Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2020-0022
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2020
4284
Fesenmeier Föcking Krefeld OttDecameron – Dekameron
121
2020
Peter Ihring
Il Decameron di Giovanni Boccaccio è un testo classico della letteratura europea. Molte volte è stato tradotto dalla lingua originale, il fiorentin volgare, in tedesco. In questo studio vengono analizzate sei traduzioni, pubblicate fra il 1786 e il 2012. L’attenzione si concentra in prima
linea in quei brani che offrono problemi particolari al traduttore. L’esame mostra che soprattutto i numerosi giochi di parole e le espressioni dialettali spesso sono difficilmente traducibili. In alcuni casi la traduzione non può essere veramente considerata come una riproduzione adeguata dell’originale trecentesco.
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16 DOI 10. 23 57/ Ital-2020 - 0 022 P E T E R I H R I N G Decameron - Dekameron Boccaccios Weltbuch im Spiegel deutscher Übersetzung Der Begriff ‘Weltbuch’ erscheint seit der Frühen Neuzeit als Buchtitel, mithin als eine Art Gattungsbezeichnung für geographisch-naturkundliche Kompendien, welche die unterschiedlichsten Realien der Welt zum Gegenstand haben . 1 In einem literarkritisch terminologischen Sinn dagegen wird der Terminus wohl von Thomas Mann eingeführt, der im Frühjahr 1934 zu einer Schiffsreise in die USA aufbricht und sich für seine erste direkte Berührung mit der Neuen Welt gewissermaßen kulturell wappnen will: Er plant, sich während der Überfahrt in Ruhe und mit seiner ganzen rezeptiven Sensibilität als Wortkünstler in einen durch und durch europäischen literarischen Klassiker zu versenken Unter dem Datum des 19 Mai 1934 notiert er: «Der ‘Don Quijote’ ist ein Weltbuch - für eine Weltreise ist das gerade das Rechte Es war ein kühnes Abenteuer, ihn zu schreiben, und das rezeptive Abenteuer, das es bedeutet, ihn zu lesen, ist den Umständen ebenbürtig Befremdlicherweise habe ich die Lesung noch nie systematisch zu Ende geführt Ich will es tun an Bord und mit diesem Meer von Erzählung zu Rande kommen, wie wir zu Rande kommen werden binnen zehn Tagen mit dem Atlantischen Ozean» . 2 Der Don Quijote, so wie Thomas Mann ihn versteht, ist also ein dezidiert europäisches Weltbuch Cervantes, dem die im 16 Jahrhundert und auch später noch gängige Selbststilisierung der Entdecker und Eroberer neuer Welten als moderne Nachfahren der Fahrenden Ritter des Mittelalters nicht fremd war, hatte dafür nur spöttische Ironie übrig . 3 1 Wolf 2002 2 Mann 1974, S 432 3 Cervantes weiß, dass es der Traum vieler seiner spanischen Zeitgenossen ist, durch eine hohe, einträgliche Position in Übersee reich zu werden Der Don Quijote enthält zahlreiche Indizien dafür So kann der Titelheld zu Beginn den Bauern Sancho Pansa nur dadurch dazu überreden, ihn auf seiner Ritterfahrt zu begleiten, dass er ihm verspricht, ihn nach ihrer Heimkehr zum «gobernador», wie die einschlägige Amtsbezeichnung lautet, zu ernennen . Italienisch_84.indb 16 13.11.20 09: 38 17 Peter Ihring Decameron - Dekameron Ein «Meer von Erzählung» ist auch das Decameron, 4 und es gibt gute Gründe dafür, dieses Werk ebenfalls mit dem literarkritischen Adelstitel ‘Weltbuch’ auszuzeichnen Dabei dürfte Boccaccios Sammlung gleichermaßen als spezifisch europäisches Weltbuch gelten können, wobei übrigens der europäische Horizont in beiden Erzähltexten überschritten wird, und zwar nicht mit einem Impuls auf die Neue Welt zu, sondern im Gegenteil Richtung Osten Während im Roman des Cervantes die orientalische Dimension vor allem durch die vom Autor eingesetzte fiktive Erzählerfigur des Cide Hamete Benengeli gegenwärtig ist, eröffnen die Novellen aus dem Decameron neben griechischen, türkischen und arabischen Szenarien auch Nordafrika als Handlungsschauplatz . 5 Geographischer Raum der 100 Erzählungen ist also zunächst die Welt der Antike, als deren «Herz» Georg Wilhelm Friedrich Hegel das Mittelmeer identifiziert hat Für Hegel ist diese Welt beschränkt auf «die um das Mittelländische Meer herumliegenden Länder» . Entscheidend im Hinblick auf den mittelalterlichen Charakter des Decameron ist es nun, dass die Novellen der Sammlung mit ihrem Handlungsradius auch das «nördliche Europa» umgreifen, das Hegel noch aus dem welthistorischen Raum des Altertums ausgeschlossen hatte . 6 Dabei werden bei Boccaccio die nördlichen Szenarien, die, zugegebenermaßen, nur sporadisch auftauchen, auch mit interessanten Attributen versehen . Paris erscheint zunächst als Hauptstadt des «reame di Francia» (III, 9, 4), 7 aber auch als Handelsstadt (II, 9; IV, 8; VII, 7) und als Stadt der Gelehrsamkeit (III, 4; VIII, 7) . Hinzu kommt eine Stadt wie Brügge (II, 3), die als wichtige Station auf den Verkehrswegen der Zeit erwähnt wird . London (bzw . England allgemein) präsentiert sich als Ort politischer Intrigen, aber auch als Heimat ritterlicher Gesinnung und natürlich als Handelszentrum (II, 3; II, 8) . Einen Schauplatz im deutschen Sprachgebiet hat die Sammlung nicht aufzuweisen . 8 4 Die beiden Meisterwerke haben sehr viel miteinander gemeinsam Siehe hierzu zuletzt: Neuschäfer 2007 5 Eine schöne Darstellung der Art, wie die Helden und auch die Heldinnen des Decameron das Mittelmeer kreuz und quer durchfahren, findet sich bei Kopp-Kavermann 2005 6 Hegel 1973, S 115 7 Die Zitate aus dem Decameron werden im Folgenden in Klammern direkt nach dem Zitat nachgewiesen Zugrunde gelegt wird dabei die Zählung der Absätze, die Vittore Branca in seiner Edition der Sammlung vorgeschlagen hat: Die römische Ziffer am Beginn meint den Erzähltag, die erste arabische Ziffer die Position der gemeinten Erzählung in der Abfolge der Novellen an den einzelnen Erzähltagen und die zweite arabische Ziffer den gemeinten Absatz daraus 8 Immerhin figuriert in einer Novelle (VIII, 1), die in Mailand angesiedelt ist, als Protagonist ein «tedesco al soldo» (VIII, 1, 5) namens Gulfardo, von dem eine geldgierige Frau glaubt, dass sie imstande sei, ihn übers Ohr zu hauen Gulfardo reagiert jedoch mit einer sehr effektiven Gegenlist, so dass die Frau am Ende selbst den Schaden hat Italienisch_84.indb 17 13.11.20 09: 38 18 Decameron - Dekameron Peter Ihring Der skizzierten inhaltlichen Vielfalt des Decameron wird der Autor mit einer hochkomplexen Erzählsprache gerecht, die er selbst mit der Formel «fiorentin volgare» (IV, 1, 3) kennzeichnet . In Boccaccios fiorentin volgare konvergieren die verschiedensten mittelalterlichen Stiltraditionen . Aus dieser hochkomplexen Verflechtung ergibt sich ein Sprachkunstwerk, dessen weltliterarischer Rang bis heute unumstritten ist . An Boccaccios edler Prosa arbeitet sich die literaturwissenschaftliche Forschung seit langem unermüdlich ab . Zu dieser Arbeit möchte ich im Folgenden einen Beitrag leisten, und zwar mit einer Betrachtung derjenigen Passagen des Werks, von denen ich glaube, dass an ihnen jeglicher Übersetzungsversuch scheitern muss bzw . nur sehr unbefriedigend gelingen kann . * Jede Übertragung eines Textes aus dem von Boccaccio so genannten fiorentin volgare ins Deutsche hat dem sprachgeschichtlichen status quo des Italienischen im Trecento Rechnung zu tragen Dieser status quo ist dadurch gekennzeichnet, dass nach und nach in verschiedenen Territorien des Landes zum Lateinischen, dem aus der Römerzeit überkommenen Erbe, eine neue Schriftsprache hinzugetreten ist, die ihren Weg erst finden muss Jeder Autor, der sich für sein Werk der entstehenden Volkssprache bedient, ist zwangsläufig darauf verwiesen, das Verhältnis seiner Sprache zum Lateinischen neu auszutarieren, und zwar in allen Phasen der Arbeit am literarischen Text Dieses unausweichliche Nebeneinander von Latein einerseits und entstehender italienischer Volkssprache andererseits führt zu einer Situation, die sich in gewissem Sinn als Überlagerung zweier sprachlicher Parallelwelten charakterisieren lässt Daraus folgt, dass einzelne stilistische Effekte des fiorentin volgare im Deutschen nicht reproduziert werden können, denn dem Deutschen fehlt ja die allen romanischen Sprachen gemeinsame Parallelwelt des Lateinischen Im Folgenden soll die entsprechende Problematik näher erläutert werden, gerade auch im Verhältnis zur Frage danach, wo der literarischen Übersetzung Grenzen gesetzt sind Am Beginn seiner Karriere orientiert sich der spätere Schöpfer des Decameron in stilistischer Hinsicht vor allem am Lateinischen, zumal die Tradition volkssprachlicher Kunstprosa, die er in Italien vorfindet, kein großes literarisches Potential hat Sein wichtigstes Vorbild in dieser Zeit ist wohl jener Roman des Apuleius, für den sich im Deutschen der Titel Der Goldene Esel eingebürgert hat, der aber im Original «Metamorphoses» heißt . 9 Über Boccaccios frühe volkssprachliche Dichtung Ameto sagt Alfredo 9 Diesbezüglich hat übrigens Thomas Mann vermutet, dass Cervantes das Motivinventar aus dem Goldenen Esel und dem hellenistischen Abenteuerroman, das er im Don Quijote verarbeitet hat, durch Boccaccios Vermittlung gekannt habe Mann 1974, S 457 Italienisch_84.indb 18 13.11.20 09: 38 19 Peter Ihring Decameron - Dekameron Schiaffini abwertend, sie sei ganz und gar geprägt von einem «anelito di latinizzarsi», 10 wobei er ausdrücklich auf das Werk des Apuleius hinweist Erst später gewinne der Autor eine dichterische Souveränität, die ihn in die Lage versetzt, sich vom lateinischen Modell zu emanzipieren Im Decameron geht es ihm dann nicht mehr darum, diesem Modell gerecht zu werden, sondern er kann im Gegenteil nach eigenem Gutdünken virtuos damit spielen Dieses Spiel mit der lateinischen Sprache ist aus meiner Sicht ein zentraler Faktor im poetischen Haushalt der berühmten Novellensammlung Dafür, dass das entsprechende literarische Kalkül aufgeht, ist es natürlich wesentlich, dass das Lesepublikum imstande ist, den lateinischen Subtext unter der Oberfläche des fiorentin volgare jeweils zu identifizieren, denn nur dann können die entsprechenden Passagen angemessen verstanden und gegebenenfalls goutiert werden Unabhängig davon, ob heutige Leserinnen und Leser diese Bedingungen erfüllen, dürfte es aber für eine Übersetzungsanalyse geboten sein, auf diesen Subtext zumindest in exemplarischer Auswahl hinzuweisen, denn der genannte poetische Effekt, der sich wohl in der Regel als ironisierender Faktor auswirken sollte, ist ja ein wichtiges Element der poetischen Ökonomie des Textes, das in die Zielsprache nicht oder jedenfalls nicht immer angemessen überführt werden kann Die enorme Bedeutung des Lateinischen für den zeitgenössischen Rezeptionshorizont des Decameron lässt sich vielleicht durch den Blick auf eine Besonderheit in Boccaccios Wortgebrauch veranschaulichen: Immer dann, wenn im Rahmen der erzählten Handlung einer Novelle Protagonisten aus dem italienischen Sprachraum auf Figuren stoßen, die im Orient beheimatet sind und mit denen sie kommunizieren müssen, stellt sich natürlich die Frage, in welcher Sprache sie mit ihnen reden Und diesbezüglich sprechen die Erzählerfiguren aus der «brigata» stets von «latino» So wird etwa in X, 9 berichtet, dass der Sultan Saladino inkognito eine Reise nach Europa unternimmt, um sich dort «in forma di mercatante» (X, 9, rubrica) umsehen und die Sitten der Europäer studieren 11 zu können «Messer Torello» aus Pavia begegnet dem Reisenden in der Nähe seiner Heimatstadt und ist sofort vom vornehmen Gebaren des fremden Besuchers fasziniert Verständigungsprobleme zwischen den beiden gibt es nicht, denn «Saladino e’ compagni e famigliari tutti sapevan latino» (X, 9, 16) Ein zweites Beispiel: In V, 2 wird erzählt, dass der junge und tüchtige Martelluccio seine Heimatinsel Lipari verlässt, weil der Vater der von ihm geliebten Gostanza seine Zustim- 10 Schiaffini 1943, S 180 11 Knapp 400 Jahre vor Montesquieus aufklärerischem Briefroman Les Lettres persanes erzählt also bereits hier ein Europäer davon, dass ein Orientale sich aufmacht, um im Okzident Land und Leute kennenzulernen Italienisch_84.indb 19 13.11.20 09: 38 20 Decameron - Dekameron Peter Ihring mung zur Heirat der beiden nicht geben will: Martelluccio sei ja nur ein armer Schlucker Der abgewiesene Jüngling verlässt die Insel mit dem Plan, zurückzukehren, sobald er durch erfolgreiche Piraterie reich geworden ist und bei Gostanzas Vater ein zweites Mal um ihre Hand anhalten kann Er hat auch zunächst Erfolg, wird aber schließlich gefangengenommen und in Tunis eingekerkert Gostanza erfährt gerüchteweise, dass Martelluccio gestorben sei In ihrer Verzweiflung beschließt sie, sich selbst zu töten: In einem kleinen Boot setzt sie sich allein den Launen des Meeres aus und denkt, dass sie dabei früher oder später den Tod finden werde Aber so kommt es nicht, vielmehr verschlägt es die schlafende Gostanza an die tunesische Küste bei Susa, wo sie von einer dort ansässigen Frau aufgefunden wird Diese stammt aus Trapani und lebt seit einiger Zeit in Susa «e quivi serviva certi pescatori cristiani» (V, 2, 21) «… la quale essalei [sc .: Gostanza] che forte dormiva chiamò molte volte e, alla fine fattala risentire e all’abito conosciutala che cristiana era, parlando latino la dimandò come fosse che ella quivi in quella barca così soletta fosse arrivata» (V, 2, 16) . Wenn Emilia und Panfilo, die beiden «novellatori» von V, 2 und X, 9, diejenige Sprache, welche als Kommunikationsmedium für Begegnungen in oder mit der außereuropäischen Welt dient, mit der Vokabel «latino» bezeichnen, dann tun sie das natürlich faute de mieux. Aber es ist doch ein Indiz für das außerordentliche Gewicht, das zur Entstehungszeit der Novellen dem Lateinischen in allen schriftsprachlichen Kontexten zuzuordnen ist . 12 In der Rezeptionsgeschichte des Decameron hatten frühere Generationen, so muss man wohl annehmen, bei der Lektüre dieses Weltbuches die lateinische Sprache stets mit im Kopf, und aus den Assoziationen, die unter solchen Umständen nahe lagen, wollte der Autor zweifellos literarisches Kapital schlagen Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, wenn jetzt in diesem frühesten italienischen Prosatext, der dem literarischen Höhenkamm angehört, ein lateinisches Substrat ans Licht gezogen werden soll Vittore Branca hat mit seiner Edition des Werks gründliche Vorarbeit dafür geleistet, denn er weist in den Anmerkungen konsequent auf latinisierende Sprachformen hin und stellt überdies auch eine eigene Konkordanz «voci latine» 13 zur Verfügung 12 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang natürlich an Petrarcas berühmte Übersetzung der Griseldis-Novelle ins Lateinische und auch an die Decameron-Übersetzung des Laurent de Premierfait, der nach einhelliger Forschungsmeinung nicht Boccaccios volkssprachliches Original zugrunde lag, sondern eine verlorengegangene lateinische Fassung Siehe hierzu: Cucchi 1972 Zu dem thematischen Gesamtkomplex Bertelsmeier-Kierst 2014 13 Boccaccio 1992, S 1322 Italienisch_84.indb 20 13.11.20 09: 38 21 Peter Ihring Decameron - Dekameron Die einfachste Variante des literarischen Spiels mit dem Lateinischen ist die Relatinisierung bekannter italienischer Städtenamen Dieses Verfahren, das Boccaccio wohl als Instrument zur Erheiterung einsetzt, begegnet jedoch nach meiner Lektüre im Decameron nur ein einziges Mal: In VII, 5, 7 ist von der Stadt «Arimino» die Rede Gemeint ist das heutige Rimini, das bei den Römern «Ariminum» hieß Dass die hier gewählte Version dieses Namens nach dem Willen des Autors betont antiquiert klingen soll, lässt sich daran erkennen, dass Boccaccio die Stadt in anderen Kontexten bereits als «Rimino» bezeichnet, was dem heutigen Sprachgebrauch schon etwas näher liegt . 14 Auf dem Gebiet der Syntax lassen sich zwei verschiedene Erscheinungsformen des latinisierenden Stils unterscheiden Die eine betrifft die Verwendung des gerundio Hierfür seien zwei Beispiele zitiert: «io nel mio [sc .: novellare] intendo di dimostrarvi quanto questa medesima benignità, sostenendo pazientemente i difetti di coloro i quali d’essa ne deono dare e con l’opere e con le parole vera testimonianza, il contrario operando, di sè argomento d’infallibile verità ne dimostri» (I, 2, 3) Und: «I giovani, li quali più forza che liberalità costrignea, piagnendo Efigenia a Cimon concedettero» (V, 1, 33) . In beiden Fällen steht die gerundio-Konstruktion für einen Nebensatz: im ersten für einen modalen und im zweiten für einen temporalen Der Herausgeber muss dies in den Anmerkungen erläutern, denn hier geht der Autor über die volkssprachlichen Standards hinaus und orientiert sich bei seinem Umgang mit der Form des gerundio am Lateinischen An anderer Stelle setzt Boccaccio als Substitut für einen Nebensatz eine Infinitiv-Konstruktion ein, die wie eine augenzwinkernde Reminiszenz an das anmutet, was in der lateinischen Grammatik üblicherweise mit der Formel ‘Accusativus cum infinitivo’ gekennzeichnet wird Auch hierfür zwei Beispiele: «E, trovando per assai manifesti indizi lui veramente esser Giuffredi figliuolo d’Arrighetto Capece, gli disse» (II, 6, 48) Und: «Sí era questo suo amor celato, che della sua malinconia niuno credeva ciò esser la cagione»(III, 7, 5) . Hier könnte der Einwand erhoben werden, dass es doch nicht möglich sei, in einem italienischen Text die syntaktische Konstruktion des ‘Accusativus cum infinitivo’ nachzubilden, da das Italienische keine Kasusflexion kennt Diesbezüglich wäre aber als Gegenargument Folgendes hervorzuheben: Sowohl «lui» als auch «ciò», also die beiden Vokabeln, die an der Position stehen, die im Lateinischen von einem Nomen im Akkusativ eingenommen würde, wodurch dieses dann zum Subjekt des abhängigen Nebensatzes mit dem Infinitiv als Prädikat avanciert, sind ihrerseits starke (Demonstrativ-) Pronomina, die im Italienischen als direktes Objekt dienen 14 Boccaccio 1992, S 822 Italienisch_84.indb 21 13.11.20 09: 38 22 Decameron - Dekameron Peter Ihring und mithin durchaus dieselbe syntaktische Funktion ausfüllen können wie im Lateinischen ein Nomen im Akkusativ In jedem Fall ist davon auszugehen, dass ein lateinkundiger Leser bei der Lektüre der beiden zitierten Sätze die genannte Assoziation mit der spezifisch lateinischen syntaktischen Form des ‘Accusativus cum infinitivo’ haben kann und dass der Autor dies bei seiner Formulierung zumindest mitbedacht hat Die hier zuletzt zitierten Passagen aus dem Decameron haben eines gemeinsam: Ihr poetischer Mehrwert ergibt sich aus einem leichtfüßigen Spiel des fiorentin volgare mit dem Lateinischen Bei einer Übersetzung dieser Zitate ins Deutsche muss der entsprechende Ironie-Effekt zwangsläufig verlorengehen, denn die Ausgangssprache hat ja in sprachsystematischer Hinsicht ein ganz anderes, ein sehr viel innigeres Verhältnis zum Lateinischen als die Zielsprache Viele Texte aus der Frühzeit des Italienischen weisen zahlreiche Anklänge an den lateinischen Sprachduktus auf; das kann unter den gegebenen Umständen auch gar nicht anders sein Es ist zwar möglich, diese Anklänge bei einer Übertragung ins Deutsche aufzunehmen und in den sprachlichen Kontext des Deutschen zu integrieren Entsprechende Versuche sind in der Vergangenheit immer wieder gemacht worden Aber im Rahmen einer literarischen Kommunikation in deutscher Sprache werden stilistische Latinismen nie denselben Effekt haben wie in einem italienischen Text, denn das Lateinische ist ja vom Deutschen sehr viel weiter entfernt als von den Sprachen, die aus dem Erbe des Imperium Romanum hervorgegangen sind * Die Latinismen repräsentieren also für die Übersetzung aus dem fiorentin volgare in nichtromanische Sprachen eine Schwierigkeit, die kaum zu überwinden ist Im Unterschied dazu sind die meisten anderen Übersetzungsprobleme, die der hier behandelte Quellentext aufwirft, prinzipiell lösbar, und sie sind auch immer wieder mehr oder weniger erfolgreich gelöst worden Die früheste vollständige Übertragung des Decameron ins Deutsche stammt von 1476 und wurde lange Zeit dem Ulmer Humanisten Heinrich Steinhöwel zugeschrieben, bevor als eigentlicher Übersetzer Arigo plausibel gemacht wurde . 15 Sie darf bei den folgenden übersetzungskritischen Überlegungen weitgehend außer Betracht bleiben, weil sie einen deutschen Sprachstand repräsentiert, der uns Heutigen völlig fremd vorkommt Ihre späteren Nachfolger hingegen liefern einen nach meiner Ansicht zeitgemäßen deutschen Text und zeugen von einer gründlichen und einfühlsamen Übersetzungs- 15 Dieser Name ist freilich ein Pseudonym Es konnte bisher nicht zweifelsfrei festgestellt werden, welche historische Figur sich dahinter verbirgt Siehe hierzu Bertelsmeier- Kierst 1998, S 422 Italienisch_84.indb 22 13.11.20 09: 38 23 Peter Ihring Decameron - Dekameron arbeit Die Lösungen, die sie für die stilistischen und phraseologischen Eigenheiten von Boccaccios fiorentin volgare anbieten, sollten daher mit der gebotenen Sorgfalt beurteilt werden Die Liste der im Folgenden ausgewerteten Übertragungen des Decameron ins Deutsche umfasst sechs Titel Diese werden hier in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehungszeit genannt: Boccaccio: Das Decameron, Übers August Gottlieb Meißner (1784-86) Das Decameron des Boccaccio, Übers D .W Soltau (1803) Das Dekameron des Boccaccio, Übers Karl Witte (1843) Das Dekameron, Übers Albert Wesselski (1912) Das Dekameron, Übers Ruth Macchi (1958) Das Decameron, Übers Peter Brockmeier (2012) Seit langem schon gilt Boccaccio als Klassiker der italienischen Literatur Ein solcher Status ist für ihn erstmals ‘offiziell’ reklamiert worden von Pietro Bembo (1470-1547) Dieser präsentiert den Autor des Decameron als eine der tre corone fiorentine und stellt ihn damit gleichrangig neben Dante und Petrarca Im entsprechenden Zusammenhang seiner Prose della volgar lingua zitiert Bembo eine Passage aus der Novelle IV, 1 als Beispiel für vollkommene Prosa Hier zunächst der Handlungshintergrund der Erzählung: Die Heldin Ghismunda lebt, nach kurzer, kinderloser Ehe verwitwet, erneut bei ihrem Vater Tancredi, der sie nicht hergeben will und daher alle weiteren Heiratspläne torpediert Sie nimmt sich einen Bediensteten als Liebhaber, hat jedoch das Pech, dass Tancredi davon erfährt Er lässt den Liebhaber töten und sorgt dafür, dass dessen Herz, geborgen in einem Goldpokal, in die Hand seiner Tochter gerät Diese versteht auf Anhieb, was die Gabe bedeutet, und fasst den Entschluss, sich zu vergiften Bevor sie zur Tat schreitet, hält sie dem Herz des Geliebten die folgende Rede: «O molto amato cuore, ogni mio ufficio verso te è fornito; né più altro mi resta a fare, se non di venire con la mia anima a fare alla tua compagnia» (IV, 1, 57) Die von Bembo als klassisch gepriesene Passage 16 soll hier als aussagekräftiges Beispiel herangezogen werden, um zu illustrieren, dass von den sechs konsultierten Übertragungen keine einzige so unzulänglich ist, dass sie aus dem hier vorgenommenen Übersetzungsvergleich von vornherein ausgeschlossen werden dürfte Hier die einzelnen Versionen: 16 Mit Bezug auf die Art, wie die «accenti» in dieser Passage gesetzt sind, schreibt Bembo: «… essi [gli accenti] danno il concento a tutte le voci, e l’armonia, il che a dire è tanto, quanto sarebbe dare a’corpi lo spirito e l’anima» Bembo 1966, S 164 Italienisch_84.indb 23 13.11.20 09: 38 24 Decameron - Dekameron Peter Ihring «Ach vielgeliebtes Herz, nun hab’ ich meine Schuldigkeit gegen dich erfüllt Es ist nichts übrig, als meiner Seele die Gesellschaft der deinigen zu verschaffen .» 17 «O du geliebtes Herz! Jetzt habe ich dir meinen letzten Dienst erwiesen, und es bleibt meinem Geiste nichts mehr übrig, als in die Gesellschaft des deinigen zu eilen .» 18 «O mein vielgeliebtes Herz, nun sind alle meine Pflichten gegen dich vollendet, und mir bleibt nichts zu tun übrig, als daß ich mit meiner Seele komme, um der deinigen Gesellschaft zu leisten .» 19 «Nun, o heißgeliebtes Herz, habe ich alle meine Pflichten gegen dich erfüllt; und mir bleibt nichts mehr zu tun übrig, als mit meiner Seele zu kommen und deiner das Geleite zu geben .» 20 «O heißgeliebtes Herz, so habe ich dir auch den letzten Dienst erwiesen Es bleibt mir nun nichts zu tun übrig, als mit meiner Seele zu der deinen zu eilen, um bei ihr zu bleiben .» 21 «O heißgeliebtes Herz, dir gegenüber habe ich meinen Dienst erfüllt; und es bleibt mir nun nichts anderes mehr zu tun übrig, als mit meiner Seele die Gesellschaft deiner Seele zu suchen .» 22 Der atmosphärische Grundton der zitierten Passage ist bestimmt durch das erhabene Pathos, welches die Heldin in ihre Worte legt, zum einen angesichts ihres unmittelbar bevorstehenden Freitods, zum anderen aber auch angesichts der Würde ihrer Liebe Dieses Pathos wird in die Zielsprache überführt: - durch die Anfangsstellung des «Nun» mit folgendem Einschub «o heißgeliebtes Herz» (Wesselski); 17 Meißner 1924, II, S 26 18 Soltau 1874, II, S 12 19 Witte 1991, S 320 20 Wesselski 1999, S 360 21 Macchi 2015, I, S 446 22 Brockmeier 2017, S 338 Italienisch_84.indb 24 13.11.20 09: 38 25 Peter Ihring Decameron - Dekameron - durch das einer hohen Stilebene angehörenden und überdies dreisilbige und damit gewichtigere «vollendet» statt des bloßen «erfüllt» (Witte); - durch die Wendung «so habe ich dir auch den letzten Dienst erwiesen» (Macchi) Das Wort «Dienst» für «ufficio», das Brockmeier, Soltau und Macchi bieten, scheint mir hier besser zu passen als «Schuldigkeit» oder «Pflicht», denn es berücksichtigt den höfischen Hintergrund des Ganzen (vgl die italienische Wendung «cavalier servente») . Für «anima» bietet sich natürlich das Wort «Seele» an, einzig Soltau entscheidet sich für das hier unangebrachte «Geist» Zuletzt das Problem «fare compagnia»: Witte, der sonst zumeist sehr einfühlsam ist, beschränkt sich hier auf ein läppisches «Gesellschaft leisten» . Die nach meiner Ansicht beste Lösung bietet Wesselski: «und deiner [sc .: Seele] das Geleite zu geben» Es versteht sich von selbst, dass es in der folgenden Analyse aus Platzgründen nicht darum gehen kann, jede einzelne Formulierungsvariante aufzurufen, die sich in dem weiten Spektrum aller sechs Quellentexte finden lässt Vielmehr werden zu den im Einzelnen behandelten ausgangssprachlichen Zitaten aus dem Decameron von den angebotenen Übersetzungslösungen nur jeweils diejenigen erwähnt und kommentiert, die dem Original des fiorentin volgare aus meiner Sicht besonders nahe kommen Das tragische Pathos, das im Decameron begegnet und das dann häufig ein mehr oder weniger gravierendes Problem für die Übersetzung darstellt, kann auch andere Formen annehmen als in der Abschiedsrede der Ghismunda Dem subjektiven Pathos, das diese Rede kennzeichnet, steht dann ein objektives Pathos gegenüber, von dem vielerorts die narrativen Passagen im engeren Sinn getragen sind, so z .B in der folgenden traurigen Mitteilung der Erzählerin Fiammetta aus der Falkennovelle: «Il quale [der Sohn der ‘monna Giovanna’], o per malinconia che il falcone aver non potea o per la ’nfermità che pure a ciò il dovesse aver condotto, non trapassar molti giorni che egli con grandissimo dolor della madre di questa vita passò» (V, 9, 38) Das dominierende syntaktische Stilmerkmal dieses Satzes ist eine rhetorische Sperrung . 23 Das Subjekt «Il quale» steht am Beginn der sich über viele Syntagmen hinziehenden Periode, das zugehörige finite Verb «di questa vita passò» als Prädikat an deren Ende Nach diesem Muster sind viele im engeren Sinn narrative Sätze aus dem Decameron gebaut Boccaccio orientiert sich dabei an den Maßstäben der zeitgenössischen Prosarhetorik, wie er 23 Der Terminus «Sperrung» ist hier eher am Platz als der sehr viel weniger genau bestimmte, gebräuchlichere Begriff «Hyperbaton» Italienisch_84.indb 25 13.11.20 09: 38 26 Decameron - Dekameron Peter Ihring sie in einschlägigen mittellateinischen Traktaten vorgefunden hat . 24 Unter den ausgewerteten Übersetzungen gibt es nur zwei, welche diese markante Satzstellung des Originals zu erhalten suchen Hier zunächst Wesselskis Lösung: «Und es dauerte nicht viele Tage, als dieser, ob aus Schwermut darüber, daß er den Falken nicht haben konnte, oder weil die Krankheit auch sonst dieses Ende hätte nehmen müssen, zum größten Schmerz seiner Mutter aus dem Leben schied .» 25 Und dann Macchi, die es mit einer sehr sinnreichen Idee ermöglicht, die Anfangsstellung des Subjekts im Deutschen zu erhalten: Sie schließt den Satz einfach als relativen Nebensatz an den vorangehenden an, was im Übrigen schon durch die Wortwahl «Il quale» der Originalfassung nahegelegt ist; durch eine Form also, die ihrerseits auch als Subjekt eines Relativsatzes fungieren könnte Dadurch erhält die Mitteilung den Charakter des Beiläufigen, was paradoxerweise besonders erschütternd wirkt: «… um zu ihrem Sohn zurückzukehren, der wenige Tage später - sei es aus Trauer, weil er den Falken nicht bekommen konnte, oder sei es, weil seine Krankheit ohnehin zu diesem Ende geführt hätte - zum größten Schmerz seiner Mutter aus dem Leben schied .» 26 Das herrliche «per malinconia» aus der Originalfassung war wohl wirklich nicht ins Deutsche hinüberzuretten, denn der Rekurs auf ein simples «aus Melancholie» dürfte kaum in Frage kommen Die beiden zuletzt besprochenen Varianten pathetischer Rede im Decameron haben einen todernsten Hintergrund Es gibt aber noch eine dritte Variante, die Freiheit lässt für ein (wort-)spielerisches Moment und die sich als eine Art ‘Pathos weiblicher Souveränität’ charakterisieren lässt . 27 Ein Beispiel hierfür ist ebenfalls der Falkennovelle V, 9 zu entnehmen: Nach dem Tod ihres Sohnes wird «monna Giovanna» von ihren Brüdern zu einer erneuten Heirat gedrängt Sie hat eigentlich keine besondere Lust dazu, indes, so sagt sie, wenn es wirklich unbedingt sein müsse, dann wolle sie aber keinesfalls einen anderen zum Manne nehmen als den Falkenritter Federigo degli Alberighi Auf den Einwand der Brüder, dieser sei doch ein Habenichts, antwortet sie: «Fratelli miei, io so bene che così è come voi dite, ma io voglio avanti uomo che abbia bisogno di ricchezza che ricchezza che abbia bisogno d’uomo» (V, 9, 41) Während Soltau, Brockmeier, Macchi und Wesselski sich auf eine verkürzende Lösung mit dem Wort «ohne» nach dem Muster «lieber Mann ohne Reichtum als Reichtum ohne Mann» beschränken, versuchen Meißner 24 Branca 1981, S 13 ff 25 Wesselski 1999, S 512 26 Macchi 2017, I, S 636 27 Ein solches Pathos ist dem Autor des Decameron auf jeden Fall zuzutrauen Italienisch_84.indb 26 13.11.20 09: 38 27 Peter Ihring Decameron - Dekameron und Witte der opulenten Rhetorik der Originalfassung gerecht zu werden: Dabei bleibt Meißner noch etwas halbherzig und findet überdies für das eine Nomen «ricchezza» zwei verschiedene deutsche Entsprechungen, was der strengen Chiasmus-Struktur des ausgangssprachlichen Textes nicht gerecht wird: «Ich ziehe einen Mann ohne Vermögen Reichtümern vor, die eines Mannes bedürfen» . 28 Am besten zieht sich hier aus meiner Sicht Witte aus der Affäre: «Ich aber ziehe den Mann, der des Reichtums entbehrt, dem Reichtume vor, der des Mannes entbehrt» . 29 * Wie die dargebotenen Zitate zeigen, werfen die verschiedenen Formen pathetischer Rede im Decameron Übersetzungsprobleme auf, die in den allermeisten Fällen lösbar sind Das gleiche gilt für die zahlreichen kurzen Sprichwörter, die dem großen Fundus mittelalterlichen Volkswissens entstammen und von dort aus Eingang in Boccaccios Dichtung gefunden haben Auch hierfür sollen einige Beispiele herangezogen werden In I, 4 beobachtet der Abt eines Klosters in der Lunigiana aus Zufall, wie sich einer seiner Mönche und ein Mädchen aus dem nahegelegenen Dorf in einer heimlichen Kammer des Klosters zu einem Schäferstündchen treffen Er meint, dass er doch die Gunst des Augenblicks nutzen könnte, um sich seinerseits mit der jungen Frau zu vergnügen, solange sichergestellt sei, dass keiner seiner Mitbrüder davon erfährt Denn, so sagt er sich: «peccato celato è mezzo perdonato» (I, 4, 16) Die literarische Intensität des Sprichworts beruht darauf, dass seine drei sinntragenden Wörter einen Binnenreim bilden: «peccato», «celato», und «pérdonáto» Dieser klangliche Effekt geht in den Übersetzungen Brockmeiers, Meißners und auch Wesselskis gänzlich verloren Bei Witte heißt es immerhin: «heimliche Sünde büßt man geschwinde» . 30 Sehr einfach und gerade dadurch überzeugend ist die Fassung von Ruth Macchi: «heimliche Sünde ist halbe Sünde» . 31 Den Reimcharakter erhält sie durch den zweimaligen Gebrauch des Wortes «Sünde», und außerdem gelingt es ihr, den klanglichen Effekt mit Hilfe der Alliteration von «heimlich» und «halb» zu verstärken Das zweite Beispiel findet sich in der sog ‘Birnbaum-Novelle’ VII, 9: Lidia, die Frau des reichen Nicostrato, hat ein Auge auf Pirro geworfen, den wichtigsten Gehilfen ihres Ehemanns Sie lässt ihn durch ihre Zofe Lusca zu einem heimlichen Rendezvous einladen Der entrüstete Pirro weist das Ange- 28 Meißner 1924, II, S 162 29 Witte 1991, S 461 30 Witte 1991, S 57 31 Macchi 2017, I, S 75 Italienisch_84.indb 27 13.11.20 09: 38 28 Decameron - Dekameron Peter Ihring bot empört zurück: Niemals werde er seinen Brotherren hintergehen Lidia aber denkt gar nicht daran, von ihrer ehebrecherischen Intrige abzulassen, denn, so sagt sie zu Lusca: «per lo primo colpo non cade la quercia» (VII, 9, 17); und deshalb komme es auf einen zweiten Versuch an, der dann auch tatsächlich zum Erfolg führen wird Hier beruht die Klangwirkung des Textes in der Ausgangssprache auf einem Alliterationseffekt, zunächst von «per» und «primo», dann aber vor allem von «colpo», «cade» und «quercia» Karl Witte ist der erste Übersetzer, der es an dieser Stelle unternommen hat, in der Zielsprache einen gleichwertigen ästhetischen Effekt zu schaffen Er wählt zu diesem Zweck einen Reim, indem er zu «Eiche» als Reimwort die altertümliche Vokabel «Streich» einsetzt: «daß auf den ersten Streich die Eiche nicht fällt» . 32 Noch intensiver bringt Ruth Macchi den Reimeffekt zur Geltung: «Keine Eiche fällt auf den ersten Streich» 33 In allen anderen deutschen Fassungen geht das poetische Potential, das dem originalen Wortlaut aufgrund der Alliterationen zu eigen ist, durch den Übersetzungsvorgang verloren Als weiteres Sprichwort sei im Hinblick auf die Übersetzungsproblematik schließlich noch ein Beispiel aus III, 4 zitiert: «Chi la sera non cena, tutta la notte si dimena» Boccaccio fügt das Sprichwort an dieser Stelle in den Kontext eines weiter ausgreifenden Wortspiels mit dem Verb «dimenare» und seinen Derivaten ein Hier zunächst ein kurzer Einblick in die Handlung von III, 4: Dom Felice erklärt dem einfältigen «frate Puccio», wie er durch allnächtliche Bußübungen etwas für sein Seelenheil tun könne Der frate befolgt diese Ratschläge getreulich und macht es dadurch möglich, dass sich seine Ehefrau währenddessen nach Herzenslust dem lebensfrohen Dom Felice hingeben kann Vor diesem Hintergrund entfaltet der Erzähler Panfilo das folgende Wortspiel mit dem Verb «dimenare», das sich über mehrere Absätze hinzieht: «Era il luogo, il quale frate Puccio aveva alla sua penitenzia eletto, allato alla camera nella quale giaceva la donna, né da altro era da quella diviso che da un sottilissimo muro Per che, ruzzando messer lo monaco troppo con la donna alla scapestrata e ella con lui, parve a frate Puccio sentire alcuno dimenamento di palco della casa; di che, avendo già detti cento de’ suoi paternostri, fatto punto quivi, chiamò la donna senza muoversi e domandolla ciò che ella faceva La donna, che motteggevole era molto, forse cavalcando allora 32 Witte 1991, S 573 33 Macchi 2017, II, S 147 Italienisch_84.indb 28 13.11.20 09: 38 29 Peter Ihring Decameron - Dekameron la bestia di san Benedetto o vero di san Giovanni Gualberto, rispose: ‘Gnaffé, marito mio, io mi dimeno quanto io posso’ Disse allora frate Puccio: ‘Come ti dimeni? Che vuol dire questo dimenare? ’ La donna ridendo (e di buon aria e valente donna era e forse avendo cagion di ridere) rispose: ‘Come non sapete voi quello che questo vuol dire? Ora io ve l’ho udito dire mille volte: “Chi la sera non cena, tutta notte si dimena”’ Credettesi frate Puccio che il digiunare le fosse cagione di non poter dormire e per ciò per lo letto si dimenasse; per che egli di buona fede disse: ‘Donna, io t’ho ben detto: “Non digiunare”; ma, poiché pur l’hai voluto fare, non pensare a ciò, pensa di riposarti; tu dai tali volte per lo letto, che tu fai dimenar ciò che ci è’» (III, 4, 24-28) Entscheidend für das weit ausgreifende Wortspiel, das den witzigen Kern der über mehrere Absätze hinweg entwickelten Szene bildet, ist die Tatsache, dass Boccaccio hier das semantische Spektrum von «dimenare» bis an seine äußersten Grenzen ausdehnt . Denn als Subjekt dieses Verbs, das zumeist in seiner reflexiven Form erscheint, fungiert normalerweise ein Lebewesen bzw ein Körperteil . In der hier zitierten Passage wird jedoch auch von einem «dimenamento di palco» gesprochen, das auf die Einwirkung von zwei sich heftig bewegenden Körpern zurückzuführen ist, bzw . am Schluss in der an die Frau gerichteten Äußerung des «frate Puccio» davon, «che tu fai dimenar ciò che ci è» Diese maximale semantische Aufspreizung der sinntragenden Vokabel «dimenare» lässt sich nicht ins Deutsche transponieren, deshalb können die Übersetzungen das Wortspiel der ausgangssprachlichen Fassung nicht über die gesamte Passage hinweg intakt lassen . Für die durch intensiven Sex verursachte Erschütterung des häuslichen Materials, das «dimenamento di palco», finden die Übersetzer passende Vokabeln: «zittern» 34 , «Wackeln der Dielen» 35 , «als hörte er die Dielen kräftig krachen» 36 Aber keine dieser Vokabeln eignet sich zur Übersetzung der anderen Okkurenzen von «dimenare», weil es darin um einen Vorgang geht, bei dem eine menschliche Person oder zumindest ein Körperteil als Subjekt fungiert: Hier die einzelnen 34 Brockmeier 2017, S 255 35 Macchi 2015, I, S 331 36 Witte 1991, S 236 Italienisch_84.indb 29 13.11.20 09: 38 30 Decameron - Dekameron Peter Ihring Übersetzungsangebote: «sich wälzen» 37 , «sich hin- und herbewegen» 38 , «sich herumwerfen» 39 , «sich rühren, sich herumwälzen» 40 Boccaccios wortspielerisches Kalkül ist hier nicht in die Zielsprache hinüberzuretten, weil sich im deutschen Lexikon keine Vokabel findet, die seinem souveränen Umgang mit dem weiten Bedeutungsspektrum von «dimenare» gerecht werden könnte Wortspiele stellen zumeist ein größeres Übersetzungsproblem dar als Sprichwörter Nun dürfte es in der Weltliteratur nur wenige Texte geben, die mehr Wortspiele aufweisen als das Decameron Die entsprechende Problematik kann hier also nur angerissen werden Ein erstes Beispiel: In IV, 2 überlistet «Frate Alberto» die einfältige Lisetta, indem er ihr weismacht, in seiner Gestalt rede der Erzengel Gabriel zu ihr, um ihr den Hof zu machen Diese platzt vor Stolz und kann es kaum erwarten, ihrer Freundin davon zu erzählen Als sie dann mit der Freundin allein ist, sagt sie, der Erzengel Gabriel persönlich habe ihr ausrichten lassen, sie sei «la più bella donna … che sia nel mondo o in Maremma» (IV, 2, 41) Die wortspielerische Formel «mondo Maremma» taucht im Decameron noch ein weiteres Mal auf, wiederum in Verbindung mit einem Superlativ Die «rubrica» zu VI, 6 lautet: «Pruova Michele Scalza a certi giovani come i Baronci sono i più gentili uomini del mondo o di Maremma» In der Novelle selbst, einer der kürzesten des Decameron, die nichts anderes wiedergibt als ein heiteres Gespräch in fröhlicher Runde, heißt es dann nochmals, die Baronci seien «i più gentili uomini … non che di Firenze ma di tutto il mondo o di Maremma» (VI, 6, 6) Und am Ende sind sich alle Anwesenden einig, «che per certo i Baronci erano i più gentili uomini e i più antichi che fossero, non che in Firenze ma nel mondo o in Maremma» (VI, 6, 16) Der wortspielerische Reiz der Redensart beruht natürlich auf der Alliteration «mondo Maremma», die an die Lautgestalt der Ausgangssprache gebunden ist Im Deutschen muss dieser poetische Effekt durch ein anderes klangliches Instrument erzeugt werden Seltsamerweise wird in den hier konsultierten Übersetzungen nur selten der Versuch gemacht, dieses Problem kreativ zu lösen Dabei stellt sich die Situation in den beiden Novellen unterschiedlich dar: Im Fall der einfältigen Lisetta aus IV, 2 ist Ruth Macchi durchaus beizupflichten, wenn sie sich dazu entschließt, das Wortspiel zu unterschlagen Sie übersetzt einfach: «ich sei die schönste Frau auf der ganzen Welt» . 41 Wesselski schlägt vor: «weil ich, wie 37 Brockmeier 2017, S 255 38 Macchi 2015, I, S 331 39 Meißner 1924, I, S 246 40 Witte 1991, S 236 41 Macchi 2015, I, S 458 Italienisch_84.indb 30 13.11.20 09: 38 31 Peter Ihring Decameron - Dekameron er gesagt hat, die schönste Frau bin, die es auf der Welt oder zu Wasser gibt» . 42 Indem er «Welt» und «Wasser» alliterieren lässt, liefert Wesselski einen Ersatz für die Alliteration «mondo Maremma», wobei er natürlich auf das durch die Bezeichnung «Maremma» eingebrachte toskanische Kolorit verzichten muss Vielleicht ist hier tatsächlich Ruth Macchis Lösung der Vorzug zu geben, denn in der venezianischen Novelle IV, 2 hat dieses Kolorit eigentlich gar keinen erzähllogischen Sinn, und außerdem ist das Wortspiel in dieser Novelle nur ein einziges Mal enthalten Anders liegen die Dinge in VI, 6: Hier begegnet die alliterierende Formel «mondo Maremma» drei Mal und fungiert insofern als derjenige komische Faktor, der letztlich den Witz des Ganzen auch sprachlich trägt Deshalb ist an dieser Stelle eigentlich ein sorgfältiger übersetzerischer Umgang mit dem Wortspiel dringend geboten Dennoch ist unter den hier zu Rate gezogenen Übersetzern Wesselski der einzige, der es unternimmt, für den wortspielerischen Effekt, der den Text in der Ausgangssprache dominiert, eine Entsprechung in der Zielsprache zu finden: Das Geschlecht der Baronci, so schreibt er, sei «das adeligste und älteste … nicht nur in Florenz, sondern auf der ganzen Welt und zu Wasser» . 43 Literarische Wortspiele müssen sich nicht in jedem Fall einer schöpferischen Entscheidung verdanken, mit der eine individuelle Dichterpersönlichkeit ihr kreatives Ingenium demonstriert Gerade das Mittelalter ist ja eine Zeit, die noch ganz im Zeichen traditioneller Dichtungslehren steht, und auch Boccaccio lässt sich davon leiten Das bezeugt sein Einsatz von Stilmitteln, die in diesen Dichtungslehren empfohlen werden, und dazu gehört auch das rhetorische Instrument des Wortspiels Boccaccios enge Bindung an die mittellateinischen artes dictaminis ist von Vittore Branca herausgearbeitet worden, und sie dominiert nicht nur den Hohen Stil der tragischen Novellen des Decameron, sondern kann auch burleske Erzählungen prägen wie VI, 10: 44 Der Wanderprediger «frate Cipolla» ist wieder einmal in Certaldo Er hat eine Reliquie im Gepäck, die er den Gläubigen des Ortes präsentieren will, um damit wohltätige Spenden aus ihnen herauszukitzeln, die dann natürlich nur ihm selbst zugutekommen Bei der Reliquie handelt es sich um eine Feder, die, wie er den zum Gottesdienst versammelten Pfarrkindern mitteilt, dem Flügel des Erzengels Gabriel entstammt Noch am selben Abend werde er die Reliquie vor der Gemeinde zur Schau stellen Unglücklicherweise wohnen der Messe auch zwei alte Freunde des frate bei, die spontan den Plan fassen, ihm einen Streich zu spielen Es gelingt ihnen, sich ungestörten 42 Wesselski 1999, S 370 43 Wesselski 1999, S 547 44 Branca 1981, S 57 Italienisch_84.indb 31 13.11.20 09: 38 32 Decameron - Dekameron Peter Ihring Zugang zu Cipollas Gepäck zu verschaffen Die bunte Feder, auf die sie in einer «bisaccia» des Wanderpredigers stoßen, nehmen sie an sich und ersetzen sie durch einige «carboni», die sie zufällig in einer Zimmerecke finden Soweit zunächst der narrative Plot Boccaccios Erzählkunst betrifft hier aber weniger die Handlungsführung als vielmehr die Charakterisierung des Dieners Guccio Balena, dem der frate den Auftrag erteilt hatte, die Reliquie zu bewachen Pikanterweise legt der Dichter diese Charakterisierung des Guccio Balena dem Wanderprediger selbst in den Mund: «Aveva frate Cipolla un suo fante, il quale alcuni chiamavano Guccio Balena e altri Guccio Imbratta, e chi gli diceva Guccio Porco; il quale era tanto cattivo, che egli non è vero che mai Lippo Toppo ne facesse alcun cotanto . Di cui spesse volte frate Cipolla era usato di motteggiare con la sua brigata e di dire: ‘Il fante mio ha in sé nove cose tali che, se qualunque è l’una di quelle fosse in Salamone o in Aristotile o in Seneca, avrebbe forza di guastare ogni lor vertú, ogni lor senno, ogni lor santità Pensate adunque che uom dee essere egli, nel quale né vertú né senno né santità alcuna è, avendone nove! ’ e essendo alcuna volta domandato quali fossero queste nove cose e egli, avendole in rima messe, rispondeva: ‘Dirolvi: egli è tardo, sugliardo e bugiardo; negligente, disubidiente [sic! ] e maldicente; trascurato, smemorato, scostumato …’» (VI, 10, 15 ‒ 17) Im ersten Teil der Charakterisierung des Guccio Balena begnügt sich Boccaccio noch damit, einfach dem Prinzip der Dreigliedrigkeit zu frönen: «Guccio Balena … Guccio Imbratta … Guccio Porco», «Salamone … Aristotile … Seneca» bzw «vertù … senno … santità» Hier können die Übersetzungen noch mehr oder weniger problemlos folgen Schwieriger wird es dann beim Verzeichnis seiner neun Laster, weil darin zur triadischen Struktur noch eine Folge von Reimen, «avendole in rima messe», hinzutritt: «tardo, sugliardo bugiardo etc .» Den Übersetzern wird hier tatsächlich große Kreativität abverlangt Meißner entscheidet kurzerhand, sich auf ein solches Spiel gar nicht erst einzulassen: «… langsam, träumerisch, lügenhaft, nachlässig, ungehorsam, verleumderisch, unachtsam, vergeßlich und ungezogen» . 45 Ruth Macchi versucht, der Reimform des Originals mit folgenden Versen zu entsprechen: 45 Meißner 1924, II, 204 f Italienisch_84.indb 32 13.11.20 09: 38 3 3 Peter Ihring Decameron - Dekameron «Ungehorsam, schmutzig, verlogen, Hat er voll Tücke stets jeden betrogen Ein Grobian, der nichts als Verleumdung spricht, Stets auf Bosheit und Faulheit erpicht» 46 Ebenso verfährt Witte: «Ein Lügenmaul Ist er und faul, Verstockt in Trutz Und Reich an Schmutz Stets voll Verdacht Und unbedacht; Ein Feind der Pflicht, Ein grober Wicht, Und was er soll, Das tut er nicht» 47 Wesselski bringt die Reime in einer Prosafassung unter: «Er ist nachlässig und faul und ein Lügenmaul, ungehorsam und nichtsnutzig und lästerisch und schmutzig, dumm wie die Nacht und ungeschlacht .» 48 Brockmeier begnügt sich ebenfalls mit Prosa, wobei er im Eifer des Gefechts dem nichtsnutzigen Diener Guccio sogar zehn Laster zuschreibt, was bedeutet, dass in seiner Fassung auch die Dreierstruktur ganz und gar verlorengeht: «…langsam, schmutzig, lügnerisch, frech, zerfahren, verleumderisch, nachlässig und achtlos, zerstreut und sittenlos .» 49 Auf zehn Eigenschaften bringt es auch Soltau, der sich dabei aber als Verseschmied versucht: «Er ist faul, schmutzig und verlogen, ein Lästermaul und ungezogen, nachlässig, ungehorsam, trotzig, und obendrein so dumm als protzig» 50 Welchem Übersetzungsvorschlag ist denn nun der Vorzug zu geben? Die Frage soll offenbleiben, weil es hier ja nicht darum gehen kann, einzelne Leistungen zu prämieren Im Hinblick auf meine leitende Fragestellung möge an dieser Stelle der folgende resümierende Befund genügen: In dem Maße, wie das sprachspielerische Moment im Ausgangstext zum eigentlichen gestal- 46 Macchi 2015, II, S 53 47 Witte 1991, S 505 48 Wesselski 1999, S 562 49 Brockmeier 2017, S 512 50 Soltau 1874, II, S 159 Italienisch_84.indb 33 13.11.20 09: 38 3 4 Decameron - Dekameron Peter Ihring terischen Prinzip wird, setzt jede Übersetzung eine vorherige Abwägung der Prioritäten im Hinblick auf den intendierten Wortwitz voraus Da es nicht möglich ist, alle ästhetischen Merkmale der Quelle gleichermaßen in die Zielsprache zu transponieren, muss sich die Übersetzung auf die priorisierten Merkmale des Ausgangstextes konzentrieren und dadurch gleichzeitig in Kauf nehmen, dass andere Merkmale daneben im Akt der Übertragung verlorengehen Eine weitere Schwierigkeit der Übersetzung hochkomplexer vormoderner Literatur besteht darin, dass die fremdsprachigen Quellentexte mitunter schon an und für sich sehr vertrackte philologische Probleme aufwerfen Das soll im Folgenden am Beispiel des Handlungsausgangs der eben erwähnten Novelle VI, 10 illustriert werden: Als Cipolla am Abend des Tages in Certaldo vor den versammelten Schaulustigen steht, die gespannt darauf sind, von ihm die Feder des Erzengels Gabriel als Reliquie präsentiert und erklärt zu bekommen, muss er völlig überrascht feststellen, dass die Feder verschwunden ist und durch einige Stück Kohle ersetzt wurde Er besinnt sich nicht lang und erzählt dem Auditorium sehr ausführlich von einer Reise, die ihn vor einiger Zeit ins Heilige Land geführt habe, wo sich ihm dann, wie er sagt, die Gelegenheit bot, die Feder an sich zu nehmen: «Arrivai in quelle sante terre dove l’anno di state vi vale il pan freddo quatro denari e il caldo v’è per niente E quivi trovai il venerabile padre messer Nonmiblasmete Sevoipiace, degnissimo patriarca di Ierusalem Il quale, per reverenzia dell’abito che io ho sempre portato del baron messer santo Antonio, volle che io vedessi tutte le sante reliquie le quali egli appresso di sé aveva; e furon tante che, se io ve le volessi tutte contare, io non ne verrei a capo in parecchie miglia, ma pure, per non lasciarvi sconsolate, ve ne dirò alquante Egli primieramente mi mostrò il dito dello Spirito Santo cosí intero e saldo come fu mai, e il ciuffetto del serafino che apparve a San Francesco, e una delle unghie de’ gherubini, e una delle coste del Verbum-caro-fatti-alle-finestre e de’ vestimenti della santa Fé catolica, e alquanti de’raggi della stella che apparve a’ tre Magi in Oriente, e una ampolla del sudore di san Michele quando combatté col diavole, e la mascella della Morte di san Lazzero e altre E per ciò che io liberamente gli feci copia delle piagge di Monte Morello in volgare e d’alquanti capitoli del Caprezio, li quali egli lungamente era andati [sic! ] cercando, mi fece egli partefice delle sue sante reliquie .» (VI, 10, 43-46) Italienisch_84.indb 34 13.11.20 09: 38 35 Peter Ihring Decameron - Dekameron Das lange Zitat umfasst nicht mehr als ein knappes Drittel der ausufernden Rede des frate, mit der dieser seine Zuhörer darauf vorbereiten will, dass er ihnen nicht die versprochene Engelsfeder zeigen wird, sondern einige von den Kohlen, mit denen seinerzeit der Märtyrer Laurentius auf einem Eisenrost gegrillt wurde . 51 Erwartungsgemäß lassen sich die Anwesenden von der Rhetorik des Wanderpredigers manipulieren und sind am Ende dankbar dafür, dass er ihnen das segensreiche Wirken der wundertätigen Kohlen ankündigt Nach Mario Baratto nutzt Cipolla hier die von ihm spontan improvisierte Rede als Instrument von «menzogna e sopraffazione» . 52 Es leuchtet ein, dass sich ein solcher Erzählbaustein in idealer Weise dafür anbietet, dass sich die wortspielerische Kreativität des «novellatore» Dioneo bzw des Autors Boccaccio nach Herzenslust austoben kann Und wenn man bedenkt, dass, wie oben bereits angemerkt, kaum etwas schwieriger zu übersetzen ist als das Spiel mit Sprache, dann kann es schon fast seltsam anmuten, dass es bei einem Vergleich der sechs hier konsultierten deutschen Quellentexte so aussieht, als seien in dem hier zitierten Auszug aus Cipollas Rede nur die beiden markierten Passagen wahrhaft schwer zu übersetzen Es hat lange gedauert, bis die erste Passage wirklich überzeugend ins Deutsche übertragen wurde, und das lag nicht daran, dass sie philologisch besonders aufwendig hätte erschlossen werden müssen Vielmehr kann man Boccaccios Sprachspiel hier nicht anders nennen als ‘einfach genial’, und zwar deshalb, weil es so genial einfach ist Für die beiden markierten kurzen Hauptsätze «vale il pan freddo quatro denari e il caldo v’è per niente» fanden sich in der Vergangenheit die folgenden halbwegs befriedigenden Übersetzungsalternativen: «wo kaltes Brot im Sommer vier Taler kostet, das heiße dagegen für gar nichts zu haben ist» 53 ; «wo das kalte Brot im Sommer vier Heller gilt und das warme gar nichts» 54 ; «wo das alte Brot in einem Sommerjahr vier Heller gilt, das frische aber umsonst gegeben wird» 55 Bis dahin kann Wittes Übersetzung als diejenige erscheinen, die den Ausgangstext am genauesten wiedergibt Aber aus meiner Sicht hat erst Vittore Branca das durch Boccaccios Formulierung aufgeworfene Verständnisproblem wirklich gelöst Er kommentiert nämlich in seiner Edition das Wort «caldo» folgendermaßen: «anfibologia: non, come sembra, il pan caldo, ma il caldo de l’estate» 56 Mit diesem Wissen im Kopf kann dann Peter Brockmeier in seiner Ausgabe aus 51 Die als Reliquie präsentierten Kohlen haben diesen Vorgang ganz offensichtlich unversehrt überstanden 52 Baratto 1984, S .74 53 Macchi 2015, II, S 58 54 Wesselski 1999, S 567 55 Witte 1991, S 510 56 Boccaccio 1992, S 770 Italienisch_84.indb 35 13.11.20 09: 38 36 Decameron - Dekameron Peter Ihring dem Jahr 2012 korrekt übersetzen: «[sc .: im Heiligen Land,] wo im Sommer kaltes Brot vier Pfennige wert und die Wärme umsonst ist» 57 Jetzt zur zweiten Passage «gli feci copia …»: An dieser Stelle sind wirklich philologische Voruntersuchungen erforderlich Das Ganze ist natürlich ein Wortspiel mit Bezug auf obszöne Sachverhalte Ohne dass auf einzelne Details weiter eingegangen werden müsste, möge im gegenwärtigen Zusammenhang die Anregung genügen, dass der Leser/ die Leserin im Hinblick auf diese Passage Brancas Kommentar konsultieren sollte, um sich dann unter dieser philologischen Anleitung nach Herzenslust seinen/ ihren obszönen Phantasien hingeben zu können Die vorliegenden deutschen Übersetzungen dieser Passage sind eine einzige Bankrotterklärung, und auch Brockmeier hat hier seine Branca-Ausgabe nicht so gründlich studiert, wie es erforderlich gewesen wäre Vielleicht lag es auch daran, dass man in Deutschland dem edel geistvollen Boccaccio solche wirklich derben Obszönitäten einfach nicht zutrauen wollte Das Missverständnis, dem alle Übersetzer ohne Ausnahme aufgesessen sind, lässt sich ganz einfach veranschaulichen durch einen Hinweis auf ihre Deutung des Wortes ‘volgare’ in der Passage «gli feci copia delle piagge di Monte Morello in volgare» Als Literaten sind sie wohl davon ausgegangen, dass dieses Wort bei dem Meister des fiorentin volgare niemals anders zu übersetzen sein könne als durch den korrespondierenden Begriff ‘Volkssprache’ bzw durch ‘Italienisch’ Das Wort lässt sich aber auch ganz einfach im Sinne des deutschen Adjektivs ‘vulgär’ verstehen, und dieses Verständnis hätte hier das Richtige getroffen Indes sind die sexuellen Konnotationen von «piagge di Monte Morello», «capitoli del Caprezio», «sue sante reliquie» natürlich nicht der italienischen Standardsprache zuzuordnen, sondern sie gehören in den Kontext der verschiedenen Varianten des italienischen gergo Die ausufernde Ansprache, mit der Cipolla sein frommes Publikum manipuliert, um die Menschen darauf vorzubereiten, dass er ihnen die versprochene Reliquie nicht präsentieren kann, ist einem Typus monologischer Rede zuzuordnen, den man gut unter dem Begriff ‘Betäubungs-’ oder besser noch ‘Betörungsrede’ fassen kann In solchen Reden geht es darum, einen Zuhörer oder eine Zuhörergruppe durch Sprachmagie zu blenden, d .h durch einen funkensprühenden Wortschwall, der den Verstand des oder der jeweils Angesprochenen möglichst außer Kraft setzen soll Das funktioniert natürlich bei solchen Zuhörern besonders gut, wo von vornherein nicht viel Verstand ist, der außer Kraft zu setzen wäre Betörungsreden finden sich im Decameron noch häufiger, die umfangreichsten sind in VIII, 3 und VIII, 9 enthalten In VIII, 3, 8 ‒ 24 will der beffatore Maso del Saggio, den übrigens 57 Brockmeier 2017, S 516 Italienisch_84.indb 36 13.11.20 09: 38 37 Peter Ihring Decameron - Dekameron auch Cipolla in seiner Rede (VI, 10, 42) erwähnt, die Neugier des stadtbekannten Dummkopfs Calandrino wecken, um diesen dazu zu bringen, dass er sich ins Tal des Mugnone außerhalb von Florenz begibt, um dort nach einem wundertätigen Stein, dem «eliotropia», zu suchen . 58 Und in VIII, 9, 15 ‒ 30 sucht der Maler Bruno den einfältigen Arzt Maestro Simone aus Bologna auf, um ihm von den regelmäßigen Zusammenkünften eines hochexklusiven Kreises von weitgereisten Weltmännern zu erzählen und ihn so dazu zu motivieren, sich grotesken Aufnahmeritualen zu unterziehen Die obige Analyse der Betörungsrede des frate hat gezeigt, dass solche monologischen Redestücke den Übersetzer vor große Probleme stellen Das hat damit zu tun, dass sich in solchen Reden die Sprache insofern verabsolutiert, als sie sich darin fast frei von allen Bedeutungszwängen entfalten kann Hier tut sich also ein fruchtbares Feld auf, das noch mit vielen weiteren Übersetzungsanalysen beackert werden könnte Den drei angesprochenen Betörungsreden ist gemeinsam, dass sie alle in Florenz oder in der näheren Umgebung der Stadt gehalten werden und dass sie außerhalb dieses Schauplatzes auch gar nicht denkbar sind Denn die darin enthaltenen Wortspiele verarbeiten oft genug Ortsbezeichnungen, die der Topographie der Stadt entstammen, wodurch zum Beispiel in VIII, 9 der Arzt Simone aus Bologna an der Nase herumgeführt werden kann, weil ihm diese Ortsbezeichnungen überhaupt nichts sagen Die Schauplätze der drei ‘Betörungsnovellen’ sind also, ebenso wie der situative Hintergrund der Zusammenkünfte der ‘brigata’ insgesamt, in «der innerweltlichen Nah-Ferne des contado» 59 von Florenz angesiedelt, der das szenische Zentrum des Decameron bildet Diese lokale bzw regionale Verankerung des Ganzen legt die Frage nah, inwieweit sich denn die Verwendung lokaler bzw regionaler Varietäten der Volkssprache auf die Übersetzbarkeit des Werkes auswirkt Es versteht sich von selbst, dass die normgebende Varietät, das fiorentin volgare, in der Übersetzung durch die deutsche Standardsprache wiederzugeben ist Aber wie ist mit anderen Varietäten des Italienischen zu verfahren, mit einzelnen Dialekten, die im Decameron ebenfalls erklingen, zumindest in der einen oder anderen Novelle? Die Analyse der entsprechenden Passagen soll den Abschluss der hier vorgenommenen Übersetzungsanalyse bilden * Giovanni Boccaccio ist als Jüngling mit seinem Vater nach Neapel gegangen und hat sich dort umsehen können, bis die Familie im Jahr 1340 infolge des finanziellen Zusammenbruchs des Bankhauses Bardi in ihre toskanische 58 Calandrino freilich ist so dumm, dass er Maso immer wieder durch Fragen unterbricht und ihn so zu immer neuen Wortspielen anstachelt 59 Ellerbrock 2019, S 40 Italienisch_84.indb 37 13.11.20 09: 38 3 8 Decameron - Dekameron Peter Ihring Heimat zurückkehren musste Die südlichen Varietäten der italienischen Volkssprache waren ihm also wohlvertraut, und in einigen Novellen des Decameron finden sich auch sprachliche Zeugnisse dafür So sind in VIII, 10 die Äußerungen der Madonna Iancofiore, einer Kurtisane aus Palermo, nach Auskunft von Vittore Branca, durch «forme meridionali» 60 gewürzt, welche die Erzählung um einen ausgeprägt lokalen bzw regionalen Ton bereichern Das geht aber nie so weit, dass die entsprechenden Passagen ein solches Gewicht hätten, dass sich daraus witzige Pointen ergeben würden Vielmehr bilden die sicilianismi der Novelle ein Hintergrundrauschen, eine Art klangliches Lokalkolorit, mehr nicht Sie können daher in den deutschen Übersetzungen ohne großen ästhetischen Verlust unter den Tisch fallen Ähnlich verhält es sich mit dem Incipit einer neapolitanischen canzone, die das Finale der Basilikum-Novelle IV, 5 bildet: «Qual esso fu lo malo cristiano,/ che mi furò la grasta etc .» . 61 Übersetzungen dieser Passage schlagen «Blumenstock» bzw «Blumentopf» für die Dialektvokabel «grasta» vor Als einziger von den ausgewerteten Übersetzern fühlt sich Meißner veranlasst, den süditalienischen Ton des Zitats ins Deutsche zu übernehmen, und zwar dadurch, dass er dem Wort «grasta» in der Weise gerecht zu werden versucht, dass er von einem «salernitanischen Basilikum» 62 spricht Ein ungleich größeres Gewicht haben dialektale Sprachformen dann, wenn sie als Instrument im Rahmen einer poetischen Strategie zur Erzeugung komischer Effekte fungieren Das kann auch dann der Fall sein, wenn der entsprechende erzählerische Kontext insgesamt gar kein durchgängig komisches Profil hat Das gilt etwa für II, 9, eine Erzählung, die ihrem ganzen Gepräge nach dem narrativen Modell des hellenistischen Abenteuerromans folgt Thema ist die Rehabilitierung der Ehefrau des Bernabò Lomellin aus Genua Ihr Name ist Ginevra, sie selbst aber spricht diesen Namen, ebenso wie auch alle anderen Figuren der Novelle, in genuesisch dialektaler Lautung als «Zinevra» aus . 63 Das sorgt am Ende des Handlungsbogens, nach Auflösung aller hochkomplizierten Verwicklungen, für einen komischen Effekt: Die tragenden Akteure des Geschehens sind in Alessandria am Hofe des Sultans versammelt, dessen Vertrauen sich Zinevra in Männerkleidern aufgrund ihrer Tüchtigkeit als Minister über viele Jahre hinweg erworben hat Nun steht sie vor ihrem Dienstherren zusammen mit ihrem Ehemann, der, noch in Genua, befohlen hatte, sie zu töten, weil er aufgrund unge- 60 Boccaccio 1992, S 1012 61 Diese canzone ist auch unabhängig vom Decameron in anderen mittelalterlichen Manuskripten überliefert 62 Meißner 1924, II, S 55 63 Branca spricht diesbezüglich von «pronunzia genovese» Boccaccio 1992, S 292 Italienisch_84.indb 38 13.11.20 09: 38 39 Peter Ihring Decameron - Dekameron rechtfertigter Anschuldigungen davon überzeugt war, dass sie ihn betrogen habe Der Ehemann lebt in dem Glauben, sein Befehl sei seinerzeit ausgeführt worden, und der böse Verleumder von damals ist ebenfalls anwesend Die ganze üble Geschichte war dem Sultan von den Beteiligten selbst gerade zu Ende erzählt worden, da gibt sich Zinevra als Frau zu erkennen, und darüber hinaus als die zu Unrecht beschuldigte Gemahlin des völlig entgeisterten Bernabò In diesem Zusammenhang äußert sie in Gegenwart aller, aber insbesondere an den Sultan gerichtet, den dialektal gefärbten Satz: «Signor mio, io sono la misera sventurata Zinevra» (II, 9, 68) Aufgrund der Verwendung der dialektalen Form «Zinevra» ergibt sich hier ein Alliterationseffekt, der im Falle des standardsprachlichen «Ginevra» deutlich schwächer profiliert wäre: «Signor mio, io sono la misera sventurata Zinevra» Es versteht sich von selbst, dass die Übersetzungen an dieser Stelle die Komik der Originalfassung nicht reproduzieren können Eine andere Erzählung, in der durch den witzigen Gebrauch dialektaler Sprachformen eine komische Wirkung erzielt wird, ist in Florenz angesiedelt Es handelt sich um die Novelle VI, 4: Im Hause des wohlhabenden Patriziers Currado Gianfigliazzi arbeitet der Venezianer Chichibío als Koch Für ein festliches Essen, das am Abend stattfinden soll, bereitet er im Backofen eine «gru» vor, einen Kranich Vom Bratenduft angelockt, kommt die hübsche Brunetta herbei, auf die Chichibío schon seit langer Zeit ein Auge geworfen hat Kokett bittet sie ihn, ihr doch eine «coscia» zum Probieren zu geben Um die naschhafte Jungfer etwas schmoren zu lassen, weist Chichibío sie neckisch ab und gerät dabei in solchen Übermut, dass er in den heimatlichen Dialekt verfällt: «Chichibío le rispose cantando e disse: ‘Voi non l’avrí da mi, donna Brunetta, voi non l’avrí da mi’» Keiner der zu Rate gezogenen Übersetzer hat versucht, das dialektale Gepräge von Chichibíos Äußerung im Deutschen zu reproduzieren Insofern haben alle ihre Aufgabe gleich gut oder gleich schlecht erfüllt Es gibt hier aber dennoch Anhaltspunkte für eine qualitativ abgestufte Beurteilung der einzelnen Übersetzungsvorschläge, und zwar bezüglich des Wortes «cantando», welchem Branca in seiner Anmerkung ein besonderes Gewicht zuteilwerden lässt Dabei zitiert er zur Unterstützung aus einem älteren Boccaccio-Kommentar: «‘Parlando nel suo dialetto, che per l’abbondanza delle parole tronche e per la varietà delle intonazioni può parere, ai non Veneziani, un canto’ (Massera) Qui il B [sc : Boccaccio] si riferisce probabilmente a quelle tronche rimate e a quelle riprese di parole che danno all’intervento di Chichibío un tono proverbioso, da cantilena, da celia familiare .» 64 64 Boccaccio 1992, S 732 Italienisch_84.indb 39 13.11.20 09: 38 4 0 Decameron - Dekameron Peter Ihring Während die anderen Übersetzer sich auf ein bloßes «singend» beschränken, sind Brockmeier und Macchi an dieser Stelle etwas anspruchsvoller: Macchi schlägt vor: «Chichibío aber sang ihr in die Ohren: ‘Von mir kriegt ihr sie nicht! Von mir kriegt ihr sie nicht, Donna Brunetta’» 65 Mehr noch überzeugt mich hier Brockmeiers Lösung: «Trällernd antwortete er ihr: ‘Von mir nicht, Madonna, niemals von mir’» 66 Die zweite Novelle aus dem Decameron, in welcher der venezianische Dialekt als inhaltliches Element zur Erzeugung von Komik fungiert, ist auch mit ihrer Handlung in Venedig situiert In IV, 2 gelingt es dem frate Alberto, mit einer oben bereits kurz skizzierten List, die Venezianerin Lisetta zu verführen, deren Ehemann abwesend ist, weil er sich bei Geschäftspartnern in Genua aufhält Lisetta beendet ihren langen, von eitler Selbstgefälligkeit getragenen Monolog, mit dem sie ihrer Freundin davon erzählt, dass der Erzengel Gabriel ihren Reizen verfallen sei, mit der dialektalen Wendung «mo vedi vu? » . 67 Während dieser Satz in der Originalfassung einen der vielen Höhepunkte dieser herrlichen Novelle bildet, müssen die Formeln, mit denen er in den deutschen Übersetzungen wiedergegeben wird, blass und nichtssagend wirken, und zwar hauptsächlich deshalb, weil die durch den dialektalen Ton eingebrachte Komik im Deutschen nicht zu reproduzieren ist Das Spektrum reicht von Ruth Macchis «Versteht Ihr? » 68 über Wesselskis «Na, was sagt ihr jetzt? » 69 bis hin zu Brockmeiers lapidarem «so ist das» . 70 All diesen Formeln ist gemeinsam, dass man sie ohne großen ästhetischen Verlust auch weglassen könnte . * Die hier vorgenommenen übersetzungskritischen Stichproben haben ergeben, dass sich die poetische Komplexität des Decameron in einer deutschen Übersetzung nicht in all ihren Facetten erhalten lässt Verantwortlich dafür ist zum einen die besondere Nähe des fiorentin volgare zu seinen lateinischen Wurzeln, zum anderen Boccaccios geniales Spiel mit den Möglichkeiten jener Prosa, die er schon in der Frühzeit der italienischen Literatur zur künstlerischen Vollendung gebracht hat Das Decameron ist ein europäisches Weltbuch im selben Sinne wie der Don Quijote Es verbindet das (spät-)antike Erbe 65 Macchi 2015, II, S 25 66 Brockmeier 2017, S 494 67 Boccaccio 1992, S 499 In einer Anmerkung schreibt Branca dazu: «ora vedete voi, in veneziano (un po’ approssimativo invece di vedé) cioè avete capito? : modo usato a concludere un discorso» 68 Macchi 2015, I, S 458 69 Wesselski 1999, S 370 70 Brockmeier 2017, S 347 Italienisch_84.indb 40 13.11.20 09: 38 41 Peter Ihring Decameron - Dekameron mit einem hochliterarischen Lobpreis der humanen Idealität des mittelalterlichen Rittertums, der bei Boccaccio noch sehr viel weniger ironisch gebrochen ist als bei Cervantes Aber auch die krude Wirklichkeit des materiellen Lebens ist im Decameron zu finden, jedoch ist sie ästhetisch aufgehoben in einer sprachlichen Virtuosität, in deren freiem Spiel jener Glanz des fiorentin volgare aufblitzt, dem keine Übersetzung durchgängig gewachsen ist Abstract Il Decameron di Giovanni Boccaccio è un testo classico della letteratura europea Molte volte è stato tradotto dalla lingua originale, il fiorentin volgare, in tedesco In questo studio vengono analizzate sei traduzioni, pubblicate fra il 1786 e il 2012 L’attenzione si concentra in prima linea in quei brani che offrono problemi particolari al traduttore L’esame mostra che soprattutto i numerosi giochi di parole e le espressioni dialettali spesso sono difficilmente traducibili In alcuni casi la traduzione non può essere veramente considerata come una riproduzione adeguata dell’originale trecentesco Summary As a literary classic, Giovanni Boccaccio’s Decameron has regularly been translated into German language This study looks at six translations that were published between 1786 and 2012, focusing on the question which parts of the work have usually resulted in being especially challenging for translators In fact, Boccaccio uses his own language, the fiorentin volgare, as well as an array of dialects and linguistic forms of the Trecento as an aesthetic tool on several occasions The study identifies these original lines as the most difficult to render into German language Bibliographie Quellen Boccaccio, Giovanni: Decameron, a cura di Vittore Branca 2 volumi Torino: Einaudi 1992 Boccaccio: Das Decameron Übers von A .G Meißner 3 Bde München: Allgemeine Verlagsanstalt 1924 Das Dekameron des Boccaccio Übers Dietrich Wilhelm Soltau Berlin: Hofmann 1874 Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron Übers Karl Witte München: Artemis & Winkler 1991 Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron Deutsch von Albert Wesselski Frankfurt und Leipzig: Insel 1999 Italienisch_84.indb 41 13.11.20 09: 38 42 Decameron - Dekameron Peter Ihring Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron Übers Ruth Macchi 2 Bde Darmstadt: Lambert Schneider 2015 Boccaccio, Giovanni: Das Decameron Übers Peter Brockmeier Stuttgart: Reclam 2017 Sekundärliteratur Baratto, Mario: Realtà e stile nel Decameron Roma: Editori Riuniti 1984 Bembo, Pietro: Prose della volgar lingua - Gli Asolani - Rime, a cura di Carlo Dionisotti Torino: UTET 1966 Branca, Vittore: Boccaccio medievale e nuovi studi sul ‘Decameron’ Firenze: Sansoni 1981 Bertelsmeier-Kierst, Christa: «Wer rezipiert Boccaccio? Zur Adaption von Boccaccios Werken in der deutschen Literatur des 14 Jahrhunderts», in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 127 (1998), S 410 ‒ 426 Bertelsmeier-Kierst, Christa: «Zur Rezeption des lateinischen und volkssprachlichen Boccaccio», in: Giovanni Boccaccio in Europa Studien zu seiner Rezeption in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrsg von Achim Aurnhammer und Rainer Stillers, Wiesbaden: Harrassowitz 2014, S 131 ‒ 153 Cucchi, Paolo Martino: The first French Decameron. A Study of Laurent de Premierfait’s translation Ann Arbor Univ Microfilms 1975 Ellerbrock, Karl Philipp: «Florenz Das Gemeinwesen und das Wort der Dichter», in: Italienisch. Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur 82 (2019), S 35 ‒ 54 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Frankfurt: Suhrkamp 1973 Klesczewski, Reinhard: «Frühe italienische Novellistik in deutschen Übersetzungen», in: Italienische Literatur in deutscher Sprache Bilanz und Perspektiven, hrsg von Reinhard Klesczewski und Bernhard König, Tübingen: Narr 1990, S 123 ‒ 130 Kopp-Kavermann, Maria: «ORIENTierungen Begegnungen zwischen Abendland und Morgenland im Decamerone», in: Raumerfahrung - Raumerfindung Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, hrsg von Laetitia Rimpau und Peter Ihring, Berlin: Akademie-Verlag 2005, S 195 ‒ 211 Mann Thomas: «Meerfahrt mit Don Quijote», in: ders ., Reden und Aufsätze 1 Frankfurt: Fischer 1974, S 427 ‒ 477 Neuschäfer, Hans-Jörg: «Boccaccio, Cervantes und der utopische Possibilismus», in: Europäische Dimensionen des ‘Don Quijote’ in Literatur, Kunst, Film und Musik, hrsg von Tilman Altenberg und Klaus Meyer-Minnemann, Hamburg: Hamburg University Press 2007, S 47 ‒ 62 Rubini Messerli, Luisa: Boccaccio deutsch Die Dekameron-Rezeption in der deutschen Literatur 2 Bde Amsterdam/ New York: Rodopi 2005 Schiaffini, Alfredo: Tradizione e poesia nella prosa d’arte dalla latinità medievale a G. Boccaccio Roma: Storia e Letteratura 1943 Wolf, Gerhard: Von der Chronik zum Weltbuch Sinn und Anspruch südwestdeutscher Hauschroniken am Ausgang des Mittelalters Berlin: De Gruyter 2002 Italienisch_84.indb 42 13.11.20 09: 38