Italienisch
ita
0171-4996
2941-0800
Narr Verlag Tübingen
10.2357/Ital-2020-0033
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Fesenmeier Föcking Krefeld OttPaolo di Paolo: Fast nur eine Liebesgeschichte. Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt, Freiburg: nonsolo-Verlag 2019, 197 Seiten, € 19,90
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Caroline Lüderssen
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151 Kurzrezensionen Paolo di Paolo: Fast nur eine Liebesgeschichte. Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt, Freiburg: nonsolo-Verlag 2019, 197 Seiten, € 19,90 Eine mutige Entscheidung ist anzuzeigen, in Zeiten der Unsicherheit des globalen Buchmarkts und der Bedrohung durch eine dramatische Erosion des Leseverhaltens, die Gründung eines Verlags für Literatur, und dann auch noch mit einem Schwerpunkt auf jungen Stimmen aus Italien . 1 Das Programm des nonsolo-Verlages in Freiburg, den Verlegerin Alessandra Ballesi- Hansen mit einem Team aus RedakteurInnen, ÜbersetzerInnen und Grafiker- Innen 2017 aus der Taufe gehoben hat, ist noch schmal Ballesi-Hansen ist davon überzeugt, dass es für die Literatur, die sie verlegt, ein Publikum gibt, ein Publikum, das an einer Literatur abseits des Bekannten interessiert ist, das neue Talente entdecken will, vor allem junge AutorInnen, die noch nicht ‘berühmt’ sind, aber eben ‘nicht nur’ solche - daher der Verlagsname Großer Idealismus, Gespür für literarische Qualität und Sensibilität für die Themen unserer Zeit zeichnen die Auswahl des nonsolo-Verlags aus: Im September 2018 ist als erster Titel die Anthologie Spiegelungen. Zehn neue literarische Stimmen aus Italien/ Vite allo specchio. Dieci nuovi protagonisti della scena letteraria italiana erschienen, 2 es folgte im Herbst 2019 der Roman Hummerjahre von Nicola H Cosentino (die italienische Originalfassung wurde mit dem Premio Brancati Sezione giovani 2018 ausgezeichnet) . 3 Die neueste Publikation ist eine Sammlung von Texten von Igiaba Scego mit dem Titel Dismatria . 4 In diesem Frühjahr ist der Roman Fast nur eine Liebesgeschichte des für sein Werk vielfach ausgezeichneten 1983 in Rom geborenen Autors Paolo di Paolo auf Deutsch im nonsolo-Verlag erschienen . 5 Der Roman erzählt den 1 Ein Interview mit der Verlegerin ist hier zu hören: https: / / nonsoloverlag .de/ swr2journal-am-mittag-astrid-tauch-interviewt-alessandra-ballesi-hansen/ ? v=3a52f3c22ed6 (12 .10 .2020) 2 Der Band ist zweisprachig Texte von Paolo di Paolo, Simone Giorgi, Gabriella Kuruvilla, Gaia Manzini, Ludovica Medaglia, Demetria Paolin, Anna Pavignano, Igiaba Scego, Simona Sparaco, Nadia Terranova - acht Autorinnen und zwei Autoren, aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt, Ragni Maria Gschwend, Ruth Mader-Koltay, Stefanie Römer 3 Nicola H Cosentino, Hummerjahre Übersetzt von Ruth Mader-Koltay, Freiburg: nonsolo Verlag 2019 (Original: Vita e morte delle aragoste, Roma: Voland 2017) 4 Igiaba Scego, Dismatria und weitere Texte Übersetzt von Ruth Mader-Koltay, mit einem Vorwort von Martha Kleinhans, Freiburg: nonsolo Verlag 2020 5 Das Original erschien mit dem Titel Una storia quasi solo d’amore 2016 bei Feltrinelli in Mailand Zuletzt wurde Di Paolos neuester Roman Lontano dagli occhi-(Milano: Feltrinelli 2019) mit dem Premio Viareggio-Rèpaci geehrt DOI 10. 23 57/ Ital-2020 - 0 0 3 3 Italienisch_84.indb 151 13.11.20 09: 38 152 Kurzrezensionen Beginn der Beziehung zweier sehr unterschiedlicher Menschen Eine Liebesgeschichte zu schreiben, ist ein schwieriges Unterfangen: Man muss den richtigen Ton treffen, dem Trivialen, dem Banalen und dem déjà-vu entgehen Das scheint Paolo di Paolo gelungen zu sein: Was sich zwischen Nino, einem 23-jährigen Schauspieler mit Hang zur Stand-Up-Comedy, und Teresa, einer ernsthaften und etwas braven 30-jährigen Reisekauffrau, entspinnt, vermag zu fesseln Dies liegt vor allem an einer originellen Erzählperspektive, indem die Figur der Grazia, Leiterin einer Schauspielschule und Tante von Teresa, die Geschichte in einer Art Mischung aus allwissender und personaler Haltung erzählt - oder eben rezitiert . 6 Sie hat Nino engagiert, um in Rom einen Schauspielkurs für Senioren zu leiten, und so begegnen sich Nino und Teresa, die bei ihrer Tante wohnt und diese hin und wieder chauffiert Die szenisch wirkende Erzählhaltung ergibt eine erzählerische Spannung, die Raum lässt, da sich immer wieder Leerstellen in der Erzählung ergeben und die Perspektive häufig wechselt Grazias Beziehung zu Nino ist professionell, während zu Teresa, ihrer Nichte, seit ihrer Geburt eine besondere Bindung besteht: «Teresa hatte mir durch ihre Geburt Ende November 1983 eine völlig neue Rolle zugewiesen - und zwar die wichtigste im Laufe einer langen Karriere als Frau und Schauspielerin: ‘Tante, bestimmte Dinge kann ich nur dir anvertrauen ’ - ‘Tantchen, komm lass uns shoppen gehen, nur wir zwei beide ’ - ‘Tante, hol mich ab’ (mitten in der Nacht, vor einer Diskothek) .» (S 18) Fast nur eine Liebesgeschichte ist auch die Geschichte von Teresa und Grazia, von Nichte und Tante, und die Geschichte der Krankheit von Grazia Drei Abschnitte bilden die Erzählung, die man auch als Akte eines Theaterstücks lesen könnte, und die nicht durch Überschriften, sondern jeweils durch ein literarisches Zitat unterbrochen werden Diese stehen für die Themen des Romans: «In jede Kindheit ragten damals noch die Tanten . . Wie Feen, die ein ganzes Tal durchwirken, ohne noch je darein hinabzusteigen« (S 5) aus Walter Benjamins «Berliner Kindheit um Neunzehnhundert», die die Position der Figur der Grazia für Teresas Leben und für die Beziehung von Teresa und Nino kennzeichnet; «er uns seinesgleichen schlittern/ auf der langen Bahn hinunter/ frei wie die gottverdammten Vögel» (Philip Larkin, S 121) eröffnet den attacca beginnenden Dialog (eine interpolierte Theaterszene) und apostrophiert die Liebesgeschichte; «Und alles, auch die knospen- 6 «un monologo in cui un solo interprete affronta tante parti, come se gli attori si moltiplicassero sulla scena» heißt es in einer Rezension von Alma Gattinoni und Giorgio Marchini in L’Indice del mese (Juni 2016), lindiceonline .com (12 .10 .2020) Italienisch_84.indb 152 13.11.20 09: 38 153 Kurzrezensionen den Blätter,/ auch die heranwachsenden Kinder,/ alles hat irgendwann keine Zukunft mehr» (Giovanni Raboni) markiert den Beginn des letzten und kürzesten Teils, der Krankheit und Tod von Grazia beschreibt (S 177) Mit diesen und anderen literarischen Gewährsleuten stellt sich der junge Autor in eine Tradition, der er auch selbst gerecht wird: die häufig wechselnde Erzählperspektive, stilistischer Variantenreichtum, die Fähigkeit, Charaktere zu zeichnen, die ambivalent bleiben und beim Leser Interesse wecken, und nicht zuletzt ein literarischer Ton, der fern aller Selbstbespiegelung und Sentimentalität Gefühle, Wünsche, Ängste der Figuren vermittelt, die generationenübergreifend und abseits von Klischees wahrhaftig bleiben: «Als er nach Hause kam, dachte er an Teresa Er hätte gern gewusst, wo sie gewesen war und mit wem Er versuchte, sie sich vorzustellen, lag aber weit daneben: nein, keine Party und nein, kein Minirock Sie trug einen weißen Pulli, eine dunkle Jeans und Pferdeschwanz Sie war bei ihren Eltern in Terracina und fühlte sich fast so wie mit dreizehn Damals hatte sie beim Zubettgehen - draußen in der Nacht war immer noch der eine oder andere Böller zu hören - eine seltsame Freude empfunden: über die saubere Bettwäsche, den noch unberührten Kalender an der Wand, hinzu kam die Überzeugung, dass mit dem neuen Jahr wirklich eine neue Zeit anbrechen würde Dasselbe empfand sie auch an diesem Abend, mit derselben Intensität, aber mit mehr Sehnsucht, mit etwas mehr Wut: Denn ja, ein Neuanfang wäre wirklich schön, ein Neustart, morgen in eine Welt einzutreten, die das Schlimmste, ja einfach alles hinter sich gelassen hat - in eine heile Welt ohne den ganzen Mist, ohne Schattenseiten Als Kind stellte sie sich Riesenhydranten auf dem Dach der Welt vor, mit ihnen wären die Straßen, Plätze und Bürgersteige in einer halben Stunde auf Hochglanz gebracht » (S 82-83) Es weckt Interesse, wie Ninos Begegnung mit Teresa bei ihm die üblichen Muster der Annäherung (oder Verführung) ausschaltet und er sich für die etwas Unnahbare und Ältere zu interessieren beginnt, wie Teresa sich um ihre Tante kümmert, wie Grazia die beiden - gewissermaßen aus dem Off, nach ihrem Tod, oder wie jemand im Publikum - wohlwollend beobachtet, das Ende bleibt offen Das Theater als Folie, vor dem diese Figuren agieren, erhält letztlich den ersten Platz in diesem Roman als Instrument des Erkenntnisgewinns für die Figuren, die, frei nach Shakespeare, Akteur und Publikum sind: Italienisch_84.indb 153 13.11.20 09: 38 15 4 Kurzrezensionen «Dieses Scheißpublikum hält uns am Leben, lässt uns wirklich leben Es verleiht jeder unserer Bewegungen auf dieser Erde ein Gewicht, eine Bedeutung Kann sein, dass man es gütig stimmt, aber wenn, dann nur kurz, man sollte sich also nicht darauf verlassen Es ist wankelmütig, unvorhersehbar, immer kritisch, fast nie großzügig, aber eben notwendig Wir alle bieten den anderen ein Schauspiel .» (S 64) Caroline Lüderssen Italienisch_84.indb 154 13.11.20 09: 38