Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2020-0026
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttZur Biblioteca poetica von Marc Föcking, Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca, in Italienisch 82/Herbst 2019, S. 72–80.
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Hermann H. Wetzel
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91 DOI 10. 23 57/ Ital-2020 - 0 026 Zur Biblioteca poetica von Marc Föcking, Eugenio Montale: Il ramarro, se scocca, in Italienisch 82/ Herbst 2019, S. 72-80. Die folgenden Bemerkungen sollen dazu anregen, die in der Biblioteca poetica erschienenen Artikel als Ausgangspunkt für weitere, eigene Überlegungen und als Diskussionsgrundlage zu verstehen Auf diese Weise könnte der nur allzu selten praktizierte wissenschaftliche Dialog gefördert werden Besonders gelungen erscheint mir bei der Interpretation des Montale- Gedichts von Marc Föcking die Integration der intertextuellen Verweise, die es nicht, wie häufig üblich, bei einer bloßen Aufzählung bewenden lässt Zu meinen Steckenpferden gehört es, die Übersetzungen zur Erhellung des Originaltextes mit einzubeziehen Marc Föcking hat an zwei Stellen auf die Übersetzung Hanno Helblings Bezug genommen Stellen, an denen dieser unzulässig (und überflüssig) vereindeutigend (bzw aufgrund von ʽ reim-dichoder-ich-fress-dich ʼ ) den Leser eher in die Irre führt, als ihm das Verständnis zu erleichtern ( ʽ Richteruhr ʼ für cronometro; ʽ Spur ʼ für stampo) Der Reim ʽ Schiff ʼ : ʽ Felsenriff ʼ ist als Ersatz für die Assonanz fiotta : rocca gerechtfertigt Ein Reim in der Zielsprache steht jedoch immer unter der Voraussetzung, dass er kein bloßer Zierat ist, den man an einer beliebigen Stelle zwischen beliebigen Wörtern einfügen kann, sondern seine eigene Bedeutung hat bzw diejenige der Reimwörter durch semantische Äquivalenzen oder Kontraste hervorhebt So reimt stampo eben nicht auf cronometro, sondern auf lampo! (s .u .) Grenzwertig ist bei Helbling das ohne, das sich auf Kanone reimen muss (Helbling hat bei allen Verdiensten insgesamt die Tendenz, seine Übersetzungen ʽ poetisch ʼ herauszuputzen .) Montale verwendet im ganzen Gedicht immerhin drei Reime (scocca : rocca ; cuore : rumore ; lampo : stampo) und eine Assonanz (scocca : fiotta : rocca) Auf den Reim cuore : rumore wird man im Deutschen wohl leider verzichten müssen (zumindest fällt mir dazu nichts ein), obwohl er für den sinnlichen Kontrast zwischen Kanonendonner, lautlosem Vorrücken der Uhr und dem pochenden Herzen wichtig ist Doch der Reim lampo : stampo betrifft den von Föcking benannten Kern des im Text Gesagten Die semantische Diskrepanz zwischen der « anderen Form » (der poetischen) und der metonymisch im Blitz(-licht) erscheinenden nicht künstlerisch gestalteten (etwa fotografischen) Momentaufnahme wird in den letzten drei Zeilen (die leider beim Abdruck in Italienisch 82 auseinander gerissen wurden) gerade durch den lautlichen Parallelismus ganz besonders hervorgehoben Die Fähigkeit zur poetischen Formung wird ausdrücklich dem als Du angesprochenen Autor bzw der Poesie zugewiesen, die als « andere » (eigens rhyth- Italienisch_84.indb 91 13.11.20 09: 38 92 Zur Biblioteca poetica von Marc Föcking Hermann H. Wetzel misch betont durch die auch von Föcking erwähnte Dialöphe 1 und die Anfangsstellung im Satz) eben nicht invano ist, d .h nicht nur kurz lebt, sondern den Reichtum, die Kostbarkeit und die Seltenheit des Augenblicks verweilen lässt Alcunché hat in negativen Sätzen (das betont am Anfang des Verses stehende invano hat eine solche negierende Funktion) die Bedeutung von nichts, so dass die Fügung mit ricco e strano seltsam widersprüchlich klingt und eigentlich erst richtig mit Hilfe der zitierten intertextuellen Verweise erklärlich wird Die im letzten Reim auf das ‘letzte Wort’ lampo : stampo zusammengespannte Quintessenz des Gedichts ließe sich in der Übersetzung retten, wenn man Blitz-Licht (getrennt geschrieben, damit es nicht lexikalisiert eindeutig technisch klingt) auf Gedicht reimte, zumal wenn man die Etymologie von dichten (ordnen, herrichten, schaffen) 2 mit bedenkt Montales vier Momentaufnahmen gleichende Szenen werden als Gedicht-Material durchweg in kurzen Versen und kurzen Strophen aufbereitet, ein formaler Rahmen, auf den auch schon die Bezeichnung als Mottetti (mottetto: «Breve componimento in rima di tono arguto .») 3 verweist, während die längeren drei letzten Verse dem poetologischen Kommentar vorbehalten sind Föckings diesbezügliche Beobachtungen ließen sich noch ergänzen durch Phänomene der lexikalisch/ lautlichen Ebene, die damit die erweiterten Möglichkeiten und Vorteile der Dichtung ausspielen, nämlich nicht nur eine zeitlich auf hundertstel Sekunden begrenzte, erstarrte, visuelle (fotografische) Momentaufnahme, sondern umfassende zusätzliche sinnliche Qualitäten zu bieten Neben dem auf besonders dynamische Bewegungen ausgeweiteten Sehen (die schnelle Bewegung der Eidechse als Kontrast zur Erstarrung unter der Mittagshitze 4 ; vgl Montales Meriggio; das plötzlich aus dem Gesichtsfeld verschwindende Schiff, der auf zwölf Uhr vorrückende Zeiger der Uhr) auch noch das Hören (das Gurgeln 5 des Wassers an der Klippe; die Kanone, das klopfende Herz, das lautlose Vorrücken der Uhr) und nicht zuletzt das Spüren (die Hitze, den Herzschlag) Die vom aufmerksamen Leser dank der poetischen Verwandlung ( mutarvi) in seiner Imagination nachvollziehbare Fülle sinnlicher Eindrücke ist also viel umfangreicher 1 Parallelphänomen zur Dihärese im Wortinnern (vgl W .Th Elwert, Italienische Metrik, 2 Auflage, Wiesbaden: Steiner 1984, § 12) 2 Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, 6 Auflage, Tübingen: Niemeyer 1966 3 Nicola Zingarelli, Vocabulario della lingua italiana, 11 Auflage, Bologna: Zanichelli 1986 4 Fersa bringt diesen Kontrast in der Wortbedeutung selbst zum Ausdruck, die das plötzliche Knallen der Peitsche metaphorisch mit der Wirkung der Sonne in festen Redewendungen verknüpft: la sferza del caldo, del sole 5 Fiotta hängt zwar etymologisch mit lat . fluere zusammen, ist in seiner Bedeutung heute aber auf Lautliches verengt: rumoreggiare, gorgogliare sordamente bzw borbottare, piagnucolare, mugugnare (Zingarelli) Italienisch_84.indb 92 13.11.20 09: 38 93 Hermann H. Wetzel Zur Biblioteca poetica von Marc Föcking und dichter als es eine Fotografie (ja selbst ein gemaltes Bild, von dem banausischen bloß biographischen Erleben einmal ganz abgesehen) je sein könnte Die epiphanieartige, abrupte Plötzlichkeit der in den drei ersten Strophen geschilderten Szenen, die Föcking treffend charakterisiert hat, wird zusätzlich zu den Aposiopesen rhythmisch und lautlich unterstrichen durch die Häufung kurzer, meist zweisilbiger Wörter (ramarro, sotto, dalle stoppie, della rocca, cannone di mezzodì), darunter auffallend viele Verben der Bewegung mit Doppelkonsonant (scocca, fiotta, s’inabissa, scatta) Um deren lautlichen Eindruck auch nur entfernt im Deutschen wiederzugeben, sind in der Übersetzung alle unnötigen Wortverlängerungen zu vermeiden: aufgeschnellt > schnellt; Peitschenschlag > Peitsche (oder noch besser Hitze, da fersa im Italienischen schon als Metapher für Hitze annähernd lexikalisiert ist); Stoppelfeld > Stoppeln oder Feld; Segelschiff > Schiff oder Segel; verschwindet, hinabtaucht > abtaucht; am Windumschwung 6 des Felsens > Felsenriff; Mittagsschuss der Kanone > Kanone am Mittag, angesprungen, anspringt > ruckt Hier nun mein Übersetzungsvorschlag, der der Verbesserung durch geneigte Leser harrt: Die Eidechse, wenn sie schnellt unter der großen Hitze aus dem Feld - das Schiff, wenn es klatscht und abtaucht an der Felsklippe - die Kanone am Mittag matter als dein Herz und der Zeitmesser 7 , wenn er lautlos ruckt - ……………………… und dann? Blitz - Licht vergeblich nur kann verwandeln euch in etwas Reiches und Seltenes Etwas anderes war 8 dein Gedicht Hermann H. Wetzel 6 Salto, das ein Syntagma mit rocca bildet, hat auch die ganz banale, hier durchaus passende Bedeutung Felsvorsprung , Felsabsturz 7 Natürlich könnte man auch mit Uhr übersetzen Doch hat Montale ja wohl nicht ohne Grund den technischen (nautischen) Ausdruck cronometro gewählt 8 Föckings Schlusssatz könnte vielleicht auch das Vergangenheitstempus erklären Italienisch_84.indb 93 13.11.20 09: 38