Italienisch
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2020
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttZu zwei Sonetten von Giovanni Orelli und ihrer Übersetzung
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2020
Christoph Ferber
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91 Biblioteca poetica Zu zwei Sonetten von Giovanni Orelli und ihrer Übersetzung 1 Einer der wichtigsten zeitgenössischen Sonettdichter - nicht nur der Schweiz, sondern wohl auch innerhalb Italiens - ist Giovanni Orelli (1928-2016) Er hat in zwei Bänden (erschienen 1995 und 1998) 120 Sonette versammelt, aber auch in früheren und späteren Veröffentlichungen finden sich etliche Sonette Bezüglich stilistischer und inhaltlicher Varietät dürfte Giovanni Orelli unübertroffen sein: Er hält sich selten strikt an die Regeln des Sonetts, und ihm ist jedes Thema, sei es auch ein Boxkampf oder eine Pornodiva, die ihm im Traum erscheint, gut genug, um in einem Sonett erörtert zu werden Zu Recht schreibt Remo Fasani im Vorwort zu Orellis erstem Sonettband Né timo né maggiorana: «Vielleicht war das Sonett nie dazu ausersehen, so vieles und so Verschiedenes zu sagen» . 2 Und man würde gerne hinzufügen: und auf so unterschiedliche, originelle, unorthodoxe Weise Giovanni Orelli hat dieses Vorgehen in einem metapoetischen Sonett aufs Ausdrücklichste formuliert Dabei vergleicht er seine Sonette mit einer Herde «zusammengetrotteter, verlotterter» Ziegen Man beachte darin die meist hypermetrischen Verse, die zu Orellis «horizontalem» Stil - wie Fasani ihn nennt - beitragen, bzw die ein bisschen an eine vielleicht «‘geschwätzige’ Dichternatur» erinnernde Üppigkeit in der Darstellung So Georges Güntert in seiner ausführ- 1 Seit ich vor rund 35 Jahren begonnen habe, Lyrik zu übersetzen, ist mir das Sonett ein treuer Begleiter Es sind sicher mehrere Hundert Sonette, die ich bis heute aus sechs Sprachen übersetzt habe Neben Bänden, die nur Sonette enthalten (Gaspara Stampa, Ugo Foscolo und Francesco Chiesa) finden sich in vielen meiner Auswahlbände Sonette, so - zentral - bei Juliusz Słowacki, dem Dichter der polnischen Romantik, beim russischen Symbolisten Wjatscheslaw Iwanow und bei Stéphane Mallarmé In Zeitschriften und Anthologien habe ich Sonette verschiedenster Autoren, so von Petrarca, Pascoli, Mickiewicz und einer Reihe weiterer polnischer Dichter veröffentlicht Was die zeitgenössische Sonettistik betrifft, sind es vor allem Giovanni Orelli und Remo Fasani, beide aus der italienischen Schweiz und beide unlängst verstorben, von denen ich Sonette übersetzt habe Zu ihnen gesellt sich der in Zürich lebende Pietro De Marchi, der wie Fasani reimlose Sonette schreibt (Fasani aber hält sich streng an den Endecasillabo) Schon 1989 habe ich eine rund 30 Gedichte umfassende Anthologie des russischen Sonetts veröffentlicht Vgl «Russische Sonette aus drei Jahrhunderten», in: AA .VV ., Primi sobran’e pestrych glav Slavistische und slavenkundliche Beiträge für Peter Brang zum 65 Geburtstag, Bern: Peter Lang 1989, S 723-748 2 Giovanni Orelli, Né timo né maggiorana, Milano: Marcos y Marcos 1995, S 11; der zweite Sonettband Orellis trägt den Titel L’albero di Lutero und ist 1998 auch bei Marcos y Marcos erschienen DOI 10. 23 57/ Ital-2020 - 0 0 0 8 83_Italienisch_Inhalt.indb 91 19.06.20 16: 36 92 Zu zwei Sonetten von Giovanni Orelli und ihrer Übersetzung Christoph Ferber lichen Würdigung von Orellis lyrischen Werk, als Nachwort zu meiner Gedichtauswahl abgedruckt . 3 Hier nun das italienische Original: A chi somiglio? al contadino che insulta le sue capre con i peggiori nomi: ciabatte maledette bastarde perché non stanno docili se batte il sole su mungitori e bestie: lunatiche, paiono insulse 5 quando meriggiano; poi quando si muovono un consulto tacito magnetico sembra guidarle, procedono compatte anche se valloncelli iati dialefi anfratti si frappongono tra loro e i pascoli più in alto: così vi insulto miei versi, veterosonetti 10 vi chiamo rimbambiti libidinosi antipatici avari male invecchiati trasandati: sì, ciabatte, voi versi siete le mie capre malnate e io il becco che dovrebbero castrare C’è un punto, sotto il sole, tutto per voi: voi fate latte Schauen wir uns nun die stilistischen Eigenheiten des Sonetts an: nur ein einziger Vers kann (mit Vorbehalt, d .h wenn man e io il als eine einzige Silbe zählt) als einen für das italienische Sonett obligaten Endecasillabo angesehen werden («e io il becco che dovrebbero castrare»): Alle anderen Verse sind hypermetrisch, sie weisen von zwölf bis neunzehn Silben auf, wobei aber innerhalb der Zeilen oft mit dem Quinario, dem Settenario und dem Endecasillabo gearbeitet wird So besteht z .B Vers 3 aus einem Settenario und einem Endecasillabo, Vers 7 aus einem doppelten Settenario, den Schlussvers kann man in einen Settenario und zweimal einen Quinario aufteilen, usw Es wäre also verwegen, hier von freien Versen zu sprechen Das Reimschema ist ungewohnt ABBA ABBA ACA ACA Einer der Reime der Quartette wiederholt sich also in den Terzetten Nur finden sich außer ciabatte, compatte, latte keine reinen Reime, alle andern sind mehr oder weniger assonantisch, wobei selbst andere Vokale benutzt wurden: insulta, insulse, consulto, alto bzw sonetti, ciabatte 3 «Giovanni Orelli als Lyriker», in: Giovanni Orelli, Vom schönen Horizont/ E mentre a Belo Horizonte…, Gedichte italienisch und deutsch Ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber, Zürich: Limmat 2003 S 148 In diesem Band befinden sich auch die zweisprachig abgedruckten hier zitierten Sonette, S 34-35 und 22-23 83_Italienisch_Inhalt.indb 92 19.06.20 16: 36 93 Christoph Ferber Zu zwei Sonetten von Giovanni Orelli und ihrer Übersetzung Wie nun einen solchen Text übersetzen? Das Wichtigste ist, den richtigen Duktus zu finden, die richtigen Register zu ziehen Das Sonett muss auch in der Übersetzung Orellis launischen, (selbst)ironischen, «exuberanten» Ton wiedergeben, und dafür sind alle Mittel recht Da der Inhalt wörtlich und für sich allein genommen nicht von sonderlicher Bedeutung ist, kann ruhig ein wenig abgeändert oder übertrieben werden So habe ich «veterosonetti/ vi chiamo rimbambiti, libidinosi antipatici avari/ male invecchiati trasandati» frei, aber sinn- und tongemäß mit «Sonette, auf allen vieren/ kommt ihr daher, seid altbacken, lüstern, verkindischt, immer weiter/ verspott ich euch, nenne euch ekelhaft, fies» übersetzt Diese Variante passte am besten in den Reim; ich brauchte Reime auf die unverzichtbaren Reimwörter kastrieren und Euter, so dass ich mich nach langem Hin und Her für diese recht freie Version entschieden habe Vieles beim Übersetzen ist eben auch dem Zufall zu verdanken Auf einmal kommt dir ein ‘genialer’ Gedanke: Die Ziegen haben vier Beine, die Bambini (rimbambiti) gehen auch «auf allen vieren», was mit «kastrieren» reimt Es ist zwar ein frei erfundener Zusatz, passt aber vorzüglich zu Ton und Inhalt des Sonetts Warum ich avari nicht wörtlich mit «geizig» übersetzt habe, weiß ich nicht mehr; wahrscheinlich fand ich fies, das in den Rhythmus passte, angebrachter Neben den Reimen bzw Endassonanzen, die ich in diesem Gedicht für unverzichtbar erachtete, war es vor allem der Rhythmus, der mich stundenlang beschäftig hat Das fies passt eben genau in den daktylischen Rhythmus, mit dem ich arbeitete: «nenne euch ekelhaft, fies: ja, verlottert» sind lauter Daktylen (/ --/ --/ --/ -); mit dem Daktylus arbeite ich noch ausgeprägter als der Autor, bietet er doch die fast einzige Möglichkeit, den horizontalen Charakter von Orellis Sonetten auf Deutsch lesbar wiederzugeben (mit Jamben oder Trochäen hätte man viel zu viele betonte Silben, was im Deutschen sehr störend wirkt) Und das Nachahmen der Quinari, Settenari oder Endecasillabi, die sich innerhalb einzelner Verse finden, wäre im Deutschen eine Mühe, die weder lohnenswert noch für den Leser nachvollziehbar wäre Man würde sie nicht als solche erkennen Es braucht einen deutsch lesbaren Rhythmus Im Folgenden die Übersetzung des ganzen Gedichts: Wem ich wohl gleiche? Dem Viehhalter, der mit den [schlimmsten Worten seine Ziegen traktiert: verfluchte, verlotterte Bastarde, weil sie nicht stillstehen wollen, elende Trottel, wenn die Sonne Melker und Tiere versengt: am launischsten, [dümmsten 83_Italienisch_Inhalt.indb 93 19.06.20 16: 36 9 4 Zu zwei Sonetten von Giovanni Orelli und ihrer Übersetzung Christoph Ferber 5 erscheinen sie mittags; dann aber, wenn eine stillschweigende [innere Übereinkunft magnetisch sie führt, ziehn sie zusammen- [gerottet davon auf die höhergelegenen Weiden, von denen zu [erklimmende Felsbrocken, spitze Einschnitte, Klüfte, Hiaten, Dialeipsen sie trennen: derart traktier ich meine Verse, Sonette; auf allen vieren 10 kommt ihr daher, seid altbacken, lüstern, verkindischt, [immer weiter verspott ich euch, nenne euch ekelhaft, fies: ja, verlottert; ihr seid meine verquer geborenen, trottenden Ziegen - und ich bin der Ziegenbock, längst zu kastrieren Ein Punkt, unter der Sonne, für euch: eure milchprallen [Euter Bei einem solchen Gedicht darf man ruhig ein wenig zu dick auftragen, sich von Orellis Spieltrieb anstecken lassen Denn dass das Komponieren dieses Sonetts für Orelli ein großes Vergnügen darstellte, dass er sich dabei selbst übertreffen wollte, indem er sich keine Schranken setzte oder die durch die Sonettform gesetzten Schranken höchst eigenwillig interpretierte, dürfte ohne Zweifel feststehen In einem anderen Sonett, in dem auch von Alpweiden die Rede ist - Orelli ist südlich vom Gotthardpass im Bedrettotal geboren und hat in seiner Jugend während der Ferien auch als Ziegenhirte und Küherjunge gearbeitet -, werden ganz andere, nämlich elegische Töne angeschlagen Es geht hier um das «vollkommene Nichts», den «herrlichen Zustand», in dem man «noch nicht auf der Erde verweilte», um die accidia, um das glückliche oder auch gelangweilte Nichtstun, das Vor-sich-Hindösen, eine unerklärliche Trägheit des Seins, etc Aber es muss, nachdem man konstatiert hat, dass man so nicht auf der Welt weilt, eine Entscheidung getroffen werden, entweder gesellt man sich zu den «mittagssatt dösenden Kühen» oder lässt sich verführen von einem Abweichen (la devianza) und steht vor den wahren «Abgründen» des Lebens, vor dem «Dunkel der Hölle», aber auch vor dem «Gipfelpunkt der Lust», von dem man, betört vom Duft von Thymian und Majoran, schon geträumt hatte Hier das Gedicht: 83_Italienisch_Inhalt.indb 94 19.06.20 16: 36 95 Christoph Ferber Zu zwei Sonetten von Giovanni Orelli und ihrer Übersetzung Il magnifico stato in cui non ero al mondo o vi ero solo per constatare che non vi ero non è quello che dicono il giocondo tempo d’infanzia Più somigliava al nero 5 rumore che senza tempo sale dal profondo del precipizio sull’alpe a un passo dal sentiero, baratro che il falco scruta in girotondo sinistro, sul ciglio di quel rupestre zero assoluto, buio d’inferno: era il profumo del timo, 10 di maggiorana, le lusinghe e fragranze inganni della vita, la carpibile cima del piacere La mia accidia era lì O si avanza verso l’alpe ove vacche si sdraiano per il primo meriggio, sazie, o verso abissi la devianza Auch dieses Gedicht hat einen sehr einprägsamen, eigenwilligen Rhythmus, auch hier wäre es unstatthaft, von freien Rhythmen zu sprechen, auch wenn fast jeder Vers ein eigenes Metrum aufweist . 4 Das Gedicht beginnt mit zwei Settenari: il magnifico stato und in cui non ero al mondo Und ähnlich fährt es fort; jeder Vers gibt rhythmisiert und lautmalerisch jenen schwebenden Zustand wieder, in dem der Autor erst vermeintlich, also noch nicht bewusst, auf der Welt ist, bis hin zum profondo/ precipizio oder zum Abgrund des Erkennens (baratro, ein daktylisches Wort), nach dem unwillkürlich eine Pause gemacht wird, als sähe man ihn vor Augen und halte vor Schreck inne Etwas Ähnliches geschieht nach dem zero/ assoluto Sowohl das «zero» (da am Ende eines Verses, ja am Ende der beiden Quartette) als auch das «assoluto» (da rhythmisch alleinstehend, der neue Vers besteht eben aus diesem «assoluto» und zwei Settenari) geben Anlass zum Verweilen Der entscheidende Satz «La mia accidia era lì» - ein wunderschöner Settenario tronco, mit 2 Synaloiphen und Endbetonung, folglich wird eine Silbe mehr gezählt - konnte im Deutschen rhythmisch richtig wiedergegeben werden, nämlich «Meine Trägheit war hier», büßt aber einiges an Schönheit ein, da im Deutschen das Zusammenziehen von Vokalen zweier Wörter zu einer Silbe 4 Aurelio Buletti, auch er ein Dichter aus dem Tessin, schreibt mir: «Definirei la metrica di questo sonetto: articolata, complessa, efficace (constatare che non si è al mondo non può certo essere raccolto in una metrica regolare), tenuta nascosta (e nel contempo esibita) .» 83_Italienisch_Inhalt.indb 95 19.06.20 16: 36 9 6 Zu zwei Sonetten von Giovanni Orelli und ihrer Übersetzung Christoph Ferber nicht möglich ist Man muss sich eben mit den Möglichkeiten begnügen, die einem die Zielsprache bietet Und die habe ich versucht voll auszunützen Ob nun die Übersetzung diesen Zustand der Unschuld, in dem man sich vor den später unvermeidlichen Entscheidungen des Lebens befindet, auch klanglich und rhythmisch wiederzugeben vermag, möge der Leser selber entscheiden: Der herrliche Zustand, in dem ich noch nicht auf der Erde verweilte oder einzig um einzusehen, dass ich dort nicht verweilte - mitnichten ist es die heitere Zeit der Kindheit Er glich wohl eher 5 dem Schall, welcher schwarz, ohne Zeit, aus dem tiefen Abgrund der Alp, einen Schritt nur vom Saumpfad, [emporsteigt, aus dem Schlund, den der Falke in düsteren Kreisen erforscht, am Rand eines felsig vollkommenen Nichts, Dunkel der Hölle: nach Thymian, Majoran 10 roch es, nach duftendem, schmeichelndem, lockendem Leben: es war, auf dem Gipfelpunkt, der Genuss Meine Trägheit war hier So geht man zur Alp mit den mittagssatt dösenden Kühen oder steht vor dem Abgrund und weiß es: es gibt kein Entfliehen Sicherlich, eine recht gewagte, sich gewisse Freiheiten gönnende Übersetzung, die aber die Stimmung zwischen elegisch und abgründig-schreckhaft ausdrückt Das Gedicht an sich erlaubt kaum Freiheiten, da es inhaltlich konzentriert, bedeutungsschwer erscheint Und doch ist vieles schwebend und nicht ganz klar, vor allem das grammatikalisch geheimnisvoll anmutende Gedichtende «o verso abissi la devianza» (Wer ist das Subjekt dieses Satzteils, ist es devianza? ) Hier habe ich mir erlaubt leicht interpretatorisch zu übersetzen Sinngemäß sollte das wohl bedeuten: Wenn man abweicht, dann steht man vor Abgründen Man hat also die Wahl, mit den Kühen weiterzuziehen oder seinen eigenen Weg zu gehen, d .h endlich aus dem «herrlichen Zustand des Nicht-auf-der-Welt-Seins» aufzuwachen und eben auch Abgründe zu riskieren, vor denen es in meiner Version «kein Entfliehen» gibt Wie bin ich zu dieser Lösung gelangt? Bestimmt, weil das «Entfliehen» sich mit den «Kühen» im zweitletzten Vers reimt Da der Schluss des Gedichts zwangsläufig aus einem Reimwort bestehen muss, habe ich einen 83_Italienisch_Inhalt.indb 96 19.06.20 16: 36 97 Christoph Ferber Zu zwei Sonetten von Giovanni Orelli und ihrer Übersetzung eigenen Schluss gemacht und somit den Kühen gehuldigt, bzw den Alpweiden, auf denen Orelli praktisch aufgewachsen ist und die ihn durch sein ganzes dichterisches Werk treu begleiten Übersetzung und Kommentar: Christoph Ferber 83_Italienisch_Inhalt.indb 97 19.06.20 16: 36