eJournals Italienisch 42/83

Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2020-0001
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2020
4283 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Krisenlektüre - Corona und der Decameron

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2020
Marc Föcking
ita42830001
1 Krisenlektüre - Corona und der Decameron Dass Not beten lehrt, ist bekannt und bewahrheitet sich auch in den ansonsten säkularen Zeiten der Corona-Pandemie, wenn auch die meisten Italienerinnen und Italiener dem ostentativen Requiescat-Gebet für die Corona-Toten von Moderatorin Barbara d’Urso und Lega-Chef Matteo Salvini in der Canale 5-Sendung «Live Non è la d’Urso» am 29 .März 2020 nicht viel abgewinnen konnten . Unstrittig aber ist eine andere in der Not wiederentdeckte Kulturpraxis, denn Not lehrt nicht nur beten, sondern auch lesen . Italien wird in Zeiten des Lock downs wieder zum Leseland, und das, obwohl analoge Buchhandlungen und Bibliotheken viele Wochen geschlossen waren und der Welttag des Buches am 23 .4 . ziemlich klanglos untergegangen ist . «Combattiamo la solitudine, continuiamo a leggere», ruft Michele Magro im aktuellen StartMagazine, einer Online-Zeitschrift «dedicato all’innovazione e alla crescità» auf, denn «fra i pochi vantaggi della reclusione domiciliare a cui siamo costretti è forse quello di poter leggere un buon libro» . Da sich das ‘gute Buch’ und Innovation nicht ausschließen, haben Feltrinelli und Mondadori den Bücherschrank ihrer eBooks für alle Italiener geöffnet Und was ist der Lesestoff der Krise? Unter den Empfehlungen sind die Pandemie-Klassiker die Gewinner, nicht nur in Italien: Thomas Manns Der Tod in Venedig oder Albert Camus’ La Peste, mittlerweile ausverkauft wie Toilettenpapier und Trockenhefe . Und immer wieder Manzonis I promessi sposi und mehr noch Boccaccios Decameron, im Schulunterricht gefürchtete Langeweiler, jetzt aber Bücher der Stunde: Der Internetauftritt des Canale 14 in Reggio Calabria befindet «Manzoni e Boccaccio hanno parlato di noi», ebenso der Literaturwissenschaftler Nuccio Ordine auf der Internetseite des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici oder der Espresso vom 27 .3 .2020: «Come è bello il Decameron al tempo del coronavirus» . Boccaccio- Projekte blühen auch im Netz: Der von der Turiner Buchhandlung Luna’s Torta initiierte Lese-/ Rap-/ Gesangsmarathon aller Novellen des Decameron - zehn pro Tag, zehn Tage lang - spielt die Quarantäne der «lieta brigata» Boccaccios mit den Mitteln des Digitalzeitalters kreativ nach, und auch die Wochenzeitschrift Die Zeit hat das epochale Novellenbuch zur schöpferischen Matrix einer «zeitgenössischen Neuauflage» ihres Decameron-Projekts erhoben: Zehn Schriftstellerinnen und Schriftsteller erzählen seit dem 26 .3 .2020 wöchentlich eine thematisch gebundene Geschichte, den Anfang macht der Verrat Die Attraktivität des Decameron liegt dabei nicht im fatalistischen Schluss, die Verwüstungen, die Corona für unser Zusammenleben, unsere Moral, unsere Wirtschaft und Gesellschaft, unsere Suche nach Schuldigen gebracht hat, seien denen der Pest von 1348 nicht so unähnlich . Sie kann auch nicht darin liegen, unsere Situation angesichts der Pestepidemien vom 14 . bis zum 17 . Jahrhundert zu verharmlosen und die biopolitischen Maßnahmen etwa in Frankreich anzugreifen - so Peter Sloterdijk in seinem kontrovers diskutierten Interview mit Le Point am 18 .3 . Sie liegt vielmehr in dem, was die Neue Zürcher Zeitung am 19 .3 . die «Magna Charta der menschlichen Selbstermunterung» genannt hat: Das Lesen, mehr noch das laute, gegenseitige, kreative Vorlesen und Erzählen macht Gemeinschaften stark und stärkt ihr «mentales Immunsystem» (NZZ), ob die «lieta brigata» Boccaccios oder die moderne Lese- und Netzgemeinde, die Boccaccios Novellen gegen die Krise stellt . Diese «tätige Selbstbemächtigung in der Sprache» (Winfried Wehle) bedeutet keineswegs gesellschaftliches Desengagement, im Gegenteil: Die Zehn kehren am Ende aus der freiwilligen Isolation in die Stadt zurück, und auch die heutigen Boccaccio-Leser werden ihre Erfahrung, trotz Isolation eine moderne «brigata» zu sein, in die Zeit nach Corona hinüberretten - hoffentlich! Marc Föcking DOI 10. 23 57/ Ital-2020 - 0 0 01 83_Italienisch_Inhalt.indb 1 19.06.20 16: 36