hier wird v. 12 «e poi? Luce di lampo» von den Versen 12-13 abgetrennt, anders als in Montale 1984, S. 147, dem auch die Übersetzung von Hanno Helbling folgt (Montale 1987, S. 257). Isella (Montale 1996) bezieht sich auf eine «comunicazione orale» Montales, nach der die Isolierung des Verses «lampeggia di più». DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 023 Italienisch_82.indb 72 20.01.20 15: 36 73 Marc Föcking Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca die Formulierung abgeschlossener Sätze lassen würde. Konsequenterweise setzt Montale in den ersten elf Verszeilen kurze Verse ein, zwei Quaternari (V. 3, 6), einen Senario (v. 9), ansonsten vorwiegend Settenari (v. 1, 2, 4, 5, 8, 10, 11). Wird allein dadurch schon der Eindruck sowohl von Plötzlichkeit als auch Schnelligkeit erzeugt, steigert sich dieser Eindruck noch durch die Verteilung der Ereignisse auf die kurzen Strophen: Die hochschnellende Eidechse und das im Wellental verschwindende Segel füllen je eine kurze, parallel gebaute dreiversige Strophe, die nächsten vier Verse bieten schon zwei Bildern (Kanone und Chronometer) Platz, der Lichtblitz braucht nur einen halben Vers. Trotz dieser Akzelleration können diese Bilder nicht derselben lebensweltlichen Wahrnehmungssituation entspringen, denn das hochsommerliche Stoppelfeld und seine Eidechse können sich raumzeitlich kaum an das Meerstück anschließen oder sich ihm einpassen. Alle diese Plötzlichkeiten scheinen vielmehr eher Beispiele zu sein, die sich auch noch fortsetzen ließen - dafür sprechen die Punkte, die Vers zehn von elf bis 13 trennt, und auch die Frage «e poi? » in Vers elf. Aber Beispiele wofür? Das erhellt der Lichtblitz: Denn dieser beleuchtet eine typisch Montale’sche Negation. Ähnlich, wie auch schon in Ossi di seppia (1925), dessen Gedicht «Non chiederci la parola» nur sagen kann, «ciò che non siamo, ciò che non vogliamo» 2 , nennt «Il ramarro, se scocca» die ersten vier Plötzlichkeiten nicht, weil ihnen ein positiver Wert zugeschrieben würde (also etwa im Sinne der Bohrer’schen ‘Plötzlichkeit’ als «‘Epiphanie’ des Augenblicks» und «Kennzeichen der modernen Literatur» 3 ), sondern weil sie im Gegenteil in ihrer Augenblicklichkeit durch die ebenso augenblickliche «luce di lampo» «invano», vergebens zu etwas «ricco e strano» werden. 4 Vielleicht, weil diese Eindrücke in Opposition zu der Konklusion der letzten beiden Verse ephemer und vergänglich bleiben. Im Gegensatz dazu heißt es nämlich vom «tu» des letzten Verses «altro era il tuo stampo». Das «altro» markiert die Differenz zur Vergeblichkeit der Verwandlung der 2 Montale 1984, S. 29. 3 Bohrer 1981, S. 63; siehe auch Gambon 1967, der in der Negation die Darstellung göttlicher Essenz im Sinne negativer Theologie sieht. 4 Man beachte die Unschärfe der Formulierung: Entweder misslingt die Verwandlung durch den Lichtblitz in etwas «ricco e strano», «invano» hätte die Bedeutung einer Negation. Oder die Verwandlung gelingt, bleibt aber dennoch (für wen? ) vergebens. Zu dieser Unschärfe passt die Ambiguisierung, die Montale durch die Positionierung von «luce di lampo» zwischen den ersten vier ‘Bildern’ und den letzten beiden Versen und den nach dem «e poi? » eingefügten Absatz vorgenommen hat. Mengaldo 2017, S. 225, A.1, bemerkt dazu: «Lo spazio bianco dilata l’effetto di sospensione dell’enjambement, lasciando efficacemente incerti sull’azione della ‘luce di lampo’, che, in realtà, a differenza di quanto ci aspettiamo, risulta poi vana.» Italienisch_82.indb 73 20.01.20 15: 36 74 Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca Marc Föcking ersten zehn Verse, was impliziert, dass dieses «tu» zu einer nicht-vergeblichen Verwandlung und zur vollen Gültigkeit des «ricco e strano» in der Lage ist. Und das möglicherweise durch den ihm eignenden «stampo»: Bedeutet «stampo» nicht nur «Spur» (wie Hanno Helbling übersetzt 5 ), sondern auch «Form», «Stempel» (aber auch «Natur/ Charakter»), dann wird das Stabile, Bleibende des «tu» dem (negativen) Ephemeren des Plötzlichen entgegengesetzt. Diese Differenz hat auch seine metrische Form gefunden: Nach den Kürzest- und Kurzversen der ersten elf Versen sind die letzten beiden Verse Endecasillabi (oder zumindest Decasillabi). Zusammen mit der Kürze und dem konklusionsartigen Schluss rechtfertigen Settenario- und Endecasillabo nicht nur die Gattungsbezeichnung «Mottetto». 6 Montale nutzt diese weit in das Mittelalter zurückreichende poetische Kurz-Form zur Unterstreichung der Semantik der Kürze in den ersten zehn Versen, aber auch zur Unterstreichung ihrer Differenz zu den letzten beiden Versen. Auch hier ergibt sich eine Steigerung vom Settenario V. 11 «E poi? Luce di lampo» als abgesetzter Übergangsvers von V. 1-10 und V. 12-13 zum Endecasillabo tronco «invano può mutarvi in alcunché» (V. 11) und zum Endecasillabo piano («di ricco e strano. Altro era il tuo stampo», V. 13), wenn man hier eine Dialefe zwischen «strano» und dem Satzbeginn des «Altro» ansetzt, was einem Usus Dantes in diesem an Dantismen reichen Gedicht entsprechen würde. 7 Und noch ein Weiteres zeichnet diesen letzten Vers des «tu» aus: sein Reichtum der Sinalefe, an Vokalverschleifungen zwischen End- und Anfangsvokalen. Findet sich in den Versen 1-10 lediglich eine einzige Sinalefe («s’inabissa al salto»), wartet der letzte Vers mit drei (bzw. vier, wenn man keine Dieresi zwischen «strano» und «Altro» ansetzen möchte) auf. Das gibt diesem Vers im Gegensatz zu den scharfen Vokal-Konsonant- Grenzen der übrigen Verse einen besonderen Fluss. Bei dieser vielfachen Positivierung des «tu» haben sich die Leser dieses «Mottetto» zwangsläufig die Frage gestellt, wer (oder was) sich hinter dem Personalpronomen verbirgt. Naheliegenderweise ist man auf die biographische Antwort verfallen, im «tu» eine Geliebte, namentlich die Amerikanerin Irma Brandeis («Clizia»), zu erkennen, mit der Montale in den Jahren 1933-1939 eine stürmische Liebesaffäre hatte, der die Occasioni gewidmet sind («a I.B.») 8 und der Montale das Gedicht «Il ramarro, se scocca» in einem Brief 5 Montale 1987, S. 257. 6 Zur etwa von Guido Cavalcanti eingesetzten Gedichtform «Mottetto» (vom lat. «muttire» - «leise reden») siehe Beltrami 1991, S. 90, und Giunta 2000. 7 Den bei Dante (nicht bei Petrarca) zu findenden Usus, eine Dialefe zwischen atonischen Vokalausgang und tonischen Vokalbeginn einzusetzen, beschreibt Beltrami 1991, S. 157. 8 Montale 1984, S. 107. Italienisch_82.indb 74 20.01.20 15: 36 75 Marc Föcking Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca am 20.11.1938 geschickt hat. 9 Die «Mottetti» hat man eine «condensazione del ‘canzoniere d’amore’», «una sorte di mise en abîme» genannt, 10 oder auch einen «canzoniere nel canzoniere» 11 und ist so dem gefolgt, was man die ‘Canzoniere-fallacy’ nennen könnte: Diese reduziert die Personalpronomina «io» auf Liebenden/ Dichter und «tu» auf eine «donna numinosa», deren «assenza» - eine der Standardsituationen mittelalterlich-rinascimentaler Liebesdichtung - «rende prive di significato […] le epifanie» 12 , und das unter der ständigen Gefahr biographischer, also noch weitergehender semantischer Reduktion. Dem hat Montale selbst widersprochen, wenn er an Irma Brandeis am 15.1.1935 schreibt: «Se rileggo i 3 Mottetti ci ritrovo una Miss Gatu che sia andata anche in un Sanatorio dove si gioca a bridge; la verità biografica va a farsi f… ma la verità poetica no» 13 , was er noch Jahre später bestätigt: «Tutte queste notizie anagrafiche hanno scarso significato». 14 Selbst Versuche wie die Giorgio Bàrberi Squarottis, diese Deutung des «tu» zu entbanalisieren, indem er es platonisch an das Metaphysische bindet («Dio o la donna che lo rappresenta») und ihm durch «folgore divina» einen «stampo […] divino» eingeprägt sieht, 15 bleiben der Identifikation von «tu» und «donna» verpflichtet und retrodatieren Montales «Il ramarro, se scocca» (wie die Mottetti insgesamt) auf einen (platonisierenden) Neo-Petrarkismus. Gleichzeitig wird eine mögliche «occasione» für das poetische Ergebnis ausgegeben 16 und zu stark von dem abgesehen, was die «poesia» für Montale und die moderne Lyrik (nur scheinbar banal) ausmacht: «La poesia è un’arte [che] si serve di parole.» 17 Der Weg zum «tu» in «Il ramarro, se scocca» führt also über die «parole». Keine Lektüre von «Il ramarro se scocca» verzichtet darauf, auf die gerade in diesem Mottetto besonders dichten und sichtbaren intertextuellen Verweise einzugehen, die Dante Isellas Kommentierung herausgearbeitet hat: Die ersten Verszeilen zitieren fast wörtlich eine Terzine aus Dantes Commedia, Inferno XXV 9 Siehe Montale 2006, S. 258. 10 Blasucci 2013, S. 64. 11 Isella, in: Montale 1996, S. 95-97. 12 So Mengaldo zum «più evidente senso» des Mottetto, Mengaldo 2017, S. 236. 13 Montale 2006, S. 122. 14 So in einem Brief an Silvio Guarnieri 1964, in: Montale 1980, S. 35. Zum Problem des «tu lirico» bei Montale siehe Ott 2006, S. 138-143. 15 Bàrberi Squarotti 1997, S. 73. Diese Deutung hat ihren Eingang in die italienische Manualistik gefunden, etwa in Dizionario di Metrica e Stilistica 1996, S. 168 f., Eintrag «mottetto» («il significato ‘religioso’ della figura femminile di Clizia»). 16 Zur Differenz von «occasione» und «opera-oggetto» in der Poetik Montales der 40er-Jahre siehe Ott 2006, S. 129-130. 17 Montale, «La poesia come arte» (1942), in: Montale 1997, S. 103. Italienisch_82.indb 75 20.01.20 15: 36 76 Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca Marc Föcking Come il ramarro, sotto la grande fersa De’ dì canicular cangiando siepe, Folgore par se la via attraversa (vv. 79-81) und zieht diese mit einem späteren Vers desselben Canto zusammen: «e attende a udir quel ch’or si scocca» (v. 96). Das «ricco e strano» des letzten Verses hingegen stammt aus der zweiten Strophe von Ariels Lied aus Shakespeares The Tempest (I, ii): Full fathom five thy father lies; Of his bones are coral made; Those are pearls that were his eyes; Nothing of him that does fade, But suffer a sea-change Into something rich and strange. Sea-nymphs hourly ring his knell: Hark! Now I hear them, - ding-dong bell. Montale selbst hat dieses «ricco e strano» in seinem Brief an Irma Brandeis vom 20.11.1938 als «something of rich and strange, o qualcosa di simile che ho ricordato a memoria» 18 eher heruntergespielt, und auch Isellas Kommentar (dem u.a. Bàrberi-Squarotti folgt) lenkt die Aufmerksamkeit weg von Shakespeare und hin zur Vermittlung des Zitats durch D’Annunzio, der es als Grabspruch des 1822 bei einer Segeltour vor La Spezia ertrunkenen Percy Bysshe Shelley in Il trionfo della morte (1894) zur Apotheose des Dichters einsetzt. 19 Trotz dieser Verwischung und der oftmals eher enumerativen Behandlung der intertextuellen Bezüge 20 scheint mir die Funktion des Dantewie Shakespeare-Zitats völlig klar zu sein: Denn beide (bzw. ihre Kontexte) handeln von Verwandlung. In Dantes Inferno XXV um die Metamorphosen Angelo Brunelleschis, Buoso Donatis und Francesco Cavalcantis, die von Schlangen umschlungen und in diese verwandelt werden. Dantes blitzschnell über den Weg flitzender «ramarro» ist ein Bild für das Heranstürzen dieser höllischen 18 Montale 2006, S. 259. Da er in einem Brief vom 30.11.1934 «Brave-New-World» ausruft, könnte er aber auch eine tiefere Kenntnis von Shakespeares The Tempest verraten und Akt V, i, zitieren («Miranda: How beauteous mankind is! O brave new world,/ that hath such people in’t». Vielleicht hat er aber auch nur Aldous Huxleys Brave New World (1932) im Ohr gehabt, vgl. Montale 2006, S. 330. 19 D’Annunzio 1985, S. 331 («sotto l’influenza di Percy Shelley, di quel divino Ariele trasfigurato dal mare in qualche cosa di ricco e di strano: into something rich and strange.»); Bàrberi Squarotti 1997, S. 73. 20 So etwa bei Mengaldo, der Isellas intertextuelle Fundstücke seiner Lektüre voranstellt, ohne sie funktional werden zu lassen, Mengaldo 2017, S. 227 f. Italienisch_82.indb 76 20.01.20 15: 36 77 Marc Föcking Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca Feuerschlangen. Im Lied Ariels, diesem sich ständig verwandelnden Luftgeist aus Shakespeares The Tempest, geht es um die dem neapolitanischen Prinzen Ferdinand vorgespiegelte Verwandlung des vermeintlich ertrunkenen Vaters auf dem Meeresgrund. Dieser «sea-change» - hier und im Englischen nach Shakespeare ist damit eine ‘grundsätzliche Veränderung’ gemeint - ist auch der der Situation des auf der Felseninsel gestrandeten Ex-Herzog von Mailand und Zauberers Prospero, der nach dem vom dienstbaren Luftgeist Ariel herbeigeführten Seesturm Gewalt über seinen verräterischen Bruder gewinnt, die Tochter Miranda mit dem ebenfalls auf die Insel gespülten Prinzen von Neapel verheiraten kann und schließlich wieder in seine alten Rechte als Herzog eingesetzt wird. Wieder also geht es um Verwandlung - und das greift das «mutarvi» (V. 13) Montales ja auch wörtlich auf. Aber zunächst geht es im Vers 13 mit «invano può mutarvi» um - im Unterschied zu Dante und Shakespeare - das Misslingen der Verwandlung und das Ungenügen seines Agenten, dem «luce di lampo». Das wäre kaum verständlich, sollte dieser Blitz eine «folgore divina» sein, wie Bàrberi- Squarotti gegen den Textsinn mutmaßt. 21 Das Scheitern der Verwandlung könnte stattdessen vermuten lassen, dass es hier um einen anderen Blitz geht, nicht um einen «Lichtblitz» sondern um «Blitzlicht»: Mengaldo und andere sprechen nicht von Ungefähr von vier «istantanee […] fissate al millesimo secondo» 22 , de C.L. Huffman liest «luce di lampo» als Blitzlicht 23 , ohne interpretatorischen Gewinn aus diesen Bemerkungen zu ziehen. Weitergedacht könnte nämlich «luce di lampo» ein Verweis auf ein scheiterndes Medium sein: Hier wird etwas fotografiert, aber das verwandelt die Objekte nicht in «alcunché di ricco e strano». Das Foto scheint Montale als Medium der Verkostbarung nicht geeignet - übrigens auch nicht der Film: Montales ambivalent-kritische Haltung zum Kino ist seit seinem frühen Artikel «Espresso sul cinema» für Solaria 1927 und seinem Bekenntnis zu einer «arte vera […] di pochi e per pochi» bekannt 24 und hat sich bis zu seiner späten Nobelpreisrede «È ancora possibile la poesia? » 1975 nicht grundlegend geändert, denn hier warnt er «Tutte le arti visuali stanno democratizzandosi nel senso peggiore della parola. L’arte è produzione di oggetti di consumo, da usarsi e da buttarsi via in attesta di un nuovo mondo». 25 21 Bàrberi-Squarotti 1997, S. 73. 22 Mengaldo 2017, S. 231. 23 Siehe de C.L. Hufman 1983, S. 220. 24 Montale 1996, S. 170. Wenn Montale dieser «arte vera […] per pochi» auch das Kino «nei suoi buoni risultati» zuschlägt, kann er damit Hollywood und das Massenkino kaum gemeint haben. Vgl. Sielo 2013, S. 101-110. 25 Eugenio Montale, «È ancora possibile la poesia? Discorso tenuto all’Accademia di Svezia il 12 dicembre 1975», in: Montale 1997, S. 5-14, hier S. 8. Italienisch_82.indb 77 20.01.20 15: 36 78 Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca Marc Föcking Montale, der trotz dieser kritischen Haltung in seinen Briefen der 1930er- Jahre immer wieder (und ebenso kritisch) von seinen Kinobesuchen etwa der Filme Katharine Hepburns oder Greta Garbos berichtet, 26 hätte ohne Weiteres auch einen Film sehen können, dessen Titel sich wie Montales Vers 13 ebenfalls an Shakespeares The Tempest anlehnt: Alfred Hitchcocks Rich and Strange (GB 1931/ 32), der während Montales erster Reise nach London im August 1932 lief. Hitchcock schickt in diesem frühen Tonfilm ein unbefriedigtes englisches Mittelklasse-Ehepaar nach einem unerwarteten Geldsegen auf eine Kreuzfahrt und in ein Gefühlschaos erotischer, außerehelicher Attraktionen, und kittet die fast kaputte Ehe der beiden angesichts der Todesgefahren eines Schiffbruchs. Die beiden werden von einer chinesischen Dschunke aufgenommen und finden wieder zusammen. ‘Unchanged’ nehmen sie streitend ihr Mittelklasse-Leben in London wieder auf. Eingeblendet wird zu Beginn eine Tafel mit dem Shakespeare-Zitat «Doth suffer a sea-change into something rich and strange» - doch aus der Verwandlung wird nichts, das Shakespeare-Zitat ist bloße Ironie und auch das Kino als Medium der Verwandlung «into something rich and strange» wird in Hitchcock-typischer Autoreferenz vom Protagonisten Fred gleich zu Beginn enttarnt: «Dam the picture and the wireless and the office, I want real life». 27 Nicht ein technisches «luce di lampo» kann also die Metamorphose der Dinge leisten. Aber wer (oder was) dann? Geeigneter Kandidat ist nur die «poesia» selbst. Sie verwandelt eine beliebige Eidechse, dieses flüchtige Exemplar einer biologischen Familie, das zahllos die Lebenswelt bevölkert, in den «ramarro, se scocca», in ein einmaliges, unverwechselbares, intertextuell durch den Dante-Bezug ausgezeichnetes und durch rhetorischmetrisch-phonetische Operationen 28 individualisiertes poetisches Objekt, das durch die Isotopie der Verwandlung mit den anderen Gedicht-Objekten in eine neue, unbekannte, aber stringente Relation gebracht und so «into something rich and strange» verwandelt wird. Vom Shakespeare-Zitat des «sea-change into something rich and strange» des letzten Verses aus wird diese Verwandlung durch die «poesia» noch evidenter, denn von rückwärts gelesen werden aus den vier scheinbar zusammenhanglosen Schnappschüssen eine semantische, gleichwohl keine narrative Einheit: In Shakespeares The Tempest geht es um die wunderbaren Folgen eines Schiffbruchs vor einer Insel. Damit ist neben der der Verwandlung 26 Montale 2006, eg. S. 331 (Little Women, Regie George Cukor, 1934), S. 206 (Roberta, Regie William A. Seiter, mit Fred Astaire und Ginger Rogers, USA 1935), S. 125 (Christopher Strong mit Katharine Hepburn, USA 1933) etc. 27 Siehe zu Hitchcocks Rich and Strange Fründt 1986, S. 62-67. 28 Zu den phonetisch-lexikalischen Dantismen dieses Mottetto siehe Mengaldo 2017, S. 227-230. Italienisch_82.indb 78 20.01.20 15: 36 79 Marc Föcking Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca eine weitere Isotopie gesetzt, eine nautische: Der «cronometro» in Vers 9 ist also keine Stoppuhr (und schon gar keine «Richteruhr», wie Hanno Helbling übersetzt), sondern ein nautisches Instrument, das die Greenwich-Zeit des Null-Meridians anzeigt und zur Positionsbestimmung auf See benutzt wurde. Der «cannone di mezzodì», die «Mittagskanone», wird an diversen Orten der Welt jeweils um zwölf Uhr abgefeuert, etwa seit den 1840er-Jahren in Rom, zunächst auf dem Castel Sant’Angelo, dann bis heute auf dem Gianicolo. Dieser Schuss diente auf Land der Zeitansage, auf See der Synchronisierung der Schiffschronometren mit der Greenwich-Zeit. 29 Das im plötzlichen Windumschwung («salto») 30 im Wellental vor dem Felsen verschwindende Schiff schließt sich an die nautische Isotopie an und führt direkt zur Insel Prosperos, vor der das Schiff seines Bruders auf Grund geht: «s’inabbissa» (V. 5) ist also durchaus auch im Sinne des «in der Tiefen versinken» zu lesen - immerhin liegt Shakespeares Schiff «full fathom five» tief - fünf Faden, das sind etwa neun Meter. Der Sprung zum «ramarro» gelingt dann über die Zeitmessungs-Thematik des «mezzodì», denn der «ramarro» flitzt zur Zeit der «gran fersa», der heißesten Sommer-Sonne über den Weg - also gegen Mittag. Im Rückgriff auf Dantes «ramarro» und mehr noch das Shakespeare‘sche und mit voller Funktionalität im «invano può mutarvi in alcunché/ di ricco e strano» aufgegriffene «does suffer a sea-change/ into something rich and strange» wird aus dem auf den ersten Blick zusammenhanglosen Bildarsenal flüchtiger Eindrücke etwas Kohärentes, Festes, Dauerndes. Das «tu» des letzten Verses, dem ein «stampo», dem Form und Stabilität eignet, ist die «poesia» selbst, als Agent wie als Produkt. Und wenn man sich dennoch nicht von der liebgewordenen Identifizierung mit der Geliebten eines Canzoniere lösen mag, kann man sich daran erinnern, dass auch Petrarcas Laura ebenso für die Donna amata wie für den «Lauro», den Dichterlorbeer und die Dichtung stand. Übersetzung und Kommentar: Marc Föcking 29 Schön beschrieben in Jack Londons Die Fahrt mit der Snark (1911), London 1996, S. 213: «Als nächstes verglich ich mein Chronometer mit Kapitän Wooleys. Kapitän Wooley, der Hafenmeister, legt in Suva die Uhrzeit fest, indem er dreimal die Woche um zwölf Uhr mittags einen Signalschuss abgibt.» 30 Dass «salto» ein seemännischer Terminus für plötzlichen Windumschwung ist, betonen Isella, Montale 1996, S. 95-97, und Mengaldo 2017, S. 227. Italienisch_82.indb 79 20.01.20 15: 36 8 0 Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca Marc Föcking Bibliographie Primärliteratur D’Annunzio, Gabriele: Trionfo della morte, a cura di Giansiro Ferrata, Milano: Mondadori 1985. London, Jack: Die Fahrt mit der Snark (1911), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann, Hamburg: Mare-Verlag 2016. Montale, Eugenio: Tutte le poesie, a cura di Giorgio Zampa, Milano: Mondadori 1984. Montale, Eugenio: Le occasioni, a cura di Dante Isella, Torino: Einaudi 1996. Montale, Eugenio: Gedichte, übersetzt von Hanno Helbling, München 1987. Montale, Eugenio: Lettere a Clizia, a cura di Rosanna Bettarini, Gloria Manghetti e Franco Zabagli, Milano: Mondadori 2006. Montale, Eugenio: Montale commenta Montale, a cura di Lorenzo Greco, Parma: Pratiche 1980. Montale, Eugenio: Sulla poesia, a cura di Giorgio Zampa, Milano: Mondadori 1997. Montale, Eugenio: «Espresso sul cinema», in: ders., Il secondo mestiere. Prose 1920-1979, a cura di Giorgio Zampa, Milano: Mondadori 1996, S. 167-170. Sekundärliteratur Bàrberi-Squarotti, Giorgio: «Lettura dei ‘Mottetti’», in: Lettere Italiane (49) 1997, S. 66-88. Beltrami, Pietro G.: La metrica italiana, Bologna: Il Mulino 1991. Blasucci, Luigi: «Su un noto ‘mottetto’ montaliano: ‘Non recidere, forbice, quel volto…’» , in: Per leggere 24 (2013), S. 57-68. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1981. de C.L. Hufman, Claire: Montale and the Occasions of Poetry, New York: Princeton UP 1983. Dizionario di Metrica e Stilistica, a cura di Francesco Sarri, Cernusco: Vallardi 1996. Fründt, Bodo: Alfred Hitchcock und seine Filme, München: Heyne 1986. Gambon, G.: «Eugenio Montale’s Motets: the Occasions of Epiphany», in: PMLA 82 (1967), S. 471-484. Giunta, Claudio: «Sul ‘mottetto’ di Guido Cavalcanti», in: Studi di filologia italiana 58 (2000), S. 5-28. Mengaldo, Pier Vincenzo: «Per una lettura di un Mottetto di Montale», in: ders., La tradizione del Novecento. Quinta serie, Roma: Carocci 2017, S. 223-236. Ott, Christine: Montale e la poesia riflessa, Milano: Franco Angeli 2006. Sielo, Francesco: «Gli intellettuali e il cinema: Il caso esemplare di Eugenio Montale», in: Quaderns de Cine, 8 (2013), S. 101-110 (https: / / www.researchgate.net/ publication/ 279285313_Gli_intellettuali_italiani_e_il_cinema_il_caso_ esemplare_di_Eugenio_Montale (3.7.2019). Italienisch_82.indb 80 20.01.20 15: 36