eJournals Italienisch 42/83

Italienisch
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0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2020-0007
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2020
4283 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Paradoxe Klarheit. Luciano Berios azione musicale «Un re in ascolto» («Ein König horcht») von 1984

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2020
Caroline Lüderssen
L’azione musicale ‘Un re in ascolto’ di Luciano Berio sin dalla sua prima messa in scena nel 1984 in occasione del Festival di Salisburgo appartiene al repertorio delle opere più eseguite dal teatro musicale contemporaneo. È un’opera particolarmente segnata dalla poetica di Luciano Berio (ibridità, storicità, frammentarietà) e fa parte, inoltre, al grande patrimonio delle opere del 20mo secolo su testi di Shakespeare. Il saggio qui proposto delinea brevemente il contenuto e la genesi del libretto che prende spunto dal dramma ‘La Tempesta’ di Shakespeare attraverso due intertesti (Siegfried Gotter, ‘Die Geisterinsel’ e W.H. Auden, ‘The Sea and the Mirror’), dalle considerazioni di Roland Barthes e Roland Havas sull’Ascolto e, last but not least, dalle idee di Italo Calvino. Il suo racconto ‘Un re in ascolto’ ha fornito il nome, ma anche molte ispirazioni per trama e figure. Il risultato di tale processo di integrazione di diversi fonti è un testo aperto per la musicalizzazione, e di seguito un’opera «aperta» ad un’interpretazione nel senso di Umberto Eco; l’artefatto adopera esteticamente una specie di «inesattezza calcolata» per concedere allo spettatore l’esperienza di una chiarezza paradossale.
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74 C A R O L I N E LÜD E R S S E N Paradoxe Klarheit. Luciano Berios azione musicale «Un re in ascolto» («Ein König horcht») von 1984 Für Marion Saxer (1960-2020) Einleitung: «But what is it about? » Zeitgenössisches experimentelles Musiktheater stellt Zuschauerinnen und Zuschauer vor neue Herausforderungen, nicht nur musikalisch Die traditionelle Opernaufführung, die Umberto Eco 1963 als inhaltsleeren gesellschaftlichen Ritus bezeichnet hat, 1 wiederholt immer die gleiche Rezeptionsstruktur, ein reines Konsumverhalten, dessen Effekte sich von denen der Katharsis im Barock weit entfernt hat Die Werke des experimentellen Musiktheaters öffnen neue Rezeptions-Räume Den Begriff des Experimentellen wähle ich in Anlehnung an etwa mit den Antipoden Schönberg und Strawinsky, oder auch mit Busoni im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts beginnende Tendenzen, traditionelle ästhetische Muster aufzubrechen Mit der Avantgarde nach 1945 erhielt das Musiktheater durch die Werke von Henze, Zimmermann, Nono, Maderna, Berio, Cage und anderen radikale Impulse für eine Neuorientierung: Erweiterung des musikalischen Materials - Medien, Geräusche, body music, (Live-)Elektronik -, Erweiterung der szenischen Lösungen - Simultanbühnen, Einbeziehen des Publikums, Performance -, Abkehr von linearer Narration, neue Zeitstrukturen, Zufallsoperationen, Klangdramaturgie, Dekonstruktion, Improvisation, Minimalismus, Cross-Over Die Frage der Zuschreibung von Sinn bleibt auch für Komponisten in einem schöpferischen Prozess zentral, der zum einen die Angst vor Instrumentalisierung für politische Zwecke mit der Notwendigkeit politischen oder gesellschaftlichen Engagements, zum anderen den radikalen Innovationswillen mit dem Wunsch nach Ausdruck und Erzählen ausbalanciert Oper im speziellen ist immer politisch, unabhängig von den Stoffen Denn die Oper kann Aktualisierungen aushalten 2 und durch die verschiedenen Medien - Text, Musik und 1 Berio 1995, S 68 2 In der Saison 2019/ 2020 war in der Oper Frankfurt eine Neuinszenierung von Giacomo Puccinis Manon Lescaut zu sehen - ein schwieriger Stoff: Manon, die junge Frau, die die wahre Liebe aufgibt zugunsten eines Lebens in einer Halbwelt von Luxus und Ruhm Wie kann man so etwas heute noch auf die Bühne bringen? In der neuen Produktion ist Manon eine Migrantin, die aus freien Stücken ihr Glück in einem neuen Land sucht, und dort in eine heutige Halbwelt gerät Giacomo Puccini, Manon Lescaut, Spielzeit 2019/ 2020, Premiere am 6 .10 .2019, Àlex Ollé (La Fura dels Baus), Inszenierung, Stephanie Schulze, Dramaturgie . DOI 10. 23 57/ Ital-2020 - 0 0 07 83_Italienisch_Inhalt.indb 74 19.06.20 16: 36 75 Caroline Lüderssen Paradoxe Klarheit Inszenierung - vielfältige, einander kreuzende und überlagernde ästhetische Wirklichkeiten darbieten Es reihen sich Augenblicke des Erlebens aneinander, während gleichzeitig die Interpretation als intellektueller Vorgang abläuft Oper ist aber auch immer ein Kunstprodukt, zwischen Distanz und Nähe, zwischen Beobachtung und Überwältigung Musiktheater ist deshalb immer offen für die Entwicklung neuer Libretto-Formen In Italien, wo Opernästhetik sich stets mit der von «Belcanto und Narration» 3 gekennzeichneten Tradition auseinandersetzt, hat sich ab den 1960er Jahren eine innovative Libretto-Ästhetik herausgebildet, die radikale neue Formen ausprobiert, mit Collagen und Fragmenten arbeitet, Metatexte einführt und durch ein hohes Maß an Intertexten kontingente, intuitiv-assoziative und oft episodenhafte, nicht-lineare und nicht-narrative Strukturen forciert . 4 Solche Hypertext-Libretti erhöhen im ästhetischen Erleben die Möglichkeit der Wahrnehmung ihres semantischen Potentials, das zahlreiche ungenannte, nicht zitierte, implizite Quellen einschließt . 5 Die Erwartungshaltung des Zuschauers zu enttäuschen, mit ihr zu spielen, sie auch hin und wieder einzulösen, zu ‘bedienen’ gehört zu diesem Spiel dazu Der 1925 im ligurischen Oneglia geborene Luciano Berio ist mit seinem Schaffen für das Musiktheater einer der wichtigsten Exponenten der italienischen Szene nach 1945 Im Bewusstsein der immer präsenten Tradition des Musiktheaters fordert Berio die Reibung mit dem Opern- und Musikestablishment In seinen Lezioni americane mit dem Titel Un ricordo al futuro, die posthum 2006 erschienen sind, schreibt er: «È vero ancora oggi che ogni possibile concezione di teatro musicale e di visualizzazione […] della musica, deve potersi misurare con innumerevoli aspetti di una generale convenzione scenica che è fatta a sua volta di tante convenzioni particolari, narrative e poetiche, sceniche e musicali . Tali convenzioni continuano a reclamare […] il loro diritto d’asilo nell’arco di una serata all’opera […] . Noi invece, come altri prima di noi, reclamiamo il loro smembramento .» 6 3 Brüdermann 2007, S 12 4 Zum innovativen Potential der Libretti in Italien im frühen 20 Jahrhundert vgl Donin-Janz 1994 5 Vgl zu neuen Libretto-Formen der 1960er Jahre Lüderssen 2012, S 12-23 und passim 6 Berio 2006, S 85 Wie Calvino war Berio eingeladen worden, die Charles Eliot Norton Lectures an der Harvard University zu halten 83_Italienisch_Inhalt.indb 75 19.06.20 16: 36 76 Paradoxe Klarheit Caroline Lüderssen «[S]membramento» - Auflösung von Erzählung, Szene und Musik in ihre Einzelteile, das klingt aufrührerisch Wie dies gemeint ist, zeigt Berios Musiktheater, das von einer Poetik des Metatheaters geprägt ist, also in vielfacher Hinsicht das Reflektieren über das Genre selbst zum Thema hat Dies gilt auch für die 1984 als Auftragswerk der Salzburger Festspiele uraufgeführte Azione musicale Un re in ascolto, mit einem Libretto von Italo Calvino und dem Komponisten Nach der Uraufführung, in einer Inszenierung von Götz Friedrich und unter der Leitung von Lorin Maazel, war das Publikum weitgehend begeistert, die Kritiker hingegen waren irritiert Auf Seiten der deutschen Kritiker gab es sogar ein gewisses Misstrauen gegenüber einem Werk, das musikalisch aus ihrer Sicht, die sie auf die deutsche Nachkriegsavantgarde eingeschworen waren, zu gut ‘hörbar’ war, das aber, was Stoff und Libretto betrifft, überkomplex und unnahbar wirkte Hans-Klaus Jungheinrich schrieb in der Frankfurter Rundschau, das Werk enthalte nichts «Verstörendes oder Riskantes» und zeige «den Vollblutmusiker Berio auf der schönen Höhe seiner Meisterschaft» . 7 Das Adjektiv «schön» war nicht als Kompliment gemeint Das Libretto wurde vielfach als ‘intellektualistisches Spiel’ verunglimpft, als Spinnerei oder Traum, als Eugenspiegelei Auf italienischer Seite war man milder . 8 Der große Opernkenner Massimo Mila hat Un re in ascolto als «una vera opera» 9 bezeichnet, mit aller dazugehörigen opernhaften Emotionalität und Bühnenwirkung Damit liegt er zwar auf einer ähnlichen Interpretationslinie wie der erwähnte Jungheinrich, jedoch wertet er die Faktoren als positiv Das Stück behandle Dinge, die eben «nur in der Oper zu behandeln sind», «only opera can tackle» 10 hieß es auch in einer Kritik der britischen Erstaufführung von Un re in ascolto in London «But what is it about? » 11 titelte die Financial Times . Luciano Berios Werk hat polarisiert: Die einen finden es gefällig und angepasst, die anderen überkomplex, unverständlich Vielleicht ist Un re in ascolto einfach ‘contemporary opera at its best’, indem es verschiedene sinnliche und intellektuelle Wahrnehmungskanäle anspricht und Interpretations-Angebote an den Zuschauer macht Das Stück ist über die selbstreflexive Poetik hinaus zugleich Abkehr und Affirmation eines Opernhaften, das grundsätzlich mehrdimensional, fragmenthaft und unabgeschlossen ist und aus einer paradoxen Spannung von Künstlichkeit und Natürlichkeit lebt . 12 7 Jungheinrich 1984 8 Vgl zum Presseecho Lüderssen 2012, S 155 ff 9 Mila 1995, S 107 10 Loppert 1989, zitiert in Lüderssen 2012, S 160 11 Loppert 1989, zitiert in Lüderssen 2012, S 155 12 Vgl dazu Amodeo 2007, S 179: «Es gehört geradezu zu einer ‘richtigen’ Rezeption der Oper, daß sich der Rezipient der Artifizialität prinzipiell bewußt ist, diese aber als authentische Erfahrung erleben kann .» 83_Italienisch_Inhalt.indb 76 19.06.20 16: 36 77 Caroline Lüderssen Paradoxe Klarheit Die folgenden Überlegungen wollen, nachdem knapp Struktur und Inhalt des Librettos von Un re in ascolto und seine Quellen in Erinnerung gerufen worden sind, Berios Poetik im Hinblick auf eben dieses paradoxe Verhältnis hin befragen und dabei die These vertreten, dass sich das Musiktheater Berios gegenüber den verschiedenen modernen und postmodernen Ästhetiken eigenständig zwischen Tradition und Innovation positioniert Ebenen des Librettos Worum also geht es? Das Stück in zwei Teilen (nicht Akten) spielt auf drei Ebenen: Die erste Ebene ist die Gedankenwelt der Hauptfigur Prospero - ein alter ego von Shakespeares gleichnamigem Magier, hier ein Theaterdirektor Er befindet sich in einer existentiellen Krise in Bezug auf das Genre, träumt von einem «anderen Theater», «un altro teatro», sinnt über neue Klänge, hört Stimmen Die zweite Ebene ist die des Theaters: Es wird ein Stück geprobt, ein Regisseur tritt auf, Prospero diskutiert mit ihm über die Konzeption des Werks, auch über inhaltliche Fragen, Motive aus Shakespeares Sturm werden zitiert, es geht um das Thema des Hörens, aber alles bleibt unentschieden Auf der gleichen Ebene finden verschiedene «Vorsingen» (Audizioni) statt, da Prospero auf der Suche nach einer Frauenstimme ist Die dritte Ebene ist das geprobte Stück: verschiedene Sänger (3 Cantanti - Tenor, Bariton, Bass) und Schauspieler (Clown, Akrobaten und Tänzer), ein Pianist, schließlich der Diener Venerdì treten auf Venerdì ist eine Sprechrolle Prospero erleidet am Ende des ersten Teils einen Schwächeanfall; im zweiten Teil tritt eine weibliche Hauptfigur auf, die «Protagonista», die von Prospero Abschied nimmt, die Oper endet mit seinem Tod Die skizzierte Handlung, die eigentlich keine ist oder sein will, ergibt sich aus einem Text, der verschiedene Zulieferungsebenen hat Italo Calvino hatte 1979 eine Libretto-Skizze um einen «König, der horcht», entworfen . 13 Sie wird zur Initialzündung für ein Libretto, 14 das zahlreiche Motive aus anderen Texten aufnimmt Der Entwurf steht im Zusammenhang mit Calvinos Projekt über die fünf Sinne Drei Erzählungen - Riechen (Il nome, il naso), Schmecken (Sapore/ Sapere) und Hören (Un re in ascolto), entstanden zwischen 1972 und 1984 - wurden 1986 posthum in dem Erzählband Sotto il sole giaguaro 13 Vgl die Dokumente zu dieser Zusammenarbeit in Calvino 1994, S 730 ff sowie in Brüdermann 2007, S 147-149 14 Zum Libretto von Luciano Berios Un re in ascolto vgl die entsprechenden Kapitel in Lüderssen 2012, S 127-166 und Brüdermann 2006, S 146-170 83_Italienisch_Inhalt.indb 77 19.06.20 16: 36 78 Paradoxe Klarheit Caroline Lüderssen (Unter der Jaguarsonne) zusammengefasst . 15 Das Libretto durchlief verschiedene Phasen in der Zusammenarbeit von Berio und Calvino, 16 Calvino äußert dazu in einem Gespräch 1985: «Il libretto dell’opera è infatti scritto in parte da Berio L’idea iniziale era mia, poi Berio si è innamorato della metafora del teatro e anche io ho seguito il suo suggerimento […] Credo che il nucleo allegorico del mio racconto iniziale sia ancora riconoscibile anche se introdotto in una drammaturgia espressionista che è molto lontana dalle mie intenzioni .» 17 Luciano Berios musikalische Poetik ist von Techniken der Amalgamierung, der Bearbeitung und des Zitats geprägt Charakteristisch dafür ist das programmatische Orchester-Stück Sinfonia von 1968/ 69 Im dritten Satz zitiert Berio beispielsweise schon mit der Tempobezeichnung «In ruhig fließender Bewegung» den 3 Satz von Gustav Mahlers 2 Sinfonie, der sogenannten «Auferstehungssinfonie» (1895) Er collagiert Zitate von zahlreichen Komponisten und Stilen, von Bach, Beethoven, Brahms über Berlioz, Debussy, Mahler, Hindemith bis zur Zweiten Wiener Schule mit Berg und Schönberg, mit Eigenem In dieser Weise bestimmt er bzw «er vermisst» («to measure»), wie er in einem Interview einmal sagt, seinen Abstand zu den anderen Epochen . 18 Diese musikalische Collage-Technik löst bis heute Kontroversen aus Der Musikkritiker Mario Bortolotto hat Berio mittelbar einen ‘Trittbrettfahrer’ genannt, der die jeweils von anderen neu entdeckten Techniken und Stile für Eigenes nutze . 19 Auf der Videoplattform youtube tauschen Hörer*innen Hörprotokolle und Meinungen aus Zu Sinfonia überwiegen Begeisterung und Bewunderung: «If anyone of you […] feels that it weakens the standing of this masterpiece of musical art if it is a collage of different compositions - then by ALL MEANS try sitting down to write your own collage The art of collage is NOT easy So save your breath and hold your peace and enjoy this .» 20 15 Seh- und Tastsinn blieben unbearbeitet 16 Vgl zur Rekonstruktion der Genese Brüdermann 2007, S 146 ff Un re in ascolto erschien erstmals gekürzt am 12 ./ 13 August 1984 in La Repubblica, kurz nach der Uraufführung von Luciano Berios Azione musicale in Salzburg 17 Calvino 2002, S 617 18 Im Dokumentarfilm Voyage to Cythera von Frank Scheffer, 1999, abrufbar unter https: / / www .youtube .com/ watch? v=IiNBSfnGCI8 (19 .2 .2020) 19 Vgl Bortolotto 2008, S 172 f 20 risingmoon07, https: / / www .youtube .com/ watch? v=9YU-V2C4ryU (19 .2 .2020) 83_Italienisch_Inhalt.indb 78 19.06.20 16: 36 79 Caroline Lüderssen Paradoxe Klarheit In Un re in ascolto nun ist dieser Hang zum Zitathaften, zum Zusammenbringen von Bekanntem mit Eigenem in den Text eingeschrieben Der Kontext von Shakespeares Sturm, der durch den Namen Prospero aufgerufen ist, wird bei Berio über zwei Metatexte vermittelt: Das Singspiel Die Geisterinsel nach Shakespeare von Friedrich Wilhelm Gotter, erschienen 1797 in Schillers Zeitschrift Die Horen, 21 und The Sea and the Mirror A Commentary on Shakespeares The Tempest des englischen Schriftstellers und Librettisten W .H Auden von 1944 . 22 Gotters Singspiel war Vorlage zahlreicher Vertonungen im frühen 19 Jahrhundert Es reduziert das Stück gewissermaßen auf eine Vorlage für ein naturalistisches Spektakel Dazu passen auch die zahlreichen detaillierten Beschreibungen der Bühnenbilder und der Kostüme Daraus abgeleitete Grundelemente in Berios Text sind der Schauplatz der Insel, die Meer-Assoziationen und die grundsätzliche Präsenz der Magie The Sea and the Mirror ist ein kompliziertes Gebilde, was Genre und Sprache betrifft Der Titel bezieht sich auf den Gedanken der Kunst - mirror - als Spiegel des Lebens - the sea, das «Meer von Möglichkeiten» . 23 Auden stellt eine Sammlung von Monologen polyphon nebeneinander, die eine Art Nachlese der Handlung des Sturm darstellen, nachdem ‘der Vorhang gefallen ist’ . Durch diese beiden, einem allgemeinen Publikum heute völlig unbekannten Texte destilliert Berio seinen ‘horchenden König’, aus dem Herzog- Magier wird ein Theaterdirektor Shakespeares Stück von 1611 ist das am meisten vertonte seiner Dramen, beginnend mit der Henry Purcell zugeschriebenen Adaption von 1695, 24 bis 1965 sind es 31 . 25 Die meisten der Kompositionen sind unbekannt geblieben, aber mit Die Geisterinsel von Johann Friedrich Reichardt (1798), La tempesta von Jacques Halévy (1850) und Der Sturm des Schweizers Frank Martin (1956) seien einige Etappen aufgerufen Auch bei zeitgenössischen Komponisten scheint sich dieser Trend fortzusetzen 21 Gotter 1797 Vgl Lüderssen 2012, S 140-144 22 Auden 1953, S 7-60 Zu den Reflexen des Werks in Berios Libretto vgl Lüderssen 2012, S 145 ff 23 Vgl Garrett 2004, S 236 24 Bei Dean 1965 beginnt der Reigen mit Purcell und endet mit Frank Martin (1956) Eine aktuelle Übersicht bietet http: / / www nosweatshakespeare com/ resources/ shakespeareinspired-operas/ (19 .2 .2020) 25 An zweiter und dritter Stelle stehen Romeo and Juliet und A Midsummer Night’s Dream 83_Italienisch_Inhalt.indb 79 19.06.20 16: 36 8 0 Paradoxe Klarheit Caroline Lüderssen Aus jüngster Zeit sind zu nennen The Tempest (2004) des Briten Thomas Adès 26 und Prospero (2006) von Luca Lombardi Peter Greenaways monumentales Filmspektakel Prospero’s Books von 1991 mit John Gielgud als Prospero und Musik des Minimalisten Michael Nyman gehört ebenso in diesen Kontext wie Berios Un re in ascolto Was macht The Tempest so interessant für die Umarbeitung in eine Oper? Da ist zum einen der STOFF Prospero, Herzog von Mailand, wird durch seinen Bruder entmachtet und mit seiner Tochter Miranda auf dem Meer ausgesetzt, er strandet auf einer Insel, überlebt und führt nach zwölf Jahren die Gelegenheit herbei, sich an seinen Widersachern zu rächen: Die Feinde stranden durch einen durch den Luftgeist Ariel hervorgerufenen Seesturm auf der Insel, werden als Schiffbrüchige in Extremsituationen gebracht, schließlich kommt es zu einer groß von Prospero moderierten Versöhnung Der Text bringt Grundkonflikte der menschlichen Gesellschaft auf die Bühne: Herrschaft, Usurpation, Macht; Prospero, das Opfer der Usurpation, hat sich durch Zauberei die Insel, die von Caliban, dem Sohn der Hexe Sycorax bewohnt wird, untertan gemacht und diesen versklavt; den Luftgeist Ariel befreit Prospero bei seiner Ankunft aus einem Baum, er ist ihm aus Dankbarkeit zu Diensten, steht in einer Art Abhängigkeitsverhältnis; Prospero ist schließlich seiner Tochter Miranda ein fürsorglicher, aber auch dominanter Vater Er beherrscht die Instrumente der Macht meisterlich Prospero ist, mit den Worten von Klaus Reichert, «ein Leser Machiavellis .» 27 Der Machiavellismus Prosperos zeigt sich in seinem Umgang mit Fortuna, der Glücksgöttin, die in den Renaissance-Poetiken eine so große Rolle spielt Fortuna IST «The Tempest», und Prospero spricht von ihr wie von einer Geliebten . 28 Er weiß sie, frei nach Machiavellis Principe, virtuos zu bändigen, indem er die nötige Durchsetzungskraft - virtù - zeigt Er bedient sich dabei freilich der Magie Der Zauberer Prospero kennt den Unterschied zwischen weißer und schwarzer Magie, und die Grenzen zwischen den beiden Formen sind nicht immer trennscharf, wie sich in den Ambivalenzen der Figuren Prospero und Caliban zeigt Letzterer beschreibt seine Insel gegenüber 26 Platz vier der Liste «Top Ten Shakespeare Operas» (2011) der Online-Zeitschrift San Francisco Classical Voice (Ausgewählt von Michael Zwiebach), https: / / www .sfcv .org/ article/ top-ten-shakespeare-operas (19 .2 .2020) Adès (Jahrgang 1971) hat 2004 den Sturm als relativ klassische Oper vertont: uraufgeführt in London, am Royal Opera House, mit einem Libretto von Meredith Oakes 27 In Reichert 1998, S 119-133 (Erstveröffentlichung 1989 .) 28 «By accident most strange, bountiful Fortune, / (Now my dear lady) hath mine enemies / Brought to this shore .» (I Akt, 2 Szene, Vers 178 ff .) 83_Italienisch_Inhalt.indb 80 19.06.20 16: 36 81 Caroline Lüderssen Paradoxe Klarheit den lustigen Gesellen Stefano und Trinculo, die ihn, in betrunkenem Zustand, zu ihrem König erklärt haben: «[Caliban] Be not afeard; the isle is full of noises, Sounds and sweet airs, that give delight and hurt not Sometimes a thousand twangling instruments Will hum about mine ears, and sometime voices That, if I then had waked after long sleep, Will make me sleep again: and then, in dreaming, The clouds methought would open and show riches Ready to drop upon me that, when I waked, I cried to dream again .» (III Akt, 2 Szene, Verse 133-141) Calibans poetische Rede überrascht bei einer Figur, die als «abhorred slave», als «brave monster» (I Akt, 2 Szene, Vers 353; II Akt, 2 Szene, Vers 188) eingeführt wird und die der Zivilisation entgegensetzt sein soll Die Ambivalenz dieser Figur ist ebenso wie diejenige Prosperos ein verstörendes Element, das zu einer Bearbeitung reizt, weil sich hier Auslegungsfreiheiten ergeben Die von Caliban genannten noises und instruments werden auf Handlungsebene von Ariel, dem Luftgeist, produziert Die Insel ist voller Geräusche, und tausend Instrumente summen ein universelles Lied MUSIK ist selbstredend ein weiterer elementarer Bestandteil von The Tempest, die Lieder Ariels begleiten den Fortgang der Handlung oder spiegeln die Stimmungen der Figuren wider, 29 zu den musikalischen Elementen in Shakespeares Stück gehört auch die Masque im 4 Akt, mit dem Auftritt der Göttinnen Iris, Ceres und Juno in der Hochzeitszeremonie für Miranda und Ferdinand The Tempest enthält schließlich genuin Opernhaftes: Die Konnotationen des Fantastischen, des Übersinnlichen, die Zauberei, der Schauplatz einer magischen Insel, die starken Gefühle einer eher handlungsarmen Geschichte 30 (es geht um Leben und Tod, um Liebe, um Herrschaft und Zerstörung, um Wiederherstellen einer Ordnung, um Verzicht), schließlich die Figuren- 29 Es sind die drei bekannten Songs: Come unto these yellow sands (Ariel lockt den schiffbrüchigen Prinzen Ferdinand in die Nähe von Prosperos Hütte), Full fathom five / your father lies (Ariel besingt Ferdinands vermeintlich toten Vater) und Where the bee sucks, there suck I (Ariels Bekenntnis zur Natur) Vgl dazu die Songs for Ariel (1962) von Michael Tippett, neu eingespielt auf der CD Views on/ of Shakespeare Shakespeare- Vertonungen des 20 Jahrhunderts, Carola Schlüter (Sopran)/ Andreas Sorg (Klavier)/ Reinhard Weihmann (Sprecher), Cadenza 800869 30 Vgl Bloom 1998, S 666, der das Stück als «virtually plotless» bezeichnet 83_Italienisch_Inhalt.indb 81 19.06.20 16: 36 82 Paradoxe Klarheit Caroline Lüderssen konstellation (Liebespaar, Bösewicht, Buffo-Figuren) . 31 Effetto und passioni gehören zu den Konstanten der Oper seit Beginn der Gattung . 32 Shakespeare über Gotter und Auden also Der dritte entscheidende Ideen-Lieferant für das Libretto von Un re in ascolto sind Gedanken zum Konzept des Hörens Dieser Punkt geht an Calvino, der sich auf den Eintrag Ascolto von Roland Barthes und Roland Havas in der 1976 erschienenen Enciclopedia Einaudi bezog Die differenzierte Studie unterscheidet «Hören» (udire) von «Zuhören» (ascoltare) Man hört auf Zeichen - Funktion von Alarm (allarme) - und man entziffert Botschaften (decifrazione); das Zuhören jedoch ist ein intersubjektiver Akt, eine Hin- und Her-Bewegung, die die (Hör)-Beziehung zweier Menschen gestaltet Italo Calvino entfaltete in Un re in ascolto ein Kompendium über «den Zauber des Universums der Klänge», wie Ulla Musarra-Schrøder es nennt, 33 über das Hören, das Miteinander- und Ineinanderklingen von / das Hören auf Stimmen, die Abfolge von Klängen, die eine Erzählung ergeben können Die Erfahrung des Hörens wird zur existentiellen Frage, der Hörende, der König, der horcht, verwandelt sich selbst in die Töne bzw wird zum Resonanzkörper: «Il palazzo è tutto volute, tutto lobi, è un grande orecchio in cui anatomia e architettura si scambiano nomi e funzioni: padiglioni, trombe, timpani, chiocciole, labirinti; tu sei appiattato in fondo, nella zona più interna del palazzoorecchio, del tuo orecchio; il palazzo è l’orecchio del re .» 34 Auch für Berio waren diese Überlegungen und Abwägungen sozusagen von poetologischer Strahlkraft Präsenzerfahrung im Musiktheater Luciano Berio liefert mit Un re in ascolto keine Vertonung, sondern eine kongeniale Aktualisierung des im Off raunenden Intertexts, The Tempest von William Shakespeare: Die Hauptfigur heißt Prospero wie Shakespeares 31 Harold Bloom nennt The enchanted Isle von William Davenant und John Dryden (für Purcells Oper), die Caliban als singenden Trunkenbold darstellt, für Generationen eine Paraderolle für «singing comedians», Bloom 1998, S 663 32 Vgl dazu Gier 1998 33 Musarra-Schrøder 2005, S 114 34 Calvino 2002 (2005), S 55 Der königliche Palast als Labyrinth von Klängen ist eines der Labyrinthe der Wirklichkeit, die Calvino herausfordert oder die ihn herausfordern: «Quel che la letteratura può fare è definire l’atteggiamento migliore per trovare la via d’uscita, anche se questa via d’uscita non sarà altro che il passaggio da un labirinto all’altro .» (Calvino 1995, S 116) 83_Italienisch_Inhalt.indb 82 19.06.20 16: 36 8 3 Caroline Lüderssen Paradoxe Klarheit berühmter Magier, aber der Stoff erscheint als durch vielfältige Rezeptionsstadien gefiltert und erweitert . 35 Thematische und ästhetische Botschaften der Oper sind vielfältig Die Zuschreibung von Bedeutung ist nur ein Teil davon Hans Ulrich Gumbrecht hat 2004 für das ästhetische Erleben den Gegensatz von meaning und presence geprägt . 36 Bei Texten ist eher die Bedeutung, bei Musik die Präsenz im Vordergrund Präsenzerfahrung äußert sich ‘plötzlich’, äußert sich in einem ‘Raum’, äußert sich als ‘Ereignis’ . 37 Oper gehört in dieses Wirkungsfeld - auch im Hinblick darauf, dass Kunsterfahrung als Transzendierung des Alltags gesehen wird: «What we call ‘aesthetic experience’ always provides us with certain feelings of intensity that we cannot find in the historically and culturally specific everyday worlds that we inhabit .» 38 Oper an und für sich liefert solche transzendenten Erlebnisse, die auf einer emotionalen, oder jedenfalls nicht rationalen Ebene liegen - natürlich nur, wenn man sich darauf einlässt Die aktuelle Publikumsforschung spricht hier auch von einem «präsentischen Begegnungsraum», in dem «Erfahrungen gemacht werden, die sich logischen Denkkategorien entziehen, die aber trotzdem einen inneren Zusammenhang aufweisen» . 39 Stoff- und Textfülle in Un re in ascolto sind unüberschau- und unentwirrbar, die zahlreichen fragmenthaften Bezüge sprengen die Handlung Der Text gleicht einem Kaleidoskop, 40 in dem sich Bilder immer wieder neu zusammensetzen, ein Vorgang, der den Bemühungen um eine veränderte Wahrnehmung im Sinne der opera aperta-Ästhetik Umberto Ecos 41 im Hinblick auf eine nach allen Seiten hin offene und veränderliche Konzeption strukturell ähnelt Das Libretto verweigert mithin eine lineare Struktur und zwingt dazu, sich mit jeder Szene neu zu orientieren Den Grundkonflikt von Shakespeares Sturm, die Fragen nach Identität und Herrschaftsanspruch, nach Todesangst und Todessehnsucht, bzw der Fähigkeit zum Altern, übersetzt Berios Text in eine auf das Theater selbst bezogene offene Form, die Freiheit zur Interpretation lässt Das Shakespeare’sche Stück mit seinem Figuren-Tableau ist Erinnerung und Projektions- 35 Es ist ausdrücklich keine Collage von Texten wie bei Nono, etwa in dessen Intolleranza 1960 (1961) und Al gran sole carico d’amore (1978) 36 Bereits Yves Bonnefoy hatte in der Kunstbetrachtung die présence im Sinne der Existenz einer «zusätzlichen Anwesenheit» der Dinge im Erleben eingeführt Vgl dazu Lüderssen 2012, S 17 f 37 Vgl Gumbrecht 2004, S 111 f 38 Gumbrecht 2004, S 99 39 Baschera/ Bucher 2008, S 10 40 Vgl zur Interpretation des Librettos von Un re in ascolto als Kaleidoskop Lüderssen 2012, 4 Teil, ab S 127 41 Eco 1962 83_Italienisch_Inhalt.indb 83 19.06.20 16: 36 8 4 Paradoxe Klarheit Caroline Lüderssen fläche für den aktuellen Konflikt: Ringen um künstlerische Form, Kommunikation, Selbstbestimmung, Angst vor Einsamkeit und Tod Die Arien von Prospero, Aria I-IV und VI, fassen die Gedanken zum Hören zusammen und bilden damit - in der Form ein Rückgriff auf das traditionelle Operngenre - eine über das Stück verteilte eigene gedankliche Linie Ähnliches gilt für die Audizioni - sie sind vor allem auf den Text von Auden bezogen Die Duette und die Monologe des Venerdì verhandeln die theaterästhetischen Fragen, die Auden aufwirft Die Rolle des Venerdì steht womöglich für die Figur des Caliban Berio verbindet sie mit einer Assoziation an Defoes Robinson Crusoe und gestaltet die Rolle in ironischer Brechung dazu als eloquente Sprechrolle Nimmt man die Texte der Arien in einer Zusammenschau in den Blick, dann sind die wichtigsten Stadien der Hörerfahrung des krisengeschüttelten, suchenden Prospero erfasst: Ein anderes Theater, in dem ein unbekanntes Ich singt, die Klänge und das Hören der Klänge als Kommunikation, eine Stimme, eine Erinnerung, das Versinken im Klang, in einem Meer von Musik (bezüglich der Metaphorik Audens das Leben), die Bedeutung der Erinnerung für die Zukunft Aria I: «Ho sognato un teatro, un altro teatro/ esiste un altro teatro,/ oltre il mio teatro/ / un teatro dove un io che non conosco canta…» Aria II: «I suoni arrivano al porto, al teatro, all’orecchio,/ al grande porto del teatro orecchio ./ / Sono i suoni con in più l’ascolto dei suoni/ Cerco qualcosa che mi vien detto fra i suoni/ e ch’io non so se devo aspettare/ con desiderio o con paura…» Aria III: «C’è una voce nascosta fra le voci/ che appare e che scompare/ / Tu, dice, oppure io, dice,/ ricordati io ricordo il ricordo,/ dice, ma non voglio ricordare…/ / C’è una voce che parla di me/ seppellita fra la voci,/ dentro di me, dentro l’ascolto,/ che dice muori, dice, io ho paura .» Aria IV: «I suoni hanno un rovescio ./ Mi trovo dentro il suono…/ / Il mio regno è una distesa impalpabile,/ è il pontefiume di musica che vola,/ il mare di musica quando si stacca dalle rive,/ dalle corde che vibrano, quando approda e fa vibrare .» Aria VI: «il non ricordo è un lago freddo e nero/ la memoria custodisce il silenzio ricordo del futuro/ la promessa ./ Quale 83_Italienisch_Inhalt.indb 84 19.06.20 16: 36 85 Caroline Lüderssen Paradoxe Klarheit promessa? / Questa, che ora arriva a sfiorare/ col limbo della voce e spezza come il vento accarezza/ il buio nella voce il ricordo in penombra/ un ricordo al futuro .» 42 Die musikalische Poetik Berios ist in dieser Suche nach Klang und in diesem Festhalten an Erinnerung aufgehoben Man kann sich fragen: Wozu dienen die Bemühungen der Textdichter um die vielen Facetten in einem Libretto, wenn man während der Aufführung nur einen Bruchteil davon erfassen kann? Vielfach ist in diesem Zusammenhang bei Berio ein Bezug auf Brechts episches Theater vermutet worden Berio bestätigt dies, da Gedanken eines antiillusionistischen Theaters und Distanznahme des Zuschauers, das Zitathafte («i modi della citazione» 43 ), ihm entgegen kommen Berio schreibt: «Il razionalismo critico che il teatro epico di Brecht applica alla scena e al rapporto scena/ pubblico, contro un’idea di teatro illusionistico e consolatorio, implica un’autonomia dei livelli espressivi e di tutti gli elementi della rappresentazione La musica vi ha un ruolo fondamentale, soprattutto quando contribuisce con la sua autonomia a interrompere lo svolgimento dell’azione e ad alienarlo .» 44 Gerade der Begriff «consolatorio» weist ja auf eine Umkehrung der Wirkungsästhetik hin Ute Brüdermann hat den Einfluss Brechts auf Berio vielleicht nicht ganz zu Unrecht als eine Art Rezeptionshilfe eingeordnet 45 und ein Konzept des selbstreflexiven Metatheaters für Berios gesamtes musiktheatralisches Schaffen stark gemacht Meine Antwort auf die oben gestellte Frage beruht auf der genannten Präsenzerfahrung: Die in der unmittelbaren Wahrnehmung des Stückes während einer Aufführung nicht mehr entschlüsselbare Mischung von Texten und Gedanken begründet eine «kalkulierte Uneindeutigkeit», 46 die darauf angelegt ist, den Zuschauer auf eine unsichere Denk- oder Empfindungslinie zu lenken Es wird also deutlich: 42 Berio 1983, S 2, 26, 30, 52, 56 (HvH C .L .) 43 Berio 2006, S 86 44 Ebd 45 «Der Rekurs [auf Brecht] dient dazu, die eigenen Konzeptionen im Rückgriff auf möglichst nahe, bekannte Vorstellungsgebäude zu erläutern Weniger für die Werke als vielmehr für deren Erklärung scheinen die angesprochenen Theaterkonzepte oft Ausgangspunkte zu sein .» Brüdermann 2007, S 270 Brüdermann zitiert einen Brief Berios bezüglich des Werkes Opera (1978), in dem deutlich wird, dass Berio Peter Brook und Bertolt Brecht vor allem anführt, um in seiner Intention verstanden zu werden, aber: «‘Opera’ esisterebbe anche senza di loro .» 46 Lüderssen 2012, S 12 83_Italienisch_Inhalt.indb 85 19.06.20 16: 36 86 Paradoxe Klarheit Caroline Lüderssen Gerade indem Berio auf eine Handlung und eine Botschaft im klassischen Sinne verzichtet - und eben auch auf eine Lösung oder ‚Erlösung‘ - wird aus dem Durcheinander paradoxerweise eine um so klarere Anweisung: Vermiss auch Du, Zuschauerin oder Zuschauer, Deine Position, praktiziere das interpretierende Hören, ‘ich höre zu’ heißt auch: ‘Höre mir zu’! 47 Am Ende von Shakespeares Sturm schwört Prospero der Zauberei ab: «But this rough magic/ I here abjure» (V Akt, 1 Szene, Verse 50-51) und kündigt an, seinen Zauberstab zu zerbrechen: «I’ll break my staff,/ Bury it certain fadoms in the earth», und sein Zauberbuch zu versenken: «And deeper than did ever plummet sound/ I’ll drown my book» (Verse 53 ff .) Berios Prospero scheitert bei seiner Suche nach einem anderen Theater; das erinnert an Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore, die von Beginn an, wie Peter Szondi es formulierte, wegen der «nicht aufzuhebenden Differenz zwischen der wirklichen und der theatralischen Szenerie» zum Scheitern verurteilt ist . 48 Dass Prospero scheitert, erklärt sich auch mit der Figur des Luftgeists Ariel, der in Shakespeares Sturm auf Geheiß von Prospero die Fäden zieht: Bei Berio ist Ariel ein stummer Mime, der lediglich beobachtet Damit ist diesem Prospero die Macht zum Gestalten genommen Ob der Traum des anderen Theaters verwirklicht wird, bleibt offen; Prospero jedenfalls überlebt hier nicht, ein Happy End, wie bei Shakespeare, mag es dort auch noch so erzwungen sein, gibt es nicht Es liegt auf musikalischer Ebene Auseinandersetzung mit dem Belcanto Musikalisch hat man es bei Berio mit einem zwar im Vokalen Wurzelnden zu tun, aber Konzessionen an den Belcanto werden hier auf den ersten Blick nicht gemacht Im Gegenteil scheint die Musiksprache in Un re in ascolto zuweilen schroff, enthält zum Teil parlando-Elemente, und ist nicht immer leicht zugänglich Der bereits erwähnte Mario Bortolotto hat Berio Eklektizismus, Anbiederei und Selbstliebe vorgeworfen, obwohl er, ähnlich wie die anfangs zitierten Kritiker, auch die ‘Schönheit’ seiner Musik nicht in Abrede stellt: «Caso unico, questa nuova musica va apprezzata come musica tout court, giacché i problemi che ogni lavoro pone valgono solo per l’artigiano, non hanno alcuna area di riflessione critica, né inducono a considerazioni generali Ma in questo luna park, […] in questo giardino botanico, 47 Vgl dazu auch Brüdermann 2006, S 150, wenn sie schreibt, dass «Hören und Gehörtwerden in dem Moment [des] gemeinsamen Singens dasselbe sind» 48 Szondi 1963, S 131 83_Italienisch_Inhalt.indb 86 19.06.20 16: 36 87 Caroline Lüderssen Paradoxe Klarheit aperto, […] ‘alla gioia delle anime sensibili’, si circola con compiacimento innegabile .» 49 Zum Schluss also noch einmal zum Belcanto: Mit der Sequenza III für Stimme solo von 1965 hat Berio die durch Strawinsky-Schönberg ins Rollen gebrachte neue Vokalität weiter entwickelt . 50 Sprechen, Flüstern, Lachen, Jazz, Husten, Näseln, Klatschen, Zungenschnalzen, ‘Indianergeheul’, und Verweigerung des Auftritts- und Abgangsgeschehens sind nur ein Teil der hier in die Partitur geschriebenen Techniken Luciano Berios erste Ehefrau, die Sopranistin Cathy Berberian, öffnete in den 1960er Jahren den Belcanto in Richtung einer New vocality, die Sequenza III ist ihr gewidmet, wie zahlreiche andere Kompositionen der Zeit Die Begegnung mit dem Belcanto in der Operntradition ist für italienische Komponisten immer ein Thema Zahlreiche Komponisten nach 1960 setzten sich mit dem Belcanto auseinander . 51 Nach einer Klassifizierung der Frankfurter Musikwissenschaftlerin Marion Saxer 52 gibt es für die Auseinandersetzung mit dem Belcanto in der zeitgenössischen Musik verschiedene Lösungen: Affirmation 53 , Abkehr 54 , verborgene Bedeutung 55 , paradoxer Bezug zum Belcanto 56 , die Integration des Belcanto . 57 Die integrativen Modelle lassen sich von der scheinbaren Gefühlsbetontheit des Belcanto nicht abschrecken und generieren daraus etwas wirklich Neues: das Nebeneinander von Koloratur und Geräusch, 49 Bortolotto 2008, S 173 f 50 «La Sequenza III […] apre infine la via alle attuazioni più impegnative È un saggio di vocalità totale realmente maestrevole .» Bortolotto 2008, S 193 51 Schönberg hatte mit dem Pierrot Lunaire als einer der ersten den ‘schönen Gesang’ herausgefordert, mit einer spezifischen Form des Sprechgesang, und damit die Problematik der Stimme zwischen «Anspruch» und «Ohnmacht» gegenüber dem Gesamtklang in ein neues Verhältnis gebracht Vgl Tramsen 2003, S 20 52 In einem Vortrag zum Thema «Cathy Berberian und die Folgen Die neue Vokalpraxis 1960-2015» bei dem Symposion «For Cathy Berberian» Stimmperformance um 1960 . Konzert-Symposion in Frankfurt am Main, Haus am Dom, 4 Juli 2015, vgl Saxer 2019 53 Etwa in Luigi Nonos Komposition für Stimme und Tonband mit dem Titel La fabbrica illuminata von 1964, in dem der Belcanto (auf einen Text von Cesare Pavese) «Hoffnungssymbol» wird, zum Ausdruck einer «Utopie eines emanzipierten Individuums in einer humaneren Welt .» (Saxer 2019, S 7) 54 Kompositionen, in denen die Stimme als Atem, als Murmeln, als Geräusch reduziert ist 55 Beispielsweise Helmut Lachenmanns temA und eben die Sequenza III von Berio 56 Etwa in den minimalistischen Mikromelodien des Sizilianers Salvatore Sciarrino, die die Erwartungshaltung des Hörers auf große Melodieentfaltung enttäuschen und ihn in einer Art suspendierter Spannung des «noch nicht/ nicht mehr» (Saxer 2019, S 19) halten 57 Etwa SongBooks von John Cage (1970), in denen neue und alte Techniken gleichberechtigt nebeneinander stehen Auch in der Negation des Belcanto lassen sich die neuen Positionen letztlich doch auf den Belcanto ein 83_Italienisch_Inhalt.indb 87 19.06.20 16: 36 8 8 Paradoxe Klarheit Caroline Lüderssen modularen Klangprozessen, Zitaten von Melodiefloskeln In der Interpretation des Belcanto als Ausdruck von Subjektivität und Reflexion liegt laut Saxer der Schlüssel zu den vielfältigen neuen Formen der Auseinandersetzung mit ihm, welche letzthin „zu einer Semantisierung der Klangqualität des Kunstgesangs selbst“ geführt haben . 58 Ein Beispiel aus Un re in ascolto ist der Schluss des ersten Teils, die Aria III, in der dem Ringen Prosperos um den Klang mit einer melodisch, dynamisch, agogisch ähnlich dem klassischen Belcanto gestalteten, frei tonalen Stimmführung Ausdruck gegeben wird und dazu das Orchester autonom in Klang-Clustern, lautmalerischen Passagen und kontrapunktischen Elementen agiert Unbestreitbar hat Berio eine ureigene, originelle und, wie ich meine, unverwechselbare Musiksprache geschaffen, die letztlich im italienischen Humanismus wurzelt In einem Interview mit sich selbst schreibt er: «vorrei che questo lavoro rivelasse un’espressività simile a quella di un volto umano Ora sereno, ora triste, ora allegro, ora stanco e, infine, senza vita .» 59 Oper ist als multimediales, multimodales und multiperspektivisches Genre offen für die Aktualisierung Indem es vielfältige Weltzugänge in einer unmittelbaren Präsenz ‘darbietet’ und den Zuschauer im Sinne Ecos eine gestaltende Rolle zuweist, 60 ist es DAS zeitgenössische Genre schlechthin, da es interaktive und hybride Produktions- und Rezeptionsprozesse begünstigt Als einer der bedeutendsten Beiträge von Luciano Berio dazu findet sich vor allem ein Werk aktuell immer wieder auf den Spielplänen: Un re in ascolto Abstract. L’azione musicale Un re in ascolto di Luciano Berio sin dalla sua prima messa in scena nel 1984 in occasione del Festival di Salisburgo appartiene al repertorio delle opere più eseguite dal teatro musicale contemporaneo È un’opera particolarmente segnata dalla poetica di Luciano Berio (ibridità, storicità, frammentarietà) e fa parte, inoltre, al grande patrimonio delle opere del 20 mo secolo su testi di Shakespeare Il saggio qui proposto delinea brevemente il contenuto e la genesi del libretto che prende spunto dal dramma La Tempesta di Shakespeare attraverso due intertesti (Siegfried Gotter, Die Geisterinsel e W .H Auden, The Sea and the Mirror), dalle considerazioni di Roland Barthes e Roland Havas sull’Ascolto e, last but not least, dalle idee di Italo Calvino Il suo racconto Un re in ascolto ha fornito il nome, ma anche molte ispirazioni per trama e figure Il risultato di tale processo di integrazione di diversi fonti è un testo aperto per la musicalizza- 58 Saxer 2019, S 25 59 Berio 1984, S 7 60 Vgl dazu Seel 2007, v .a Kapitel 5: «Inszenieren als Erscheinenlassen .» (S 67 ff .) 83_Italienisch_Inhalt.indb 88 19.06.20 16: 36 8 9 Caroline Lüderssen Paradoxe Klarheit zione, e di seguito un’opera «aperta» ad un’interpretazione nel senso di Umberto Eco; l’artefatto adopera esteticamente una specie di «inesattezza calcolata» per concedere allo spettatore l’esperienza di una chiarezza paradossale Summary. The musical action Un re in ascolto by Luciano Berio has been part of the repertoire of contemporary opera since its premiere in 1984 on the occasion of the Salzburg Festival The opera bears typical characteristics of Berio’s poetics (hybridity, historicity, fragmentation); it is also one of the most significant operas of the 20 th century that take up a work by Shakespeare The present paper presents the different sources of the libretto, starting with Shakespeare’s The Tempest (mediated via two intertexts, Siegfried Gotter, Die Geisterinsel, and W .H Auden, The Sea and the Mirror), the reflections of Roland Barthes and Roland Havas about «Listening», and, last but not least, the ideas of Italo Calvino His story Un re in ascolto has given the opera its name, but also a lot of inspiration This process of integration of different sources results in an open text for musical invention, the work is «open» to interpretation in the sense of Umberto Eco; the artifact aesthetically uses a kind of «calculated ambiguity», in order to give the spectator an opportunity to experience a paradoxical clarity Bibliographie Amodeo, Immacolata: Das Opernhafte Eine Studie zum «gusto melodrammatico» in Italien und Europa, Bielefeld: Transcript Verlag 2007 Auden, W .H .: The Sea and the Mirror A Commentary on Shakespeare’s The Tempest, in: W .H Auden, For the Time Being, London, 1953, S 7-60 Erstmals erschien der Kommentar 1944 Baschera, Marco/ Bucher, André (Hrsg .): Präsenzerfahrung in Literatur und Kunst Beiträge zu einem Schlüsselbegriff der aktuellen ästhetischen und poetologischen Diskussion, München: Fink 2008 Berio, Luciano: Un re in ascolto Azione musicale in due parti Parole di Italo Calvino Ein König horcht Musikalische Handlung in zwei Teilen Texte von Italo Calvino Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, Libretto/ Textbuch, Milano: Universal Edition 1983 Berio, Luciano: «Dialogo fra me e me», in: Booklet Luciano Berio Un re in ascolto Azione musicale in due parti, Salzburger Festspiele, Festspiel-Dokumente, München: col legno 1984 (1997), S 3-10 Berio, Luciano: «Introduzione a ‘Passaggio’», in: Berio, a cura di Enzo Restagno, Torino: E .D .T 1995, S 66-73 Berio, Lucian: Un ricordo al futuro, Torino: Einaudi 2006 Bloom, Harold: Shakespeare, The Invention of the Human, London: Fourth Estate 1998 83_Italienisch_Inhalt.indb 89 19.06.20 16: 36 9 0 Paradoxe Klarheit Caroline Lüderssen Brüdermann, Ute: Das Musiktheater Luciano Berios, Frankfurt am Main: Peter Lang 2007 Bortolotto, Mario: Fase seconda Studi sulla nuova musica, Milano: Adelphi 2008 Calvino, Italo: Romanzi e Racconti III, Milano: Mondadori 1994 Calvino, Italo: «La sfida al labirinto», in: I C ., Una pietra sopra Discorsi di letteratura e società Presentazione dell’autore, Milano: Mondadori 1995, S 99-117 Calvino, Italo: «Il mondo non è un libro, ma leggiamolo lo stesso», in: I C ., Sono nato in America… Interviste 1951-1985, a cura di Luca Baranelli, Introduzione di Mario Barenghi, Milano: Mondadori 2002, S 610-621 Calvino, Italo: «Un re in ascolto», in: I C ., Sotto il sole giaguaro Presentazione dell’autore, Milano: Oscar Mondadori 2002 (ristampa 2005), S 49-77 Dean, Winton: «Shakespeare in the Opera House», in: Shakespeare Survey 18/ 1965, S 75-93 Donin-Janz, Beatrice: Zwischen Tradition und Neuerung: Das italienische Opernlibretto der Nachkriegsjahre (1946-1960), Frankfurt am Main u .a .: Lang 1994 Garrett, David Izzo: W .H Auden Encyclopedia, Jefferson, NC/ London, 2004 Gotter, Friedrich Wilhelm: Die Geisterinsel Ein Singspiel in drei Akten In: Die Horen, dritter Jahrgang, Tübingen 1797, Achtes Stück (1 Akt), Neuntes Stück (2 und 3 Akt) Gumbrecht, Hans Ulrich: Production of Presence What Meaning Cannot Convey, Stanford: Stanford University Press 2004 Lüderssen, Caroline: Der wiedergewonnene Text Ästhetische Konzepte des Librettos im italienischen Musiktheater nach 1960, Tübingen: Narr 2012 Mila, Massimo: «‘Un re in ascolto‘: una vera opera», in: Berio, a cura di Enzo Restagno, Torino: E .D .T 1995, S 107-112 Musarra-Schrøder, Ulla: «Italo Calvino e il linguaggio dei cinque sensi», in: Narrativa, Schwerpunktnummer Italo Calvino, Numéro 27/ Janvier 1995, S 107-123 Reichert, Klaus: «Prospero als Leser Machiavellis», in: K .R ., Der fremde Shakespeare, München: Hanser 1998, S 119-133 Saxer, Marion: «Kunstgesang als Klangsymbol Belcanto in experimenteller Vokalmusik nach 1960», in: Musik und Ästhetik, 23 Jg ., Heft 92, Oktober 2019, S 5-25 Seel, Martin: Die Macht des Erscheinens Texte zur Ästhetik, Frankfurt: Suhrkamp 2007 Tramsen, Eckard: «Die Sphinx als Sängerin - Zur Faszinationsgeschichte Neuer Musik», in: Stimme Stimmen - (Kon)Texte Stimme - Sprache - Klang Stimmen der Kulturen Stimme und Medien Stimme in (Inter)Aktion Hrsg vom Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Mainz u .a .: Schott 2003, S 11-21 83_Italienisch_Inhalt.indb 90 19.06.20 16: 36