eJournals Italienisch 42/84

Italienisch
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Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2020-0025
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2020
4284 Fesenmeier Föcking Krefeld Ott

Torquato Tasso, Rime, Nr. 31: Affektpoetik zwischen ‘amor aspro’ und «aure amorose»

121
2020
Angela Oster
ita42840074
74 DOI 10. 23 57/ Ital-2020 - 0 025 Biblioteca poetica Torquato Tasso, Rime, Nr. 31: Affektpoetik zwischen ‘amor aspro’ und «aure amorose» Amor, tu vedi, e non hai duolo o sdegno, Ch’al giogo altrui madonna il collo inchina: Anzi ogni tua ragion da te si cede Altri ha pur fatto, oimé, quasi rapina Del mio dolce tesoro; or qual può degno 5 Premio agguagliar la mia costante fede? Qual più sperar ne lice ampia mercede De la tua ingiusta man, s’in un sol punto Hai le ricchezze tue diffuse e sparte? Anzi pur chiuse in parte 10 Ove un sol gode ogni tuo ben congiunto Ben folle è chi non parte Omai lunge da te, che tu non puoi Pascer se non di furto i servi tuoi Ecco già dal tuo regno il piè rivolgo, 15 Regno crudo e ’nfelice: ecco io già lasso Qui le ceneri sparte e ’l foco spento Ma tu mi segui e mi raggiungi, ahi lasso! ; Mentre del mal sofferto in van mi dolgo, Ch’ogni corso al tuo volo è pigro e lento 20 Già via più calde in sen le fiamme i’ sento E via più gravi a’ piè lacci e ritegni; E come a servo fuggitivo e ’ngrato, Qui, sotto al manco lato, D’ardenti note il cor m’imprimi e ’l segni 25 Del nome a forza amato; E perch’arroge al duol ch’è in me sí forte Formi al pensier ciò che più noia apporte Ch’io scorgo in riva al Po Letizia e Pace Scherzar con Imeneo, che ’n dolce suono 30 Chiama la turba a’ suoi diletti intesa Liete danze vegg’io, che per me sono Funebri pompe, ed una istessa face Ne l’altrui nozze e nel mio rogo accesa; Italienisch_84.indb 74 13.11.20 09: 38 75 Angela Oster Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» E, come Aurora in oriente ascesa, 35 Donna apparir, che vergognosa in atto I rai de’ suoi begli occhi a sé raccoglia, E ch’altri un bacio toglia Pegno gentil del suo bel viso intatto, E i primi fior ne coglia, 40 Que’ che già cinti d’amorose spine Crebber vermigli infra le molli brine Tu ch’a que’ fiori, Amor, d’intorno voli Qual ape industre e ’n lor ti pasci e cibi E ne sei così vago e così parco, 45 Deh, come puoi soffrir ch’altri delibi Umor sí dolce e ’l caro mèl t’involi? Non hai tu da ferir saette ed arco? Ben fosti pronto in saettarmi al varco Allor che per vaghezza incauto venni 50 Là ’ve spirar tra le purpuree rose Sentii l’aure amorose; E ben piaghe da te gravi io sostenni, Ch’aperte e sanguinose Ancor dimostro a chi le stagni e chiuda; 55 Ma trovo chi l’inaspra ognor più cruda Lasso! il pensier ciò che dispiace e duole A l’alma inferma or di ritrar fa prova E più s’interna in tante acerbe pene Ecco la bella donna, in cui sol trova 60 Sostegno il core, or, come vite suole Che per sé stessa caggia, altrui s’attiene: Qual edera negletta or la mia spene Giacer vedrassi, s’egli pur non lice Che s’appoggi a colei ch’un tronco abbraccia 65 Ma tu, ne le cui braccia Cresce vite sí bella, arbor felice, Poggia pur, né ti spiaccia Ch’augel canoro intorno a’ vostri rami, L’ombra sol goda e più non speri o brami 70 Né la mia donna, perché scaldi il petto Di nuovo amore, il nodo antico sprezzi, Che di vedermi al cor già non rincrebbe: Od essa che l’avvinse essa lo spezzi; Però ch’omai disciorlo, in guisa è stretto, 75 Italienisch_84.indb 75 13.11.20 09: 38 76 Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Angela Oster Né la man stessa che l’ordío potrebbe E se pur, come volle, occulto crebbe Il suo bel nome entro i miei versi accolto Quasi in fertil terreno arbor gentile, Or seguirò mio stile, 80 Se non disdegna esser cantato e cólto Da la mia penna umíle; E d’Apollo ogni dono in me fia sparso S’Amor de le sue grazie a me fu scarso Canzon, sí l’alma è ne’ tormenti avvezza, 85 Che, se ciò si concede, ella confida Paga restar ne le miserie estreme Ma se di questa speme Avvien che ’l debil filo alcun recida, Deh, tronchi un colpo insieme, 90 Ch’io ’l bramo e ’l chiedo, al viver mio lo stame E l’amoroso mio duro legame . 1 Klage um die verlorne Geliebte Amor, du siehst es ohne Zorn und Reue, Daß anderm Joch den Nacken sie gebogen! Ja, Fug und Recht ist all’ von dir gegangen; Ein Andrer hat wie räub’risch mir entzogen Den theuern Hort! Was soll die feste Treue 5 Von wohlverdientem Lohne nun empfangen? Und welche Gnade noch könnt’ ich erlangen Von deiner schnöden Hand, da alle Gabe Im Nu du so verschwendet und vergossen, Und all’ in Eins verschlossen, 10 Daß all’ dein Glück nun eines Einz’gen Habe? Thor ist, wer unentschlossen Nicht schnell dich flieht, weil du, die dir gehören, Einzig mit fremdem Raube weißt zu nähren Schon wend’ ich, sieh! aus deinem Reich die Füße, 15 Dem traurig-unglücksel’gen Reiche! siehe, Die Glut erlischt, die Asche will verwehen! Du aber bleibst mir nahe, wie ich fliehe, 1 Tasso 1898, S 43-48 Italienisch_84.indb 76 13.11.20 09: 38 77 Angela Oster Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Während ich Thränen, ach! umsonst vergieße; Vor deinem Flug ist langsam alles Gehen 20 Schon fühl’ ich heiß’re Flammen drin erstehen Und härt’re Fesseln meinem Fuß sich fügen, Und, untreu-flücht’gem Knechte zu vergleichen, Drückst du mir glühe Zeichen In’s Herz nebst jenes theuern Namens Zügen, 25 Dem ich nicht kann entweichen, Und, daß mein Leid sich mehr und mehr verschlimm’re, Schaffst innen, was mich schmerzlicher bekümm’re Den Po entlang seh’ Fried’ und Lust ich scherzen Mit Hymenäus, der mit süßen Klängen 30 Die Scharen ruft zu seinen Freudenmahlen; Seh Tänze froh sich durch einander mengen, Mir Leichenzüge, seh dieselben Kerzen Zur Hochzeit jenem, mir zum Rogus strahlen; Seh’ schimmernd, gleich Auroren ob den Thalen, 35 Die Herrin leuchten, die, in Scham befangen, In sich hinein mit schönen Augen blicket; Seh, wie ein Andrer drücket, Als Pfand, den Kuß auf unberührte Wangen Und erste Blumen pflücket, 40 Die einst, von Liebesdornen rings umwoben, Röthlich aus weichem Schne’e sich erhoben O Amor du, der du, gleich äms’gen Bienen, Um diese Blumen schwärmst, mit gier’ger Lippe Einzig allein aus ihrem Kelch zu zehren, 45 Wie kannst du dulden, daß ein Andrer nippe So theuern Seim, so süßen Saft aus ihnen? Hast du nicht Pfeil und Bogen, abzuwehren? Wol warst bereit du einst, mich zu versehren, Als gierig unklug ich herangeschritten, 50 Wo zwischen Rosen ich ein Liebeswehen Fühlt’ auf und nieder gehen! Und Wunden schwer hab’ ich von dir erlitten, Die ewig offen stehen Und blutend fragen, ob sie jemand heile; 55 Doch find’ ich nur, was herbern Schmerz ertheile So müssen ach! was Schmerz und Unmuth reget, Auf’s Neue vor der kranken Seel’ entfalten Und mehr in Qual versinken die Gedanken! Italienisch_84.indb 77 13.11.20 09: 38 78 Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Angela Oster Die Herrin, sieh! die einzig fest gehalten 60 Mein Herz, sie schlingt nun, wie der Weinstock pfleget, Um einen Andern liebend ihre Ranken! Wie stützenlosen Epheu seh’ ich schwanken Mein Hoffen all’, weil es ihm nicht verstattet, An ihr zu ruhn, die einem Stamm sich schmieget - 65 Doch du, dem angefüget, Glücksel’ger Baum, so schöner Weinstock schattet, O zürne nimmer, wieget Ein Sängervogel sich um deine Krone, Der Schatten nur, sonst nichts, begehrt zum Lohne! 70 Und, ob von neuer Glut ihr Herz durchdrungen, Doch möge sie den alten Knoten ehren, Den sie in mir nicht ungern einst gefunden, Oder, wie sie ihn knüpft‘, ihn nun zerstören, Obwol an ihm - so fest ist er geschlungen - 75 Nichts selbst die Hand vermag, die ihn gewunden Und blüht’ auch eh’, verborgen und gebunden, Wie sie es wollt’, ihr Nam’ in meinem Sange, Gleich edlem, üpp’ger Flur entsproßten Reiße, Folg’ ich jetzt meiner Weise, 80 Wenn sie vergönnt, daß sie mit lautem Klange Mein armer Griffel preise; Und karget Amor mir mit seinen Gaben, Werd’ ich nun Alles von Apollo haben So ist die Seel’, o Lied, des Grams gewohnet, 85 Daß, so ihr einzig dieses nicht gebräche, Bezahlt sie blieb’ im allergrößten Wehe Doch wenn es je geschähe, Daß dieser Hoffnung schwacher Faden bräche, Dann trenn’ Ein Schlag - ich flehe 90 Aus voller Brust - so meines Lebens Faden, Als meiner Liebe festes Band in Gnaden . 2 Als Torquato Tassos Meisterwerk gilt sein Versepos Gerusalemme Liberata Daneben darf seine Lyrik ebenfalls auf eine außerordentliche Qualität pochen Die Editionsgeschichte der Rime ist kompliziert, was nicht zuletzt der Internierung des vermeintlich wahnsinnigen Tasso in St Anna in Ferrara 2 Tasso 1821, S 3-7 Italienisch_84.indb 78 13.11.20 09: 38 79 Angela Oster Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» geschuldet ist . 3 1581 erschien eine erste umfangreichere Gedichtsammlung und in der Folge eine Fülle von Tasso selbst nicht autorisierter Fassungen Der Dichter selbst erstellte erst wieder 1591 eine Ausgabe von 180 Gedichten, die Parte Prima der Amori . 4 Was die Themen der Gedichte angeht, finden sich neben den Liebesgedichten (amori) außerdem Gelegenheitsgedichte in Form höfischer Lobgedichte (encomi) sowie sakrale Lyrik (cose sacre) Die Gedichte sind unter anderem in einen petrarkistischen Bezugsrahmen eingelassen, dessen Konsistenz Tasso allerdings mit gezielten Verfahren relativiert Insgesamt hat Tasso zeit seines Lebens rund 1700 Gedichte verfasst und sich dabei sämtlicher in der petrarkistischen Tradition zur Verfügung stehenden Gattungen (Stanze, Sonett, Sestine, Madrigal, Ballata) bedient Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Kanzone, die bei aller Elastizität, welche die Lyrikgattungen im Cinquecento entfalten, an grundlegende, nicht suspendierbare Charakteristika gebunden bleibt Dies gilt im Fall der Kanzone in gesteigertem Maße, da diese spätestens seit Dante als Lyrikgattung mit besonders hohen Ansprüchen sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht galt, 5 was in der Folge unter anderem von Petrarca in seiner moraltheologisch herausfordernden Mariencanzone, die seinen Canzoniere (RVF) beschließt, noch weiter untermauert wurde . 6 Das obligatorische Frauenlob ist in Tassos Kanzone allerdings insofern von vornherein petrarkistisch limitiert, als die angebetete Dame weder eine Erhöhung ʽ in vita ʼ noch ʽ in morte ʼ erfährt Denn sie heiratet einen Anderen und ist lediglich aus diesem Grund im übertragenen Sinne für den enttäuschten Liebhaber ʽ gestorben ʼ Diese umgangssprachliche Wendung ist insofern der Affektanlage der Kanzone affin, als eine in der mittelalterlichen Minnetradition nicht sonderlich hoch bewertete Emotion in das Gedicht eingespeist wird: die Eifersucht Auch die aristotelische Affektenlehre, die zu Tassos Lebzeiten virulent ist, rät zur Eliminierung von Emotionen, die das Gemüt und die Verstandeskräfte tangieren könnten Die klassischen Vorgaben des Epithalamiums, des Hochzeitsgedichtes, können angesichts der evidenten ʽ gelosia ʼ des verschmähten Liebhabers nur bedingt in Szene gesetzt werden Der lyrische Sprecher nimmt an der Hochzeit der verlorenen Dame teil, wobei allerdings nicht zur Gänze deutlich wird, ob er den entsprechenden Szenen real beiwohnt oder ob seine Schilderungen einer ʽ vis imaginativa ʼ entspringen Was nun die Eifersucht angeht, so ist diese, anders als in der 3 Vgl zu Tassos komplexer Krankengeschichte Oster 2021 (im Erscheinen) 4 Eine komprimierte Übersicht zu Tassos Lyrik findet sich in Regn 1991 5 Die gesteigerte Kunstfähigkeit, die zum Dichten von Kanzonen in seinen Augen notwendig war, hat Dante in De Vulgari Eloquentia, Buch II, behandelt (vgl dazu die noch folgenden Literaturangaben) 6 Vgl Küpper 2003 Italienisch_84.indb 79 13.11.20 09: 38 8 0 Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Angela Oster christlich fundierten Minnelyrik, 7 in der antiken Lyrik durchaus ein gängiger Affekt, wofür Sapphos «Fragment 31» eines der berühmtesten Beispiele darstellt . 8 Die Kanzone, so wie sie sich in der Folge seit der Trobadorlyrik herausgebildet hat, behandelt dagegen eine seriöse, feierliche oder gar schwermütige Thematik, was oftmals aus einem lamentierenden Blick in die (verlorene) Vergangenheit resultiert Tasso verwendet, wie bereits erwähnt, in seinen Rime vor allem Sonette und Madrigale, und mit Abstand, aber immerhin bereits an dritter Stelle der Häufigkeit folgt die Kanzone, vor Ballade und Sestine . 9 Formal besteht die vorliegende Kanzone aus sechs Strophen zu je 14 Versen, denen ein achtzeiliger ʽ congedo ʼ folgt, der das Gedicht beschließt Das Reimschema lautet durchgängig ABA BAC CDEEDEFF, außer im ʽ congedo ʼ : ABC CBC DD Gerade aufgrund des kunstvollen, regelgemäßen Aufbaus der Kanzone fällt ein einzelner, (scheinbar) weniger eleganter Reim auf: der identische Reim in den Versen 10 und 12: «Anzi pur chiuse in parte» und «Ben folle è chi non parte» Dieser eher herbe denn gefällige Reim wiederholt formal im Gedicht das, was inhaltlich bereits die erste Verszeile überdeutlich ausgestellt hat Es war Dante, der nicht nur eine seiner Kanzonen mit den Worten «Così nel mio parlar voglio esser aspro» beginnt und auf dessen inszenierte Sprödigkeit sich Tasso bezieht Tassos vorliegendes Gedicht greift vor allem, und zwar mit ʽ identischem ʼ Wortlaut in den ersten drei Worten, Dantes Kanzone (beziehungsweise Doppelsestine) «Amor, tu vedi ben che questa donna» auf Im Falle Dantes handelt es sich um die sogenannten Petrosen: Gedichte, in denen Dante im Anschluss an seine stilnovistische Lyrik mit neuen Stilelementen experimentiert, für die das hermetische, ʽ dunkle ʼ Dichten ( ʽ trobar clus ʼ ) des Trobadors Daniel Arnaut das Vorbild darstellt (Dante hat Arnaut in der Divina Commedia, in Purgatorio XXVI, ein Denkmal gesetzt) Die Bezeichnung ʽ rime pietrose ʼ entstand im 19 Jahrhundert und leitete sich von der in den Petrosen besungenen, ʽ hart ʼ wie Stein ( ʽ pietra ʼ ) erscheinenden Dame ab 7 In der volkssprachlichen Lyrik war das Motiv der Eifersucht zwar vorhanden, aber vorwiegend als Sujet in burlesken Dichtungen, bspw bei Cecco Angiolieri 8 Die numerische Koinzidenz von Sapphos «Fragment 31» und Tassos Gedicht Nr 31 wäre zwar interpretatorisch eine ʽ trouvaille ʼ , muss aber als Zufall oder zumindest nicht autorrelevant verbucht werden, da die Anordnung in der Ausgabe Le Rime di Torquato Tasso vom Herausgeber Solerti, und nicht von Tasso selbst, stammt 9 Reflexionen zur Kanzone, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, finden sich in Tassos Dialog La Cavaletta ovvero della poesia toscana (1585) Dort diskutieren die Figuren Ercole Cavaletto und der Forestiero Napoletano u .a die Vorgaben Dantes zur Kanzone in De Vulgari Eloquentia Italienisch_84.indb 80 13.11.20 09: 38 81 Angela Oster Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Mit den Dante-Reminiszenzen markiert Tasso in der Kanzone (über) deutlich eine Abgrenzung von der in den Rime ansonsten immer wieder präsenten petrarkistischen Tradition . 10 Nun ist aber gerade diese Überdeutlichkeit wenig kunstvoll, und die Kanzone lässt denn auch in der Folge in ihrer Gesamtkomposition keinen Zweifel daran, dass Tasso Dantes ʽ aspro ʼ - Stil - mit dem dieser selbst ja ebenfalls lediglich punktuell experimentierte - nur bedingt als vorbildhaft empfindet Und so beschreitet Tasso bereits in der ersten Verszeile eigene Wege, indem er die Vormachtstellung der ʽ donna pietra ʼ relativiert Während Dante direkt nach der Apostrophierung Amors, gewissermaßen im gleichen Atemzug, sofort den Fokus auf die Dame lenkt, und zwar mit einem Nähe - und nicht Distanz ( ʽ quella ʼ ) - evozierenden, adjektivischen Demonstrativpronomen («Amor, tu vedi ben che questa donna»), verweilt der lyrische Sprecher Tassos weiterhin bei dem Adressaten des ersten Wortes: «Amor» Es ist «Amor» (und nicht die herzlose Dame), der weder «Leid» («duolo») noch Empörung («sdegno») zeigt und die maßgebliche Instanz darstellt, an die das Liebesleid des Sprechers sich wendet Was das Liebesobjekt auf der Ebene der ʽ histoire ʼ vollzieht, nämlich in Vers zwei den Nacken vor einem Anderen (dem in der Liebesgunst rivalisierenden und siegreichen Konkurrenten) zu beugen - genau dies praktiziert zuvor bereits der lyrische Sprecher auf der ʽ discours ʼ -Ebene Er beklagt sich bei «Amor», dem er sich beugt, und die personelle Verschiebung der ʽ Anklage ʼ inkludiert eine Distanzierung vom klassischen Gegenstand der traditionellen Minnelyrik Darüber darf auch die Bezeichnung «madonna» in Vers zwei nicht hinwegtäuschen Denn im Zusammenhang des zyklischen Narrativs der Rime folgt das Gedicht Nr 31 direkt im Anschluss an eine Reihe von Traumgedichten, in denen die angebetete Dame bereits sukzessive in den Hintergrund gerückt ist und die auffällig milde ʽ Klage ʼ in der vorliegenden Kanzone grundgelegt wurde Bereits im Gedicht Nr 28 (Vers 4) wurde die Dame zwar «Madonna» genannt, wobei im Folgenden aber vor allem ihre Wankelmütigkeit und Scheinhaftigkeit («Parea che mi dicesse» , v 10) betont wird In den Traumgedichten bereitet sich der lyrische Sprecher auf das vor, was dann im vorliegenden Gedicht Nr 31 tatsächlich eintritt: die einschmeichelnde Rhetorik der Dame - «O mio fedel, t’affliggi e ti consumi? / E perché non fai tregua a’ tuoi sospiri,/ E ’n queste amate luci asciughi il pianto? / Speri forse d’aver più fidi lumi? » (Gedicht 28, vv 11-14) - erweist sich als schmeichlerische Illusion, während der Modus des Traums dem Liebenden ermöglicht hat, eine aristotelistische Vernunft zu mobilisieren, die ihn die 10 Vgl dazu die nach wie vor grundlegende Studie Regn 1987 Italienisch_84.indb 81 13.11.20 09: 38 82 Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Angela Oster anstehenden Erosionen seiner Liebe erkennen lassen . 11 Von der Pathographie der petrarkischen ʽ dolendi voluptas ʼ oder der dantisch-stilnovistischen Poetik der ʽ fedeli d’amore ʼ findet sich im Gedicht Nr 31 folgerichtig kaum mehr eine Spur, und dies erklärt auch, warum der dem Gedicht vorangestellte ʽ argomento ʼ programmatisch der Dame die Liebe und Eloquenz des suspendierten Liebhabers empfiehlt: «Si lamenta con Amore, che la sua Donna abbia preso marito, e la prega, che non si sdegni d’esser amata e celebrata da lui .» 12 Dass den Sprechenden seine individuelle Liebe allerdings kaum mehr zu interessieren scheint, erweist der Blick in die von Tasso selbst besorgte Ausgabe von 1591 Dort lautet der ’argomento’ nämlich folgendermaßen: «Si lamenta con Amore, che la sua Donna abbia preso marito, e la prega, che non si sdegni d’esser amata, e celebrata .» 13 Der Zusatz «da lui», der sich in der Ausgabe von Solerti findet, ist von Tasso (zumindest in der maßgeblichen Ausgabe von 1591) nicht autorisiert, der eindeutig eine anonymisierte Laudatio zu favorisieren scheint Das Schreiben über die Liebe, und nicht mehr der ursprüngliche Anlass (die Dame), sind das eigentliche Thema der Kanzone Nr 31 In den Versen 78 bis 85 wird dies unmissverständlich herausgestellt «Il suo bel nome entro i miei versi accolto», heißt es in Vers 78 Hier wie auch im übrigen Gedicht ist es unwesentlich, wie die Dame tatsächlich heißt Der pragmatische Anlass des Dichtens ist vernachlässigbar, und ob die Dame eventuell Lucrezia Bendidio oder Laura Peperara war (sämtliche Tasso-Biographien gehen auf diese realhistorischen Hintergründe ein), ist letztlich unerheblich Dies indiziert eine weitere Distanzierung vom petrarkischen Modell, für das eine biographische, wenn auch fiktionalisierte Verlaufsstruktur konstitutiv ist Was zählt, das ist die Sprache, in welche die Dame einbzw aufgeht, genauer: die kunstvolle, ästhetische («bel») Handhabung der Sprache durch den Schreibenden Dessen Devotionsformel («mia penna umíle», v 82) kaschiert das tatsächliche Selbstbewusstsein des Dichters nur geringfügig, der sich auf niemand Geringeren als den Gott der Künste - «Apollo» (v 83) - berufen kann, und der stabilisiert durch diese Autorität getrost auf seine eigenen Fertigkeiten vertrauen darf: «Or seguirò mio stile» (v 80) Nach der Zäsur durch den ʽ congedo ʼ ist es zielgerichtet der «Canzon», der «Amor» als Ansprechpartner und Ziel des Schreibens ablöst, während die Dame gleichsam in das dritte Glied der Aufmerksamkeit zurücktritt . 14 11 Vgl dazu Oster 2020 (im Erscheinen) 12 Tasso 1898, S 43 13 Zit nach Tasso 1592, S 46 14 Dies ist mit der im Cinquecento neben dem Aristotelismus weiterhin virulenten Platon-Rezeption vergleichbar, genauer dem Drei-Stufen-Model in der Politeia (597 ff .): An erster Stelle sind die Ideen situiert, denen auf der zweiten Stufe die sinnlich wahr- Italienisch_84.indb 82 13.11.20 09: 38 8 3 Angela Oster Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» In der bereits genannten Ausgabe von 1591 hat Tasso seine Gedichte mit Kommentaren versehen («Esposition de l’autore»), die ihn als ʽ poeta doctus ʼ ausweisen Die erste Erläuterung bezieht sich auf Vers 3 - «Anzi ogni tua ragion da te si cede» - und lautet: «Le ragioni d’amore, sono le sue leggi (sic) fra le quali è principalissima (sic) ʽ Amore a nullo amato amar perdona ʼ » . 15 Der grammatische Superlativ in Bezug auf Dante sowie die Stellung als ʽ Erster ʼ in den Anmerkungen wird durch die Semantik des ʽ princeps ʼ weiter forciert, die Dante als angesehensten oder wichtigsten Dichter ausstellt Zwar bezieht sich in der Folge bereits die zweite Erläuterung auf Petrarca, mit Bezug auf Vers 5 («Del mio dolce tesoro»): «De la sua donna, così il Petrarca ʽ Morte m’ha tolto il mio dolce tesoro ʼ » . 16 Doch das Zitat ist nicht korrekt wiedergegeben In RVF 264, Vers 5, heißt es: «Tolto m’ài, Morte, il mio doppio thesauro», und es erscheint wenig glaubwürdig, dass ein Petrarca-Kenner wie Tasso keine Canzoniere-Ausgabe zur Hand hatte, als er jahrelang seine Rime redigierte Vielmehr wird durch den gezielten Eingriff in die petrarkische ʽ scrittura ʼ diesem ein ʽ süßer Stil ʼ untergeschoben, für den der im vorliegenden Gedicht aufgerufene Dante (dessen jugendliche Lyrik bekanntlich dem Dolce Stil Nuovo zugehörig ist) wiederum interessanterweise gerade nicht als Bürge bemüht wird Dante ist in Tassos Kanzone Nr 31 ein ʽ herber ʼ Dichter, der die Tücken - und nicht die (vordergründigen) Freuden - der Liebe erkennt und die aristotelische Affektenlehre beherrscht Darauf verweist ex negativo auch das berühmte Diktum Francescas aus der Divina Commedia, Inferno V, «Amor, ch’a nullo amato amar perdona», das in der bereits zitierten Erläuterung fast wörtlich aufgerufen wird Im Kontext des Petrarkismus des Cinquecento ist es nun eher prekär, Dante den Vorzug vor Petrarca zu geben Dante wird folgerichtig von Tasso auch nicht direkt beim Namen genannt, aber durch den Superlativ («principalissima») und die Erstnennung, vor Petrarca, wird kein Zweifel daran gelassen, dass Dante im Kontext der Liebeslyrik mindestens als primus inter pares eingestuft wird Der lyrische Sprecher in Tassos Kanzone ist ein Liebender, der die Affekte, geschult an Aristoteles, als gefährlich erkannt hat, und mehr noch: der anders als Francesca und Paolo und anders nehmbare Welt folgt, während Artefakte drittrangig sind Tasso unternimmt dem gegenüber eine ʽ Umstufung ʼ : Das Kunstwerk steht an erster Stelle, während die sinnlich wahrnehmbare Dame an letzter Stelle folgt und die Idee (Amor) in der Mitte platziert ist Der Vergleich hat sicherlich Grenzen und soll an dieser Stelle auch nicht überstrapaziert werden 15 Tasso 1898, S 49 16 Dass Petrarkismus und Dantismus im Cinquecento keine einander ausschließenden Diskursformen darstellen, kann hier nur angerissen, aber poetologisch nicht weiter ausgeführt werden Die Kanzone Tassos führt die Koexistenz praktisch vor Augen Italienisch_84.indb 83 13.11.20 09: 38 8 4 Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Angela Oster auch als der petrarkische Liebende Konsequenzen aus dem Schein mundaner Liebe gezogen hat Der lyrische Sprecher in Tassos Gedicht Nr 31 ist sichtlich bewegt und eifersüchtig gekränkt, doch keinesfalls im Kern seiner Existenz erschüttert Auch diesbezüglich ist die Dissimulation des Petrarca-Zitats aussagekräftig und weist ironische Implikationen auf Denn der ʽ Schatz ʼ ist kein petrarkisch ʽ doppelt ʼ schmerzender, sondern nurmehr, in abgeschwächter Form, ein «süßer» - dessen Verlust daher ebenso wenig tragisch ist, wie die Verabschiedung einer stilnovistischen Doktrin, die Tasso bei Petrarca, entgegen dessen offizieller Verlautbarungen, 17 fortgesetzt sieht Makrostrukturell dokumentiert sich Tassos Distanznahme des Weiteren darin, dass sich seine Rime keineswegs auf eine singuläre Dame konzentrieren Mikrostrukturell ist die Kanzone Nr 31 außerdem, neben der bereits genannten Sappho, von weiteren antiken Verweisen durchdrungen, auf die die «Esposition de l’autore» explizit verweisen: Catull, Horaz, Anakreon Es sind mithin heitere Formen der antiken Liebeslyrik, auf die sich Tasso bezieht, und die seiner Poetik der ʽ affetti lieti ʼ affin sind . 18 Vordergründig wird Amor beschuldigt, sich wie die Biene wenig sesshaft von Blüte zu Blüte zu schwingen und den «caro mèl» (v 47) dem neuen Bräutigam der Dame zu überlassen Hinter dem heiteren Bild verbirgt sich allerdings eine weitere Absage an Dichtformen der Imitatio, wobei es in diesem Fall dann doch Petrarca ist, der selbst (und in Bezug auf den Petrarkismus: avant la lettre) eine allzu sklavische Nachahmung mit Skepsis sieht In Familiares I, 8 bezieht sich Petrarca auf das bereits in der Antike florierende Bienengleichnis (insbesondere bei Seneca) Petrarca gibt der Seidenraupe, die aus sich selbst heraus erschafft, den Vorzug vor der Biene, die sich von fremdem Blütenstaub nähren muss, und der allerdings wiederum Achtung gebühre, wenn sie das Gesammelte in etwas Besseres verwandle Auf den Spuren der Bienen beziehungsweise der Liebesvorgaben Amors gerät der Sprecher der Kanzone Nr 31 von daher fast folgerichtig auf Abwege, die verstärkte Verletzungen zur Folge haben: Darauf verweist die ostentative Wiederholung von «saette» und «saettarmi» in den Versen 48 und 59 Aus den Fängen der ʽ affetti dogliosi ʼ und ihrer vielzähligen «piaghe» (v 53) befreien hingegen diejenigen «aure amorose» (v 52), die sich von Apollo (v 83) inspirieren lassen Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter 17 Vgl zu Petrarcas ostentativer Behandlung Dantes als ʽ innominato ʼ das Kapitel «Dante, il maestro negato», in Santagata 1991, S 23-91 18 Vgl zur lyrischen Poetik Tassos das Kapitel «Tassos Kompromisse Pluralisierte Stiltheorie und typologisches Gattungskonzept im Kontext mimetischer Poetik», in Huss/ Mehltretter/ Regn 2012, S 102-129 Italienisch_84.indb 84 13.11.20 09: 38 85 Angela Oster Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Weg, der den lyrischen Sprecher durch dornige, blutende Wunden verursachende Rosen (Verse 51-54) führt, wobei die plötzliche Konfrontation mit der Geliebten - «Ecco la bella donna» (v 60) - sogar ins Straucheln führt Entgegen seiner in der ersten Strophe angekündigten Flucht vor Amor und Vermeidung der Begegnung mit der geliebten Dame (v 12-14), setzt sich der Liebende beiden Mächten aus, was bereits in der zweiten Strophe besonders nachhaltige Folgen hat Denn das Herz wird buchstäblich und glühend mit dem Namen «gezeichnet» («D’ardenti note il cor m’imprimi e ’l segni/ Del nome a forza amato», v 25-26) Die Rechtfertigung lautet, dass Liebe und Dame den nunmehr Gezeichneten hartnäckig verfolgt und sich in seinem Inneren («in me», v 27) beziehungsweise in seinem «pensier» (v 28) eingenistet hätten Dass ausgerechnet der «pensier» folgenschwere Imaginationen, und gerade keine realistischen Vorstellungen generieren kann, darauf hatte zuvor bereits das Gedicht Nr 27 mit allem Nachdruck hingewiesen . 19 Strophe drei zeichnet ein Hochzeitsbild der Geliebten, in dem der Gott der Hochzeit, «Imeneo» (v 30), federführend ist Bereits dieser situative Gattungsrahmen, das Epithalamium, entrückt die Kanzone den petrarkischen Vorgaben, innerhalb derer eine Vermählung, die auf einem ʽ amore vicendevole ʼ beruht, kein kohärenzstiftendes Ereignis darstellt Auch ist die höfische Feier, das hochzeitliche Fest, keine Stimmung, die den petrarkischen paradoxalen Affektstrukturen eine ideale Entfaltung bieten würde Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass nicht zur Gänze zu klären ist, ob die dritte Strophe der Kanzone Tassos womöglich auch nur eine (Aus)Geburt der Fantasie des lyrischen Sprechers vorstellt Dass dies der Fall sein könnte, darauf verweist - über Vers 27 hinausgreifend - die Verlängerung der Introspektion Denn nicht nur in Vers 62 wird eine tendenzielle Selbstbezüglichkeit wieder aufgegriffen («se stessa», v 62) Auch die Dame wird geschildert mit «occhi a sé raccoglia» (v 37) - was ganz untypisch für die Geliebte ist, deren Augen in den vorangegangenen Gedichten explizit als besonders extrovertiert geschildert wurden (vgl Gedicht 28, v 9: «Ella, volgendo gli occhi in dolci giri») Eine weitere mögliche Deutung wäre, dass die vormals optisch umtriebige Dame nunmehr den ihr ʽ angestammten ʼ Bräutigam gefunden und deshalb ihre flatterhafte Ungebundenheit preisgegeben hat In der fünften Strophe schlingt sich die Dame mit deutlich sexuellen Konnotationen als rankender Weinstock um den Bräutigam, der als viriler Baumstamm gezeichnet wird, und der bereits in Strophe drei als derjenige beneidet wurde, dem es vergönnt sein wird, den unschuldigen «viso intatto» (v 39), den Keuschheitsgürtel («cinti d’amorose spine», v 41) der Jungfräulichkeit («i primi fior ne coglia», v 40) für sich beanspruchen zu dürfen Dem Sprecher 19 Vgl auch dazu: Oster 2020 (im Erscheinen) Italienisch_84.indb 85 13.11.20 09: 38 86 Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Angela Oster bleibt in diesem lyrischen Herbarium lediglich die Rolle des wenig spektakulären Efeus («edera», v 63), der sich allerdings durch Beständigkeit und Treue auszeichnet Außerdem wird dadurch, dass der ʽ amore lascivo ʼ dem Brautpaar übereignet wird, der lyrische Sprecher von jeglicher Verpflichtung petrarkistischer Reue entbunden Dessen Tugendhaftigkeit kann vielmehr ostentativ in einer nahezu laudativen Weise ausgestellt werden Denn was die abtrünnige Dame bereits in Gedicht 28 ganz richtig erkannt hatte, nämlich die Treue des lyrischen Sprechers («O mio fedel», v 11), dies wird nunmehr in Gedicht 31 ausgiebig in Szene gesetzt Überraschend wendet sich nämlich der ehemalige Liebhaber dem glücklichen Bräutigam zu: «Ma tu, ne le cui braccia», v 66, und katapultiert sich gleichsam aus den trägen Ranken des Efeus heraus in die neue Gestalt des Singvogels («augel canoro», v 69), der mit beschwichtigenden Worten jeglichem Argwohn des neuen Heiratskandidaten zuvorzukommen versucht Nicht auf einen wie auch immer gearteten ʽ amor lascivo ʼ zielt das Ansinnen des Minnesängers Er sei, so versichert der «augel canoro», vollends damit zufrieden, sich im Schatten der Äste des Liebespaars zu tummeln, ohne weitergehende Gunst zu erhoffen (vgl v 70) Die sechste Strophe nimmt den Gestus der Devotion allerdings sogleich wieder zurück Indirekt, eventuell auch ermutigt durch die Ausblendung des Bräutigams, wendet sich der Sprecher nunmehr an die Dame und weist darauf hin, dass niemand - auch die Dame selbst nicht - den Liebesknoten jemals auflösen könne, den ihre Hand einst gestiftet habe Mit Kalamitäten sei gleichfalls nicht zu rechnen, da «nuovo amore» und «nodo antico» (v 72) im Schreiben des Dichters, gleichsam unter der Hand, eine harmonische, ästhetische Fruchtbarkeit entfalten: «E se pur, come volle, occulto crebbe/ Il suo bel nome entro i miei versi accolto/ Quasi in fertil terreno arbor gentile» (v 77-79) Nahezu petrarkisch mutet das Fazit an, in dem das Verlangen nach überirdischer Gloria ungleich größer wird als die vergängliche Liebe zu einer Frau: «E d’Apollo ogni dono in me fia sparso/ S’Amor de le sue grazie a me fu scarso .» (v 83-84) Der ʽ congedo ʼ bekräftigt die Unabhängigkeit des Poeten von irdischen Lieben, die zwar als Anlass zum Dichten hochwillkommen sind, dessen Ursache hingegen in keiner singulären Liebe begründet sein kann Sterben, so versichert der lyrische Sprecher, würde er nur dann wollen - dies betont er mit allem Nachdruck - wenn ihm die Fähigkeit des Dichtens abhandenkommen würde . 20 20 Dies hat Goethe in seinem berühmten Drama als grundlegenden Zug des Dichtens Tassos treffend benannt und dabei auch den Vorzug der Seidenraupe vor der Biene in dem bereits genannten petrarkischen Gleichnis aufgegriffen: «Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll,/ So ist das Leben mir kein Leben mehr ./ Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen,/ Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt .» (Torquato Tasso, zit nach Goethe 1948 ff ., Band 5, S 154) Italienisch_84.indb 86 13.11.20 09: 38 87 Angela Oster Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Im Vergleich dazu stellt sich der Verlust der Dame als deutlich verkraftbarer dar Auf der Basis der vorliegenden Interpretation, die sich angesichts der Länge des Gedichtes nur ausschnitthaft auf Wesentliches beziehen konnte, dürfte deutlich geworden sein, dass der von Karl Förster für die deutsche Übersetzung gewählte Titel, «Klage um die verlorene Geliebte», Inhalt und Form der Kanzone Nr 31 in Tassos Rime nur zum Teil trifft Tragische Komponenten oder Stileme der ʽ gravitas ʼ sind in dem Gedicht kaum vorhanden, und die Klagepartikel wie «Lasso! » (v 57) sind überschaubar und haben vorrangig rhetorischen Charakter Dass die Klage sich auf nurmehr bedingt brauchbare Schemata der Vergangenheit bezieht, erweist auch der identische Reim von Vers 18 («ahi lasso») mit Vers 16: «lasso», im Sinne von ʽ suspendieren ʼ , ‘verlassen ʼ Und auch die petrarkischen ‘affetti dogliosi ʼ werden in dem Gedicht zwar aufgerufen, und die Unerreichbarkeit der Dame infolge ihrer Vermählung rückt diese prinzipiell auf eine Stufe mit der dauerhaften Entrückung der petrarkischen Laura ʽ in morte ʼ Doch ʽ morte ʼ und ʽ matrimonio ʼ stellen letztlich sehr verschiedene Lebenszäsuren dar, auch wenn die Verse Tassos sie auf der Ebene modulationsreicher Reime in Verbindung setzen: «Funebri pompe, ed una istessa face/ Ne l’altrui nozze e nel mio rogo accesa; / E, come Aurora in oriente ascesa» (v 33-35) Die Unverfügbarkeit der Dame wurde bereits in den dem Gedicht Nr 31 vorangegangenen Gedichten sukzessive vorbereitet, sodass der darauf vorbereitete lyrische Sprecher in der Folge nicht mehr der hier besungenen Geliebten, sondern anderen Damen und vor allem: dem eigenen Schreiben folgen wird: «Or seguirò mio stile» (v 80) Dass das Gedicht Nr 31 «den Verlust sanft und mittels literarischer Ausweichung zu verwinden scheint», wie Hugo Friedrich schreibt, trifft also gerade nicht zu . 21 Im Gegenteil: das Gedicht weicht gerade nicht aus, sondern zielt literarisch ins Zentrum des Schreibens, indem es - um im Bild des Zielens zu bleiben - einen poetologisch versierten ʽ Volltreffer ʼ beabsichtigt Ziel der Lyrik ist letztlich keine Dame, auch wenn es realhistorische Vorbilder für Tasso gegeben haben mag Ziel ist die Komposition einer euphonischen Kanzone, deren Klagegestus zum Anlass für außergewöhnliche Klangeffekte und gewagte Stilmischungen wird Dabei spielt Dante eine größere Rolle, als es die Forschung Tasso in der Regel konzediert Tasso greift ostentativ den «okkulten» (v 77) Gestus der Petrosen Dantes auf, die er allerdings mit einem Überbietungsanspruch konfrontiert In beiden Amor-Kanzonen hebt der ʽ congedo ʼ mit einer Apostrophe der «Canzon(e)» selbst an Was Dante in den beiden letzten Versen seines Gedichtes als neu und einzigartig bezeichnet - «La novità […]/ che non 21 Friedrich 1964, S 474 Italienisch_84.indb 87 13.11.20 09: 38 8 8 Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Angela Oster fu mai pensata in alcun tempo» -, stellt Tasso vor besondere Herausforderungen der Imitatio Die ‘Herbheit’ Dantes, dessen bereits zitiertes «nel mio parlar voglio esser aspro», ist für Tasso lediglich inhaltlich nachahmenswert («Ma trovo chi l’inaspra ognor piú cruda», v 56) Formal schließt sich Tasso Dantes Kritik an, der allzu rauhe Reime und Satzbildungen selbst später kritisiert hat . 22 Tasso favorisiert stattdessen eine kunstvolle Syntax weit ausgreifender Strophen, melische Homogenitäten, zum Teil abenteuerliche Periphrasen und kühne Metaphern intensiver Affekte und damit eine ästhetische Eleganz, die dem in wenig beweglichen Baummetaphern naturwüchsig skizzierten Rivalen und neuen Bräutigam der Geliebten abgeht Das Idyll, das der lyrische Sprecher in der Kanzone gezeichnet hat, ist entsprechend vergleichsweise karg und wenig amön: statt graziler Blumen finden sich vor allem die bereits genannten ʽ ruppigeren ʼ Strauch- und Baummotive, deren Sprödigkeit sich in dem wenig kunstvollen, nahezu identischen und auf den Bräutigam gemünzten Reim von «abbraccia»/ «braccia» (v 65-66) spiegelt In diese ironische Distanzierung ist auch der überfunktionale Stil der Petrosen Dantes einzubeziehen, die zwar extravagant operieren, deren ʽ suoni aspri ʼ in den Ohren Tassos jedoch ähnlich schwerfällig wie die behäbige Härte der ‘donna pietra ʼ klingen Gleichwohl haben wir es nicht mit einer avantgardistischen Lyrik avant la lettre zu tun, denn was Tasso vordergründig als liebeslyrisches «nuovo amore, il nodo antico» präsentiert, gilt metapoetologisch auch für seine Kanzone selbst, die bei aller versierten ʽ novitas ʼ keine ʽ querelle des anciens et des modernes ʼ zu entfachen beabsichtigt Das Gedicht plädiert eindeutig für eine Wertschätzung des Überkommenen, das durch neue Leidenschaften nicht zur Gänze suspendiert werden kann Auch wenn Tasso eine Erosion der traditionellen Schemata konstatiert und deren doktrinäre Normierung abzulehnen scheint, erkennt er Erworbenes in Form des zu respektierenden ʽ Ersten ʼ («principalissima») an Der auffällige Superlativ dürfte nicht zuletzt auf Dantes «superexcellentiam» anspielen, welches dieser in De Vulgari Eloquentia gleich drei Mal hintereinander der Kennzeichnung der hochwertigen Kanzone als edelster Lyrikgattung vorbehalten hat . 23 Die Reminiszenz weist allerdings klare Grenzen auf Tasso erweist sich keineswegs als Dante-Enthusiast, sondern als ein Dichter, der Dantes ʽ aspro ʼ - Stil hinter sich zu lassen gedenkt Dieser ruht seinerseits auf der Dichtkunst 22 Vgl Dante Alighieri: De Vulgari Eloquentia, in: Dante 2011, S 1502-1505 (= Buch II, XI, 7-12) Dante hält, ungeachtet aller Kritikpunkte, an seiner von ihm in De Vulgari Eloquentia als Beispiel aufgeführten Kanzonenkunst und ihrer Exzellenz fest Es gibt dazu auch gegenteilige Forschungsmeinungen, ich schließe mich hingegen diesbzgl den überzeugenden Argumenten von Bernhard König an: König 1983, S 246 23 Dante Alighieri: De Vulgari Eloquentia, in: Dante 2011, S 1478-1480 (= Buch II, VIII, 7-9) Italienisch_84.indb 88 13.11.20 09: 38 8 9 Angela Oster Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» des bereits genannten Daniel Arnaut und dessen «aur’amara» auf . 24 Tasso scheint sich der Meinung von Guido Guinizelli in Dantes Purgatorio XXVI, v 117, anzuschließen, der über Arnaut sagt: «fu miglior fabbro del parlar materno» Es ist letztlich der superlativisch eingeordnete Arnaut - und weder Dante und auch nicht Petrarca - zu dem Tasso mit seiner Kunst aufzuschließen gedenkt Denn seine Zeilen «Ben folle è chi non parte / Omai lunge da te, che tu non puoi» (v 12-13) greifen Arnauts «Fols es qui per parlar en va / quer com sos jois sia dolors» auf: es ist «Wahnsinn», die ʽ affetti lieti ʼ («jois») dauerhaft in Schmerzen oder gar eine ʽ dolendi voluptas ʼ («dolors») münden zu lassen . 25 Zwischen dantisch-‘harten’ Petrosen und petrarkischer ʽ dolcezza ʼ bahnt sich die Kanzone Nr 31 Tassos somit leichtfüßig einen eigenen Weg im Dickicht der poetologischen Querelen des Cinquecento, der im Vergleich Tassos epischen Dichtungen und den diese begleitenden Auseinandersetzungen nicht vergönnt war . 26 Angela Oster Bibliographische Angaben Primärtexte Arnaut Daniel, L’aur’amara, hrsg. von Mario Eusebi, Roma: Carocci 2019 Dante Alighieri: De Vulgari Eloquentia, in: ders ., Opere I, hrsg von Marco Santagata, Milano: Mondadori 2011, S 1125-1547 Goethes Werke Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Hamburg: Wegner 1948 ff Le Rime di Torquato Tasso Edizione critica sui manoscritti e le antiche stampe, hrsg von Angelo Solerti, Bologna: Romagnoli-Dall’Acqua 1898. Delle rime del Sig. Torquato Tasso, parte prima, Brescia 1592 (BSB P .o .it 1141 - r1/ 2) Torquato Tasso’s auserlesene Gedichte, hrsg und übersetzt von Karl Förster, Zwickau: Schumann 1821 Sekundärtexte Friedrich, Hugo: «Torquato Tasso», in: ders .: Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt/ Main: Klostermann 1964, S 413-532 Huss, Bernhard/ Mehltretter, Florian/ Regn, Gerhard: Lyriktheorie(n) der italienischen Renaissance, Berlin/ Boston: De Gruyter 2012 24 Dante geht auf «Arnaldum Danielem» und die Verse zur «aura amara» ebf in De Vulgari Eloquentia ein, in: Dante 2011, S 1390-1395 25 Daniel 2019, S 70 26 Vgl dazu Kerl 2014 Italienisch_84.indb 89 13.11.20 09: 38 9 0 Affektpoetik zwischen ’amor aspro‘ und «aure amorose» Angela Oster Kerl, Katharina: Die doppelte Pragmatik der Fiktionalität. Studie zur Poetik der ʽ Gerusalemme Liberata’ (Torquato Tasso, 1581), Stuttgart: Steiner 2014 König, Bernhard: « ʽ La novità che per tua forma luce ʼ Formwille und Formkunst in Dantes Kanzonendichtung», in: Italia viva: Studien zur Sprache und Literatur Italiens Festschrift für Hans Ludwig Scheel, hrsg von Willi Hirdt, Tübingen: Narr 1983, S 237-252 Küpper, Joachim: «Palinodie und Polysemie in Petrarcas Mariencanzone Mit einigen Gedanken zu den Bedingungen der Unterschiede von antiker und abendländischer Kunst», in: Petrarca-Lektüren. Gedenkschrift für Alfred Noyer-Weidner, hrsg von Klaus W Hempfer u Gerhard Regn, Stuttgart: Steiner 2003, S 113-146 Oster, Angela: «Somnio ergo sum Anmerkungen zur Traumpoetik in Torquato Tassos Rime», erscheint in: Traumkultur in der Romania der Frühen Neuzeit. Poetik, Hermeneutik, Prognostik, hrsg von Paul Strohmaier und Katharina Münchberg, Frankfurt/ Main: Klostermann 2020 (im Erscheinen) Oster, Angela: Furor Hereos. Kultur und Poetik des Wahnsinns in der Renaissance, erscheint: Paderborn 2021 Regn, Gerhard: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur Parte prima der Rime (1591/ 1592), München: Narr 1987 Santagata, Marco: Per moderne carte. La biblioteca volgare del Petrarca, Bologna: Il Mulino 1991, S 23-91 Italienisch_84.indb 90 13.11.20 09: 38