Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2019-0026
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttVanessa Schlüter: Wissen im Herzen der Dichtung. Kardiozentrische Lyrik von Petrarca bis Marino. Göttingen: Mainz University Press bei V & R unipress 2018 (Romanica. Studien zur romanischen Literatur- und Kulturwissenschaft, Band 005), 320 Seiten, € 37,99
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Christine Ott
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117 DOI 10. 23 57/ Ital-2019 - 0 026 Buchbesprechungen Vanessa Schlüter: Wissen im Herzen der Dichtung. Kardiozentrische Lyrik von Petrarca bis Marino. Göttingen: Mainz University Press bei V & R unipress 2018 (Romanica. Studien zur romanischen Literatur- und Kulturwissenschaft, Band 005), 320 Seiten, € 37,99 Einem zentralen Motiv nicht nur der Lyrik widmet sich die Dissertation von Vanessa Schlüter. In der provenzalischen Lyrik kann es auch für den Menschen als Ganzes stehen, in der Troubadourlyrik wird es erotisiert, bei Dante erstmals mit Dichtung und Inspiration verbunden. Die Rede ist vom Herzen. In der frühen Neuzeit werde es zwar metaphorisch mit ‘Liebe’ gekoppelt, eine der heutigen vergleichbare symbolische Vereindeutigung (Herz = Liebe) habe dort aber noch nicht stattgefunden (S. 15). Für die an der historischen Diskursanalyse orientierte Dissertation bietet sich die zugleich am medizinisch-naturphilosophischen wie auch am christlich-religiösen Diskurs partizipierende Herzmetaphorik und -motivik hervorragend an, um die Funktionalisierung des Herzens in der Liebeslyrik als Knotenpunkt unterschiedlicher Diskurse zu betrachten. Die Entwicklung vor allem des wissenschaftlichen Diskurses über das Herz soll dabei mit der Entwicklung des liebeslyrischen Diskurses über das Herz verglichen werden. Die Lyrik begreift Verf. mit Rainer Warning als konterdiskursiv. Durch ihren zwanglosen Umgang mit dem Wissen eigne ihr eine «diskursive Hybridität» (S. 19), die «der Funktionsweise der Metapher» entspricht, die «deutlich von einem historischen Wandel gekennzeichnet» ist. Die Herzmetaphorik der untersuchten Werke gilt der Verfasserin entsprechend als «Index für die jeweilige Diskurskonfiguration» (S. 20). Den Petrarkismus definiert Schlüter als in hohem Maße kardiozentrisch. Den Begriff des Kardiozentrischen entlehnt sie der Medizingeschichte: Er bezeichnet jene Lehrmeinung, die mit Berufung auf Aristoteles das Herz als zentrales Organ des menschlichen Körpers betrachtet. Die medizinischen Thesen zum Herzen waren den Liebeslyrikern wohlbekannt. Als Beispiele für den regen interdisziplinären Austausch zwischen Medizin und Literatur nennt Schlüter die drei Ärzte-Literaten-Paare Guido Cavalcanti-Dino del Garbo (letzterer kommentierte Cavalcantis Donna me prega); Dante-Taddeo Alderotti (hier belässt sie es allerdings bei der Feststellung, dass beide das jeweilige «Konzept» des anderen kannten); schließlich Petrarca-Giovanni Dondi dall’Orologio (die persönliche Bekanntschaft Petrarcas mit diesem Arzt trug vielleicht zum Abnehmen seiner bekannten Ärztefeindschaft bei). Italienisch_82.indb 117 20.01.20 15: 36 118 Buchbesprechungen In ihrem Petrarca-Kapitel («Francesco Petrarca: der Canzoniere und das kranke Herz am Scheideweg») zeigt Schlüter nacheinander, wie Petrarcas Herzmetaphorik aus dem Konzept- und Motivreservoir der Theologie, der (Liebes-)Physiologie und der lyrischen Tradition schöpft. Was den theologischen Diskurs angeht, partizipiert sie insbesondere an der augustinischen theologia cordis (S. 40). Schlüter führt vor, auf welche Weise Petrarca im Secretum und in der Metamorphosenkanzone deren Motiv der «duritia cordis» aufnimmt. Sie geht ferner auf weitere Herzmetaphern ein, die entweder eine sündhafte Verstrickung des lyrischen Ich in die Fesseln der irdischen Liebe oder aber seine Befreiung daraus bedeuten. Auf den Einfluss der physiologischen Traktate eingehend zeigt Schlüter, dass der Ursprung der Liebeskrankheit dort nicht immer im Herzen, sondern manchmal auch im Gehirn oder in den Geschlechtsorganen lokalisiert wird. Durch die Widersprüche und Uneindeutigkeiten ergeben sich für die Lyrik «Freiräume des Imaginären» (S. 66). Allerdings werden diese nicht explizit dargestellt. Oder meint Schlüter damit die Verknüpfung der Liebesphysiologie mit Inspirationsmetaphorik? Interessant - allerdings geht Schlüter abschließend recht knapp darauf ein - ist die aufgezeigte Verknüpfung der Herzmotivik mit Pflanzen- und Fruchtbarkeitsmetaphorik, zumal Gaspara Stampa mit ähnlichen Motiven arbeiten wird. Das Fazit zu Petrarca ist aber ein wenig unbefriedigend: «Der dissidio des petrarkischen Herzens und der Herzensrede besteht daher darin, dass trotz des beständigen Aufschubs schließlich eine finale Konversion in Szene gesetzt wird, die dem Festhalten an der irdischen Liebe inklusive ihres Ruhmversprechens noch nicht die volle diskursive Macht zuerkennt» (S. 100). Ist mit «noch nicht» gemeint, dass es bei Stampa dann so sein wird? Dies wird nicht vollends klar. Bezüglich der Dichtung Gaspara Stampas («Gaspara Stampa: Körper, Kosmos und kardiale Selbstautorisierung in den Rime») stellt Schlüter die These auf, dass die besondere Gestaltung der Herzmetaphorik hier letztlich der Legitimierung eines weiblichen Dichtersubjektes dient, das nach Teilhabe am männlich dominierten petrarkistischen Code strebt. Das Herz ermögliche nämlich die Darstellung einer «gesteigerten Körperlichkeit», die wiederum die dichterische Rede legitimiere. Als geschlechtliches Organ konzipiert, erlaube es Stampa zudem, sich selbst als androgyne Künstlerfigur darzustellen (S. 103). Auf welche Weise nun erlaubt das Spiel mit einer sexuellen Konnotierung des Herzens eine androgyne Selbstinszenierung? Dazu zeichnet Schlüter Italienisch_82.indb 118 20.01.20 15: 36 119 Buchbesprechungen zunächst den kulturgeschichtlichen Hintergrund des Cinquecento-Petrarkismus nach, in dem das Körper- und Menschenbild vielfach geprägt ist durch das neuplatonische Sympathie- und Analogiedenken. Dadurch wird auch künstlerische Kreativität vielfältig in Analogie zur natürlichen Prokreation gesetzt beziehungsweise (gerade für Künstlerinnen) als Alternative zur physischen Prokreation gedacht. Als weiteren Bezugspunkt für Stampas dichterischen Selbstentwurf stellt Schlüter die Tradition der weiblichen Mystik und deren Herzmetaphorik vor. Anhand der Forschung zu Caterina da Siena beruft sie sich auf die dort anzutreffende Vorstellung des «fruchtbaren», mit der Gebärmutter gleichgesetzten Herzens. Anstelle von direkten Zitaten aus der Primärliteratur - die interessant gewesen wären, um die Nähe zur Metaphorik Stampas nachvollziehen zu können - belässt es Schlüter jedoch bei Verweisen auf die Sekundärliteratur. Nach einem kurzen Verweis auf Herzensbild und Herzenstausch bei Marsilio Ficino und Lorenzo de’ Medici widmet sich Schlüter dann einigen Gedichten Stampas. Die Interpretationen fallen nicht immer überzeugend aus. Nicht plausibel ist besonders die Lektüre von Gedicht CLIII (S. 121 f.). Ebenso ist nicht klar, weshalb die in CCXCI evozierte Mirtilla ein alter ego der Dichterin sein sollte und nicht deren Freundin, der Stampa unter dem bukolischen Decknamen einen Brief anlässlich ihrer Krankheit schreibt. Überzeugend dagegen ist die Lektüre von Gedicht CXLV, wo die implizite Analogisierung der beschriebenen Landschaft mit dem Körper der Sprechenden in der Tat nachvollziehbar ist. Auch die Idee der «solaren» Befruchtung des Ichs durch den «Sonnenstrahl» des Geliebten ist plausibel (zumal es bei Petrarca Situationen gibt, die dies vorwegnehmen). Überzeugend ist auch die Lektüre von Gedicht CVII (S. 186), anhand derer Schlüter zeigt, wie Stampa mit den vielfältigen Bedeutungen von «umore» spielt und dadurch eine Fülle verschiedener Diskurse zu beanspruchen weiß (S. 186). Für Giambattista Marino («Giovan Battista Marino: Letale Hypertrophie des Herzens in La Lira») postuliert Schlüter das «Ende eines analogistischen Kardiozentrismus» (S. 225). Er nutze und strapaziere das analogistische Verweissystem. Seine Lyrik betrachtet Schlüter daher abschließend als erste Station einer sich ab dem 17. Jahrhundert vollziehenden Entzauberung des Herzens. Im Zuge seiner empirischen Erforschung büßt das Herz Funktionen ein, die ihm früher noch zugeschrieben worden waren («seine respiratorische Funktion und das Kochen des Blutes»; das Herz gilt nun nicht mehr als ein «diffuses Lebensprinzip» oder als das zentrale Steuerorgan des Körpers, S. 292). Damit werde aber auch die in früherer Liebeslyrik feststellbare Bindung an den liebesphysiologischen oder den naturphilosophischen Kontext gelockert (ebd.). Und damit ende der «kardiozentrisch» Italienisch_82.indb 119 20.01.20 15: 36 120 Buchbesprechungen geprägte italienische Petrarkismus; an die Stelle der (vielfältig funktionalisierbaren) Herz-Metapher trete nun mehr und mehr das Herz als (konventionelles) Symbol der Liebe. In ihren Analysen der Gedichte Marinos konzentriert sich Schlüter vorwiegend auf die erotischen Bedeutungen, mit denen das Herz - im Kontext sowohl weltlicher als auch geistlicher Lyrik - aufgeladen wird. Besonders interessant ist hier die kühne Verschmelzung von Erotik und Spiritualität in Piaga dolce d’amore. Und besonders originell scheint Marinos «Reifizierung» traditioneller, mit dem Herz-Motiv verbundener liebeslyrischer Metaphern in einigen der Rime amorose (S. 235-242). Der temporäre Tod des liebenden Herzens (schon zuvor in der Lyrik präsent) werde nun als mehr oder weniger verdeckte Evokation des Orgasmus funktionalisiert. Das Herz werde dabei als «eines der zentralen Sinnesorgane konzipiert» (S. 274). Abschließend konstatiert Schlüter für Marinos Lira «eine wahre Explosion an Herzmetaphern» (S. 291). Die bei Marino bereits einsetzende «Entzauberung des Herzens» und Auflösung des Petrarkismus ermögliche somit auch «eine größere thematische Breite und Variabilität im Umgang mit dem Herzen als Metaphernspender» (S. 291). Schlüter konstatiert letztendlich eine Parallelität zwischen der wissenschaftlichen und der liebeslyrischen Entzauberung des Herzens. Auf ihre eingangs angekündigte Intention, eine konterdiskursive Funktion der Lyrik herauszuarbeiten, kommt sie nicht mehr zurück. Auch dieses Fazit lässt die Leser*innen etwas unbefriedigt zurück. Abschließend lässt sich sagen, dass der Zuschnitt dieser Arbeit äußerst klug gewählt und vielversprechend ist und viele neue Einsichten in die Variationsbreite der Herzmotivik und -metaphorik sowie in die Verflechtung lyrischer, religiöser und medizinisch-naturphilosophischer Diskurse im Zeichen des Herzens bietet. Die Autorin kennt die Forschung zum italienischen Petrarkismus bestens, ebenso alle aktuellen Untersuchungen zur Rolle des Herzens im kulturellen und medizinisch-physiologischen Diskurs des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Leider werden die interessanten Einzelergebnisse aber nicht mehr abschließend zusammengetragen und auch eine Rückbindung an die Fragen und Thesen des Einleitungsteils erfolgt nicht oder bleibt (zu) schwach. Dadurch bleiben einige Fragen offen, was freilich zur weiteren Beschäftigung mit einem faszinierenden Thema Anlass geben dürfte. Christine Ott Italienisch_82.indb 120 20.01.20 15: 36
